Ammianus-Verlag
Der Autor
Rolf Thum wurde 1952 in Heidelberg geboren. Nach seinem Studium und der Promotion an der Universität Heidelberg im Fach Mineralogie/Geologie war er zweitweise in der Industrie und einem Entwicklungsprojekt tätig. Von 1988 bis 2017 war er Forschungskoordinator für die Hochschulen für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg. Seit 1993 hat er einen eigenen Verlag (»Larimar-Verlag«) mit einem Schwerpunkt auf Reiseliteratur. Er ist Mitbegründer der Autorengruppe »LeseZeit« der Rhein-Neckar-Metropolregion und wirkt gelegentlich als Organisator bei Poetry und Science Slams mit.
Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Rolf Thum lebt in Hockenheim.
Rolf Thum
Der Gaukler aus der anderen Welt
Tagebuch einer unfreiwilligen Zeitreise
Impressum
Erste Auflage November 2017
© 2017 Ammianus GbR Aachen
Alle Rechte vorbehalten. Der Druck, auch auszugsweise, die Verarbeitung und Verbreitung des Werks in jedweder Form, insbesondere zu Zwecken der Vervielfältigung auf digitalem oder sonstigem Wege sowie die Verbreitung und Nutzung im Internet dürfen nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags erfolgen. Jede unerlaubte Verwertung ist unzulässig und strafbar.
Umschlaggestaltung: Thomas Kuhn
Copyright des Coverfotos: »Blitze innerhalb der Wolken«, Fotograf: André Karwath, Creative-Commons, Lizenz CC BY-SA-2.5, erstellt 22. Juni 2005, aufgerufen 25. August 2017; Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Blitz#/media/File:Lightning_cloud_to_cloud_(aka).jpg, das Bild wurde beschnitten und farblich leicht verändert.
Lektorat: Melanie Kaesler
Korrektorat: Vivien Kruck
Satz: Michael Mingers
Printausgabe-ISBN: 978-3-945025-80-2
www.ammianus.eu
www.facebook.com/AmmianusVerlag
Für Christine, Andrea und Sabine
mit Dank für all die Tipps und die Geduld
Vorbemerkung
Ich begann mit dem Verfassen dieser Abhandlung am 23. April anno domini 1039 auf Anraten des Bischofs Reginbald von Dillingen. Es geschah in der Hoffnung, jemand möge diese Aufzeichnungen eines Tages finden und verstehen, was mir widerfahren ist.
Ich bin gewiss weder einem Teufelswerk aufgesessen noch Werkzeug eines göttlichen Willens geworden, wie die Menschen hier behaupten. Abergläubisch sind sie jedoch alle, ganz gleich, wie sie mein Schicksal deuten.
Ich nenne sie im Folgenden die Anderen. Das ist nicht abwertend gemeint. Vielmehr will ich damit andeuten, dass ich nicht weiß, in welchem Verhältnis ich zu ihnen stehe. Aus ihrer Sicht bin natürlich ich der Andere, auch wenn ich nun schon über ein Jahr bei ihnen lebe und mich ihrer Lebensweise angepasst habe.
Es gibt immer wieder Tage, da zweifle ich an allem, selbst an meiner Existenz, und hoffe, alles sei nur ein Spuk und ein Trugbild. Dann wieder bemühe ich mein spärliches Wissen um Physik und Astronomie und versuche, rationale Erklärungen für das zu finden, was mir geschehen ist. Aber ich möchte nicht vorgreifen, sondern alles der Reihe nach berichten. Ich beginne mit dem Tag, den ich in meiner eigenen Zeitrechnung als den »Tag Null« bezeichne. Ich werde versuchen, diesen Tag so zu schildern, wie ich ihn mir in Erinnerung rufen kann. Dies geschieht nicht zuletzt, um den Anderen, falls jemand von ihnen den Text je lesen wird, begreiflich zu machen, wie ich einst gelebt habe und was mir selbstverständlich gewesen ist.
