Petra Ivanov
Control
Petra Ivanov
Thriller
Appenzeller Verlag
3. überarbeitete Auflage, 2017
© 2012 by Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung,
auch durch Film, Radio und Fernsehen,
fotomechanische Wiedergabe,
Tonträger, elektronische Datenträger und
auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Janine Durot
Umschlagfotos: kamisoka (iStockphoto), Fara Faran (Shutterstock)
Satz: Verlagshaus Schwellbrunn
ISBN: 978-3-85882-782-1
ISBN eBook: 978-3-85882-783-3
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
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Für Natalia
1
das inserat
Ich habe immer gemacht, was von mir erwartet wurde: Stand eine Ampel auf Rot, wartete ich am Strassenrand. Wurde in der Schule eine Prüfung angekündigt, lernte ich. Da meine Mutter bis sieben arbeitete, bereitete ich das Abendessen für die Familie zu; ausserdem ging ich nie ohne meinen Bruder Leo aus, weil Vater es verboten hatte. Vor allem habe ich meine Eltern nie angelogen.
Als ich das Inserat sah, war mir schlagartig klar, dass sich das ändern würde. Nur ahnte ich nicht, mit welchen Folgen.
Eigentlich hatte ich das Internet bloss aus Langeweile aufgestartet. Das Pfingstwochenende kam mir endlos vor. Letztes Jahr hatte ich Pfingsten mit meiner besten Freundin verbracht. Aber nun besuchte Nicole eine Tanzschule in New York. Obwohl ich mich für sie freue, fehlt sie mir schrecklich.
Für Leotrim ist es noch schlimmer. Nic und mein grosser Bruder sind seit über einem Jahr zusammen. Leo kommt mir vor wie der Held in einer romantischen Tragödie. Nach Nics Abreise lümmelte er lustlos auf dem Sofa herum und zappte von einem TV-Sender zum anderen. Er bekam kaum mit, was lief. Er hätte wohl noch ewig so weitergemacht, wäre Vater nicht der Kragen geplatzt. Meine Eltern deckten Leo mit Arbeit ein: Er musste das Wohnzimmer neu streichen, meinem Onkel beim Zügeln helfen und jede Menge Computerprobleme lösen. Obwohl er noch in der Lehre als Informatiker ist, ist mein Bruder der einzige der Familie, der etwas von PCs versteht. Hat ein Verwandter ein Problem mit seinem Computer, wendet er sich immer an Leo. Das bringt Leo manchmal ganz schön an seine Grenzen, denn wir haben 58 Cousinen und Cousins. Die meisten leben zwar in Kosova, aber das hindert sie nicht daran, Leo ihre Fragen zu mailen.
Auch am Nachmittag, an dem ich das Inserat entdeckte, sass Leo an seinem PC. Er suchte einen Virus, der immer wieder Mails versandte. Ich wollte shoppen gehen, doch ich fand keine Begleitung. In der Schule hatte ich nur wenige Kolleginnen, denn es gingen kaum Mädchen aufs mathematische Gymnasium. In unserer Klasse waren wir gerade mal fünf. Eine Mitschülerin lag mit einer Blinddarmentzündung im Spital, die anderen drei waren über Pfingsten verreist. Leo hatte versprochen, mit mir in die Stadt zu fahren, sobald er den Virus unschädlich gemacht hatte, aber das konnte noch ewig dauern.
So kam es, dass ich ebenfalls den PC aufstartete. Eigentlich wollte ich nach neuen Schnittmustern suchen. Zum Spass googelte ich aber die Begriffe «Mode» und «Design» und klickte wahllos einen Eintrag an.
«Möchten Sie in die Modebranche einsteigen? Absolvieren Sie ein Praktikum in New York! Erfahrener Designer sucht junge Persönlichkeit mit Individualität und dem Blick für das Besondere. Keine Erfahrung vorausgesetzt.»
Seit ich mich erinnern kann, möchte ich Modedesignerin werden. Mit zehn Jahren habe ich aus Stoffresten und Wäscheklammern ein Ballkleid gemacht. Daraufhin schenkten mir meine Eltern eine gebrauchte Nähmaschine. Ich liebte die alte Singer heiss. Noch immer steht sie in meinem Zimmer, obwohl ich heute mit einer modernen Bernina arbeite. Ab und zu nehme ich die Singer vom Regal, nur um das Glücksgefühl von damals wieder aufleben zu lassen. Es ist, als besuche mich eine alte Freundin.
