Ammianus-Verlag
Die Autorin
Die aus Polen stammende und in Aachen lebende Autorin Renata A. Thiele ist als Stadtführerin, Sprachdozentin und Übersetzerin tätig. Sie schreibt Erzählungen und Beiträge für Zeitschriften sowie Kurzgeschichten in Deutsch und Polnisch.
»Eine Heilige Sache. Große Sünden – kleine Sünden« ist nach »Die Verschollenen Noten. Kalt berechnet – heiß begehrt« ihr zweiter Roman, der im Ammianus-Verlag erschienen ist.
www.textera.de
Renata A. Thiele
Eine Heilige Sache
Große Sünden – kleine Sünden
Impressum
Erste Auflage Oktober 2017
© 2017 Ammianus GbR Aachen
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Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Satz: Michael Mingers
Printausgabe-ISBN: 978-3-945025-48-2
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Präfix
So ’n Mist! Jetzt ist auch noch ’n Nagel ab. Bald sind alle hin.« Der Mann verzog vor Schmerzen das Gesicht, denn am Mittelfinger seiner linken Hand löste sich der Nagel. Das tat höllisch weh. Da Schreien keine gute Idee war, biss er die Zähne zusammen, bückte sich noch tiefer über die Truhe und fummelte an den fünf Vorhängeschlössern. Er brauchte nicht viel Zeit, er war geübt.
»Ausgerechnet der Mittelfinger! Hoffentlich lohnt sich die ganze Aktion. Nicht dass ich mir hier meine Fingernägel für nix und wieder nix kaputtmache«, murmelte er. Es war dunkel in der Sakristei, trotzdem musste er auf Licht mehr oder weniger verzichten. Der fahle Lichtstrahl seiner Taschenlampe half nur wenig, gerade so viel, dass er nicht über alles stolperte, was sich ihm wie verhext in den Weg stellte. Es war eindeutig nicht sein Tag, und auch nicht seine Nacht, aber was sollte er machen, wo er schon so weit gekommen war?
Wozu hatte er sich da nur überreden lassen, als er bis spät in die Nacht mit Frank in der Kneipe herumgehangen hatte – von wegen tolle Sachen in der Truhe, oben in der Propsteikirche! Warum hatte Frank den Job nicht selbst übernommen? Er hatte doch mit dem Kerl in der Ecke auf geheimnisvoll gemacht. Als der Fremde, ein großer, junger Mann mit graumeliertem Haar, weggegangen war, war Frank zu Erwin an die Theke gekommen und hatte von dem Deal erzählt. Erwin sollte nur die Sachen besorgen, dann würden für ihn ein paar Hundert Euro dabei herausspringen. Er müsste sich nicht einmal um den Verkauf kümmern. Ein guter Deal.
Erwin stöhnte kurz, hielt den Atem an und hob den Deckel der Truhe hoch. Im Inneren befanden sich in Stoff eingewickelte Päckchen. Als er eines von ihnen öffnete, kam ein anderer Stoff zum Vorschein, rot und weiß, entlang des Saumes verziert mit goldenen Stickereien. Es roch unangenehm nach Chemikalien.
»Ach du heiliger Strohsack! Was ist das denn?! Das stinkt ja zum Himmel. Was machen die bloß damit? Wofür halten die die alten Lappen hier verschlossen?! Auch egal, vielleicht eben für mich«, murmelte er.
Erwin holte die übrigen Stoffpäckchen aus der Truhe und wickelte sie auseinander. Schnell prüfte er sie und entschied:
»Na ja, warum auch nicht. Genau so was brauche ich ja gerade. Hauptsache, es scheppert nicht. Ist ja so still hier, das Dorf ist richtig tot. Wie ausgestorben.«
Er schloss die Truhe und wickelte seine Beute in einen der Stoffe. Einen anderen band er zu einer Art Sack, in dem er das Silber transportieren konnte. Den warf er sich über und stieg die Treppe hinunter. An der Kirchentür blieb er stehen, schaute nach draußen und prüfte die Lage, ehe er die Kirche verließ. – Die Tür fiel mit lautem Knall hinter ihm ins Schloss.
»Mist«, fuhr er zusammen. »So ’ne Scheiße jetzt auch noch. Gleich versammelt sich das ganze Dorf samt Pfarrer an der Spitze, um mich zu begrüßen.«
Doch das Dorf schlief seinen gerechten Schlaf. Es war kurz vor vier. Und es regnete.
1. KAPITEL
»Was war das denn?« Ein dumpfer Knall hatte Pfarrer Jan aus seiner Nachtruhe gerissen.
Er erfreute sich eines gesunden, wenn auch leichten Schlafes. Zwar wachte er bei jedem Geräusch auf, sobald er dessen Quelle jedoch identifiziert hatte, beruhigte er sich und schlief schnell wieder ein. Er beschwerte sich daher auch nie, wenn Frau Matzke lauter als nötig das Haustürschloss öffnete, um ihm am frühen Morgen frische Brötchen zu bringen.
Diesmal war er aber durch ein – ja, durch ein undefinierbares Geräusch aus dem Schlaf gerissen worden. Er horchte auf – draußen war nichts mehr zu hören. Irgendetwas musste jedoch dort passiert sein. Oder schien es ihm nur so? Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte 3 Uhr 48. Zu früh für Frau Matzke und ihre frischen Brötchen. Seine Neugierde gewann schließlich die Oberhand. Er setzte sich im Bett auf, zog rasch seine Wollsocken an und ging ans Fenster. Der Pfarrer trug immer seine dicken Wollsocken statt Hausschuhen, die er schon in seiner Kindheit nicht hatte ausstehen können, was vermutlich daran lag, dass seine Mutter ihm bunte Filzpantöffelchen gekauft hatte. Wie für kleine Mädchen! Damit hatte er sich nirgends blicken lassen können, ohne ausgelacht zu werden. Jetzt rieb er sich die linke Wade mit dem in einer Wollsocke steckenden rechten Fuß. Das tat gut. Er lehnte am Fenster und schaute auf den Platz vor der Pfarrei. Doch nichts bewegte sich.