Leser, die in späteren Zeiten diese Aufzeichnungen finden, werden sich gewiss wundern, warum ich mit der Hand auf Pergament und mit Federkiel und Tusche geschrieben habe. Nun, es blieb mir keine andere Wahl. Ich besitze derzeit weder einen Kugelschreiber noch Papier und muss mit dem Vorlieb nehmen, was sie mir geben. Echtes Papier, wie wir es kennen, haben sie zwar auch, doch es ist sehr teuer und nur schwer zu erwerben. Da ich es gewohnt war, meine Texte am Computer zu tippen, bereitete es mir kein sonderliches Vergnügen zur Handschrift zurückzukehren. Es ist mühselig, nach jedem dritten Wort den Kiel in die Tusche zu tauchen. Dieses Verfahren hat allerdings den Vorteil, dass ich mir jeden Satz, jedes Wort, vor der Niederschrift genau überlegen muss. Korrekturen sind nur schwer anzubringen. Doch ich fühle mich in guter Gesellschaft: Schließlich haben die Klassiker wie Goethe und Schiller ihre ellenlangen Texte auch mit der Hand verfasst. Ein weiterer Vorteil mag sein, dass das Pergament Beständigkeit verspricht und nicht wie unser Kopierpapier nach einigen Jahrzehnten vergilbt und zerfällt. Wir kennen die alten Handschriften aus den Klöstern, die viele Jahrhunderte unbeschadet überdauert haben. So hoffe ich, auch dieses Manuskript übersteht die kommenden Jahrhunderte und wird – wie eingangs erwähnt – von verständigen Menschen gefunden.
Das Universum
Freitag, 9. Juli 2010 – Tag Null
Es war ein ganz normaler Tag: Die innere Uhr warf mich wie jeden Werktag um sechs Uhr aus dem Bett. Gang zum Kühlschrank, die Butter herausstellen, ins Bad, Zähne putzen, unter die Dusche, abtrocknen, föhnen, rasieren (elektrisch), anziehen, Kaffee kochen, Toastbrot in den Toaster schieben, frühstücken.
Ich packte Proviant ein: eine Flasche Mineralwasser, ein paar Bananen und Kekse. Weiterhin kamen eine Tasche mit Utensilien für Gartenarbeit ins Auto sowie Arbeitsklamotten und alte Turnschuhe.
Gegen sieben Uhr verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu meiner Dienststelle an der Hochschule. Meine Frau schlief noch.
Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich heiße Rudolf Andres. Ich stamme aus Heidelberg, genauer gesagt aus dem Stadtteil Handschuhsheim. Seit einigen Jahren wohne ich jedoch in Hockenheim. Seit über dreißig Jahren bin ich verheiratet. Meine Frau heißt mit Vornamen Miriam. Ich will behauten, wir führen eine glückliche Ehe. Viele unserer Freunde und Verwandten, die geschieden sind oder nie den richtigen Partner fürs Leben gefunden haben, beneiden uns darum. Wir haben zwei erwachsene Töchter, Marianne und Petra. Sie sind berufstätig, beide seit Kurzem verheiratet und wohnen in unserer Nähe. Enkel sind derzeit nicht in Sicht.
Studiert habe ich Geowissenschaften an der Universität Heidelberg. Einige Zeit habe ich auch auf diesem Gebiet gearbeitet, doch seit knapp zwanzig Jahren bin ich Forschungsreferent an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Mannheim. Es ist eigentlich ein Verwaltungsjob, der mir jedoch gefällt, da ich immer wieder mit spannenden Themen und interessanten Menschen zu tun habe. Einmal im Semester habe ich auch einen Lehrauftrag: Ich zeige den Studierenden, wie sie wissenschaftliche Texte für verschiedene Zielgruppen formulieren, richtig zitieren und ihre Thesen auf Kongressen präsentieren können.
Auch an diesem Tag stand eine solche Lehrveranstaltung an.
Auf der Fahrt ins Büro hatte ich wieder einmal den Eindruck, jede Ampel würde immer auf Rot schalten, wenn ich näher kam.
Unterwegs hörte ich die Nachrichten im Deutschlandfunk: Attentate in Bagdad, ein ehemaliger südamerikanischer Diktator wurde wegen Geldwäsche angeklagt, das Europäische Parlament beschloss ein Gesetz, das Bonuszahlungen für Banker begrenzen sollte, der Wetterbericht, Verkehrsfunk ... Kann das EU-Parlament überhaupt ein Gesetz beschließen, fragte ich mich. Sind Gesetze nicht Sache der Mitgliedsstaaten? Die EU kann doch nur Richtlinien verabschieden.
Der Wetterbericht meldete eine Gewitterfront, die von Eifel und Hunsrück nach Südosten zog. Sie sollte das Rhein-Neckar-Dreieck am Spätnachmittag erreichen. Das beunruhigte mich, denn ich hatte vor, nach dem Dienst an der Hochschule in unseren Garten an der Bergstraße zu fahren und dort die Wiese zu mähen.