Als ich das Inserat las, malte ich mir aus, wie es wäre, von einem richtigen Modedesigner zu lernen. Ich stellte mir vor, wie ich ihm beim Skizzieren über die Schulter schauen würde. Vielleicht dürfte ich sogar eigene Ideen einbringen.
Seufzend stützte ich das Kinn in meine Hände. Mein Vater würde einem Praktikum in der Modebranche nie zustimmen. Als ich ihn vor zwei Jahren gefragt hatte, ob ich eine Lehre als Schneiderin machen dürfe, hatte er mich entsetzt angeschaut. Für ihn war klar, dass ich aufs Gymnasium gehörte. Ich tröstete mich damit, dass ich nach der Matura immer noch eine Modeschule besuchen könnte. Doch bis es so weit war, dauerte es noch drei Jahre. Das kam mir an jenem Nachmittag unendlich lang vor. Selbstmitleid stieg in mir auf. Nicoles Traum war wahr geworden: Sie hatte ein Stipendium für eine super Tanzschule in New York erhalten. Dafür hatte sie hart gekämpft. Auch Leo hatte seinen Kopf durchgesetzt, als Vater ihn mit einem Mädchen aus Kosova verloben wollte.
Ich bin keine Rebellin, aber dieses eine Mal wollte ich auch das tun, wozu ich Lust hatte. Ich beschloss, mich auf das Inserat zu melden. Natürlich würde ich mich nicht um die Stelle bewerben. Doch schon die Vorstellung, mit einem echten Designer in Kontakt zu treten, erschien mir aufregend. Ausserdem sind Beziehungen wichtig. Vielleicht wäre ich irgendwann froh, jemanden aus der Modebranche zu kennen. Ich klickte auf den Link und wartete gespannt. Es erschien keine Homepage, sondern eine Mailadresse.
«Hi», schrieb ich auf Englisch. «Mein Name ist Julie Ramadani. Ich bin 16 Jahre alt und …» Ich löschte die 16 und setzte eine 17 ein. Schliesslich entschied ich mich für «fast 18». «Mode ist mein Leben!» Klang das zu dramatisch? Damit man sah, dass es mir mit meinem Berufswunsch ernst war, erwähnte ich mein Portfolio. Ich hatte begonnen, meine tollsten Kreationen zu fotografieren und die Bilder zusammenzustellen. Da mir Nicole nicht mehr als Model zur Verfügung stand, waren sie in letzter Zeit etwas gewöhnlich ausgefallen. Nic hatte eine super Figur. Egal, was sie trug, dank ihrer langen Beine und aufrechten Haltung sah es toll aus. Ich hoffte, dass meine Entwürfe trotzdem auffielen.
Ich rätselte, wer hinter dem Inserat stecken könnte. Bestimmt ein bekannter Designer, der seinen Namen absichtlich nicht genannt hatte, weil er fürchtete, von Bewerbungen überschwemmt zu werden.
Ein Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Meine Zimmertür ging auf, und Leo streckte den Kopf rein. Rasch klickte ich auf «senden» und schloss das Fenster auf dem Bildschirm.
«Wenn du schon klopfst, könntest du auf ein ‹Herein› warten!», maulte ich.
«Willst du nun in die Stadt oder nicht?», fragte er.
«Bist du schon fertig?» Ich sprang auf und schnappte meine Handtasche. Es war erst vier Uhr. Wir hatten noch über eine Stunde, bevor die Läden schlossen. «Ich brauche Knöpfe für Mutters Regenmantel und hellbraunen Faden. Meinst du, Grossmutter würde sich über ein Foulard freuen? Ich weiss noch nicht, was ich ihr zum Geburtstag schenke. Oder doch lieber Strümpfe?»