»Es ist so ruhig hier«, gähnte er. Anders als in München, von wo er nach Kornelimünster versetzt worden war. Die Großstadt schlief nie, und hier? Mal ehrlich, Kornelimünster war ein Kaff. Aber ein sehr nettes. Stets im Schlummerzustand, wachte der Ort nur zur Zeit des Historischen Jahrmarktes und des Weihnachtsmarktes und natürlich im September zur Korneli-Oktav auf. Doch alle sieben Jahre, wenn die Heiligtumsfahrt in Aachen stattfand, pilgerten ganze Ströme von Gläubigen auch ins nahe Kornelimünster, um die berühmten Salvatorreliquien zu sehen. Und in der Zeit zwischen diesen Ereignissen lag eine träge, aber erholsame Ruhe in den schmalen Gässchen und auf den Plätzen des historischen Ortskerns. Das gefiel Pfarrer Jan.
Die Heiligtumsfahrten und die Reliquien. Die Aachener haben vier davon, und Kornelimünster darf sich seit etwa 1200 Jahren über drei der heiligen Stoffe freuen, dachte er. Alte Stoffe, die manche für authentisch halten. Aber Windel Jesu? Oder das Lendentuch Christi, das Enthauptungstuch Johannes’ des Täufers und zum Schluss das Kleid Mariä, das sie in der Heiligen Nacht getragen haben soll? Schon die Bezeichnungen klangen zu phantastisch, um wahr zu sein. Und dann noch die drei Salvatorreliquien – Schweißtuch, Schürztuch und Grabtuch –, die nun, nachdem Ludwig der Fromme sie der Abtei Inde geschenkt hatte, hier in der Korneliuskirche aufbewahrt wurden – jetzt unter seiner Obhut.
Und Pfarrer Jan wusste, dass es genug Menschen gab, die die Echtheit der heiligen Stoffe nicht anzweifelten. Doch genauso viele glaubten nicht daran, dass diese Stoffe tatsächlich im Heiligen Land gefunden worden waren. Die Kirche hatte daher schon vor Jahren aufgehört, über ihre Authentizität zu streiten. Vielleicht waren sie authentisch, vielleicht nicht. Entscheidend war allein der Glaube an Gott. Es war schwer was los hier, alle sieben Jahre. So hatte man dem Pfarrer jedenfalls erzählt. Er war gespannt auf seine erste Heiligtumsfahrt in Kornelimünster, die schon bald kommen sollte.
Er schaute noch einmal aus dem Fenster. Heute Nacht jedenfalls herrschte absolute Ruhe. Umso mehr wunderte es ihn, dass er wach geworden war. Etwas musste schließlich in seinen Schlaf eingedrungen sein und ihn geweckt haben. Er kratzte sich am Kopf, zerzauste sein dichtes, schwarzes Haar und gähnte. Zu müde, um weiter darüber nachzudenken, zog er die Wollsocken wieder aus, schlüpfte unter die Bettdecke und schlief sofort ein.
2. KAPITEL
»Ja, die bin ich. Was kann ich für Sie tun?«
Nina war vielleicht etwas forsch, aber auch als Freiberuflerin wollte sie hin und wieder Feierabend haben und nicht unbedingt am Wochenende berufliche Anrufe entgegennehmen müssen. Hoffentlich merkt der Kunde ihren Unmut nicht, dachte sie.
»Sie bieten doch Führungen durch Aachen an, nicht wahr?«
Solche Fragen brachten Nina immer in Rage, am liebsten hätte sie »Wie kommen Sie bloß darauf?!« geschrien. Offensichtlichkeiten hielt sie für reine Energie- und Zeitverschwendung, die größte Sünde im Umgang mit Menschen. Nichtsdestotrotz antwortete sie mit ruhiger und freundlicher Stimme:
»So steht es auch auf meiner Internetseite. Sie haben mich sicher im Internet gefunden, nicht wahr?«, sprach sie in ihr Handy, während sie schwer auf das Sofa plumpste.
Sie hatte heute drei Führungen hintereinander gehabt – und ihre Beine waren schwer wie Blei. Also griff sie auf die altbewährte Methode zurück: kalte und warme Fußbäder, dann schön fest trockenreiben. Herr Kneipp lässt grüßen, lächelte sie. Seine Behandlungsmethoden kannte sie noch aus der Zeit, als sie die Sommerferien bei ihrer Oma verbracht hatte. Im Sommer war sie immer für einen Monat zu ihr gefahren, einer älteren Dame, die ihr neben der wahrlich preußischen Strenge auch die ersten deutschen Worte beigebracht hatte. Als Kind hatte Nina nicht einmal gewusst, dass der Teil Polens, in dem sie gelebt hatte, früher Deutschland gewesen war. Gesprochen hatten sie nie darüber, und da ihre Oma beide Sprachen beherrschte, hatte sie ihrer Enkelin das Deutsche als etwas Selbstverständliches vermittelt.
Nina hatte sich gerade einen Fuß halbwegs abgetrocknet, als der Anruf gekommen war. Sie war aus dem Bad ins Wohnzimmer gehüpft und versuchte nun, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sich den anderen Fuß mit dem viel zu großen Badetuch abzutrocknen – ein mühsames Unterfangen. Beinahe wäre ihr das Handy entglitten, als sie durchatmen wollte. Sie konnte es jedoch auffangen und fluchte innerlich. Sie nahm das Telefon wieder in die Hand und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Dann sah sie auf den Fußboden und seufzte: Nasse Fußspuren eines einbeinigen Monsters führten vom Bad über den Flur zum Sofa.
»Meine Frau und ich wollten eigentlich eine kombinierte Führung buchen: Aachen und Kornelimünster, und zwar während der Heiligtumsfahrt. Wissen Sie, wir haben diese Reliquien noch nie gesehen. Sie müssen sehr schön sein, nicht wahr?«, erkundigte sich der Mann weiter.
Vorausgesetzt, dass sie gezeigt werden, dachte Nina. Die in Aachen sahen so schmutzig und, ja so unheilig aus, dass es vielleicht besser war, sie nicht gesehen zu haben.
»Ja, ja, das sind sie«, gab sie schnell zu und hoffte, er würde keine weiteren Fragen stellen.
Sie war seit ein paar Jahren Stadtführerin, hatte die Reliquien in Kornelimünster aber noch nicht gesehen. Das musste sie unbedingt noch nachholen. Es war doch kein Aufwand, sich einmal unter der Woche oder besser noch, am Samstag nach Kornelimünster aufzumachen und den Pfarrer zu bitten, sie besichtigen zu dürfen. Er war bestimmt ein alter Kirchenmann, der froh sein konnte, dass mal jemand anderes als die alten Dorffrauen zu Besuch kam, um Interesse an den Heiligtümern zu bekunden.
