Ebook Edition
Der symbiotische Planet
ODER
Wie die Evolution wirklich verlief
Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel
Originaltitel: Symbiotic Planet
Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel
Englische Originalausgabe erschienen bei Weidenfeld & Nicolson/
Orion Publishing Group Ltd., London;
amerikanische Originalausgabe erschienen bei Basic Books., New York
© 1998 Lynn Margulis
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ISBN 978-3-86489-704-7
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017
Umschlaggestaltung: pleasant_net, Büro für strategische Beeinflussung
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Prolog
1 Die Gedichte zu Beginn der einzelnen Kapitel sind von der mir nahen Emily Dickinson (1830–1886).
[Die in Klammem nachgestellten deutschen Übertragungen stammen meist vom Übersetzer, gelegentlich sind sie aus deutschen Büchern zitiert (Anm. d. Ü.).]
2 Margulis, L.; Sagan, D. Slanted Truths: Essays on Gaia, Symbiosis, and Evolution. New York (Copernicus Books) 1997: »Sunday with J. Robert Oppenheimer« und andere Arbeiten, von denen viele schon früher veröffentlicht wurden, handeln von dem »großen Ärger« mit der neodarwinistischen Biologie und von den ganz allgemein destruktiven Auswirkungen der akademischen Apartheid. Die Aufsätze beschreiben eingehend den Zusammenhang des Lebens als planetares Phänomen, wobei die Symbiogenese und insbesondere die Verbindung von Bakterien die wichtigste Ursache entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen darstellt.
Margulis, L.; Sagan, D. What Is Sex? New York (Simon & Schuster) 1997: eine philosophische und bildliche Untersuchung über die Evolution der Sexualität von ihren philosophischen Anfängen in einem Universum voller Energie bis zum Cybersex und darüber hinaus.
Margulis, L.; Sagan, D. Leben – Vom Ursprung zur Vielfalt. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1997: Dieses mit Farbfotos und Schwarzweißzeichnungen illustrierte Buch ist eine philosophische und naturwissenschaftliche Untersuchung einer der faszinierendsten Fragen aller Zeiten. Es vertritt eine Vorstellung vom Leben, die sowohl über das mechanistische als auch über das vitalistische Denken hinausgeht. In Kapiteln über die auf Sonnenenergie gegründete Weltwirtschaft und die Stellung der Menschheit als Superorganismus betont es die häufig missachtete Rolle des freien Willens in der Evolution.
Gaia to Microcosm, Teil 1: Planetary Life. Dubuque, Iowa (Kendall/Hunt Publishing Company) 1994: vier kurze Videofilme: From Bacteria to Biosphere; Photosynthetic Bacteria – Red Sunlight Transformers; Spirosymplokos deltaeiberi — Microbial Mats and Mud Puddles; und Ophrydium versatile: What Is an Individual?
Sagan, D.; Margulis, L. Garden of Microbial Delights: A Practical Guide to the Subvisible World. Dubuque, Iowa (Kendall/Hunt Publishing Company) 1993: ein Leitfaden zur Entdeckungsgeschichte, Vielfalt und Nützlichkeit der Mikroorganismen einschließlich einer Anleitung zu Haltung mikroskopisch kleiner Haustiere. Er richtet sich an Lehrer, Studenten, Naturfreunde und Besucher naturhistorischer Museen und ist reich illustriert.
Margulis, L. Five Kingdoms Poster. Gezeichnet von Christie Lyons, Gestaltung von Dorion Sagan. Rochester, N.Y. (Wards) 1992: mit einem Lehrerbegleitheft und einer Anleitung für Versuche im Schulunterricht.
Margulis, L.; Sagan, D. Origins of Sex: Three Billion Years of Genetic Recombination. New Haven, Conn. (Yale University Press) 1991: Ablauf und Evolutionsgeschichte der DNA-Rekombination bei Bakterien, der Zellverschmelzung bei Protisten, des Auftauchens der Geschlechter, des Generationswechsels und anderer sexueller Vorgänge sowie ihres entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhangs.
Margulis, L.; Sagan, D. Geheimnis und Ritual – Die Evolution der menschlichen Sexualität. München (dtv) 1996: Ein Überblick über die vielschichtigen Auswirkungen der Vorfahren auf Sexualitätsformen und Sexualverhalten beim Menschen. Zu den Themen gehören die Lacansche Psychoanalyse, die Herkunft des menschlichen Gehirns von den Reptilien, die Konkurrenz der Samenzellen und die Bedeutung von Eifersucht und Gewalt für die genetische Fortpflanzung. Die Geschichte beginnt mit den Vorfahren, die in der Evolution zuletzt entstanden sind, und endet bei den Ursprüngen von Meiose und bakterieller Sexualität in Einzellern, die von ultraviolettem Licht bestrahlt wurden.