Als ich im Hörsaal ankam, war von den zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars erst die Hälfte anwesend. Ich wartete das akademische Viertel ab. Immerhin kamen in dieser Zeit noch zwei Teilnehmer und ich startete mit meiner Vorlesung. Doch mitten in meinen Redeschwall platzten die übrigen Fehlenden herein, entschuldigten sich lautstark – die Straßenbahn hätte nicht fahren können, weil ein LKW die Gleise blockiert habe –, rückten die Stühle, warfen sich stöhnend auf ihre Sitze, packten ihre Unterlagen und Laptops aus und schwätzten. Es war wie schon zu meiner Studienzeit, mit dem einen Unterschied, dass wir damals während der Vorlesungen nicht auf Handys oder Laptops gestarrt, sondern Zeitungen oder Heftchen gelesen hatten.
Meine Studierenden sollten Pressemitteilungen über ihre Studienarbeiten verfassen: über die Steuerung von Kraftanlagen, über die Regelung einer Biogasanlage, die Vorteile einer Absorptionskühlanlage, Datenübertragung mittels Lichtwellenleiter aus Kunststoff.
In einer der Kaffeepausen sah ich auf dem Tisch einer Studentin aus Kamerun ein Buch liegen mit dem Titel »Konrad der Salier – Kaiser dreier Reiche«. Ich fragte sie, ob das ein Geschichtsbuch sei.
Sie schaute mich mit etwas wehmütigen Augen an. »Ja«, gestand sie, »das ist eines über das europäische Mittelalter. Ich interessiere mich sehr für die europäische Geschichte. Am liebsten hätte ich Geschichte studiert, aber in meinem Land werden Ingenieure gebraucht, keine Historiker.«
»Und warum interessiert Sie gerade das Mittelalter?«, fragte ich weiter.
»Weil es heißt, es sei eine finstere Zeit gewesen«, gab sie zur Antwort, »und weil ich in Deutschland immer wieder zu hören bekomme, in Afrika herrsche noch vielerorts das Mittelalter. Ich will heraus bekommen, was die Leute mit diesem Vergleich meinen. Deshalb befasse ich mich mit dieser Epoche.«
Ich fühlte mich ein wenig beschämt und musste ihr insgeheim Recht geben. Wir Deutschen urteilen in der Tat oft leichtfertig über andere Kulturen und Nationen und ziehen unpassende Vergleiche. Ich sagte aber nichts mehr, sondern nickte ihr nur anerkennend zu.
Nach der Lehrveranstaltung verließ ich das Gebäude, so schnell es ging. Es war drückend heiß, doch vom angekündigten Gewitter war noch nichts zu sehen. Bis es eintreten würde, dürfte die Wiese gemäht sein.
Allerdings musste ich zuerst noch einen Abstecher bei meiner Mutter machen, die in Heidelberg wohnte. Sie war seit einiger Zeit gehbehindert und hatte mich gebeten, vorbeizukommen und ihr ein Medikament zu besorgen. Mein Vater war vor einigen Jahren gestorben – plötzlich und unerwartet, wie es so schön heißt. Seitdem lebte sie allein, hatte aber einen großen Bekanntenkreis und fast täglich Besuch. Auch an diesem Nachmittag saßen zwei Damen in ihrem Wohnzimmer, beide in ihrem Alter, also in den Achtzigern, doch rüstig, und nicht auf den Mund gefallen. Ich musste mir einige spitze Bemerkungen über mein gestresstes Aussehen gefallen lassen:
»Wenn Sie so weitermachen, fallen Sie noch von den Rippen!«
»Kocht Ihnen Ihre Frau nichts Vernünftiges?«
Ich schnappte mir das Rezept für die Tabletten und verabschiedete mich. Auf dem Rückweg vom Garten würde ich das Medikament vorbeibringen, versprach ich.
In der Apotheke erstand ich noch für die Hausapotheke eine Packung Aspirin und Nasentropfen – vorsorglich gegen meinen Heuschnupfen. Außerdem besorgte ich noch eine Packung Toilettenpapier und ein Päckchen Papiertaschentücher. Endlich ging es in den Garten. Dieser lag nördlich vom Ortsausgang Heidelbergs, oberhalb des Stadtteils Handschuhsheim, hinter dem großen Friedhof, direkt am Waldrand. Die Landschaft nannte sich »Bergstraße« und zog sich den ganzen westlichen Rand des Odenwalds hin. An den Hängen reihten sich Weinberge und Obstgärten aneinander, viele verwildert oder nur wenig gepflegt, entweder, weil die Besitzer nicht mehr in der Gegend wohnten und keine Pächter fanden, oder weil sie die Arbeit nicht mehr machen konnten oder wollten. Viele Gärten waren auch nicht oder nur notdürftig eingezäunt, so dass sich alle möglichen Tiere des angrenzenden Waldes darin tummelten: Rehe, Füchse, Dachse und leider immer wieder Wildschweine. Die vermaledeiten Säue zerwühlten den Boden und richteten erhebliche Schäden an.