»Für wann möchten Sie die Führung buchen?«
»Welchen Tag würden Sie uns denn empfehlen?«
»Den vorletzten Tag der Heiligtumsfahrt. Da sind die größten Pilgermassen schon weg, und Sie werden sich alles in Ruhe anschauen können. In Aachen und in Kornelimünster.«
»Oh, das ist eine gute Idee. Ich rufe Sie am Tag vor der Heiligtumsfahrt noch einmal an. In Ordnung?«
Nina legte auf und überlegte: Bis zur Heiligtumsfahrt blieb nicht mehr viel Zeit.
3. KAPITEL
Alex saß in seinem Zimmer und starrte auf den Monitor. In den letzten Tagen hatte er beobachtet, wie Nina an ihrer Canon herumhantiert und immerzu geflucht hatte. Die Kamera war schon lange nicht mehr auf dem letzten Stand der Fototechnik. Einmal hatte sie etwas von einer anderen Marke gesprochen, aber Alex hatte den Namen vergessen. Er hatte lange im Internet gesucht, in der Hoffnung, dass ihm die Marke wieder einfallen würde. Und das war sie, lächelte er erleichtert. Viele Tage hatte er überlegt, was er ihr schenken sollte, bis er sauer geworden war, dass man sich zum Geburtstag überhaupt immer etwas schenken musste. Und schließlich hatte er einen Bericht über die Photokina und die neuesten Kameras auf dem Markt gefunden. Seine Stimmung besserte sich schlagartig – bis er den Preis sah: Das neueste Modell von Nikon war verdammt teuer. Spiegelreflex. Er hatte keine Ahnung, warum sie auf diesen Fotoapparat bestand, aber sie sollte ihn bekommen, sie hatte doch bald Geburtstag. Bis dahin blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Sämtliche Internet-Angebote lagen deutlich darüber, was er ausgeben konnte, und auch die eBay-Ergebnisse überzeugten ihn nicht. Er suchte also weiter, bis seine Augen vom langen Starren auf den Bildschirm trocken wurden. Ungeduldig rieb er sie sich, sah plötzlich auf den Link – und staunte: Das neueste Nikon-Modell in einer Tauschbörse? Tauschbörse, unglaublich. Er klickte auf die Adresse, und musste breit grinsen. Ja. Tatsächlich bot jemand genau dieses Kameramodell gegen … was? Gegen Kirchensilber? Was war das denn für einer? War so etwas überhaupt legal? Alex schrieb den Anbieter über das Kontaktformular an und bat um Antwort. Er musste sich diese Kamera unbedingt sichern und irgendwie Kirchensilber besorgen. Aber wie? Er hatte keine Ahnung, worauf es diesem Anbieter bei dem Silber überhaupt ankam. Da fiel ihm ein Nachbar seines alten Schulfreundes ein. Der kannte einige Antiquitätenhändler, und der eine oder andere wusste mit Sicherheit mehr.
Er schreckte auf, als er hörte, dass die Wohnungstür aufging. Er mochte keine Geheimnistuerei, aber diesmal wollte er Nina überraschen. Und er wusste, dass sie schnell dahinterkäme, wenn sie erst einmal Verdacht geschöpft hatte.
»Alex! Wo bist du?« hörte er sie rufen.
»Durchatmen, ruhig Blut«, sagte er leise, bevor er aufstand und in den Flur ging.
»Hier!« Er küsste sie auf die Wange.
4. KAPITEL
»Hier ist doch kein Knochen drin!« Der kleine Junge war enttäuscht, als er in dem rechten Löwenmaul an der Bronzetür des Aachener Doms herumfingerte, dann in das Loch hineinschaute und den linken Daumen des Teufels nicht fand. Seine Eltern lachten begeistert: Na, ist der Junge nicht schlau?!
»Guck ganz genau hin. Wer weiß, vielleicht klappt es doch«, sagte Nina zu ihm und schmunzelte. Immer wieder das alte Spiel. Aber so waren nun mal die Gäste, daran hatte sie sich längst gewöhnt.
Die Geschichte vom Teufel und der Wolfstür war der Abschluss einer jeden Stadtführung, und die Gäste konnten sich selbst davon überzeugen, ob der Teufelsdaumen tatsächlich im Löwenkopf an der Tür steckte. Der Legende nach verdankte Aachen den Bau seines Domes dem Teufel. Dieser hatte den Aachenern Geld für den Bau dieser wunderbaren Kirche gegeben und als Gegenleistung die Seele des Lebewesens verlangt, welches als Erstes die fertig gestellte Kirche betreten würde. Diesen Deal hatte er mit seinem linken Daumen bezahlen müssen, der nun in dem Maul des Löwen an der Domtür steckte, nachdem er sie voller Wut hinter sich zugeschlagen hatte. Dass er wütend geworden war, konnte man sogar verstehen, da ihm die Aachener statt einer menschlichen eine tierische Seele, nämlich die eines Wolfs, untergejubelt hatten. Seitdem versuchten Kinder und Erwachsene den Teufelsdaumen aus dem Löwenkopf herauszuholen, denn als Preis dafür wurde viel Gold in Aussicht gestellt. Wer wollte da nicht mitmachen?
»Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag in Aachen.« Nina verabschiedete sich von der bereits zweiten Gruppe an diesem Tag.
Die Gäste klatschten dankend, und die Gruppe löste sich rasch auf. Jetzt schlenderte jeder auf eigene Faust durch die Altstadt.
Es war ein schöner sonniger Vormittag, doch hier an der Westseite des Aachener Doms war die Sonne noch nicht angekommen. Da im Mittelalter Kirchen entlang der West-Ost-Achse gebaut worden waren, und der Eingang immer im Westen war, ging der Mensch, nachdem er das Gotteshaus betreten hatte, Richtung Osten, wo sich der Altar befand. Nina dachte jetzt weniger an ihre Erlösung, als an den Hunger, der ihren Magen rumoren ließ. Sie ging in eine Bäckerei in der Kleinmarschierstraße, um eine Kleinigkeit zu essen. Mit einem Brötchen und einer Tasse Kaffee setzte sie sich draußen an einen Tisch. Endlich war es warm genug, um im Freien zu sitzen. Sie legte die Sonnenbrille ab und streckte die Beine aus – in einer halben Stunde begann ihre nächste Stadtführung, und am Nachmittag hatte sie noch eine. Vier an einem Tag waren eigentlich zu viel, fand sie.
