Ammianus-Verlag
Die Autorin
Die aus Polen stammende und in Aachen lebende Autorin Renata A. Thiele ist als Stadtführerin, Sprachdozentin und Übersetzerin tätig. Sie schreibt Erzählungen und Beiträge für Zeitschriften sowie Kurzgeschichten in Deutsch und Polnisch.
»Das Vermächtnis. Alte Liebe – frische Spur« ist nach »Eine Heilige Sache. Große Sünden – kleine Sünden« und »Die Verschollenen Noten. Kalt berechnet – heiß begehrt« ihr dritter Roman, der im Ammianus-Verlag erschienen ist.
www.textera.de
Renata A. Thiele
Das Vermächtnis
Alte Liebe – frische Spur
Impressum
Erste Auflage November 2017
© 2017 Ammianus GbR Aachen
Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.
Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn unter Verwendung
eines Fotos von Renata A. Thiele
Copyright der Fotos und Illustrationen: Renata A. Thiele,
Burkhard Storbeck, Aachener Stadtarchiv
Lektorat: Melanie Kaesler
Korrektorat: Jörg Fündling
Satz: Michael Mingers
Druck: TZ-Verlag und Print GmbH, Roßdorf
Printausgabe-ISBN:978-3-945025-68-0
ISBN E-Book: 978-3-945025-69-7
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Präfix
Als sich die Eingangstür hinter dem letzten Gast geschlossen hatte, wurde es still. So still, dass er überlegte, ob er nicht taub geworden war. Er wartete trotzdem noch einige Minuten. Als nichts geschah, öffnete er vorsichtig die Toilette und verließ den Raum. Es war dunkel und ruhig. Langsam und vorsichtig suchte er den Weg ins Büro. Soweit er sich erinnerte, müsste er hinter dem Treppengeländer die Tür zum ersten Büroraum finden, diese durchqueren und dort, links, befand sich die Tür zum Vereinsbüro. Gerade als er mit seinem Dietrich im Schloss fummelte, hörte er, wie eine Tür aufging. Ein Lichtstreifen fuhr über den Fußboden. Jemand mit einer Taschenlampe betrat den Durchgangsraum.
»Sie? Was suchen Sie hier? Jetzt rufe ich aber die Polizei!«, rief der Mann und griff nach seinem Handy.
Das konnte er nicht zulassen. Er sprang auf den Mann zu und riss ihm das Handy aus der Hand. Auch die Taschenlampe fiel auf den Boden und das Licht erlosch. Es wurde dunkel.
»Scheiße!«
»Hören Sie bloß auf«, rief der Mann wieder und versuchte, ihm sein Handy zu entreißen.
Während des Gerangels überlegte er hektisch, wo er den Alten einsperren konnte, um das Gemälde in Ruhe von der Wand abzuhängen, ohne es zu beschädigen, und mitzunehmen. Der Alte ließ sich aber nicht so einfach verdrängen: Er attackierte ihn immer wieder, griff nach seinem Arm und zerrte ihn gezielt in eine Richtung. Jetzt hatte er die Orientierung verloren und konnte nur vermuten, dass es hier zum Ausgang gehen musste. Das durfte er nicht zulassen – er fasste ihn am Hals und drückte zu, so fest er konnte. Der Alte sollte nur endlich seinen Arm loslassen. Erst als der Druck der Hände an seinem Arm nachgelassen und er einen dumpfen Aufprall gehört hatte, wurde ihm klar: Sie befanden sich an der Wendeltreppe. Das bedeutete, dass der Mann jetzt unten auf dem Steinboden lag.
»So ein Scheiß«, murmelte er. »Der sollte doch längst zu Hause bei seiner Alten sein.«
Plötzlich vernahm er von unten ein Geräusch. Dort war jemand. Verdammt noch mal! Ein Zeuge. Der durfte die Burg nicht verlassen. Er schlich leise die Treppe hinunter …
1. KAPITEL
Der Juni war glühend heiß in diesem Jahr. Die Luft vibrierte über den Straßen, und die Menschen versuchten, sich so langsam wie möglich zu bewegen. Leonard verließ das Hauptgebäude der Königlichen Technischen Hochschule am Templergraben und wandelte, in Gedanken vertieft, zum Markt. Die Vorlesung hatte er nicht besonders interessant gefunden und er hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht einzuschlafen. Das Studium des Maschinenbaus entsprach nicht unbedingt seinen Zukunftsplänen. Er wollte Journalist werden, seine Aufsätze in der Schule waren die besten des ganzen Jahrgangs, aber sein Vater blieb hart. Er war selbst Redakteur beim Aachener »Echo der Gegenwart« und wusste nur zu gut, wie schwer es war, in diesem Beruf Geld zu verdienen, um seiner Familie ein anständiges Leben zu sichern. Leonard sollte studieren, Ingenieur werden, damit es seiner eigenen Familie besserging. Wenn er also seinen Vater nicht enttäuschen sollte, musste er sich mehr anstrengen. Auch bei dieser Hitze!
Der junge Mann war noch nicht weit gekommen, als er bemerkte, dass viele Menschen in die von ihm eingeschlagene Richtung eilten und einander etwas zuriefen. Von Neugier gepackt beschleunigte er. Je näher er dem Markt kam, desto heißer wurde es und in der Luft wirbelten kleine Fetzen Asche. Der beißende Rauch zwang Leonard seinen Mund mit einem Taschentuch zu schützen, seine Augen füllten sich mit Tränen. Keuchend erreichte er den Markt.
Dort bot sich ihm ein furchtbarer Anblick: Der Granusturm, einer der zwei Rathaustürme, stand in Flammen. Nicht nur er, viele Gebäude links vom Rathaus waren bereits vom Feuer erfasst und brannten lichterloh. Wie alle anderen Schaulustigen verfolgte auch er gebannt das schauerliche Spektakel. Es war ihm dabei nicht bewusst, dass er sich schrittweise durch die Menschenmasse kämpfte, bis er wenige Meter vor dem »Postwagen« stehenblieb, diesem kleinen, putzigen Restaurant, das sich an das Rathaus schmiegte – und das auch gerade Feuer fing. Der Brand beanspruchte Leonards ganze Aufmerksamkeit, daher achtete er nicht auf seine Sicherheit. Eine Feuersäule schoss plötzlich vom Dachstuhl des Rathauses in die Höhe. Durch die Wucht der Explosion flog ein Balken in die Luft, um in hohem Bogen laut krachend einer Frau direkt vor die Füße zu fallen. Sie sank in Ohnmacht und ein Mädchen, wahrscheinlich ihre Tochter, bückte sich erschrocken über sie und begann auf sie einzureden, um sie zum Aufstehen zu bewegen.