Margulis, L.; Sagan, D. Microcosmos: Four Billion Years of Evolution from Our Microbial Ancestors. Vorwort von Dr. Lewis Thomas. Berkeley (University of California Press) Taschenbuchausgabe 1998: Allgemeinverständlicher Bericht über die Frühzeit des Lebens mit der Entstehung der kernhaltigen Zellen, dem Konzentrationsanstieg des ursprünglich giftigen Sauerstoffs in der Erdatmosphäre und der Entwicklung von Pflanzen und Tieren aus Kolonien von Mikroorganismen. Das neue Autorenvorwort erinnert an die Notwendigkeit, über die in dem Buch vorgenommene Rollenumkehr von Menschen und Mikroben hinauszugehen. Die Analyse beginnt mit dem Ursprung des Universums vor etwa 15 Milliarden Jahren und endet mit Spekulationen über die Zukunft des Lebens mit und ohne Menschen.
3 Lois Brynes, Deep Time Associates, P.O. Box 58, Rockport, Massachusetts, konzipierte die Ausstellung »What Is Life?« im New England Science Center, 222 Harrington Way, Worcester, Massachusetts. Sie zeigt die Kunstwerke von Christie Lyons, unsere Videos und andere Darstellungen von SET und Gaia.
4 Eine ausgezeichnete Analyse unseres tiefschürfenden, komplizierten Verhältnisses zu Natur und Gott liefert Evan Eisenberg in seinem neuen Buch Ecology of Eden. New York (Alfred Knopf) 1998.
1. Symbiose überall
1 Wallin, I. E. Symbioticism and the Origin of the Species. Baltimore (Williams & Wilkins) 1927. Darwin, C. Die Entstehung der Arten (Darwins Hauptwerk liegt in mehreren deutschen Ausgaben vor.).
2 Sonea, S.; Panisset, M. A New Bacteriology. Sudbury, Mass. (Jones & Bartlett Publishers) 1993.
3 Nardon, P.; Grenier, A. M. Serial Endosymbiosis Theory and Weevil Evolution: The Role of Symbiosis. In: Margulis, L.; Fester, R. (Hrsg.) Symbiosis as a Source of Evolutionary Innovation. Cambridge, Mass. (MIT Press) 1991.
4 Diese Lebewesen und ihre Aktivität werden sehr anschaulich in Videos dargestellt – siehe Sciencewriters Gaia to Microorganism. Dubuque, Iowa (Kendall/Hunt Publishing Company) 1996, und Olendzenski, L.; Margulis, L.; Goodwin, Looking at Microbes: The Microbiology Laboratory for Students und Margulis, L.; Sagan, D. Microcosmos Videos. Teil I und II. Sudbury, Mass. (Jones and Bartlett Publishers) 1998 und 1999.
2. Entgegen der Lehrmeinung
1 Simpson, G. G. An Autobiography. New York (Columbia University Press) 1977.
2 Mitochondrien sind Organellen für die Zellatmung, Chloroplasten dagegen sind der Ort der Photosynthese. Beide Organteile haben ihr eigenes Erbmaterial und sind fast allgegenwärtig. Eine fachliche Beschreibung ihrer Erbmechanismen, Ursprünge und Evolution findet sich in der zweiten Auflage von Symbiosis in Cell Evolution. New York (W. H. Freeman) 1993. Eine weniger fachliche, aber sicher angemessene Erörterung der gleichen Thematik bietet Margulis, L.; Sagan, D. Microcosmos: Four Billion Years of Evolution from Our Microbial Ancestors. Die spannende, bemerkenswerte Geschichte der zytoplasmatischen Genetik wird beschrieben bei Sapp, J. Beyond the Gene. New York (Cambridge University Press) 1987.
3 Sapp, J. Evolution by Association: A History of Symbiosis. New York (Oxford University Press) 1994.
4 Ephrussi, B. Nucleo-cytoplasmatic Relations in Micro-Organisms. Oxford, UK (Clarendon Press) 1953.
5 Siehe Sapp, J. Beyond the Gene, Anmerkung 2 zu diesem Kapitel.
6 Sapp, J. Evolution by Association: A History of Symbiosis. New York (Oxford University Press) 1994. Dobzhansky: »Nichts in der Biologie hat einen Sinn, außer im Licht der Evolution.« Zitat von 1973, zitiert auf S. 187.