Nina war seit sechs Jahren Stadtführerin, und zwar aus Überzeugung. Aachen hatte ihr von Anfang an gefallen, das heißt, als sie Ende der achtziger Jahre zum Studium hierhergekommen war. Ihre Begeisterung für die Stadt hatte sich bis heute nicht verändert, vielleicht war sie sogar ein bisschen gewachsen. Denn jetzt wusste sie auch viel mehr über ihre Geschichte. Da das Mittelalter sie schon immer fasziniert hatte, war Aachen zum dankbaren Objekt ihrer ganz privaten Interessen geworden. Karl der Große, der Erbauer des Doms, war längst zur Bezugsperson für alles und jeden hier geworden, wie sie schnell bemerkt hatte. Auch sie war seinem Zauber erlegen, ach was: seinem Charme! Im Laufe der Zeit hatte sich ihre Zuneigung für Aachen in eine echte Liebe zu ihrer Wahlheimat verwandelt, und die war für Nina auch der entscheidende Impuls gewesen, einmal als Stadtführerin zu arbeiten.
Ihr Handy klingelte. Sie musste ihre Brille nicht aufsetzen und auf das Display schauen, um zu wissen, wer es war:
»Ja, Alex, was möchtest du? Mach’s schnell, ich habe nicht viel Zeit.«
Sie war ungeduldig. Alex und sie hatten gestern sehr lange ein neues Online-Spiel ausprobiert und waren spät schlafen gegangen. Sie war nicht ausgeschlafen, und das machte sie leicht reizbar. Es spielte dabei keine Rolle, dass sie ihn gestern geschlagen hatte. Besser war sie ohnehin, wenn es um schnelles logisches und analytisches Denken auf Zeit ging. Sie mochte dieses Nachgrübeln, dieses Auseinandernehmen von Situationen, diese Suche nach allen möglichen Lösungen, um zum Schluss zu entscheiden, welche Lösung die einzig richtige war. Es war tausend Mal besser als all die Abenteuer, die man direkt erleben konnte. Warum durch die Sahara oder den Dschungel ziehen, wo gefährliche und unberechenbare wilde Tiere auf Beutezug herumstreiften? Wozu sich allem Ungeziefer der Welt als Bissfläche hergeben? Diese virtuellen Abenteuer reichten ihr aus, um ihr Bedürfnis nach Spannung und Action auszuleben. Alex war selten besser als sie. Er gab einfach immer zu früh auf. Das passte eigentlich nicht zu einem Programmierer, der nicht nur in mühsamer Arbeit Programme schreiben, sondern immer wieder auch Fehler darin ausfindig machen, diese korrigieren und nachher alles mehrmals prüfen musste. Dafür benötigte er doch auch viel Geduld und Ausdauer. Sie hegte den Verdacht, dass er nur mitmachte, weil er sah, wie viel Freude ihr das gemeinsame Spielen zu bereiten schien. Wenn er nur wüsste …
Alex war ein echter Computerfreak. Die meiste Zeit verbrachte er an seinem Rechner, programmierte Softwareumgebungen für verschiedene Firmen – und spielte. Er tat es, um sich, wie er sagte, zu entspannen. Und sein wirkliches Element waren Ballerspiele. Er mochte es gerade, wenn es knallte und explodierte. Nina verstand das nicht: Wie konnte er sich dabei entspannen, wenn er den ganzen Tag an demselben Computer arbeitete? Alex lächelte immer, wenn sie das sagte, und sie bemerkte in seinen Augen einen Anflug von Überlegenheit: Du verstehst das einfach nicht, bedeutete sein Blick. Das machte sie wütend, und sie knallte dann die Tür seines Zimmers laut hinter sich zu. Besonders laut tat sie es aber, wenn sie mit ihm ins Kino gehen wollte und er versuchte, sich mit einem eiligen Auftrag herauszureden. Dabei wusste sie, sobald sie die Wohnung verlassen hatte, würde er zu seinem Computer zurückkehren. Er war anders gewesen, als sie ihn kennengelernt hatte. Damals, in der IT-Abteilung der Kunststiftung, bei der auch sie gearbeitet hatte, hatte er die erste Anstellung nach seinem Informatik-Studium bekommen. Als ihr damaliger Freund sie verlassen hatte und sie plötzlich ganz allein zurückgeblieben war, hatte Alex ihr beigestanden. Sie hatte gedacht, er wäre ein Softie gewesen. Diese Ballerspiele passten überhaupt nicht zu diesem ersten Einruck, das sie von ihm gewonnen hatte.
Alex war ein eins sechsundneunzig großer Riese von 34 Jahren, mit graumeliertem Haar und hellen, leicht verträumten Augen. Und mit einem kleinen Fehler: Er konnte oder mochte sich nicht für Ninas Arbeit erwärmen, und die Geschichte sowohl im Allgemeinen als auch die von Aachen fand er absolut langweilig. Das machte sie zwar traurig, aber bei allen anderen Qualitäten, die er hatte, war sie bereit, diese Unvollkommenheit in Kauf zu nehmen. Das Wichtigste für sie war jedoch, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Auch darauf, dass er es akzeptierte, wenn sie sich mal wieder ihrer Selbstständigkeit bewusst werden musste. Dabei ging es ihr gar nicht um andere Männer oder Frauen, es ging nicht um Eifersucht, sondern allein darum, einander zu vertrauen. Dass man immer füreinander da war, und doch ein Stück weniger aneinanderklammerte als viele Pärchen, die sie kannten. Und ganz anders als mit ihrem früheren Freund Christian. Dieses Gefühl war entscheidend für ihr Zusammensein. Eifersucht und Unehrlichkeit konnte Nina schlecht vertragen. Es wäre ein Angriff auf ihre innere Unabhängigkeit, ein Gefühl, das sie über alles andere stellte.