Ohne lange zu zögern, eilte Leonard den beiden zu Hilfe. Er kniete sich neben die Frau und unternahm, zunächst vorsichtig, einige Versuche, sie wiederzubeleben, so wie sein Großvater es ihm einmal gezeigt hatte. Dieser war im preußisch-französischen Krieg gewesen und hatte vielen Menschen das Leben retten müssen, während andere bemüht gewesen waren, Leben auszulöschen. Leonard schlug der Frau ein paarmal leicht ins Gesicht, doch sie reagierte nicht.
»Aber hören Sie! Was machen Sie da?«, empörte sich das Mädchen.
Leonard achtete nicht auf sie, sondern überlegte nun, wie er die Ohnmächtige so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone entfernen konnte.
»Kommen Sie, helfen Sie mir doch«, rief er dem Mädchen zu und ergriff die Arme der Frau.
»Sie dürfen aber meine Maman nicht mehr schlagen!«, betonte sie entsetzt, hörte aber trotzdem auf Leonard und fasste die Beine ihrer Mutter an den Knöcheln. Mit Mühe zogen sie sie gemeinsam einige Meter weiter, hinter einen Pferdewagen, der aus unerklärlichen Gründen immer noch dort stand. Das Pferd indessen war wohl bereits in Sicherheit gebracht worden.
»Das musste ich tun«, erklärte Leonard kurz und dachte über das weitere Vorgehen nach. Schließlich legte er die Frau auf den Rücken, hob ihre Arme und bewegte sie hinter ihren Kopf und zurück. Diese Bewegung wiederholte er einige Male.
»Unterlassen Sie das doch!«, flehte das Mädchen ihn an und kniete sich neben die Mutter. »Maman, Maman, wach doch auf!«
Leonard konzentrierte sich auf das Gesicht der Bewusstlosen und ihre Brust. Endlich bemerkte er eine Bewegung. Die Frau begann, wenn auch flach, zu atmen. Erleichtert setzte er sich neben sie auf den Boden, hob den Blick – und versank in blauen Augen, umrahmt von langen, hellen Wimpern. So gebannt, vergaß er alles um sich und versuchte nicht einmal, sich von diesem Anblick zu lösen. Als ein weiterer Balken in der Nähe niederkrachte, erwachte er aus der Starre.
»Ihrer Mutter geht es wieder gut. Sie mögen mir die Schläge verzeihen. Sie musste aber zuerst wieder zu sich kommen. Das war am wichtigsten. – Oh! Mein Name ist übrigens Leonard Frenzen.«
Die Entschuldigung war überflüssig; die Frau setzte sich langsam aufrecht und suchte mit einem Arm nach ihrem Hut, der ihr bei der Rettungsaktion vom Kopf gerutscht war.
»Maman, hier ist er.« Das Mädchen reichte der Mutter das verlorene Stück ihrer Garderobe. »Geht es dir wieder gut?«
»Was war denn das? Warum sitze ich auf dem Boden?«, staunte diese, immer noch benommen.
»Sie sind in Ohnmacht gefallen, was nicht verwundern darf. Beinahe wären Sie von einem großen Balken getroffen worden. Sie haben viel Glück gehabt.«
»Und wer sind Sie?«
Sie betrachtete den jungen Mann mit den dunkelblonden Locken um das schmale Gesicht. Seine zarten Züge wirkten sympathisch. Der sorgfältig gestutzte Schnurrbart sah wie ein Versuch aus, etwas älter zu erscheinen, doch der eindringliche Blick aus dunklen Augen machte dieses Vorhaben zunichte.
»Er ist dein Retter, Maman«, sagte das Mädchen, das sich inzwischen beruhigt hatte und den jungen Mann ebenfalls neugierig betrachtete. Sie lächelte ihm dankbar zu, aber er hatte den Eindruck, dass sich in ihren Augen weit mehr als nur Dankbarkeit widerspiegelte.
»Ich verdanke Ihnen also mein Leben«, stellte die Frau nüchtern fest und gab Zeichen, dass sie aufstehen wollte. »So. Wie können wir uns denn bei Ihnen revanchieren, junger Mann?«
Leonard brauchte nicht lange zu überlegen. Noch während er ihr beim Aufstehen half, antwortete er:
»Dürfte ich Ihre bezaubernde Tochter einmal … an einem Nachmittag besuchen?«, beendete Leonard beherrscht und würdevoll.
Die Frau schnaubte und blickte ihre Tochter prüfend an, von deren Gesicht abrupt das glückliche Lächeln verschwand, um einer sittsamen Miene Platz zu machen.
»Nun gut. Nebenbei, mein Name ist Rosa von Bolkenstein und meine Tochter heißt …«
»Henriette«, beendete diese und strahlte Leonard an.
Die Mutter seufzte unmerklich.
»Wir gehen nach Hause. Wir werden Sie wissen lassen, wann uns Ihr Besuch genehm ist«, sagte sie zum Abschied. Sie musste diese Angelegenheit zuerst mit ihrem Gatten besprechen. Seine hohe Funktion erlaubte ihr nicht, irgendjemanden, dem sie auf der Straße begegnet war, in ihren Salon einzuladen. Selbst dann nicht, wenn er ihr Lebensretter war.
»Ich danke Ihnen vielmals, gnädige Frau. Meine Familie wohnt in der Jakobstraße.« Leonard verbeugte sich zum Abschied.
Unbeschwert lief er nach Hause zurück und spürte, dass etwas Neues in seinem Leben begann. Den Brand des Rathauses hatte er beinahe vergessen.
Das Feuer hatte indessen enormen Schaden angerichtet, obwohl es in der Stadt seit kurzem eine Feuerwehr gab, die mit allen verfügbaren Kräften angerückt war. Auch aus benachbarten Städten eilten mehrere Löschzüge herbei. Das gesamte Archiv musste aus dem Rathaus hinausgetragen und in Sicherheit gebracht werden. Als der Südostwind das Feuer über den Markt hinweg in nordwestlicher Richtung zu tragen drohte, halfen viele Aachener beim Löschen: Sie begossen unentwegt die Dächer mit Wasser, um die Verbreitung zu stoppen. Als der Brand nach fünf Stunden endlich gelöscht war, waren ihm beide Rathaustürme sowie mehrere Häuser der Altstadt zu Opfer gefallen.
Aber da war unser verliebter Leonard längst in Tagträume versunken.
TAGEBUCH
Juni 1883 –
Sie sah so wunderschön aus, wie ein Frühling, wie ein frischer, sonniger Tag. Für ihr Lächeln hätte ich die ganze weibliche Bevölkerung der Stadt retten können. Ich weiß, mein Herz schlägt ab jetzt nur für sie. Und ich wage nicht zu hoffen, daß auch ihr Herz jemals das Gleiche für mich empfinden wird.