7 Sager, R.; Ryan, F. Cell Heredity. New York (John Wiley & Sons) 1961; siehe auch Pontecorvo, G. Trends in Genetic Analysis. New York (Columbia University Press) 1959.
8 Khakhina, L. N. Concepts of Symbiogenesis: A Historical and Critical Study of the Research of the Russian Botanists. New Haven, Conn. (Yale University Press) 1992.
3. Einzigartigkeit durch Einverleiben
1 Smith, D. C. From Extracellular to Intracellular: The Establishment of a Symbiosis. In: The Cell as a Habitat, Bd. 204. London (The Royal Society) 1979. S. 115–130.
4. Der Name der Rebe
1 Der Begriff stammt von dem unerschrockenen und produktiven deutschen Entdecker und Biologen Christian Ehrenberg, der im 19. Jahrhundert lebte. Siehe Leben. Vom Ursprung zur Vielfalt (Kapitel 1, Anmerkung 1).
2 Copeland, H. F. Classification of the Lower Organisms. Palo Alto, Calif. (Palo Alto Books) 1956.
3 Whittaker, R. H. Community Ecology. 2. Aufl. New York (Macmillan) 1975.
4 Whittaker, R. H. New Concepts of Kingdoms. In: Science 163 (1969) S.150–160.
5 Zu den Mikroorganismen gehören die Bakterien, die kleineren Protoctisten und die kleineren Pilze. Siehe Margulis, L.; Schwartz, K. V. Die fünf Reiche der Organismen. Heidelberg (Spektrum der Wissenschaft) 1989, beziehungsweise die neue englische Auflage dieses Buches Five Kingdoms. An Illustrated Guide to the Phyla of Life on Earth. New York, N.Y. (W.H. Freeman & Co) 1998. Darin sind die Beschreibungen der einzelnen Stämme der Bakterien, Protoctisten, Pilze, Tiere und Pflanzen (insgesamt etwa 100 Stämme) jeweils von einem Foto eines – möglichst lebenden – charakteristischen Vertreters sowie von einer schematischen, mit Anmerkungen versehenen Zeichnung begleitet.
6 Die Protoctisten sind in vielen natürlichen Lebensräumen von der Wüste bis zum offenen Meer gezeichnet in Margulis, L.; Schwartz, K.V.; Dolan, M. Diversity of Life on Earth: Illustrated Five Kingdoms. Sudbury, Mass. (Jones and Bartlett) 1999. Alle Zeichnungen zeigen die Mikroorganismen zusammen mit größeren, bekannteren Lebewesen.
5. Aus Schaum geboren
1 Morowitz, H. J. Mayonnaise and the Origin of Life: Thoughts of Minds and Molecules. Woodbridge, Conn. (Ox Bow Press) 1985.
2 Deamer, D.; Fleischaker, G. Origins of Life: The Central Concepts. Sudbury, Mass. (Jones & Bartlett) 1994.
3 Crick, F. Life Itself: Its Origins and Nature. New York (Simon & Schuster) 1981.
4 Morowitz, H. J. Beginning of Cellular Life. New Haven, Conn. (Yale University Press) 1992.
5 Dyson, F. Die zwei Ursprünge des Lebens. München (Droemer Knaur) 1990.
6 Madigan, M. T.; Matinko, J. M.; Parker, J. Brock Biology of Microorganisms. 8. Aufl. Upper Saddlo River, New Jersey (Prentice-Hall) 1997.
6. Vermächtnis Sex
1 Goff, L. J. Symbiosis, Interspecific Gene Transfer and the Evolution of New Species: A Case Study in the Parasitic Red Algae. In: Margulis, L.; Fester, R. (Hrsg.) Symbiosis as a Source of Evolutionary Innovation. Cambridge, Mass. (MIT Press) 1991.
2 Margulis, L.; Sagan, D. Origins of Sex: Three Billion Years of Genetic Recombination. New Haven, Conn. (Yale University Press) 1991; und What Is Sex? New York (Simon and Schuster) 1997.
3 Cleveland, L. R. The Origin and Evolution of Meiosis. In: Science 105 (1947) S. 287–288.
7. An Land
1 McMenamin, M. A.; McMenamin, D. S. Hypersea: Life on Land. New York (Columbia University Press) 1994.
2 Vernadsky, V. I. The Biosphere. New York (Copernicus, Springer-Verlag) 1998; auf Russisch 1926.
8. Gaia
1 Lovelock, J. Gaia. Bern, München, Wien (Scherz) 1992.
2 Olendzenski, L.; Margulis, L.; Goodwin, S. Looking at Microbes Videos Teil 1, The Microbiology Laboratory for Students, Teil 2. Microbe’s World. Sudbury, Mass. (Jones and Barlett Publishers) 1998.