»Warum bist du so zickig? Ich wollte nur fragen, wann du nach Hause kommst. Für wann soll ich kochen?«
Alex und seine liebevolle Fürsorge. Nina atmete durch:
»Ach nein, die Gruppe war nicht so toll«, log sie und bohrte ein kleines Loch in ihr Brötchen. »Ich bin gegen fünf Uhr zurück. Ist das okay für dich?«
»Ja, ist gut. Bis später«, sagte er verstimmt und legte auf, noch bevor sie ein Ich drück dich sagen konnte. Das sagte sie immer, egal, wie sie drauf war. Sie stellte sich dabei vor, wie sie ihn schnell und fest umarmte, und gleich wieder davonlief. Und wusste, dass Alex ihr sicherer Hafen blieb. Heute waren anscheinend beide nicht gerade in guter Laune. Die vielen Führungen an diesem Tag strapazierten ihre Nerven, auch wenn sie diesen Job eigentlich mochte. Alex’ Verhalten fand sie allerdings merkwürdig. War er etwa sauer? Er kannte doch ihre Stimmungsschwankungen und behauptete immer, sie seien vollkommen in Ordnung für ihn. Sie war nun einmal sehr emotional, und das hatte nichts mit ihm zu tun. Von wegen in Ordnung. Er sollte nicht die beleidigte Leberwurst spielen, dachte sie verärgert. Sie war schon seit dem frühen Morgen auf den Beinen, während er bequem vor seinem Rechner zu Hause saß. Langsam bohrte sich ein ganz neuer Gedanke in ihr Hirn: War er etwa verstimmt, weil sie seiner Arbeit nicht genug Aufmerksamkeit schenkte? Nicht doch, schnell verwarf sie diese Idee. Darüber hatte er sich noch nie beschwert. Was sollte spannend dabei sein, ein paar Zeilen einer Software zu schreiben? Ihre Nase kribbelte plötzlich. Kam da etwas Spannendes auf sie zu, eine neue Herausforderung etwa? Alex erzählte ihr doch nichts von einem neuen Computerspiel. Wenn nicht das, was dann?
5. KAPITEL
Pfarrer Jan öffnete das Fenster und machte es schnell wieder zu. Eine Vogelschar sammelte sich im Garten der Pfarrei, mit Vorliebe auf dem alten Kirschbaum direkt vor seinem Fenster, und zwitscherte lauthals. Es war nicht auszuhalten. Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Wie jeden Tag machte er seine Morgengymnastik, eine dieser Angewohnheiten, die seine gleichaltrigen Freunde damals im Priesterseminar nicht verstanden hatten, und betete anschließend. Doch das Beten fiel ihm nicht leicht bei dem Duft frisch gebrühten Kaffees, der durch einen Türspalt in sein Schlafzimmer drang. Frau Matzke war bereits in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Er betete auch für sie, auf, dass sie immer gesund bleiben und ihm immer sein Frühstück vorbereiten möge. Lächelnd ging er in die Küche.
»Gelobt sei Jesus Christus … und Ihre Hände, Frau Matzke!« Der Geistliche lächelte, denn er wusste, was jetzt kommen würde.
»Ach!«, schrak sie auf. »Ähm, gelobt sei … Also, Herr Pfarrer, mischen Sie meine Hände nicht mit den Sachen des Herrn. Das gehört sich nicht.«
»Warum denn nicht? Der Herr hat Ihnen gesunde Hände gegeben, und nun können Sie mir immer ein Frühstück vorbereiten. Wenn Sie nicht gesund wären …«
»Um Gottes willen!«, Frau Matzke bekreuzigte sich. »Sagen Sie so was nicht! Sie beschwören damit noch ein Unglück herauf!«
Sie stellte den Kaffee auf den Tisch und seufzte.
»Ein junges Ding hat vor einer Stunde angerufen. Sie will sich unsere Reliquien ansehen, noch vor der Heiligtumsfahrt. Sie sagte, sie sei Stadtführerin in Aachen. Sie würde heute Vormittag zu Ihnen kommen. Sie haben doch Zeit, oder? Nicht dass ich nachher dumm dastehe. Ich muss ja hier Ihre Amtswürde wahren.« Sie sah den Mann Gottes pflichtbewusst an, und trotzdem klang der letzte Satz beinahe wie eine Erpressung.
Pfarrer Jan war irritiert – bald begann die Beichtstunde –, winkte den Gedanken aber beiseite. Er setzte sich an den Tisch und griff nach einem Brötchen. Ich danke Dir, o Herr, für das herrliche Frühstück, dachte er und versenkte seine Zähne in die mit Butter und Waldhonig geschmierte Brötchenhälfte. Das Leben in der Eifel hat auch seine guten Seiten, lächelte er in sich hinein. In München hatte es keinen solchen Honig gegeben.
Es klingelte an der Tür.
»Ist sie das schon?«, seufzte der Pfarrer und schaute seine Haushälterin an.
»Nein, das sind nur Frau Möllen und Frau Schmitz. Sie wollten wissen, wann Sie mit den Vorbereitungen zur Heiligtumsfahrt anfangen werden. Sie wollen wie immer helfen, die Eifrigen, und sich jetzt schon den Platz im Himmel mit Blumenstecken ergattern.« Frau Matzke verdrehte dabei die Augen, denn sie mochte diese beiden aufdringlichen Frauen nicht. Trotzdem musste sie ihre Frage weitergeben. Mit ihren Pflichten nahm sie es sehr genau. »Jetzt warten sie auf Ihre Antwort.«
Der Pfarrer hob die Augen zum Himmel:
»Sagen Sie ihnen, ich werde das alles morgen beim Gottesdienst ankündigen. Jetzt möchte ich in aller Ruhe frühstücken.«
Frau Matzke ging in den Flur und lehnte die Küchentür hinter sich an. Sie wusste, dass er es nicht mochte, wenn die zwei neugierigen Weiber ihm auf die Pelle rückten. Da war es mit seiner heiligen Geduld zu Ende. Die Haushälterin öffnete die Tür, und die beiden traten, ohne abzuwarten, ein und stellten sich so hin, dass sie einen Blick in die Küche werfen konnten, da die Tür wieder aufging und einen Spalt frei ließ. Sie sahen Pfarrer Jan am Frühstückstisch sitzen. Frau Möllen wollte direkt die Küche ansteuern, Frau Schmitz dicht hinter ihr, als die Frau Matzke, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, die beiden mit einem lauten Hüsteln in ihrer Bewegung erstarren ließ. Frau Möllen gab auf und drehte sich zu der Haushälterin. Diese schaute sie einen Moment an und sagte mit ironischem Unterton:
»Sie mögen sich bis Sonntag gedulden. Nach dem Gottesdienst wird der Pfarrer verkünden, was und wann zu tun ist.«
Sie ging zur Haustür und öffnete sie entschlossen – ein Zeichen, dass die zwei gehen sollten. Dabei stellte sie sich so an die Tür, dass nur ein schmaler Durchgang frei blieb. Frau Möllen hob stolz den Kopf und würdigte sie keines Blickes, während sie sich an ihr vorbeiquetschte.