Leo antwortete nicht. Er schlüpfte in seine Turnschuhe und fischte sein Handy aus der Tasche. Das macht er fast alle fünf Minuten, obwohl Nic ihm selten schreibt. Sie hat keine Zeit. Wenn sie nicht an der Schule ist, gibt sie Nachhilfe. Sie muss aufs Geld achten, trotz Stipendium. Von ihrer Mutter, die als Verkäuferin arbeitet, bekommt sie nur wenig. Ihr Vater sitzt im Gefängnis, weil er seine Kunden betrogen hat.
«Hast du etwas von Nic gehört?», fragte ich, weil es das Einzige war, was Leo interessierte.
Sofort begannen seine Augen zu leuchten. «Sie hat mir Fotos geschickt, von einer Bootsfahrt. Hast du sie auch bekommen?»
«Meinst du die Bilder auf der Staten Island Ferry?» Nic fuhr oft mit der Fähre hin und her. Es war gratis, und sie liebte das Wasser. Früher hatte sie ein eigenes Segelboot besessen.
«Schon möglich», meinte Leo. «Im Hintergrund ist die Freiheitsstatue zu sehen.»
«Ja, das ist die Fähre.»
«Nic sieht gut aus! Sie hat etwas mit ihren Haaren gemacht.»
Ich rollte die Augen. «Und das merkst du erst jetzt? Sie hat keinen Pony mehr. Sie lässt ihn schon seit einem Jahr wachsen.»
«Steht ihr.» Leo knackte mit den Fingerknöcheln und trat von einem Fuss auf den anderen.
Ich nahm meine Jacke von der Garderobe. Der Himmel lag wie ein grauer Deckel über der Stadt. Leo trug trotzdem nur ein T-Shirt. Er friert nie.
Wir nahmen den Bus an die Bahnhofstrasse, wo sich die grossen Warenhäuser befinden. Ich war nicht die Einzige, die Besorgungen machen wollte, bevor die Geschäfte fürs lange Wochenende schlossen. Es wimmelte von Menschen. Zielstrebig stürzte ich mich ins Getümmel. Ich mag Menschenmassen. Stundenlang könnte ich Kleider studieren, Frisuren und Schminke der Leute vergleichen.
Den Faden fand ich rasch, nicht jedoch die passenden Knöpfe. Als ich die Auswahl studierte, seufzte Leo demonstrativ. Ich konnte mich kaum konzentrieren.
«Mach schon», drängte er mich.
Kunststoff oder Horn? Die Knebelknöpfe würden Mutter gefallen, die Grösse passte jedoch nicht. Ich müsste die Laschen abändern. Ich versuchte auszurechnen, ob ich dafür zusätzliches Material brauchte, aber Leo lenkte mich ab. Schliesslich nahm ich gewöhnliche Modeknöpfe – wohlwissend, dass ich es später bereuen würde.
Nachdem ich bezahlt hatte, verkündete Leo, er gehe in die Elektronikabteilung.
«Ich warte bei den Handtaschen auf dich», sagte ich.
Leo schüttelte den Kopf. «Du hast kein Handy dabei.»
Ich hatte es Vater ausgeliehen, weil sein Akku kaputt war. «Du wirst mich schon finden», sagte ich.
«Vergiss es!» Leo steuerte auf die Rolltreppe zu.
«Leo, bitte!»
Er drehte sich nicht einmal um. Eigentlich war es nett, dass er mich überhaupt in die Stadt begleitet hatte. Normalerweise wäre ich ihm dankbar gewesen. Doch jetzt stieg Groll in mir auf. Leo hätte jederzeit allein in die Elektronikabteilung gehen können. Ich durfte nicht ohne ihn weg. Ich weiss nicht, warum mich das plötzlich störte. So wichtig war mir die Handtasche nicht.
Trotzdem blieb ich einfach stehen. Leo merkte es nicht. Er fuhr nach oben, ohne zurückzuschauen. Als er aus meinem Blickfeld verschwand, überkam mich plötzlich ein Gefühl von Leichtigkeit. So, als hätte ich einen schweren Rucksack abgelegt. Ich schlenderte langsam zum Notausgang und nahm die Treppe nach unten. Kaum war ich in der Handtaschenabteilung angekommen, packte mich das schlechte Gewissen.