3 Bunyard, P. (Hrsg.) Gaia in Action: Science of the Living Earth. Edinburgh, UK (Floris Books) 1996.
4 Schneider, S.; Boston, P. Scientists on Gaia. Cambridge, Mass. (MIT Press) 1990.
5 Sagan, D. Biospheres. Metamorphosis of Planet Earth. New York (McGraw-Hill/Bantam) 1990.
Time does go on –I tell it gay to those who suffer now –They shall survive –There is a sun –They don’t believe it now –
(Die Zeit geht weiter –Künde ich fröhlich jenen, welche heute leiden –Sie werden überleben –Und die Sonne sehen –Mögen sie es auch jetzt nicht glauben –)1
»Mama, was hat das Gaia-Konzept mit deiner Symbiontentheorie zu tun?«, fragte mein 17jähriger Sohn Zach eines Tages nach der Arbeit. Er hatte ursprünglich Ambitionen als Politiker gehabt, arbeitete aber inzwischen ziemlich desillusioniert als Assistent für einen Abgeordneten im Parlament des US-Bundesstaates Massachusetts in Boston und war gerade von dem ermüdenden Versuch, für einen seiner beiden abwesenden Chefs eine Altersheimgesetzgebung zu entwerfen, nach Hause gekommen.
»Nichts«, erwiderte ich sofort, »jedenfalls nicht, dass ich wüsste.« Seither habe ich immer wieder über diese Frage nachgedacht. Das Buch, das Sie in Händen halten, ist der Versuch einer Antwort. Es befasst sich hauptsächlich mit den beiden großen wissenschaftlichen Themen, die mich mein gesamtes Berufsleben begleitet haben –, der seriellen Endosymbiontentheorie (SET) und Gaia sowie ihrer Beziehung zueinander.
Zachs Frage, wie Symbiose und Gaia zusammengehören, lässt sich sehr treffend mit einer witzigen Bemerkung meines ausgezeichneten früheren Studenten Greg Hinkle beantworten, der heute Professor an der University of Massachusetts in South Dartmouth ist. Bevor Greg seinen Doktor machte, war er der Überzeugung und lehrte, dass Symbiose einfach das Zusammenleben von Lebewesen unterschiedlicher Arten in körperlichem Kontakt sei. Die Partner der Symbiose, die Symbionten, sind einander in Treue verbunden: Sie befinden sich zur gleichen Zeit am gleichen Ort, berühren sich unmittelbar oder leben sogar ineinander. Die Vorstellung von »Gaia« – der alte griechische Name für die Mutter Erde – geht davon aus, dass die Erde lebendig ist. Nach der Gaia-Hypothese, die von dem englischen Chemiker James E. Lovelock formuliert wurde, werden verschiedene Eigenschaften der atmosphärischen Gase, der Oberflächengesteine und des Wassers durch Wachstum, Tod, Stoffwechsel und andere Aktivitäten aller Lebewesen reguliert. Greg witzelte: »Gaia ist einfach Symbiose vom Weltraum aus gesehen« – alle Lebewesen stehen miteinander in Berührung, weil sie alle von der gleichen Luft und dem gleichen Wasser umspült werden. Die Gründe, warum Greg meiner Überzeugung nach recht hat, werden auf den folgenden Seiten ausführlich erläutert.
Wenn Sie aus diesem Buch etwas über Symbiose und die Gaia-Theorie im Zusammenhang mit radikalen neuen Ansichten über das Leben erfahren, ist das vier glücklichen Umständen zu verdanken: erstens Zachs Frage; zweitens den Beiträgen von Dorion Sagan zur Qualität meines Denkens und Schreibens2; drittens Lois Brynes, die dieses Manuskript mit vorausschauender Redlichkeit und peinlich genauem künstlerischem Geschmack hinterfragte, neu gliederte und umstrukturierte3; und schließlich der notwendigen Beharrlichkeit von William Frucht von Basic Books, der auf eine konzentrierte Organisation und weniger hemmungsloses Erzählen drängte. Mit einem so intelligenten, neugierigen und zu Recht kritischen Lektor zu arbeiten ist immer wieder eine Freude.