Der Weg zum Garten war einspurig. Er schlängelte sich den Hang entlang bis zu einer kleinen Terrasse, einem Wende- und Parkplatz. Die Terrasse war nur teilweise geteert, ansonsten mit Gras bewachsen. Wenn viele Leute in den Gärten waren, war es mitunter schwierig zu parken. Doch wir kannten uns untereinander und wenn nötig, rangierten wir hin und her, damit sich die Einen hinstellen und die Anderen wegfahren konnten. An diesem Tag blieb mir das Rangieren erspart, denn außer mir war niemand da.
Ich wendete und stellte den Wagen mit der Frontseite Richtung Weg, damit ich nach der Arbeit gleich wieder hinunterrollen konnte. Danach verschnaufte ich erst einmal und genoss die Aussicht auf das Rheintal. Im Süden lag die Altstadt von Heidelberg, verdeckt durch den Steinberg und den Heiligenberg. Von den Stadtteilen Handschuhsheim und Neuenheim waren nur die Neubaugebiete und der große Friedhof Heidelberg-Nord zu sehen, die älteren Wohngebiete waren ebenfalls hinter den Bergen verborgen. In meiner Kindheit, in den 1950er und frühen 1960er Jahren hatte es noch das »Neuenheimer Feld« gegeben, doch dort standen jetzt die funktionalen Gebäuden der Universität und des Universitätsklinikums. Dazwischen erhob sich wie ein überdimensionaler Phallus der Kamin einer Klinikmüllverbrennungsanlage. Richtung Norden lag Dossenheim, ebenfalls schon weit in die Ebene hineingewuchert, zwischen diesem und Heidelberg-Handschuhsheim erstreckte sich ein Gewerbegebiet. Unmittelbar an der Grenze der Bergstraße verlief eine stark befahrene Bundesstraße, parallel dazu lagen die Gleise einer Regionalbahn. Ein Autobahnzubringer zerschnitt die Landschaft Richtung Westen, wo sich noch Gärtnereibetriebe erstreckten, die das berühmte »Handschuhsheimer Gemüse« anbauten. Die meisten Ländereien lagen unter Glas und Folien. Dahinter waren die Silhouetten von Ladenburg, Mannheim und Ludwigshafen zu erkennen. Wenn es nicht zu dunstig war, waren auch Speyer nebst den Kühltürmen des Kernkraftwerks Phillipsburg oder gar die Windkraftanlagen bei Alzey zu sehen. Doch an diesem Tag war die Sicht nicht sonderlich gut. Dunst und Smog lagen über dem Land.
Ich holte meinen dreirädrigen Wiesenmäher aus dem Gartenhäuschen und startete den Zweitaktmotor. Das Gerät knatterte und stank, aber für das steile und unebene Gelände gab es nichts Besseres.
Gegen 17 Uhr 30 zogen die ersten schwarzen Wolken über der Rhein-
ebene auf; das vorhergesagte Gewitter braute sich zusammen. Mein Ehrgeiz, unbedingt an diesem Tag die gesamte Wiese mähen zu wollen, ließ mich weiterarbeiten. Als ich endlich fertig war und das Gerät wieder in den Schuppen gestellt hatte, setzten Fallwinde ein. Hastig schloss ich das Tor zu meinem Grundstück und eilte zum Auto. Einzelne Regentropfen klatschten auf meinen Kopf, und kaum saß ich in meinem Wagen, ging es richtig los: Hagelkörner, manche so groß wie Taubeneier, prasselten nieder. Der Wind schüttelte die Apfel-, Birn- und Kirschbäume, ein Blitz folgte auf den anderen. Es machte nun keinen Sinn, den Motor zu starten und hinunterzufahren, denn der Regenguss verwandelte den Weg in eine Schlammpiste. Leicht käme da der Wagen ins Rutschen und von der Fahrbahn ab. Ich beschloss, das Gewitter abzuwarten.
Ich schaltete das Radio an, um die Nachrichten zu hören, doch Regen und Hagel waren zu stark. Es war fast nichts zu verstehen. Ich vernahm nur noch etwas wie »Zu den Selbstmordattentaten in Bagdad hat sich bisher niemand bekannt ...«
Der Schlag, der nun folgte, übertraf alles, was ich jemals zuvor bei einem Gewitter erlebt hatte. Für einen Sekundenbruchteil war ich in ein gleißendes Licht gehüllt, dann wurde es – wiederum nur für Sekundenbruchteile – völlig finster. Es ertönte ein weiteres Krachen, doch dieses Mal gedehnt, wie ein Paukenschlag in Zeitlupentempo, danach rauschte es, als fegte jemand mit einem Reisigbesen über mein Auto: Whuschsch!