»Einen schönen Tag noch«, schickte die Haushälterin den Frauen hinterher und konnte oder wollte ein breites Grinsen nicht mehr unterdrücken.
»Hast du das gesehen?«, fragte Frau Möllen ihre Freundin aufgeregt, als hinter ihnen die Tür laut ins Schloss fiel. »Unser Pfarrer ist heute nicht so ganz wach. Hast du gesehen, wie ihm die Hände gezittert haben? Er wird doch nicht trinken, oder?«
Frau Möllen, eine energische Frau um die Siebzig, suchte unaufhörlich nach Sensationen. Das ruhige Dorfleben war nicht ihr Ding, aber was sollte sie machen. Da hätte sie woandershin heiraten sollen. Und zwar schon vor siebenundvierzig Jahren. Jetzt war es für einen Neubeginn zu spät. Ihr Mann lag seit fünfzehn Jahren unter der Erde und einen neuen wollte und brauchte sie nicht. Auch die Kinder waren aus dem Haus und besuchten sie nur selten. Ach, die Jugend von heute, meinte sie, obwohl die Kinder auch nicht mehr ganz jung waren.
Schließlich hatte sie einen neuen Sinn in ihrem Leben gefunden: die Hilfe für den Pfarrer, egal wie er heißen oder sein mochte, und sie hatte hier schon einige Pfarrer erlebt. Die kamen und gingen, während sie blieb. In Kornelimünster kannte sie die meisten Menschen seit Jahren, Jahrzehnten gar. Viele von ihnen waren genauso alt wie sie. Frau Möllen kannte deren Kinder und auch deren Kindeskinder. Sie war eine Art lebendige Ortschronik.
Den meisten Bewohnern diente Kornelimünster nur als Schlafplatz. In dem alten Ortskern sah man vor allem Touristen und ältere Ortsansässige an einem Glas Bier oder einer Tasse Kaffee sitzen. Die Zeit floss hier immer noch wie vor Jahrzehnten: gemächlich, ruhig. Viele wussten das sehr wohl zu schätzen. Auch die Jüngeren, obwohl die lieber auf den Hügeln um das kleine Zentrum herum wohnten, wo herausgeputzte Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten standen. Alte Bausubstanz wurde liebevoll und mit viel Mühe renoviert und mit neuen Sanitärinstallationen und Leitungen ausgestattet. Nur vereinzelt brachen moderne Bauten die altertümliche Atmosphäre irritierend auf. Eine echte Wohnidylle für Gehetzte. Denn gearbeitet wurde woanders, in Aachen. Und gerade all das war einfach zu ruhig für die alte und immer noch agile Dame: tagein, tagaus das Gleiche, dieselbe öde Routine. Sie sehnte sich so sehr nach neuen Erlebnissen. Und der neue Pfarrer war jung …
»Wer weiß? So wie der dreinblickt? Unheimlich. Vielleicht schaut er doch etwas zu tief ins Glas?«
Ihre Freundin, Frau Schmitz, mochte den Neuen nicht. Wegen seiner Augen. Man wusste ja nicht, wo man hingucken sollte, wenn der einen mit diesem direkt in die Seele eindringenden Blick anschaute. Hilde Schmitz hätte nichts dagegen, wenn man ihn wieder woandershin versetzen würde.
Pfarrer Jan war ein schmächtiger Mann Ende vierzig mit einem fein geschnittenen Gesicht, schwarzem, dichtem Haar und dunklen, glühenden Augen. Das ließ ihn viel jünger erscheinen, als er wirklich war – und sehr attraktiv. Soutane hin oder her, junge und auch weniger junge Frauen sahen sich häufig nach ihm um. Wenn sie aber in seinem Beichtstuhl knieten, waren sie froh, nicht in diese Augen sehen zu müssen. Sie wussten, sie würden ihm dann doch wieder alles sagen. Mehr als sie beabsichtigt hatten. Und das gefiel Frau Schmitz nicht, ganz und gar nicht. Sie wollte sich selbst nicht eingestehen, dass auch sie von diesen Augen in den Bann gezogen wurde. Sie hatte sich noch nie bei einem Mann so gefühlt, so unbeschreiblich schwach … in den Beinen, ja, das war es: in den Beinen! Doch ihre Beine wurden jetzt gar nicht schwach, dafür raste ihr Herz wie verrückt. Sie beschleunigte ihre Schritte.
»Frau Schmitz, warte doch mal! Hilde, nicht so schnell! Ich kann nicht mehr.« Frau Möllen war außer Atem. »Was ist denn in dich gefahren?«
»Ach nichts, ich finde ihn nur merkwürdig. Es bleibt nicht viel Zeit bis zur Heiligtumsfahrt, und er tut nichts dafür. Wir werden uns noch seinetwegen schämen müssen, das wirst du noch sehen. Nichts ist vorbereitet. Und da sitzt er und frühstückt in aller Ruhe.«
»Lass ihn doch. Er wird schon wissen, was er tut. Ach, schau mal! Siehst du die Kleine, die da an seine Tür klopft? Da bin ich aber gespannt, ob er die auch so schnell abspeist.«
Frau Möllen leckte sich die Lippen, wie ein Hund, der die Fährte eines Kaninchens aufgenommen hatte. Sie lechzte förmlich nach einer Sensation. Vielleicht hatte der Pfarrer eine Geliebte? Es musste doch endlich etwas Spannendes passieren in diesem Kaff!