Dieses Buch handelt vom Leben auf unserem Planeten, seiner Evolution und davon, wie sich unsere Ansichten dazu gewandelt haben. Wenn ich ihm einen Untertitel geben sollte, dann wäre es die Forschung, und zwar insbesondere die naturwissenschaftliche Forschung, mit ihren zahlreichen Wendemanövern und festen Regeln, die sie voranbringen oder hemmen können. Viele Umstände tragen insgeheim dazu bei, dass manche wissenschaftlichen Entdeckungen wieder verloren gehen, insbesondere solche, die an geheiligten Normen unserer Kultur kratzen. Unsere Spezies hängt an der vertrauten, tröstlichen Gleichförmigkeit der gewohnten Denkweisen. Und die »Konventionen« sind tiefer verwurzelt, als wir gemeinhin zugeben. Selbst wenn wir für eine bestimmte Philosophie oder Denkrichtung nicht einmal den richtigen Namen kennen und kaum etwas über ihre Geschichte wissen, ist doch jeder von uns in seiner eigenen, sicheren »Wirklichkeit« verwurzelt. Unser Weltbild prägt das, was wir sehen, und die Art und Weise, wie wir etwas lernen. Jede Idee, die wir als Tatsache oder Wahrheit akzeptieren, ist in ein umfassendes Denkgebäude eingebettet, dessen wir uns in der Regel nicht bewusst sind. Solche kulturell bedingten Beschränkungen kann man »erlernte Unfähigkeiten«, »kollektives Denken« oder »soziale Konstruktionen der Wirklichkeit« nennen. Wie auch immer man die beherrschenden Eingrenzungen, die über unsere Sichtweisen bestimmen, bezeichnen mag – sie betreffen jeden von uns, auch Naturwissenschaftler. Alle sind in ihrer Wahrnehmung mit ausgeprägten sprachlichen, nationalen, regionalen und generationsbedingten Schranken belastet. Wie jeder andere Mensch, so wird auch der Naturwissenschaftler in seinem Verhalten von unbewussten Vorurteilen beeinflusst, die unmerklich das Denken lenken.
Eine solche weitverbreitete, unausgesprochene Annahme betrifft die »Große Seinskette«: Sie definiert die altehrwürdige Stellung des Menschen als Mittelpunkt des Universums – unter Gott und über den Gesteinen. Diese anthropozentrische Vorstellung beherrscht das religiöse Denken, selbst das Denken derjenigen, die nach eigener Auskunft Religion ablehnen und eine naturwissenschaftliche Weltanschauung an ihre Stelle gesetzt haben. Für die alten Griechen verband die Seinskette eine Fülle von Göttern am oberen Ende zunächst mit Männern, dann Frauen, Sklaven, Tieren und Pflanzen. Das letzte Glied bildete ein Nährboden aus Gestein und Mineralien. Die jüdisch-christliche Version erlaubte eine leichte Abwandlung: Die Menschen standen über den Tieren, aber ein wenig unter den Engeln. Und die unumstrittene, offenkundige Spitze bildete natürlich der Allmächtige4.
Diese Vorstellungen werden von der naturwissenschaftlich geprägten Weltanschauung als veralteter Unsinn abgetan. Alle heutigen Lebewesen sind gleichermaßen aus der Evolution hervorgegangen. Alle haben eine mehr als drei Milliarden Jahre lange Entwicklung aus bakterienartigen gemeinsamen Vorfahren hinter sich. Es gibt keine »höheren« Wesen, keine »niederen Tiere«, keine Engel und keine Götter. Der Teufel ist wie der Weihnachtsmann ein nützlicher Mythos. Selbst die »höheren« Primaten, die Klein- und Menschenaffen, sind trotz ihres Namens (vom lateinischen primus, »der Erste«) nichts Höheres. Wir von der Spezies Homo sapiens und unsere Verwandten unter den Primaten sind nichts Besonderes, sondern nur Neuankömmlinge auf der Bühne der Evolution. Die Ähnlichkeiten zwischen dem Menschen und anderen Lebensformen sind viel auffälliger als die Unterschiede. Unsere engen Verbindungen aus gewaltigen erdgeschichtlichen Zeiträumen sollten in uns nicht Widerwillen, sondern Ehrfurcht wecken.
Als Spezies fürchten wir immer noch das Exzentrische, das außerhalb der »Norm« Gelegene, in unserem Bild von uns selbst. Trotz oder vielleicht auch wegen Darwin verstehen wir in unserem Kulturkreis die Wissenschaft der Evolution eigentlich immer noch nicht. Wenn Naturwissenschaft und Kultur aufeinanderprallen, trägt die Kultur stets den Sieg davon. Die Evolutionsforschung sollte viel besser verstanden werden. Ja, wir Menschen sind tatsächlich aus der Evolution hervorgegangen, aber sie begann nicht erst beim Affen oder auch bei den Säugetieren. Wir haben uns aus einer langen Reihe von Vorläufern und letztlich aus den allerersten Bakterien entwickelt.