Eine ganze qualvolle Woche habe ich seit diesem Tag sehnsüchtig auf ein Zeichen, ein Billet der Familie von Bolkenstein gewartet. Ich bin jeden Tag durch die Stadt gelaufen, in der Hoffnung, sie wiederzusehen. Nichts. Als wären sie verreist.
Wenn ich bedenke, daß ich sie womöglich nicht kennengelernt hätte, wäre der Brand nicht gewesen – ich mag aber nicht so denken. Es ist mir peinlich, mich an der Löschung nicht beteiligt zu haben. Mein Vater war als Redakteur dabei und wusste nachher viel Furchtbares zu berichten. Ich hörte beschämt zu und wagte kein Sterbenswörtchen von meinem speziellen Beitrage zu erwähnen.
Endlich – nach acht (!) Tagen der Ewigkeit ist das ersehnte Billet gekommen. Es war wie Weihnachten! Ich habe den Umschlag ungeduldig aufgerissen und das Kärtchen auseinandergeklappt: Ich darf sie besuchen. Morgen um vier Uhr nachmittags. Ich bin der glücklichste Mann auf der Welt. Ich kann jetzt nicht ans Lernen denken, ich habe für nichts anderes Gedanken. Ich denke nur an sie. Mutter macht sich Sorgen und schaut unter verschiedenen Vorwänden immer wieder in meinem Zimmer vorbei. Gestern habe ich es ihr schließlich erzählt. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht. Ich weiß ja nichts über diese Familie, was ich ihr hätte erzählen können. Nur – ein Fräulein von Stand und dann ein Student! Sie hat beschlossen, ich sollte erst einmal nichts dem Vater sagen. Und sie will selbst Erkundigungen anstellen. Mir ist alles recht – und recht egal. Ich will nur endlich Henriette sehen.
2. KAPITEL
»Es brennt! Es brennt!«
Schnelle Schritte donnern im Treppenhaus.
»Hilfe! Schnell!« Eine andere Männerstimme, begleitet von heftigem Keuchen, folgt der ersten.
Der Stimmenwirrwarr wird lauter und hektischer. Dieser Krach gehört eindeutig nicht in Ninas Traum. Genauso wenig wie der Rauch, dessen beißender Geruch ihre Nase reizt. Sie springt aus dem Bett und läuft zur Tür, reißt sie auf und späht ins Treppenhaus. Eine Welle süßlichen Gestanks, vermischt mit dem Geruch von verbranntem Holz, lässt ihr den Atem stocken. Sie reibt sich die Augen und hält sich den Arm schützend vor den Mund. Ein Mann mit einem Feuerlöscher in der Hand läuft an ihr vorbei.
»Ruf doch einer die Feuerwehr!«
Ein weiterer Mann erklimmt die erste Etage. Nina lugt vorsichtig hinunter. Ihre Nachbarin, Wilhelmine Habicht –für die Nachbarn einfach Mine – lehnt im Türrahmen und blickt den Mann gelangweilt an. Sie trägt wie immer eines ihrer altmodischen Gewänder und ihren Kopf ziert ein kunstvoll gewickelter Turban.
»Feuer? Wo denn? Doch nicht hier«, prustet die alte Dame und hantiert mit dem Feuerzeug, das partout kein Feuer erzeugen will. Der Zigarillo bleibt unangezündet und sie nimmt ihn entnervt aus dem Mund.
Der Mann hält vor ihr an, damit sich sein Atem beruhigt:
»Was machen Sie hier noch? Verlassen Sie sofort das Haus. Es brennt!« Er stutzt über die Gelassenheit der Frau.
»Hier aber nicht«, entgegnet Mine und zeigt auf das Feuerzeug.
»Vergessen Sie das Rauchen und bringen Sie sich in Sicherheit!«
Die hat Nerven, geht Nina durch den Kopf. Oder sie kann nichts mehr riechen von der ganzen Qualmerei.
»Wo brennt es denn, wenn es Ihre Kräfte nicht übersteigt, mir das eben kurz zu erläutern?«
»Der Dachboden brennt!«, schreit der Mann und zeigt mit dem Kopf nach oben, während er die Treppe hinaufsteigt.
»Der Dachboden. Bäh!«, schnaubt Mine und will die Tür wieder schließen, als sie plötzlich innehält. »Der Dachboden?! O Gott, o Gott!«, schreit sie auf, rafft ihr langes, weites Kleid zusammen und folgt dem Mann – für ihr Alter erstaunlich flink. »Nein, bitte nicht!«, fleht sie wen auch immer an.
Gerade als sie an Nina vorbeihuscht, kommt Markus aus seiner Wohnung und stößt mit der alten Dame zusammen.
»Was ist hier los?«
»Feuer! Es brennt, junger Mann! Kommen Sie, wir müssen sie retten!«, ruft Mine ihm zu.
»Wen müssen wir retten?« Auch Markus schützt seine Nase vor dem Rauch und tritt von einem Bein auf das andere, unschlüssig, ob und was er machen soll.
»Der Dachboden scheint zu brennen. Lass uns nachsehen, vielleicht müssen wir tatsächlich helfen!«, ermutigt Nina ihn und schubst ihn an.
»Wir wissen nicht, wie das geht. Die Feuerwehr muss kommen. Jemand hat sie bestimmt schon gerufen. Wir könnten uns verletzen. Lass uns hier unten bleiben!«, protestiert er schwach, folgt ihr jedoch hinauf.
Sie erreichen das oberste Stockwerk des alten Mietshauses, wo es einen Raum für alles gibt, was die Mieter nicht brauchen, und noch einiges mehr, wovon nicht jeder wissen muss. Sie erblicken Mine, die wild mit den Armen fuchtelnd versucht, sich den Zugang zu der Dachkammer zu verschaffen. Die Männer stellen sich vor die Tür und hindern sie daran, sie aber kämpft wie eine Furie und schlägt sogar um sich.
»Meine Pflänzchen! Meine hübschen!«, schreit Mine so herzzerreißend, als steckten ihre Kinder in den Flammen.
»Pflänzchen? Welche Pflänzchen?«, wundert sich Markus.
»Du weißt doch, dass sie dem Dealer gekündigt hat.«
Er öffnet den Mund, als wollte er seiner Empörung Ausdruck verleihen, schließt ihn jedoch sogleich wieder. Der beißende Rauch dringt in seinen Hals und er hustet mehrmals kräftig, bevor er wieder sprechen kann.