Ich umklammerte das Lenkrad meines Wagens, starrte zur Windschutzscheibe hinaus und sah nur noch Blätter und Zweige. Zweifellos: Ein Blitz hatte in einen nahen Baum eingeschlagen und diesen auf mein Fahrzeug geworfen.
Der Regen ließ nach. Es tröpfelte nur noch vereinzelt. Über dem Land lag dichter Dunst, fast schon Nebel. Die Sicht war gleich null. Die Schwüle war stärker geworden.
Ich startete den Wagen, setzte ein wenig zurück und versuchte, von dem umgestürzten Baum freizukommen. Nein, da war nichts zu machen. Die Äste hatten sich um den Wagen geklammert, sodass ich nicht wegfahren konnte. Das hatte gerade noch gefehlt! Meine Mutter wartete auf ihr Medikament und zu Hause saß Miriam mit dem Abendessen. Ich stieg aus, um den Schaden zu betrachten. In Gedanken war ich schon dabei, die Motorsäge zu holen, um mir den Weg freizuschneiden.
Als ich den Wagen verließ, überkam mich das vage Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war nicht nur der Baum, der auf dem Fahrzeug lag, nein, irgendwie war alles um mich herum verändert. Es wirkte grüner als zuvor: mehr Gestrüpp, mehr Hecken überall. Zäune und Gartentüren waren keine mehr zu sehen.
Der Blitz muss mehr als nur einen Baum umgehauen haben, ging es mir durch den Kopf. Ich war unter einer Flut von Blättern, Zweigen und Ästen begraben. Dort, wo das große Stahltor zu meinem Grundstück stehen sollte, war ebenfalls nur dieses Grün und das Häuschen, das sich dahinter befinden sollte, war ebenfalls verdeckt.
Ich drehte mich um und schaute in Richtung des Weges, den ich hinunterfahren wollte. Er war verschwunden! Ich rieb mir die Augen. Nein, das waren keine umgeworfenen Bäume, das waren Sträucher, die an der Stelle wuchsen, wo der Weg beginnen sollte.
Nun lichtete sich der Dunst.
Die Ebene war noch da. Zweifellos, es war das Rheintal. Und zweifellos waren die Berge, die sich jetzt am Horizont abzuzeichnen begannen, die des Pfälzerwaldes. Doch die Rheinebene war leer. Keine Gebäude, keine Straßen, nichts. Das heißt nicht »nichts«, sondern überall Grün: Gestrüpp, Sträucher, niedrige Bäume, wild wuchernde Natur.
Hoppla, dachte ich. Jetzt halluzinierst du. Hat dich der Blitz derart verwirrt? Ich schaute auf mein Auto: Das stand hier ganz so, wie ich es erwartet hatte – abgesehen von diesem dicken Ast des umgeworfenen Birnbaums, der das Fahrzeug umklammerte. Im Wagen selbst war alles in Ordnung: Meine Kleider lagen da, genauso die Werkzeugtasche, meine Aktentasche, mit der ich aus dem Büro gekommen war, die Packen mit Papiertaschentüchern und Toilettenpapier. Der Wagen stand auf einem Flecken Asphalt. Drum herum wuchs niedriges, vor kurzem erst gemähtes Gras – auch alles, wie es sein sollte. Doch schon einen halben Meter hinter mir, dort, wo der Parkplatz sein sollte, wucherte eine dichte Hecke. Eine Hecke, die gewiss noch nicht da gewesen war, bevor der Blitz eingeschlagen hatte.
Wieder starrte ich in die Ebene hinunter. Wo waren die Häuser, wo die Kamine der Kraftwerke und der Klinikmüllverbrennungsanlage? Wo waren die Straßen und die Felder?
Und diese Stille! Abgesehen vom Grollen des abziehenden Gewitters und gelegentlichem Vogelgezwitscher war es absolut still. Keine Autos, keine Flugzeuge ... Flugzeuge? Ich spähte in den Himmel: Keinerlei Kondensstreifen waren zu sehen. Der Himmel, den die abziehenden Wolken frei gaben, war makellos blau.
Moment, sagte ich mir, das kann nicht sein. Mitunter sieht man etwas oder eben nichts, weil einem das Gehirn einen Streich spielt. Der Blitz musste mich derart geblendet haben, dass ich jetzt nur noch grüne Flecken sehen konnte und selbige in meinem Kopf zu Sträuchern und Bäumen zusammenfantasierte. Ein paar Minuten Ruhe, die Augen schließen, an nichts denken – danach würde der Spuk vorbei sein.