Der größte Teil der Evolution hat sich in jenen Lebewesen abgespielt, die wir als »Mikroben« abtun. Wie wir heute wissen, hat sich alles Leben aus den kleinsten Lebensformen, den Bakterien, entwickelt. Diese Tatsache muss uns nicht unbedingt angenehm sein. Mikroben und insbesondere Bakterien werden gewöhnlich als Feinde betrachtet und als Keime verunglimpft. Doch zu den Mikroben gehören all jene Lebewesen – Algen, Bakterien, Hefen und so weiter –, die man unter einem Mikroskop genauer erkennen kann als mit dem bloßen Auge, dem sie sich lediglich als Schmiere oder Schleim präsentieren. Ich behaupte: Wir Menschen sind, wie alle anderen Affen, nicht das Werk Gottes, sondern das Ergebnis der Milliarden Jahre währenden Wechselwirkungen zwischen höchst reaktionsfähigen Mikroben. Dies klingt für manche Menschen beunruhigend. Dem einen oder anderen erscheint das gar als beängstigende Nachricht aus der Welt der Wissenschaft, einer Informationsquelle, die es abzulehnen gilt. Ich finde sie faszinierend: Sie spornt mich an, mehr in Erfahrung zu bringen.
Much Madness is divinest Sense –To a discerning Eye –Much Sense – the starkest Madness –Tis the Majority In this, as All, prevail –Assent – and you are sane Demur – you’re straightway dangerous –And handled with a Chain –
(Wahnsinn ist oft der höchste Sinn Für den, der ihn versteht – Und Sinn – der tollste Wahnsinn oft – Nur die Majorität Entscheidet hier wie überall –Wer zustimmt – ist gesund – Wer abweicht – ist gefährlich – und Braucht Ketten wie ein Hund –)
Deutsche Version zitiert aus Dickinson, E. Guten Morgen, Mitternacht – Gedichte und Briefe. Berlin (Henssel Verlag) 1987, S. 23.
Die Namen von Lebewesen hören sich unschuldig an, und das Gleiche gilt für die Bezeichnungen ihrer Gruppen. Und doch hat die auf den ersten Blick langweilige Übung des Benennens und Unterteilens mein Leben als Wissenschaftlerin tiefgreifend beeinflusst. Eine fehlerhafte Taxonomie führte mit der gleichen Perfidie in die Irre wie unausgesprochene Voreingenommenheit oder religiöser Glaube. Die Symbiogenese gerät in unmittelbaren Konflikt mit weit verbreiteten und beliebten Annahmen, und das ist einer der Gründe, warum sie erst so spät anerkannt wurde.
Taxonomie ist die Wissenschaft, die sich mit der Bestimmung, Benennung und Einteilung von Lebewesen befasst. Mit Namen und Klassifikationsschemata kann man riesige Informationsmengen organisieren. Ein biologisches System lässt wie eine Landkarte ausgewählte Unterscheidungsmerkmale hervortreten. Aber wie es schon in einem Satz heißt, der durch den englisch-amerikanischen Philosophen und Anthropologen Gregory Bateson berühmt wurde: »Die Karte ist nicht das Gelände.« Ebenso wenig ist der Name das Lebewesen. Oft wird die Vergangenheit eines einzelnen Lebewesens in einen Stammbaum eingetragen. Solche Stammbäume wachsen in der Regel vom Erdboden aus nach oben: Ein einziger Stamm verzweigt sich in viele Abstammungslinien, wobei die einzelnen Äste jeweils von gemeinsamen Vorfahren ausgehen. Die Symbiose macht aber deutlich, dass solche Bäume eine idealisierte Darstellung der Vergangenheit sind. In Wirklichkeit wächst der Baum des Lebens häufig in sich selbst zurück. Arten begegnen sich, verschmelzen und bringen neue Lebewesen hervor, die wieder von vorn anfangen. Eine solche Vereinigung von Zweigen – seien es nun Blutgefäße, Wurzeln oder Pilzfäden – bezeichnet man in der Biologie als Anastomose. Dieser Begriff – »netzbildende Zweige« – ist eine wunderschöne Lautmalerei. Man kann die Verschmelzung geradezu hören. Der Baum des Lebens ist ein verwickeltes, verwobenes, pulsierendes Gebilde mit Wurzeln und Ästen, die sich unter der Erde und in der Luft treffen, um sonderbare neue Früchte und Kreuzungen hervorzubringen. Die Anastomose ist zwar nicht so häufig wie die Verzweigung, aber von ebensolcher Bedeutung. Wie die Sexualität, so führt auch die Symbiose einzelne Lebewesen, die zuvor in der Evolution entstanden sind, in einer neuen Partnerschaft zusammen. Und wie die Sexualität, so führen auch manche Symbiosen zu dauerhaften Verbindungen mit einer stabilen, fruchtbaren Zukunft, während andere sich schnell wieder auflösen. Die Wechselwirkungen, die sich in jeder Generation genetisch verbundener Lebewesen abspielen, stellen alle Schulbuchabbildungen des Lebensbaums in Frage.