»Welchem Dealer?«
»Hast du schon deinen Rausch im letzten Sommer auf der Terrasse vergessen?«
»Hör bloß auf!« Markus würgt schon bei der Erinnerung an seinen ersten Kontakt mit einem Joint. Und auch seinen letzten mit diesem widerlichen Zeug, nachdem er sich die Seele aus dem Leib hat kotzen müssen. Er hat feierlich geschworen, nie wieder so ein Ding in den Mund zu nehmen. Auch wenn er seinen Gemütszustand nach dem Konsum dieser Droge nicht vergessen und nicht grundsätzlich als negativ betrachtet hat. Und eben diesen Joint hat Mine damals ihm und Nina angeboten. Auch Nina ist es nach diesem Experiment nicht gut gegangen.
Indessen haben die Männer die Situation unter Kontrolle bekommen. Der Brand ist vollständig gelöscht. Unter der Leitung von Hausmeister Karl-Heinz Korn sehen sie sich den Raum genauer an. Korns rußgeschwärzter Kopf lugt bald hinter einem großen und vollständig durchnässten Karton hervor.
»Das war knapp, Jungs«, keucht er und richtet sich auf. »Oh, mein Rücken!«, stöhnt er, während er sich die schmerzende Stelle massiert.
Nina grinste. »Etwas Gymnastik täte Ihnen gut. Das habe ich Ihnen schon mal gesagt.«
Der Hausmeister bedenkt sie mit einem sehr, sehr bösen Blick, den sie allerdings souverän pariert.
Die Männer staunen laut über das, was sie vorgefunden haben: Eine ganze Menge großer und kleiner Blumentöpfe mit verkohlten Cannabisresten schwimmen nun im Wasser.
»Wer … Was ist hier …?«
Mine schluchzt und schüttelt den Kopf. »Sie sind hin, sie sind alle hin!« Mit einer Ecke ihres langen bunten Gewands wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Als sie damit auch ihre Nase putzen möchte, hält Nina ihr schnell ein Taschentuch entgegen. Dankbar ergreift die alte Frau das Tuch und breitet es aus. Es strahlt Sauberkeit aus. Welch ein Kontrast zu dem verrußten Dachboden! Jeder Blick wandert zu diesem weißen Stück fragilen Papiers. Plötzlich wird es still, als hätte die Erhabenheit des Anblicks alle Anwesenden erfasst – bis Mines lautes Schnäuzen sie wieder aus der Starre löst.
Nina gibt Markus einen leichten Rippenstoß und nickt mit dem Kopf.
»Aua!« Wie immer reagiert er überempfindlich. »Das tut weh!«
»Ich gehe runter. Wir haben hier nichts mehr zu tun.«
Sie seufzt und verlässt den Dachboden. Als ihre Wohnungstür hinter ihr laut zufällt, zuckt sie zusammen und …
Sie wachte auf. Ihre Wohnung war voller Rauch. Nina war gerade im Begriff, zur Wohnungstür zu rennen, als ihr Blick in die Küche fiel – da kam es her. Im Nu erreichte sie den Backofen. Den Braten konnte sie also vergessen. Ausgezeichnet! Sie hatte nur noch eine Stunde Zeit bis zu Dirks Besuch, doch dieser Gestank ließ sich nicht so schnell aus der Wohnung entfernen. Er würde wieder viel zu lachen haben. Nein. Sie musste sich dringend etwas anderes einfallen lassen. Nach einer kurzen Überlegung wählte sie seine Nummer.
»Hallo, Dirk. Du, ich hatte heute viel zu tun und bin doch nicht zum Kochen gekommen. Wollen wir nicht irgendwohin essen gehen?«
»Mhm?« Dirk klang überrascht und etwas enttäuscht.
»Ich lade dich ein, ja?«
»Nein. Das musst du nicht. Ich hol dich ab.«
Eine halbe Stunde später klingelte es an der Tür.
»Ja?«, fragte Nina. Seit sie allein lebte, pflegte sie sich zuerst an der Haussprechanlage zu vergewissern, wer klingelte, bevor sie die Tür öffnete.
»Ich komme rauf«, hörte sie Dirks Stimme und seinen Versuch, die Haustür zu öffnen.
»Nein«, rief sie hastig. »Ich komme runter. Warte!«
»Wie du meinst«, murmelte Dirk.
Als sie unten erschien, blickte Dirk sie fragend an.
»Ich war schon fertig«, sagte sie.
»Aha.«
»Was? Glaubst du mir nicht?«
Dirk grinste. »Du riechst komisch.«
»Vielen Dank. Deine Komplimente werden immer origineller«, fauchte sie und schnupperte unauffällig an ihrer Jacke.
Er lachte auf und schüttelte den Kopf, da er erraten hatte, wonach sie roch und warum sie jetzt in ein Restaurant gehen sollten.
»Und wo gehen wir hin?«
»In die ‚Albrecht-Dürer-Stube’, so lange es sie noch gibt.«
Dirk Lobig war Polizist bei der Aachener Kripo und ihr, sagen wir mal, guter Freund, seitdem sie gemeinsam im Fall der gestohlenen Reliquien in Kornelimünster ermittelt hatten. Dirk hätte das mit Sicherheit anders bezeichnet – eher als parallele, illegale Suche ihrerseits plus Störung der polizeilichen Ermittlungen. Letztendlich, musste er zugeben, hatte sie maßgeblich zur Lösung des Falls beigetragen. Wie auch immer: Ninas Begeisterung für detektivische Arbeit war geweckt und nun nicht mehr zu bremsen. Ob sie damit ihren Lebensunterhalt bestreiten wollte, stand auch nach ihrem zweiten Fall – der Suche nach verschwundenen Noten des polnischen Komponisten Frédéric Chopin – noch nicht zur Debatte. Und Dirk war ihr guter Freund, mehr aber auch nicht. Das stand für sie ganz fest.
Die urige »Albrecht-Dürer-Stube« lag am Fischmarkt, den sie nach zehn Minuten zu Fuß erreichten. Es war ein warmer Abend und viele Menschen saßen draußen an den Tischen. Einer, direkt an den Fenstern, wurde gerade frei und sie setzten sich an ihn.
»Hat hier früher etwa der große Maler gezecht?«, interessierte sich Dirk.
»Jein«, entgegnete Nina, womit seine Frage immer noch nicht beantwortet war. Nina war Stadtführerin und kannte sich in Aachener Geschichte bestens aus. Manchmal konnte sie jedoch nicht widerstehen und ließ Dirk zappeln wie eben jetzt, bevor sie mit den historischen Fakten herausrückte.