Wenn Leo ohne mich nach Hause zurückkehrte, würde Vater ihm die Kappe waschen. Leo hatte zwar mehr Freiheiten als ich, dafür musste er den Kopf hinhalten, wenn etwas schieflief. Was das bedeutete, war mir erstmals bewusst geworden, als Vater ihm meinetwegen eine Woche Hausarrest aufgebrummt hatte. Ich war damals in der sechsten Klasse gewesen, Leo in der achten. An einem Mittwochnachmittag musste er mich zum Zahnarzt bringen. Fast dreiviertel Stunden sassen wir im Wartezimmer, bis ich endlich an der Reihe war. Es war stickig, und ein Kind quengelte ununterbrochen. Als mich die Assistentin rief, sagte Leo, er warte draussen auf mich.
Die Untersuchung dauerte nicht lange. Leo war nirgends zu sehen. Ich beschloss, mich allein auf den Heimweg zu machen. Unglücklicherweise war Vater an diesem Nachmittag zu Hause. Er hatte einen Kunden in der Nähe abgesetzt und die Gelegenheit genutzt, aufs Klo zu gehen. Als Taxifahrer ist er den ganzen Tag unterwegs. Er wollte gerade losfahren, als ich auftauchte. Noch bevor er mich begrüsste, fragte er, wo Leo sei.
Ich versuchte, die Situation herunterzuspielen, doch Vater liess nicht locker. Ich hatte allein das Rotlichtmilieu durchquert. Obwohl mich niemand angequatscht hatte, sorgte sich Vater ständig um mich und um meinen Ruf.
Eine halbe Stunde später kam Leo ausser Atem an. Er hatte mich überall gesucht. Vater stellte ihn zur Rede. Leo erklärte, er habe sich nur kurz eine Cola gekauft, während er auf mich wartete. Vater liess die Entschuldigung nicht gelten. Ich fand das unfair, schliesslich war es meine Schuld, ich war einfach davongelaufen. Trotzdem durfte Leo eine ganze Woche lang nicht mehr weg.
Nie werde ich seinen roten Kopf, die Scham in seinen Augen vergessen. Er hatte versagt. Vater war enttäuscht. Das war für Leo schlimmer gewesen als der Hausarrest.
Plötzlich war mir die Handtasche egal. Ich drängte mich an den Menschen vor den Verkaufsauslagen vorbei und stürzte auf die Rolltreppe zu. Ohne die Proteste zu beachten, bahnte ich mir einen Weg nach oben.
Leo starrte gebannt auf einen Bildschirm, in den Händen hielt er einen Controller. Ich stellte mich neben ihn. «Bin gleich so weit», murmelte er.
Er hatte nicht einmal gemerkt, dass ich mich abgesetzt hatte.
2
antwort
Ich hatte das Inserat schon fast vergessen, als ich eine Nachricht von einem unbekannten Absender erhielt. Ich klickte sie an, ohne auch nur im geringsten an den Modedesigner zu denken.
«Hey, Julie, how are you?» Ich blinzelte ungläubig. «Cool, dass du ein eigenes Portfolio hast. Ich würde es mir gerne ansehen. Schickst du es mir? Cal.»
Cal? Ich starrte volle fünf Minuten auf den Bildschirm, bis ich mich endlich regen konnte. Mein Magen schlug Purzelbäume, und meine Gedanken flogen in alle Richtungen davon. Zum Glück wusste ich, dass Calvin Klein nicht mehr im Geschäft war, sonst hätte ich auf der Stelle einen Herzinfarkt bekommen. Mir wurde eiskalt: Vielleicht plante er ein Comeback?
Ich sprang vom Stuhl, als habe mich eine Wespe gestochen, und umarmte die Schneiderpuppe, die in meinem Zimmer stand. Eine Stecknadel piekste mich, doch ich spürte den Schmerz kaum. Als sich mein Herzschlag beruhigt hatte, setzte ich mich und klickte auf «Antworten». Ich schrieb den Satz sechs Mal, bis ich endlich zufrieden war. Ich versuchte, gelassen zu klingen, so, als verschickte ich mein Portfolio tagtäglich. Deshalb wollte ich auch nichts über Cal oder das Praktikum wissen. Ich erzählte, ich begänne bald mit dem Studium als Modedesignerin. Das war nicht einmal gelogen.