Das mittlerweile berühmte Bild, das wir verwenden und an dem viele andere mitgearbeitet haben, wurde Mitte der achtziger Jahre von meinem ältesten Sohn Dorion Sagan geschaffen: Es zeigt die Metapher einer Hand, deren fünf Finger jeweils eine Hauptgruppe von Lebewesen darstellen (siehe die Abbildung auf der folgenden Seite). Man kann fünf große Reiche unterscheiden: sämtliche Bakterien (die Monera oder Prokaryoten, deren Zellen keinen Kern besitzen), die Protoctisten (sämtliche Algen, Schleimpilze, Ciliaten und viele andere seltsame Lebewesen, die durch Symbiogenese entstanden sind und aus Zellen mit einem Zellkern bestehen), die Tiere (die sich ausnahmslos aus einem Embryo entwickeln, der seinerseits aus der Verbindung von Samen- und Eizelle hervorgeht), die Pilze (Hefen, große Pilze und mikroskopisch kleine Arten, die aus Pilzsporen entstehen) und die Pflanzen (die sowohl aus Sporen hervorgehen können als auch – bei anderen Gelegenheiten – aus sexuell entstandenen Embryonen, auch wenn nicht alle Arten zur Photosynthese fähig sind). Jeder Finger der Lebenshand mit Ausnahme der Bakterien hatte mehrere symbiontisch lebende Mikroorganismen als Vorfahren.
Die Hand der fünf Organismenreiche; Zeichnung von Dorion Sagan.
Als Ivan Wallin von der Columbia University in den zwanziger Jahren die Vermutung äußerte, Zellbestandteile wie Chloroplasten und Mitochondrien könnten ursprünglich symbiontisch lebende Bakterien gewesen sein, wurde er mit seinen Ideen rundheraus abgelehnt. In feinen Biologenkreisen machte man seine Theorie des »Symbiontizismus« lächerlich. Er wurde aus der seriösen wissenschaftlichen Welt ausgestoßen und gab mit 40 Jahren seine experimentellen Untersuchungen zur Symbiose auf. Bakterien waren Krankheitserreger und keine Stammväter entwicklungsgeschichtlicher Neuerungen. Mikroorganismen, darauf beharrten seine Kollegen, vollziehen nicht den Sprung vom freien Leben als Bakterien zum Dasein als Gefangene in Tierzellen. Wallin zog von New York nach Denver, wo an der dortigen Universität seine Karriere als Dozent und Wissenschaftler weitere vier Jahrzehnte lang gedieh, aber über den symbiontischen Ursprung der Organellen diskutierte er niemals wieder. Bakterien waren gefährliche Schädlinge; in Zusammenhang mit der Evolution des Lebens schrieb man nicht über sie. Außerdem strebten die Zweige der Stammbäume auseinander. Niemand, Mereschkowsky ausgenommen, vertrat die Ansicht, Äste könnten sich vereinigen.
Wie wir heute wissen, standen die Arbeiten des »Exzentrikers« Wallin stärker mit unseren heutigen Kenntnissen im Einklang als mit dem Denken seiner eigenen Zeit. Dass man seine Behauptungen nicht einmal kritisch unter die Lupe genommen hatte, lag unter anderem daran, dass man an einer starren Taxonomie festhielt. Jedes Lebewesen, das entweder wie ein Tier oder wie eine Pflanze wirkte, wurde rücksichtslos als das eine oder andere eingestuft. Verwirrend, aber aufschlussreich: Mikroorganismen, die schwimmen konnten, teilte man dem Tierreich zu; ganz ähnlich aussehende Mikroben dagegen, die grün und vorübergehend unbeweglich waren, erklärte man zu Pflanzen. Eine Botanikerin klassifizierte vielleicht alle Mikroorganismen und ihre Nachkommen als Pflanzen, einfach weil sie am botanischen Institut angestellt war. Ein Zoologe im Nachbargebäude dagegen vereinnahmte unter Umständen ein ganz ähnliches Lebewesen für sein Tierreich. Die Widersprüchlichkeiten schossen ins Kraut. Winzig kleine, kaum erkennbare Lebewesen wurden selbst dann, wenn sie genau gleich waren, von den Botanikern zu Pflanzen und von den Zoologen zu Tieren erklärt. Ähnliche Kämpfe fochten Mikrobiologen (Bakteriologen) und Mykologen (Pilzkundler) um Bakterien sowie Hefen und andere Pilze aus. Bedauerlicherweise ist diese malerische taxonomische Verwirrung auch heute noch im Schwange.