»Soll heißen?«
»Leider steht das ursprüngliche Gebäude, in dem er gewohnt haben soll, hier nicht mehr. Es ist dem großen Brand im siebzehnten Jahrhundert zum Opfer gefallen. Und damit wir nicht vergessen, dass der berühmte Maler sich hier aufgehalten hat, wurde diese gute Stube nach ihm benannt.«
»Warum ist er denn überhaupt nach Aachen gekommen? War er etwa krank und brauchte eine Kur?«
»Nein, er erhoffte sich von dem König und Kaiser eine Rente. Doch Karl V. war mit seiner Krönung beschäftigt und hatte wohl wenig Zeit für den Künstler. Es heißt, Dürer soll hier einmal viel verzockt und versoffen haben, bevor er seine Rente zugesprochen bekam. Für die musste er allerdings dem Kaiser bis nach Utrecht folgen.«
»Ein verführerisches Pflaster, dieses Aachen.«
»Mhm«, gab Nina zu. »Und was trinken wir?«
»Öcher Lager, was sonst? Ich muss aber zuerst etwas essen. Die haben hier echte traditionelle Küche. Hm, lecker«, murmelte sie, während sie die Speisekarte studierte. Als sie bei Hömmel än Eäd mit Puttes angekommen war, schluckte sie so laut, dass sich die weitere Lektüre erübrigte. Blutwurst mit Kartoffelpüree und Sauerkraut, genau darauf hatte sie jetzt Appetit.
Es war nicht bei nur einem Öcher Lager geblieben und auch nicht bei zwei. Nina wusste nicht so richtig, wie sie den Weg nach Hause gefunden hatte, und war froh, am nächsten Morgen in ihrem Bett aufzuwachen. Allein. Doch das Schnarchen im Wohnzimmer sagte ihr, sie war nicht allein nach Hause zurückgekommen. Sie grinste, war aber doch erleichtert – nach diversen Begegnungen zur nächtlichen Stunde und sogar direkt vor dem Haus, die ihr in den letzten Monaten zugestoßen waren –, Dirk in ihrer Nähe zu wissen. Sie hatte es damals mit der Angst zu tun bekommen und sogar begonnen, einen Taekwondo-Kurs zu besuchen. Einige Abwehrgriffe beherrschte sie schon, trotzdem blieb eine Restangst.
Nina sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Geduscht, frisch und munter holte sie die Zeitung, die ihr der Hausmeister jeden Morgen auf die Fußmatte legte, wofür sie ihm unendlich dankbar war. Er meinte, das täte er nur wegen seines Rückens, quasi als Morgengymnastik, der alte Rocker. In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine an und begann in der Zeitung zu blättern. Gähnend überflog sie die Teile Politik und Wirtschaft. Als sie den Lokalteil aufschlug, sprang ihr ein großes Foto in die Augen: »Die Archivalie des Monats«. Obwohl sie oft ins Archiv ging, um immer wieder etwas Neues zur Geschichte der Stadt zu erfahren, ließ sie sich gerne mit einem archivalischen Highlight überraschen. Das Foto stellte einen gut aussehenden Mann mittleren Alters mit einem kurz gestutzten Schnurrbart im eleganten Outfit längst vergangener Zeiten dar. Er war in einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd mit hochstehenden Kragen gekleidet. Seine hellen Augen gefielen ihr. Allerdings blickte er etwas betroffen drein, als hätte er etwas Trauriges mit sich herumgetragen und nicht vermocht, es zu kaschieren. War er nicht glücklich gewesen? Was war der Grund dafür?
»Tagebücher eines Ingenieurs. Ha! Ingenieure haben also auch Tagebücher geschrieben. Hätte ich nicht gedacht.«
»Was hättest du nicht gedacht?« Dirk schlurfte verschlafen aus dem Wohnzimmer und dehnte sich ausgiebig am Küchentürrahmen.
Nina fasste sich erschrocken ans Herz.
»Brauchst keine Angst zu haben. Ich bin es nur. Und was hättest du nicht gedacht?«
»Dass Männer, sogar Ingenieure Tagebücher schreiben. Oder zumindest schrieben. Damals, im neunzehnten Jahrhundert.«
»Warum nicht? Es gab ja weder Facebook noch Instagram, noch sonstige Selbstdarstellungs-Communitys.«
»Witzig, witzig«, schnaubte Nina und beschloss Dirk nichts davon zu erzählen, dass sie vor einigen Tagen eine Fanpage auf Facebook angelegt hatte.
»Ist doch wahr«, redete er ungerührt weiter. »Viele Leute haben das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Über ihre Erlebnisse; Gedanken erzählen. So neu ist das nicht.«
»Klar. Dafür gab es damals schon Kneipen, in denen die Männer sich bis zum Bersten aufplustern konnten und über ihre tollen Taten ausgiebig räsonierten. Ich bin gespannt, worüber man damals in solchen Heften so geschrieben hat.«
»Über Menschen, Arbeit, Krieg, Reisen. Worüber noch? Lass mich überlegen …«
»Über die Liebe?«
»Männer haben bestimmt nicht über die Liebe geschrieben. Frauen schreiben über Gefühle.«
»Das glaube ich nicht. Und die ganze romantische Dichtung?«
»Er war doch kein Poet.«
»Wer weiß das schon? Vielleicht war er es, aber nur im stillen Kämmerlein. Ich gehe heute mal ins Archiv und schaue mir diese Tagebücher an. Vielleicht finde ich dort auch ein paar Gedichte. Wie hieß der Mann noch? Leonard Frenzen. Leonard – ein schöner Name.« Nina geriet ins Schwärmen.
»Ich finde Dirk auch nett«, meinte Dirk trocken und machte sich dran, der Kaffeemaschine, diesem Herzstück in Ninas Küche, zwei Tassen Cappuccino zu entlocken.
Nina hörte ihm nicht mehr zu, vertieft in die Lektüre der »Archivalie des Monats«. Ja, eine solche Rarität wollte sie sich nicht entgehen lassen.
3. KAPITEL
»Schatz, reich mir doch bitte die Zeitung.«
Die ältere Dame pflegte zum Frühstück ihre Portion Nachrichten zu sich zu nehmen. Sie hatte zunächst die Todesanzeigen überflogen, ohne einen Bekannten unter den Verschiedenen gefunden zu haben, was sie mit einem Seufzer der Erleichterung quittierte. Als Nächstes widmete sie sich den lokalen Geschehnissen.
Der Schatz war einundzwanzig Jahre alt, weiblich, studierte an der RWTH Aachen und hieß Lisa.
»Noch etwas Kaffee?« Das Mädchen hob die Kaffeekanne. Die Tante nickte, vertieft in die Lektüre eines Artikels. Plötzlich zog sie die Augenbrauen zusammen. Sie lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. So verharrte sie einige Minuten, bis Lisa beunruhigt fragte: »Gibt es etwas Interessantes?«
Die Großtante schwieg.