Ich setzte mich in den Wagen und schloss die Augen. Ich zählte bis zehn. Vorsichtig öffnete ich die Augen wieder, wagte aber noch nicht, hinauszusehen. Vielmehr schaltete ich das Radio an – halt, das Radio war bereits angeschaltet! Aber es sendete nichts. Nicht einmal ein Rauschen war zu hören. Die Uhr am Display meines Wagens zeigte 18 Uhr 10. Meine Armbanduhr zeigte die gleiche Zeit.
Ich kramte mein Handy aus der Aktentasche, um zu Hause anzurufen und um mitzuteilen, dass es später werden würde. Bis ich den Baum weggeschafft haben würde, würde gut eine halbe, wenn nicht gar eine ganze Stunde vergehen.
Ich schaltete das Gerät an und wartete auf das Netz. Es tat sich nichts. Kein Netz. Eine schreckliche Ahnung überkam mich. Nun hielt ich es nicht mehr auf meinem Sitz aus. Ich riss die Autotür auf und sprang hinaus.
Draußen war alles wie zuvor. Nein, nicht wie vor dem Blitzschlag, sondern wie vor dem Zeitpunkt, als ich mich in den Wagen zurückgesetzt hatte: Keine Häuser, keine Straßen, keine Gärten, dafür Wildnis, Büsche, Sträucher, Hecken.
Ich schloss abermals die Augen und sagte laut: »Das kann nicht sein! Nein, das ist nicht möglich, absolut unmöglich!«
Ich riss die Augen wieder auf, starrte in die Ebene hinunter: Nur Wildnis, ein Teppich aus scheußlichem Grün.
Ich ohrfeigte mich, schüttelte den Kopf, drehte mich einmal um die eigene Achse. War ich tot? Hatte mich der Blitz ins Jenseits befördert? Aber warum war das Auto immer noch da, mit all dem Zeug, das ich darin transportiert hatte? Warum stand es immer noch auf dem kleinen Parkplatz, warum war da immer noch dieser Baum, den es niedergerissen hatte und – zu meiner Verwunderung – sogar unter dem umgestürzten Baum noch ein Stück Zaun, der eindeutig zu jenem Garten gehörte, in dem der Baum gestanden hatte?
Nein, wäre ich tot gewesen, wäre mir doch nicht mein Wagen mit ins Jenseits gefolgt.
Blieb noch die Möglichkeit, dass ich träumte. Es gibt einen Trick, um herauszufinden, ob man träumt oder nicht. Es gilt hochzuspringen: Fällt man normal auf den Boden zurück, ist man wach, bleibt man in der Luft schweben, träumt man. Ich sprang einige Mal hoch, doch kam ich jedes Mal ganz den Gesetzen der Physik entsprechend wieder auf der Erde auf. Also kein Traum, sondern Realität!
Ich kam mir vor wie betrunken. Wirre Gedanken umkreisten mich. Ich versank in Apathie.
Ich setzte mich in den Wagen. Wie lange ich so dasaß und einfach darauf wartete, es möge etwas geschehen, weiß ich nicht mehr. Die Sonne ging unter, es wurde düster. Die Nacht war angenehm warm. Myriaden von Leuchtkäfern umschwirrten mich. Außer dem Zirpen von Grillen war nichts zu hören.
Die Uhr im Wagen stand weiterhin auf 18 Uhr 10. Meine Armbanduhr aber verriet mir, es war bereits Mitternacht geworden. Ich verließ kurz den Wagen, schlug mich abseits in die Büsche, um meine Blase zu erleichtern, schaute in die Ebene hinunter, die sich pechschwarz vor mir ausbreitete und kehrte schnell in das Fahrzeug zurück, da es mir draußen zu unheimlich war und ich urplötzlich von Stechmücken umsurrt war. Hunger- und Durstgefühl stellten sich ein. Ich aß eine der Bananen, ein paar Kekse und nippte an meinem Mineralwasser. Gegen Morgen schlief ich ein.
Tag 1 (Samstag?)
Als ich erwachte, mit steifen Gliedern und einem metallenen Geschmack im Mund, überkam mich Panik. Die Landschaft hatte sich nicht verändert: Um mich herum war weiterhin nichts als Wildnis.
Jäh durchfuhr mich der Gedanke: Ich komme nicht mehr nach Hause. Meine Mutter hatte vergeblich auf ihr Medikament gewartet, Miriam vergeblich mit dem Essen. Sicher würden sie spätestens jetzt die Polizei benachrichtigen, eine Suchmeldung aufgeben. Man würde vielleicht auf dem Parkplatz Veränderungen vorfinden, die den Schluss zuließen, dass mir dort etwas Schlimmes passiert war. Vielleicht würden sie aber auch nichts finden, außer den Reifenspuren meines Wagens. Sie würden Hypothesen aufstellen, was mit mir geschehen sein konnte: Entführung, Ermordung oder Flucht, weil ich vielleicht ein Verbrechen begangen hatte ...