Dem Erfinder des Mikroskops Antoni van Leeuwenhoek (1632–1723) können wir es nachsehen, dass er die winzigen Geschöpfe, die er entdeckte, als animalculi (Tierlein) bezeichnete. Womit hätte er sie sonst vergleichen sollen? Unverzeihlich ist es aber nach meiner Überzeugung, wenn Wissenschaftler noch heute an dem Begriff Protozoa festhalten (der mit »erste Tiere« zu übersetzen ist) und damit schwimmende Lebewesen bezeichnen, deren biologische Merkmale eindeutig nicht die eines Tieres sind. Manche Mikroorganismen mit einem Zellkern, die man früher als Protozoen bezeichnete, sind zwar Vorfahren der Tiere, aber ebenso Vorfahren von Pflanzen, Pilzen und allen unbequemen Protoctisten. Die Ur-Protisten selbst, die nie aus einer Samen- oder Eizelle oder aus einem Tierembryo hervorgehen, sind keine Tiere. Die Gruppe ist erstaunlich vielfältig und umfasst noch heute über 50 große Abstammungslinien. Dazu gehören Diatomeen, Braunalgen, Ciliaten und viele weniger gut bekannte Gruppen von Lebewesen, in denen sich die »Allgegenwart des Lebens« widerspiegelt.1 Ob Amöbe, Ciliat, Hypermastigot oder sonst etwas – Tiere sind sie nicht.
Ebenso zucke ich zusammen, wenn ich aus dem Mund von Biologen den Ausdruck »blaugrüne Algen« höre. Solche Lebewesen gibt es nicht; diese blaugrünen Wunderwerke sind in jeder Hinsicht photosynthetische Bakterien. Irreführend ist ebenfalls der Begriff »einzelliges Tier«, denn auch das gibt es nicht; ebenso wenig existieren »höhere, vielzellige Pflanzen«. Alle Tiere und Pflanzen entwickeln sich aus Embryonen, die definitionsgemäß aus vielen Zellen bestehen. Da es sich also bei allen Pflanzen und Tieren um Vielzeller handelt, ist das Adjektiv überflüssig.
Sprache kann verwirren und täuschen. Diese antiquierten Begriffe – »blaugrüne Algen«, »Protozoen«, »höhere Tiere«, »niedere Pflanzen« und viele andere – werden nach wie vor benutzt, obwohl sie dazu angetan sind, Unbehagen und Ignoranz der Biologie gegenüber zu fördern. Solche Beleidigungen des Lebendigen dienen jenen, deren Gehalt, Arbeitsplatz und gesellschaftliche Stellung von ihrer konservativen Einstellung abhängen. Dass man Wallins gute Ansätze bekämpfte oder nicht zur Kenntnis nahm, lag nach meiner Vermutung unter anderem daran, dass die vielen Biologen und Lehrer, die für die falsche Vorstellung von einer festgelegten Klassifikation eintreten, ihn gründlich missverstanden. Bakterien wurden damals wie heute fast immer als »feindliche Erreger« gebrandmarkt, die nur dazu bestimmt waren, mit den »Waffen« der modernen Medizin »besiegt« zu werden. Natürlich ist es lächerlich, sie vor allem mit militärischen, feindseligen Begriffen zu beschreiben: Die meisten Bakterien sind nicht gefährlicher als Luft, und wie Luft lassen sie sich aus unserem Körper und unserer Umwelt niemals beseitigen. Vielfach herrscht aber immer noch die irrige Ansicht, man solle alle vorhandenen Bakterien ausrotten. Bakterien, so noch heute – und viel stärker zu Wallins Zeit – die allgemeine Ansicht, müssen ausgemerzt werden. Wie können sie gesundes Gewebe »bewohnen«? Wallins Kollegen verwechselten die Landkarte mit dem Gelände.