Lisa sah auf die Uhr aus Porzellan, die auf der Anrichte stand, und wieder wunderte sie sich, dass sie immer noch lief. Pünktlich. Es war Samstag, ein sonniger Samstagmorgen. Sie hatte an diesem Tag nichts vor, außer zum Wochenmarkt am Frankenberger Neumarkt zu gehen und etwas Obst und Gemüse zu kaufen. Und vielleicht wieder einmal die Käsetheke zu plündern, falls ihre Tante mitgehen würde. Diese liebte die Käsesorten, die die Händler aus dem belgischen Grenzland und aus der Eifel seit vielen Jahren anboten. Sie grüßten die alte Dame mit »Frau Frenzen« oder gar Bonjour Lilly – man kannte sich, man grüßte sich. Lisa fand das lustig und manchmal auch rührend. Und altmodisch, wie ihre Tante selbst.
So wie die Tante jetzt in Gedanken versunken war, begann Lisa daran zu zweifeln, dass sie sich zu dem Einkaufsbummel überreden lassen würde.
»Tantchen, was ist mit dir?«
»Was?! Ach, nichts. Alte Erinnerungen, einfach alter Kram.«
Lisa räumte den Tisch ab, kehrte in den Salon zurück und blieb besorgt vor der Tante stehen.
»Das sind mehr als nur Erinnerungen, nicht wahr?«
»Setz dich hin. Ich muss dir etwas erzählen.«
Zum ersten Mal erfuhr Lisa Näheres über ihre Urgroßtante Viktoria. Sie sollte eine starke Frau mit einem unabhängigen Geist und ausgeprägten Willen zur Selbstbestimmung gewesen sein. Sie hatte so gar nicht in die Zeit gepasst, in der sie gelebt hatte. Als Journalistin hatte sie die Welt bereist, was damals fast ausschließlich den Männern vorbehalten war. Ja, sie hatte genau so gelebt, wie sie wollte. Ihr Vater hatte sie vergöttert und ihr jede Extravaganz erlaubt. Auch diese Art von Liebe, die damals überhaupt nicht selbstverständlich gewesen war … Obendrein in diesen Kreisen und in diesem provinziellen Aachen. Ja, für Lilly war Aachen Provinz. Provinzstädte hätten zwar ihren Reiz, behauptete sie, doch in den Moralvorstellungen hinkten sie dem Rest der Welt hinterher.
»Doch heutzutage ist es nicht so schlimm.«
»Meine liebe Lisa.« Lilly nahm das Gesicht ihrer Großnichte in die Hände und küsste sie auf die Stirn. »Mag sein. Aber das sind unsere persönlichen Angelegenheiten. Die Welt da draußen hat sich verändert, einiges verschwindet auf Nimmerwiedersehen, einiges jedoch kehrt immer wieder zurück, es bleibt nur unter der Oberfläche. Bloß fehlt nicht viel, bis es wieder zum Vorschein kommt. Dein Ururgroßvater war vielleicht ein bisschen zu offenherzig. Ich habe seine Tagebücher zwar nicht gelesen, aber ich weiß, was mir meine Eltern über ihn und Tante Viktoria erzählten.
»Und warum erzählst du mir das alles?«
Die alte Dame faltete die Zeitung auseinander und zeigte auf einen Artikel mit der Überschrift Archivalie des Monats: Tagebücher eines Ingenieurs.
»Und du meinst, es sind seine?« Lisa wollte nicht glauben, dass Memoiren ihres Verwandten, ihres Ahnen in der Presse abgedruckt werden konnten. Einerseits erfüllte sie das mit Stolz, andererseits hatte es ihre Großtante bereits geschafft, eine gewisse Furcht in ihr zu wecken. Was könnte da sonst noch drinstehen?
»Gehst du bitte demnächst in das Stadtarchiv und schaust dir die Tagebücher an? Vielleicht kann man erwirken, dass sie nicht allgemein zugänglich gemacht werden. Ach!«
»Was denn noch?«
»Dieser Artikel lässt mich über mein Leben nachdenken, über den Krieg, was er mit unserer Familie gemacht hat und …« Sie verstummte und schien abwesend.
So hatte Lisa ihre Großtante noch nie erlebt: Sie war immer eine stolze, mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehende Frau gewesen. Weder romantische Anflüge hatte sie sich erlaubt noch Schwächeanfälle. Und jetzt das? Unbewusst drehte Lisa an einem alten Ring, den sie am Finger trug. Ihre Neugierde wuchs und sie beschloss am Montag, spätestens am Dienstag das Archiv aufzusuchen.
»Und wenn die sie nicht für die Öffentlichkeit sperren wollen?«
»Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen«, entgegnete Lilly und sie klang wieder wie sonst. Stark.
4. KAPITEL
Leonard stand an diesem Morgen aufgeregt auf. Er suchte nach passenden Kleidern, obwohl er sich für den Nachmittag ohnehin umziehen musste. Sich jetzt auf die Vorlesung in Physik zu konzentrieren überstieg seine Kräfte, und dabei musste er danach noch an zwei Seminaren teilnehmen, bevor die Glocken vier schlugen. Um vier Uhr war er bei der Familie des Oberjustizrates Heinrich von Bolkenstein eingeladen. Er würde Henriette wiedersehen. Er konnte sein Glück körperlich kaum ertragen.
Am Frühstückstisch verfiel er immer wieder in Gedanken und hörte auf zu essen. Seine Mutter lächelte und schwieg. Der arme Junge war eindeutig verliebt. Sie freute sich für ihn, machte sich aber auch Sorgen. Zunächst sollte er doch sein Studium beenden und eine gute Stellung bekommen. Plötzlich bekam sie einen Hustenanfall. Rasch verließ sie den Frühstückssalon und eilte in die Küche. Er sollte nicht hören, wie schlecht es ihr ging. Sie hatte längst beschlossen, ihren genauen Zustand selbst vor ihrem Ehemann so lange zu verheimlichen, wie es möglich war. Doch sie fühlte sich immer schlimmer. Der Husten ließ sich nicht mehr mit einer kleinen Unpässlichkeit rechtfertigen.
»Maman. Ich bin dann mal weg!«, rief Leonard ihr zu und nahm seine Tasche mit Studienunterlagen mit. »Um zwei Uhr bin ich wieder da.«
»Ja, mein Junge!«, krächzte sie aus der Küche und hoffte, er werde die Veränderung in der Stimme nicht merken.