Ich hämmerte wie wild auf das Lenkrad ein. Nein, nein, das konnte nicht sein! Der Spuk musste ein Ende haben. Ich schrie, ich tobte und heulte wie ein kleines Kind.
Es nutzte nichts. Nachdem ich mich abreagiert hatte, versuchte ich nüchtern zu denken. Angenommen, der Blitz hatte irgendeine bisher unbekannte Kraft entfaltet, die das Stück Gelände, auf dem er eingeschlagen war, in ein Paralleluniversum befördert hatte? Wenn die Gesetze der Physik, wie ich sie kannte, immer und ewig gelten sollten, musste ich wohl das Opfer eines sehr unwahrscheinlichen, doch nach der Quantentheorie durchaus möglichen Ereignisses geworden sein.
Ich musste lachen. Gerade mir musste das passieren. Vielleicht gab es ja noch ähnliche Fälle? »Es wurde kein Knochen mehr von ihm gefunden ...«, hatte einmal ein Schweizer von einem Landsmann erzählt, der in den Bergen mitsamt seinem Auto verschwunden war, ohne dass jemals wieder eine Spur von ihm entdeckt wurde. Und wie war das mit den berühmten »Ich-gehe-nur-mal-schnell-Zigaretten-holen«? Was aber nutzte es mir zu wissen, dass es vielleicht anderen ähnlich ergangen sein mochte? Nichts! Ich war hier allein, verloren in einer fremden und sicher feindlichen Welt.
Das Radiogerät war noch angeschaltet. Mir war, als rauschte es plötzlich. Ich drehte den Lautstärkenregler soweit auf, wie es ging. Nein, das Rauschen kam nicht aus dem Radio, sondern vom Wind, der durch die Bäume und Hecken fegte. Eine dicke Wolke zog über mich hinweg; es begann nochmals zu regnen.
18 Uhr 10 auf dem Display des Autoradios – immer noch! Meine Armbanduhr dagegen zeigte 7 Uhr 30. Die Zeit schritt voran, auch in diesem seltsamen Universum, in dem es scheinbar keine Menschen gab, vielleicht auch keine größeren Tiere, sondern nur dichtes, grünes Gestrüpp.
Ich aß eine weitere Banane und einen Apfel. Dabei kam mir zum ersten Mal der unangenehme Gedanke, dass ich nicht allzu viel Proviant dabeihatte und ich mir wohl oder übel früher oder später Nahrung beschaffen musste. Dazu musste ich den Wagen verlassen und die Gegend erkunden. Also stieg ich aus, ging einige Schritte auf das Gestrüpp zu – und blieb stehen.
Nein, ich konnte nicht so einfach draufloslaufen. Ich musste mich gegen unangenehme Überraschungen wappnen, sprich: mich bewaffnen. Doch womit? Ich schaute mich im Wagen um. Was hatte ich denn überhaupt aus meiner Welt retten können? Acht Rollen Toilettenpapier, Papiertaschentücher, ein paar Klamotten, ein Paar Halbschuhe, das Päckchen Antibiotika, eines mit Aspirin, ein Fläschchen Nasentropen, meine Tasche mit Gartenwerkzeug, wie eine Rebschere oder einen Drahtschneider, eine Packung Streichhölzer (immerhin!), meine Aktentasche mit Notizen über das Seminar – und dann solche Dinge wie eine kleine Digitalkamera, das Handy, meinen Geldbeutel mit ein wenig Bargeld und einigen Kreditkarten, eine Straßenkarte und ein paar Musik-CDs – Dinge, die mir in dieser Welt sicher nicht viel nutzten. Immerhin: Ein Schweizer Messer war mir auch noch geblieben. Ich steckte es in die Tasche, im irren Glauben, es könne mir im Notfall als Waffe dienen.
In Gedanken überflog ich rasch, was ich nicht mehr hatte: Seife, Shampoo, Zahnpasta und Zahnbürste, Rasierapparat, Handtücher, Waschpulver (von einer Waschmaschine ganz zu Schweigen!), einen Herd, Kochgeschirr, Besteck (wenn man vom Schweizer Messer absah), Wäsche zum Wechseln, einen Computer, das Internet, etwas zu Lesen und natürlich jemanden, mit dem ich reden konnte.