Es kommt nur darauf an, was man unter «bald» versteht.
Ich wollte Nic unbedingt die Neuigkeiten erzählen, doch sie war nicht online. Enttäuschung wallte in mir auf. Erst da realisierte ich, dass es in New York zwei Uhr nachmittags war. Ich vergass die Zeitverschiebung immer. Vielleicht war es sowieso keine gute Idee, Nic von Cal zu schreiben. Was, wenn sie Leo davon berichtete? Meine Familie durfte nichts vom Inserat erfahren. Wenn Vater wüsste, dass ich mit einem fremden Mann Kontakt hatte, nähme er mir den PC weg.
Ich verstand, warum er sich Sorgen machte. Aber da ich Cal nie träfe, sah ich nicht ein, was am Mailkontakt falsch war. Damals dachte ich nicht im Traum daran, dass mehr aus der Geschichte werden könnte. Meine selbst entworfenen Kleider finden zwar alle klasse, doch ich bin nicht naiv. Es gibt viele Leute, die in die Modebranche einsteigen möchten. Und sie alle haben eigene Portfolios. Warum sollte Cal ausgerechnet mich fürs Praktikum auswählen?
Und wenn schon, dachte ich. Angenommen, er fände meinen Stil genial. Es war mir klar, dass ich nie und nimmer nach New York fliegen dürfte. Nicht einmal, wenn Leo mich begleitete. Das war sowieso unmöglich, denn im Gegensatz zu mir hat mein Bruder keinen Schweizer Pass. Er braucht ein Visum, um in die USA einzureisen. Die nötigen Papiere bekommt man nur, wenn man viel Geld oder Verwandte dort hat. Leo fehlt es an beidem.
Ich wollte mich gerade ausloggen, als plötzlich eine Nachricht von Chris auf dem Bildschirm erschien. Chris ist der beste Freund meines Bruders. Mit seinen langen, schwarzen Haaren, den hohen Wangenknochen und den dunklen Augen sieht er aus wie ein Model. Wenn ich nur schon an ihn denke, könnte ich sterben!
Der heutige Tag war kaum zu fassen. Zuerst Cal, dann Chris. Vielleicht lag es an der Sternenkonstellation? Seit einigen Monaten studierte ich regelmässig mein Horoskop. Mir war eine aufregende Zeit vorausgesagt worden.
«zeit heute abend?», wollte Chris wissen.
Und ob ich Zeit hatte! Für Chris immer.
«klar», schrieb ich mit einem Smiley zurück.
«19 uhr bei mir»
Meine Zimmertür ging auf, und Leo kam herein. Er legte die Hand unter mein Kinn. «Es zieht», sagte er und klappte mir den Mund zu.
Ich sah ihn an. «Ich muss heute Abend zu Chris! Begleitest du mich?»
Er knackte mit den Knöcheln.
«Bitte, bitte, bitte!»
«Ich wollte noch ins Training.»
Ich fiel vor ihm auf die Knie. «Ich mach dir Manti! Oder Baklava! Was immer du willst!»
Leo kniff die Augen zusammen. «Lasagne.»
Ich warf mich ihm an den Hals. «Danke! Das werde ich dir nie vergessen. Du bist der beste Bruder …»
«Lass das!» Leo wand sich aus meiner Umarmung. «Warum musst du überhaupt zu Chris?»
«Bloss so», wich ich aus.
Obwohl mein Bruder ziemlich schlau ist, wusste er nicht, wie viel mir Chris bedeutete. Ich habe meine Gefühle immer sorgfältig verborgen. Ich hatte Angst, dass Leo aus Versehen etwas verraten oder, viel schlimmer, sich über mich lustig machen würde. Chris könnte jede haben. Was wollte er mit einem Mädchen wie mir? Ich bin drei Jahre jünger als er und keine Schönheit. Nicht dass ich hässlich wäre, aber meine Nase ist einige Nummern zu gross für mein Gesicht, und meine Beine sind zu kurz im Verhältnis zu meinem Körper. Dafür gefallen mir meine Haare. Sie haben die Farbe von Honig und reichen mir mittlerweile bis Mitte Rücken.