6. KAPITEL
Nina stellte ihren Wagen, einen kleinen perlmuttweißen Fiat 500, auf dem großen Parkplatz vor der Propsteikirche in Kornelimünster ab und ging energischen Schrittes über den Platz. Sie blieb vor einer unauffälligen Tür stehen. So hatte sie sich den Eingang zu einer Pfarrei nicht vorgestellt. Eigentlich achtete sie nicht auf solche Dinge, aber jetzt, als sie davorstand, kam ihr der Gedanke, dass eine Tür zum Pfarrhaus doch ruhig ein bisschen imposanter, würdiger aussehen könnte. Da sie nirgends eine Klingel entdecken konnte, klopfte sie an.
»Guten Morgen«, sagte sie zu Frau Matzke, nachdem diese langsam und sichtbar unwillig die Tür geöffnet hatte. »Darf ich zu Pfarrer Jan?«
»Oh, Sie kennen schon seinen Vornamen?«
Frau Matzke konnte sich den Blick von oben herab nicht verkneifen, der so typisch für Haushälterinnen war, wenn sich jemand einen Schritt zu weit in ihr Territorium hineinwagte.
Nina betrachtete die ältere, etwas dickliche Frau mit einem imposanten Busen und einem scharfen Blick verwundert. Ihre grauen Haare hatte sie altmodisch aufgesteckt, was ihr einen gediegenen Eindruck verlieh.
»Ich habe vorhin angerufen und einen Besuchstermin bekommen. Es geht um Reliquien«, sagte Nina unbeeindruckt und machte einen Schritt nach vorn.
»Na, da kommen Sie doch herein. Pfarrer Jan erwartet Sie bereits.« Frau Matzke ließ sie durch und schloss die Tür zu. »Folgen Sie mir«, forderte sie Nina trocken auf.
Nina hob die Augenbrauen. Was war das denn für ein Zerberus in Frauengestalt?
Die Haushälterin öffnete die Tür zum Büro des Pfarrers und zog sich zurück, nicht ohne einen letzten neugierigen Blick auf die junge Frau zu werfen.
Nina erblickte einen gut aussehenden Mann, der sich von seinem Schreibtisch erhob. Sollte das der Pfarrer sein? So jung und so attraktiv? Ehe sie sich mit ihren Zweifeln ausführlicher beschäftigen konnte, hörte sie sich selbst sagen:
»Guten Morgen, Herr Pfarrer.«
Mit der Kirche verband sie seit Jahren nur ihre Arbeit, und auch das nur am Rande. Die Feinheiten des Umgangs mit Geistlichen waren ihr irgendwann abhandengekommen, und sie hatte sie bis heute auch nicht besonders vermisst. Und nun stand sie verunsichert da und hoffte, dass er ihr diese Anrede nicht übelnehmen würde.
»Gelobt sei Jesus Christus«, entgegnete der Geistliche und lächelte.
Ihre anfängliche Unsicherheit verschwand dank seines freundlichen Empfangs, und sie sah ihn offen an. Der sieht aber wirklich nicht schlecht aus und ist auch nicht so alt, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, dachte sie. Und diese Augen! Dunkelbraun, durchdringend, hellwach. Sein Blick überraschte sie. Oho, aufgepasst: ein Verführertyp in einer Soutane, schmunzelte sie und schaute zur Decke, um sich ihre Gedanken nicht anmerken zu lassen. Aber er bemerkte ihr Lächeln und dachte wie so oft: Alle Frauen sind wunderbar. Manche mehr als andere. Ich habe aber meine Wahl fürs Leben getroffen, und so wird es bleiben. Er nickte dabei, als wollte er sich selbst der Richtigkeit dieser Wahl vergewissern, denn in manchen Fällen schlich sich ein leiser Zweifel in seine Überzeugungen ein.
Nina, eine große, schlanke Frau mit intensivgrünen Augen hatte langes, gelocktes blondes Haar, das sie in einem Bauernzopf gezähmt und mit einem Gummiband gebunden trug. Ein chaotischer Pony über den regelmäßigen Augenbrauen verlieh ihrem Gesicht etwas von einem neugierigen kleinen Mädchen. Vielleicht waren es aber ihre Augen, die einen immer offen und freundlich anschauten. Sie sah den Pfarrer ganz unverhohlen mit ihrem typischen, leicht herausfordernden Gesichtsausdruck an, während sie gleichzeitig den Kopf schräg legte.
Sie verstand sein Nicken als Aufforderung zum Sprechen und öffnete den Mund, doch im selben Moment sprach der Geistliche:
»Ich hörte, Sie möchten sich unsere wunderschönen Reliquien anschauen?«
Pfarrer Jan senkte seinen Blick, was Nina dazu veranlasste, blitzartig nach ihrer großen Tasche zu greifen und sie sich vor die Füße zu legen. Das hatte sich bei ihr bereits zu einem Reflex entwickelt. Ihr größtes Problem lag dort unten, ein paar Zentimeter über dem Boden: Ihre Fesseln sollten angeblich zu dick sein. Das hatte einmal ihre beste Freundin behauptet. Seitdem waren ihre Beziehungen etwas abgekühlt. Sonst war aber Ninas Figur perfekt, ohne dass sie etwas dafür hatte tun müssen. Nur diese Fesseln! Deshalb trug sie Sportschuhe und darüber Stulpen, obwohl es im Sommer immer etwas aufgesetzt aussah. Diese Macke war aber das Einzige, was ihrem Auftreten manchmal etwas Unsicherheit verlieh.
»Wunderschön?«, entgegnete Nina überrascht. Ach ja, mag sein, dachte sie. Woher sollte sie das wissen? Sie hatte ihre eigene Vorstellung vom Aussehen dieser Reliquien. Vor allem, nachdem sie die in Aachen gesehen hatte: mit Flecken übersäht, ausgefranst, tausendmal von schmutzigen Händen berührt. Nein, schön waren sie mit Sicherheit nicht.
»Ja. Sie denken wohl, unsere heiligen Stoffe sehen so aus, wie die in Aachen, nicht wahr?«
Nina fühlte sich ertappt und errötete. Sie begann in ihrer Tasche zu kramen, holte ihre Brille hervor und setzte sie auf. Dann sah sie den Pfarrer noch einmal an. Das war ihr erprobtes Mittel, Verlegenheit zu kaschieren.
»Was ist an den Reliquien anders als an denen in Aachen? Die kommen doch alle aus Jerusalem. Karl der Große hat sie ja von dem Patriarchen alle auf einmal bekommen.«
Sie mochte es nicht, wenn jemand versuchte, ihr Wissen zu testen. Dabei ließ sie sich fast immer provozieren. Wie auch diesmal.