Das tat er auch nicht. In Gedanken war er schon im Salon der von Bolkensteins. Die Seminare in dem modernen Institutsgebäude der Technik zogen sich ewig lang hin, Leonard konnte keine Aufgabe lösen, hörte nicht richtig zu. Den größten Teil der Zeit war er damit beschäftigt, zu überlegen, wie er Henriette beeindrucken könnte. Sollte er noch schnell ein Gedicht für sie schreiben? Oder vielleicht zuerst einen guten Eindruck auf ihren Vater machen?
Aber wie? Er wusste nicht viel über diese Familie. Eigentlich nur, dass sie keine Einheimischen waren, aber das hatte er schon an ihrem Akzent erkennen können. Sie waren keine Aachener und auch keine Rheinländer. Sein Vater wusste lediglich, dass sie vor drei Jahren aus Berlin gekommen waren und Henriettes Vater ein hoher preußischer Beamter war, adlig noch dazu. In der Redaktion erzählte man, er sei ein sehr strenger und linientreuer Beamter. Sympathisch war er den Aachenern schon aus diesem Grund nicht. Nichtsdestotrotz unterhielt man in den besseren Kreisen Kontakte zur Familie. Manche taten es aus Angst, andere versuchten, sich Bolkensteins Gunst zu sichern. Das Rheinland im Allgemeinen und Aachen im Besonderen waren die Gebiete des Deutschen Reiches, die vor etwa siebzig Jahren unter preußische Verwaltung gekommen waren, und für ‚alte‘ Preußen galten ihre Bewohner immer noch nicht als echte Deutsche. Da war der Einfluss der Franzosen zu groß gewesen, behauptete man. Die von ihnen eingeführten bürgerlichen Freiheiten waren der feudalen Herrschaft in Berlin ein Dorn im Auge. Noch immer urteilten rheinische Zivilgerichte nach dem Code Napoléon. Außerdem hielt die überwiegend katholische Bevölkerung an ihrem Glauben fest und fand den großen Einfluss der Kirche auf das öffentliche Leben selbstverständlich und richtig. Das Vordringen der staatlichen Gewalt empfanden die meisten als einen großen Eingriff in die altbewährte Ordnung, erst recht nach den harten Maßnahmen der letzten Jahre – der Ausweisung ganzer Orden, der Pressezensur, die auch das erzkatholische Echo der Gegenwart gebeutelt hatte, den Predigtverboten und Verhaftungen.
In letzter Zeit war es ruhiger geworden, doch der Widerstand gegenüber der preußisch-protestantischen Weltanschauung und dem Tonfall ihrer Vertreter blieb. Die Regierung suchte die Rheinländer weiterhin auf den rechten Pfad zu bringen, und zwar mit strengen Maßnahmen und ständiger Kontrolle, durch Polizei und Beamte, Militär und Zensur. Wenn es sein musste, auch durch ein breites und gut organisiertes Spionagenetz. Ob von Bolkenstein vielleicht auch ein Spion war? Das hatte Leonards Vater nicht behauptet. Hohe Beamte beschäftigten sich nicht mit derart niedrigen Aufgaben. Höchstens koordinierten sie die Spionagetätigkeit anderer. Dass aber von Bolkenstein wirklich nur deswegen nach Aachen gekommen war, das wagte Leonards Vater zu bezweifeln. Trotzdem, als das Wort Spion gefallen war, hatten sich Leos Augen vor Furcht vor dem Staatsapparat geweitet. Er war von gegensätzlichen Gefühlen erfüllt, als er nach dem letzten Seminar eilig nach Hause ging.
»Am besten, mein Sohn, du machst dir gar keine Gedanken darüber. – Du gehst einfach hin, bist höflich, lässt die anderen ihre Fragen stellen und achtest auf jedes Wort, das du sagst.«
»Und wenn er fragt, wer du bist, Vater?«
»Das weiß er sicher längst. Vielleicht interessiert ihn nur, ob du ihm reinen Wein einschenkst. Außerdem willst du doch nicht ihn sehen, sondern hauptsächlich das Fräulein Tochter, oder?« Der Vater zwinkerte dem Jungen zu, der prompt errötete.
Kurz vor vier Uhr machte sich Leonard auf den Weg zu seiner Angebeteten. Die Familie bewohnte ein schönes dreistöckiges Haus in der Ludwigsallee, nahe dem Ponttor. Je näher er seinem Ziel kam, desto heftiger schlug sein Herz. Als er schließlich vor der Haustür angelangt war, konnte er kaum atmen. Er gab sich jedoch einen Ruck und klopfte an.
»Wenn Sie mir folgen möchten. Frau Baronin erwarten Sie im Salon«, sagte das Dienstmädchen und schloss hinter ihm die Tür.
Leonard räusperte sich und folgte ihr auf die Beletage. Der prunkvoll eingerichtete Salon zeigte, dass seine Bewohner nicht nur wohlhabend waren, was der erste Gedanke sein musste, der jedem Besucher durch den Kopf ging. Sie besaßen auch Stil, der mit Reichtum nicht zwangsläufig zusammenfiel. Leonard bestaunte die Gemälde, das moderne Mobiliar und wunderte sich, dass man ihn allein ließ. War das beabsichtigt?
Schließlich öffnete sich eine Seitentür und die Dame des Hauses trat würdevoll in den Salon, ihre Tochter hinter sich wissend. Auch wenn Rosa von Bolkenstein eine stattliche Person war, die sich ihrer Wirkung auf Menschen sicher sein konnte, Leonard hatte nur Augen für Henriette. Das Mädchen trug ein hellblaues Kleid, das die Farbe ihrer Augen unterstrich, und in den Haaren schimmerten ebenso blaue, in den Zopf eingeflochtene Schleifen. Himmlisch!
»Seien Sie willkommen, junger Mann. Seien Sie willkommen.« Frau von Bolkenstein reichte Leonard die Hand, die er ergriff und leicht drückte.
Henriette hielt verlegen inne, bis auch sie ihm schließlich ihre zarte schmale Hand zur Begrüßung hielt. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Monsieur«, sagte sie und schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln. Ihre Anmut brachte Leonard beinahe um den Verstand. Er wurde rot, was Frau von Bolkenstein sichtlich amüsiert zur Kenntnis nahm.
»Zu gütig«, stammelte er.
»Nun setzen wir uns. Bevor mein Gatte kommt, können wir uns schon ein wenig unterhalten.«
Sie wies Leonard einen Stuhl in sicherer Entfernung von ihrer Tochter. Sollten weitere Besuche folgen, würden die beiden schon die Gelegenheit bekommen, näher beieinander zu sitzen. Zunächst musste man dem Jungen auf den Zahn fühlen. Sie selbst nahm auf einer Chaiselongue Platz und klappte ihren Fächer auf.