Leo verliess mit einem Schulterzucken mein Zimmer. Kaum war er weg, riss ich meine Schranktür auf. Was sollte ich anziehen? Leo hat mir einmal verraten, dass Chris auf enge Kleider und tiefe Ausschnitte stehe. Das ist nicht so mein Stil. Nicht nur, weil Vater ausflippen würde, wenn ich zu viel Haut zeigte, sondern weil mir selbst nicht wohl ist dabei. Ich finde, mein Körper ist etwas Persönliches.
Ich entschied mich für ein zitronengelbes Top mit Spaghettiträgern und eine lindgrüne Bluse darüber. Wenn mir danach war, könnte ich die Zipfel der Bluse immer noch so verknoten, dass das Top darunter zu sehen wäre. Dadurch wirkten meine Beine länger. Ausserdem passte das blasse Gelb gut zu meiner pinkfarbenen Haarsträhne.
Anschliessend bereitete ich eine Bolognesesauce zu. Mutter würde nur noch die Spaghetti ins Wasser werfen müssen, wenn sie nach der Arbeit nach Hause käme. Unter der Woche ist sie froh, wenn ich mich ums Abendessen kümmere. Für Leos Lasagne reichte die Zeit nicht, aber ich kochte die doppelte Menge Sauce, um die Hälfte für die Lasagne später einzufrieren. Vor lauter Aufregung konnte ich kaum das Küchenmesser halten. Als es endlich Zeit war zu gehen, hatte ich zwei kleine Schnitte am Finger.
Die Fahrt zu Chris dauerte über eine halbe Stunde. Leo wirkte abwesend. Wenn ihn etwas beschäftigt, ist er meistens still. Bei mir ist es gerade umgekehrt, ich kann dann gar nicht anders als reden. Wenn ich schweige, werde ich nur noch nervöser.
«Hast du etwas von Nic gehört?», fragte ich.
Leo schob das Kinn vor. Das war kein gutes Zeichen.
«Was ist?», bohrte ich.
Er fuhr mit dem Daumennagel über das Polster des Vordersitzes.
«Leo! Sag schon!»
«Sie kommt nicht», presste er hervor.
«Was, sie kommt nicht? Meinst du, im Sommer?»
«Sie hat einen Ferienjob gefunden.»
«Aber … sie hat es versprochen! Das ist nicht fair! Ich meine, das kann sie doch nicht machen. Was ist mit ihrer Mutter?»
«Frau Ritzi geht im Herbst nach New York.»
«Und Herr Ritzi? Er sitzt im Gefängnis! Er kann nicht einfach ins nächste Flugzeug steigen. Nic wird doch nicht … das kann nicht sein! Stell dir seine Enttäuschung vor. Ausserdem weiss Nic, dass du kein Visum kriegst. Sie will bestimmt …»
«Vielleicht will sie mich gar nicht sehen!», unterbrach mich Leo wütend.
Warum sollte Nic meinen Bruder nicht sehen wollen? Am Flughafen hatte sie so geheult, dass sich Leo kaum beherrschen konnte. Klar war inzwischen ziemlich viel Zeit vergangen, aber jedes Mail beendete Nic mit Grüssen an Leo.
«Das verstehe ich nicht», stammelte ich.
«Es gibt bestimmt jede Menge cooler Typen in New York!», schnauzte Leo.
Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir schwindlig wurde. «Sie liebt dich! Nie würde sie etwas mit einem anderen anfangen!»
Leo drehte sich weg. Sein Gesicht spiegelte sich im Fenster. Als ich seinen Schmerz sah, nahm ich seine Hand. Ich war erstaunt, dass er sie nicht zurückzog. Früher hatte er mich oft an der Hand genommen, doch seit wir älter waren, berührten wir uns selten. Ich dachte daran, wie er mich als Kind gekitzelt hatte, wenn ich weinte. Wir sind nicht nur älter geworden, auch unsere Sorgen sind gewachsen. Irgendwann hilft kitzeln nicht mehr.
In meine Erinnerungen versunken, vergass ich Chris einen Moment. Als wir an seiner Haltestelle ankamen, holte mich die Gegenwart ein und mein Herz galoppierte davon. Leo fragte noch einmal, was Chris von mir wolle. Es gelang mir, ihn abzulenken. Der Abend war mild, ich hörte den Aufprall von Bällen auf den Tennisplätzen am Waldrand und roch Rauch von einer Grillstelle.