»Und dann schenkte sein Sohn und Nachfolger, Ludwig der Fromme, drei von diesen Reliquien – das Schürztuch, das Grabtuch und das Schweißtuch Christi – dem 814 gegründeten Kloster an der Inda, später das Kloster des heiligen Cornelius genannt«, erklärte sie hastig.
Der Pfarrer ließ es unbeeindruckt bei einem beschwichtigenden »Ja, so war es« bewenden. Das Mädchen sollte ruhig auf dem Teppich bleiben. Sie machte ihn jedoch neugierig und noch dazu war sie hübsch. Und hübsche Frauen kamen selten in seine Sakristei.
»Und was versprechen Sie sich davon, jetzt diese heiligen Tücher zu sehen?«
»Ich bin Stadtführerin in Aachen und möchte die Reliquien gesehen haben, bevor ich von ihnen erzähle. Und jetzt vor der Heiligtumsfahrt vermehren sich Anfragen nach Führungen auch nach Kornelimünster«, antwortete sie und ließ ihren Blick über das Büro des Pfarrers wandeln.
Der Raum war mit schweren, dunklen, reich verzierten Möbeln eingerichtet – vielleicht belgischer Herkunft: ein Schreibtisch, eine Reihe Bücherregale und Bücherschränke, ein kleiner runder Tisch und drei Sessel um ihn herum. Es war nicht Pfarrer Jan, der die Möbel ausgesucht hatte, überlegte sie. Sie standen hier bestimmt schon seit Ewigkeiten.
»Da haben Sie ja eine interessante Arbeit – Touristen die schöne Stadt Aachen zu zeigen. Sie mögen Ihre Arbeit, nicht wahr?«
»Ja, selbstverständlich.« Nina sah ihn herausfordernd an. Schon wieder eine von diesen überflüssigen Fragen. Sie riss sich jedoch zusammen, schließlich wollte sie die Reliquien sehen.
»Sie kommen extra aus Aachen hierher, um sich vor der Heiligtumsfahrt die heiligen Stoffe anzuschauen. Nur der Gäste, der Pilger wegen. Manchen Menschen reichen ein paar Fotos vollkommen aus. Sie wollen sie jedoch in Natur sehen«. Pfarrer Jan wollte ihr auf den Zahn fühlen.
»Ja, das stimmt. Es interessiert mich einfach alles, was Aachens Geschichte betrifft.«
Und schon war Nina in ihrem Element, ihr Gesicht strahlte. Ihr Enthusiasmus riss ihre Zuhörer stets mit. Sie merkte, dass es dem Mann Gottes auch nicht anders ging.
»Dann lassen Sie uns in die Kirche gehen. Normalerweise würde ich das nicht einmal für Sie machen. Die Reliquien werden im Reliquienaltar aufbewahrt, doch jetzt kurz vor der Heiligtumsfahrt haben wir sie in eine Truhe gelegt. Kommen Sie mit! In einer halben Stunde muss ich im Beichtstuhl sein, viel Zeit haben wir also nicht.«
»Oh, es tut mir leid. Daran habe ich nicht gedacht.«
»Wie, gehen Sie etwa nicht zur Beichte?«
»Ähm …« Ertappt. Nina zupfte an der Tasche, die an der Armlehne des Sessels hängen geblieben war.
Religiöse Rituale hatten für sie längst an Bedeutung verloren, obwohl sie in Polen aufgewachsen war, und dort nahm man es mit der Kirche etwas strenger. Ihre Familie gehörte jedoch nicht zu den pflichtbewussten und frommen Katholiken. Nina war zwar getauft worden und hatte die erste Kommunion erhalten, aber danach hatte sie selbst entscheiden dürfen, wie sie ihren Glauben lebte und wie sie der Religion gegenüberstand. Und jetzt fühlte sie sich plötzlich schuldig, den christlichen Pflichten nicht nachgekommen zu sein. Ob das an diesem durchdringenden Blick aus Pfarrer Jans dunkler Augen lag?
»Schon gut, lassen wir das.« Er bemerkte ihre Verlegenheit und setzte das Thema nicht fort.
»Nur noch eine Frage.« Nina kramte aus ihrer Tasche den Fotoapparat heraus. »Darf ich die Reliquien fotografieren?«
»Nun, so einfach ist das nicht«, antwortete er und überlegte, wie er ihr das erklären sollte, ohne alles sagen zu müssen.
»Die Umgebung des Aufbewahrungsortes soll nicht jedem zugänglich sein«, begann er, »auch nicht in dieser Form. Es wird wohl besser sein, wenn Sie sie während der Heiligtumsfahrt fotografieren. Das dürfen Sie tun. Aber ohne Blitzlicht.« Er hob dabei seinen Zeigefinger.
Nina seufzte, hängte sich die Canon dennoch um. So leicht wollte sie nicht aufgeben. Vielleicht würde sie doch noch irgendwo einen Schnappschuss machen können. Fotografieren war ihr Lieblingshobby. Ihre Ausstattung war zwar, wie sie sagte, semiprofessionell, dafür waren ihre Ergebnisse ganz passabel, vor allem in Detailfotografie.
Sie verließen das Pfarrhaus und gingen hinüber zum Eingang der Kirche an der Nordseite. Den zwei älteren Damen, die auf einer Bank auf dem Benediktusplatz saßen, entging das nicht. Als ob sie nur darauf gewartet hätten:
»Siehst du? Da haben wir sie.« Frau Möllen zeigte mit dem Regenschirm, den sie immer bei sich trug, auf die beiden. »Mit ihr geht er sofort in die Kirche. Und wir müssen warten. Hast du das gesehen? Was hat die, was wir nicht haben?«
Ihre Frage blieb unbeantwortet über den beiden Freundinnen hängen. Frau Schmitz’ Blick folgte der Luftlinie, die am Ende des Regenschirms begann und an der Kirchentür endete, und nickte mit dem Kopf.
»Mhm«, sagte sie nur.
Dann schwiegen sie weiter, jede in ihre Gedanken vertieft.
»Was hat die, was wir nicht haben?«, wiederholte Frau Möllen nach einer Ewigkeit und versank wieder in Gedanken.