»Marianne, bringen Sie den Tee«, befahl sie und das Dienstmädchen verschwand geräuschlos. »Sie trinken doch Tee, junger Mann?«, wandte sie sich an Leo. Dieser nickte und hüstelte leise.
»Was treiben Sie denn den lieben langen Tag, wenn Sie nicht gerade hilflosen Frauen das Leben retten?«
»Ich, ich … ähm, also ich studiere an der Königlichen Hochschule.«
»So, so. Und was studieren Sie?«
»Maschinenbau. Mein Vater wünscht, dass ich Ingenieur werde.«
»Und was wünschen Sie?«
»Ich, das heißt, ich natürlich auch.«
»Ha! Sehr gut! Das ist unsere Zukunft. Das ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit«, hörten sie plötzlich die sonore Stimme des Hausherrn Heinrich von Bolkenstein. Leo erschrak und Henriette kicherte leise. Sie wusste, wie gerne ihr Vater junge Männer ins Schrecken versetzte. Aber eigentlich war er lieb und er vergötterte sie so sehr, dass ihre ältere Schwester Frederike es mittlerweile übelnahm. Auch diese schritt nun in den Salon und besah Leonard mit derartiger Überheblichkeit, als gehörte er zur Gattung der gemeinen Kriechtiere. Schließlich nickte sie unmerklich und ließ sich am Fenster nieder. Die Tatsache, dass Leonard aufgestanden war, um ihr seine Achtung zu erweisen, erschien ihr keines Blickes wert. Er stand nun unentschlossen da, setzte sich jedoch gleich wieder.
»Das ist meine Schwester Frederike«, erklärte Henriette kurz und verdrehte die Augen.
Ihre drei Jahre ältere Schwester ähnelte Henriette in nichts. Sie war zwar auch blond und hatte blaue Augen, diese waren aber von seltener Kälte, hellblau wie die Farbe der Eisplatte, die einen zugefrorenen See bedeckt und nur an wenigen Stellen den Blick ins Wasser ermöglicht. So kalt musste wohl auch ihre Seele sein, dachte Leonard und es schüttelte ihn kurz.
Frederike wirkte sehr distanziert. Vielleicht, weil sie sich weniger geliebt und geschätzt fühlte als Henriette. Man lobte sie nicht so oft wie die jüngere Schwester. Ihre Kleider waren nie so schön wie die von Henriette. Und überhaupt. Dabei war sie klüger und attraktiver als Henriette – das behauptete sie jedenfalls. Ihre Mutter schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn Frederike sich über den Mangel an mütterlicher Zuwendung beschwerte. Sie war bereits zwanzig und müsste bald heiraten. Doch sollte sie etwa hier, im Rheinland, heiraten? Wen denn? Unter diesen merkwürdigen Menschen, die so anders waren als die ostelbischen Preußen, wollte sie nicht leben. Sie fühlte sich in Aachen nicht wohl und träumte von einem hübschen, wohlgeborenen und genauso wohlerzogenen Mann aus Berlin oder Potsdam, der sie ehelichen würde. Am besten gefiele ihr ein Sohn eines Ministers; sie würde ihm sofort in die Hauptstadt folgen. Und ihre kleine Schwester könnte hierbleiben, unter den rheinischen Barbaren, die keine Ahnung vom Leben am königlichen Hofe hatten. Ihren Missmut zeigte sie leider viel zu oft, als dass dies ohne Einfluss auf ihre Umgebung geblieben wäre und bald mied nicht nur Henriette sie. Auch die gleichaltrigen Töchter und Söhne aus den besten Aachener Familien bestanden nicht unbedingt auf ihre Gesellschaft. Indessen interessierten sich immer mehr junge Männer für Henriette denn für sie, und ihre Mutter machte sich Sorgen, dass die jüngere Tochter vielleicht zuerst heiraten würde, was für Frederike einer Katastrophe gleichkäme. Diese versuchte ihrerseits jeden Annäherungsversuch an Henriette zu unterbinden und entwickelte dabei Fähigkeiten, um die sie jeder Agent im Dienste des Reichskanzlers Otto Bismarck beneidet hätte.
Der Tee wurde aufgetischt und bald saßen alle mit einer Tasse in der Hand. Herr von Bolkenstein beschloss sich ein Bild von dem gutaussehenden jungen Mann zu machen, der seiner Tochter so frei und unverhohlen Avancen machte. Ganz schön frech, doch so waren die Rheinländer nun mal.
»Das Reich braucht solche Männer. Und sie müssen ordentlich ausgebildet werden. Sehr gut, junger Mann. Weiter so«, begann Herr von Bolkenstein und nickte einige Male. Seine Gattin lächelte diskret, hielt es jedoch für notwendig, ihn etwas zu zügeln.
»Ja, mein Lieber. Wir sind hier nicht auf einer politischen Veranstaltung. Du machst Herrn Frenzen womöglich Angst.«
»Ich? Angst? Und wenn?«, rief er aus und sah Leonard fragend an.
Leonard nickte und schüttelte abwechselnd den Kopf. »Nein … das heißt … also …« Schweiß trat auf seine Stirn und er merkte, dass sogar seine Unterwäsche schlagartig klamm wurde.
»Na siehst du! Er hat keine Angst vor mir. Nicht wahr?«, wollte der hohe Herr sich noch vergewissern.
Leonard schluckte, hielt aber seinem Blick stand.
»Was macht denn Ihr Vater, junger Mann?«
»Er ist Journalist, Redakteur sozusagen.«
»Aha. Für wen schreibt er denn?«
Leonard fasste sich ein Herz. »Für das Echo der Gegenwart.«
»Mhm. Wie könnte es anders sein«, knurrte von Bolkenstein. »Und was schreibt er denn so? Über Politik?« Er richtete einen scharfen Blick auf Leonard, so dass sich Henriettes Mutter wieder verpflichtet fühlte einzugreifen:
»Frag nicht solche Sachen, mein Lieber.«
»Er hat über den Brand des Rathauses neulich berichtet«, beeilte sich Leonard mit der Erklärung.
Von Bolkenstein grunzte unzufrieden, als wäre ihm das nicht genug. Leonard erfasste seine Stimmung und fuhr sicherheitshalber fort: »Letztens zum Beispiel schrieb er darüber, dass Ihre Majestät ein Telegramm an den Oberbürgermeister adressiert und ihre Anteilnahme anlässlich dieses furchtbaren Ereignisses zum Ausdruck gebracht hat.«
»Ja, ja. Die Kaiserin ist eine sehr gütige und mitfühlende Person«, sagte Frau von Bolkenstein, um das Thema in sichere Gewässer zu geleiten. »Wir hatten die Ehre, ihr vorgestellt zu werden.«