Vor einem gelben Wohnblock blieb ich stehen. «Chris wird mich nach Hause bringen. Danke für die Begleitung.»
«Ich komme mit.» Leo drückte auf die Klingel. «Ich wollte ihn sowieso fragen, ob er mir einen Film ausleiht.»
«Ich bring dir den Film», sagte ich schnell. «Du musst nicht extra hoch kommen. Echt, das ist kein Problem, wirklich nicht.»
Leo musterte mich kritisch.
«Wolltest du nicht einige Songs für Nic brennen?», fügte ich rasch hinzu. «Das Top, das ich ihr genäht habe, ist fertig. Ich bringe es morgen zur Post. Wenn du willst, kann ich die CD mitschicken.»
Es funktionierte. Leo kontrollierte die Uhrzeit auf seinem Handy und brummte etwas Unverständliches. Den Blick aufs Display gerichtet, machte er sich auf den Weg. Ich klingelte erst, nachdem er um die Ecke verschwunden war. Meine Beine fühlten sich wie weiche Spaghetti an. Irgendwie schaffte ich es trotzdem, die Treppe hochzusteigen.
Die Tür zu Chris’ Wohnung stand offen. Eigentlich ist es nicht seine Wohnung, sondern diejenige seines Vaters. Herr Cavalli wohnt jedoch die meiste Zeit bei seiner Freundin. Sie haben eine gemeinsame Tochter, ab und zu nimmt er sie mit zu sich. Ich blicke da nicht ganz durch, aber Lily finde ich süss. Sie hat genauso schwarze Haare wie Chris, ihre Augen sind aber blau. Auch ihre Haut ist heller. Chris’ Vater ist Indianer, er sieht aus wie eine Mischung aus einem Asiaten und einem Latino, einfach etwas europäischer.
Aus der Wohnung hörte ich ein Poltern, dann ein Quietschen, das verdächtig nach Lily klang. War Herr Cavalli hier? Ausgerechnet heute! Ich hatte mich so gefreut, allein mit Chris zu sein.
Vorsichtig streckte ich den Kopf zur Tür rein. «Hallo?»
«Hey», rief Chris von irgendwoher.
Als Erstes erblickte ich Lily. Sie watschelte barfuss im Wohnzimmer herum, eine leere PET-Flasche in der Hand. Dazu gab sie immer die gleichen, hohen Töne von sich, fast, als würde sie singen. Sobald sie mich sah, verstummte sie und sperrte die Augen auf. Ich kniete mich hin und streckte ihr die Hand entgegen. Nach kurzem Zögern reichte sie mir die Flasche. Ihre Haare standen wie Federn von ihrem Kopf ab und wippten im Takt ihrer Bewegungen.
«Du hast es geschafft», sagte Chris hinter mir.
Ich wirbelte herum. Als ich ihn sah, verschlug es mir die Sprache. Er trug neue Jeans und ein T-Shirt, auf dem eine Friedenspfeife abgebildet war. Seine langen Haare waren frisch gewaschen und glänzten im Abendlicht. Er hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, so dass ich seine schmalen Augen sehen konnte. Normalerweise fallen ihm die Haare ins Gesicht. Er kam mir seltsam nackt vor. Den dunklen Schatten an seinem Kinn hatte ich nie bemerkt. Seit wann rasierte er sich? Überhaupt erschien er mir anders. Er hielt sich aufrechter und roch nach Pinienwald. Als er lächelte, blitzten seine weissen Zähne auf.
In der Regel war er der Schweigsame, doch nun war ich es, die stumm am Boden kauerte. Chris hob Lily hoch und blies ihr ins Ohr. Lily quietschte vergnügt. Er stellte sie wieder auf den Boden, und sie begann, sich im Kreis zu drehen.
Ich wollte gerade etwas sagen, als es klingelte. Chris schoss zur Tür. So schnell bewegte er sich sonst nie. Er kam mir vor wie ausgewechselt. Ich hörte, wie er im Treppenhaus etwas sagte, kurz darauf kehrte er zurück.
Mit einem Mädchen.