Nun, es gab Menschen, die in der Wildnis gestrandet waren und die bedeutend weniger dabeigehabt hatten als ich. Allerdings hatten diese immer noch die Hoffnung, eines Tages in die Zivilisation zurückzukehren. Ob ich eine solche Hoffnung haben durfte, wusste ich nicht.
Als ich losgehen wollte, sah ich auf dem Rücksitz mein Fernglas liegen. Ich griff danach, stieg auf das Wagendach und schaute in die Ebene. Dort, wo eigentlich der Heidelberger Friedhof sein sollte, erkannte ich eine Lichtung, die einen nahezu quadratischen Umriss hatte. Was konnte das sein? Ja, die Lichtung hatte einen sehr regelmäßigen Grundriss. Hier wuchs nur niedriges Gras. Ich ließ den Blick weiter in die Ebene schweifen und sah nun weitere, ähnliche Lichtungen. Waren das dort draußen, wo noch einen Tag zuvor die Gebäude der Universität gestanden hatten, eventuell Felder? Gab es doch Anzeichen von menschlichem Tun?
Ich schaute Richtung Neckar. Das grau glitzernde Band, das sich zwischen den Bäumen im Flachland schlängelte, musste er sein; ungebändigt, träge dahinfließend, zum Rhein, der sich irgendwo weiter draußen seinen Weg bahnte. Das Gebiet musste ein gigantischer Sumpf sein, sicher voller Stechmücken, Blutegel und anderem unangenehmen Getier. Dort gab es keine Rodungen; auch schienen die Bäume höher zu sein und dichter zu stehen als entlang der Hänge der Bergstraße.
Aber da, Richtung Südwesten, nahe am Horizont, stand da nicht ein Gebäude? Durch das Fernglas sah ich einen groben rechteckigen Klotz, der sich aus der Rheinaue erhob. Das konnte kein natürlicher Felsen sein.
Eine Ruine? Plötzlich war sie wieder da, die Panik. Wenn das eine Ruine war – vielleicht von einem Kraftwerk oder einem Häuserkomplex, war ich dann vielleicht in eine ferne Zukunft geworfen worden? War die Zivilisation untergegangen, der Mensch so gut wie ausgestorben und die wenigen Überlebenden zurückgekehrt zu einer bescheidenen Landwirtschaft? Allerdings schien es mir seltsam, nur diese eine Ruine zu sehen. All die Betonbauten der Universität, die Hochhäuser, Kamine und Kirchtürme, sie hätten doch auch Relikte in der Landschaft hinterlassen müssen, zumindest als Erd- und Schutthügel. Nein, das war nicht die Zukunft, das war eine Parallelwelt, in der die Menschen – so es überhaupt Menschen waren – nicht mehr zu Stande gebracht hatten, als jenes eine kastenförmige Gebilde am Ufer des Rheins.
Ich fixierte das merkwürdige Gebäude, konnte aber aufgrund der Lichtverhältnisse nichts Genaues erkennen. Doch glaubte ich, neben dem Gebäude Rauch aufsteigen zu sehen. Ja, auch weiter östlich stieg Rauch auf. Ich wandte mich Richtung Norden und bemerkte einen Weg, der sich direkt am Berghang entlang von Norden nach Süden zog. Er folgte ungefähr dem Verlauf der Bundesstraße B3, die Heidelberg mit Dossenheim verband. Eindeutig, irgendjemand – etwas? – lebte hier, das fähig war, Wege anzulegen. Der Weg war nicht allzu breit und nicht asphaltiert; in seiner Mitte wuchs eine Grasnarbe. Mein Auto hätte wahrscheinlich darauf fahren können, wenn es mir möglich gewesen wäre, es hinunterzubefördern.
Am späten Nachmittag entschied ich mich endlich, das Risiko einzugehen, den Wagen zu verlassen und ein Stück den Hang hinunterzusteigen, um herauszufinden, ob hinter den Hügeln, die mir nach Norden und Süden die Sicht versperrten, nicht doch Siedlungen lagen. Neben dem Schweizer Messer nahm ich die Rebschere mit, denn an einigen Stellen war das Gestrüpp so dicht, dass ich mir den Weg freischneiden musste. Es war ein seltsames Gefühl, durch ein Gelände zu gehen, das noch tags zuvor mein Garten gewesen war und das jetzt einem feucht dampfenden Bergurwald glich. Über mir kreisten große Vögel, sicher Bussarde. Irgendetwas Braunes huschte vor mir durch das Gebüsch. Es war sehr schnell. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Vielleicht ein Hase?
Nach Nordosten zu wurde der Hang sehr steil. Das war die Stelle, wo die Gärten aufhörten und sich ein Streifen Wald entlang des Hellenbachs zog. Unten, in der Talsohle, befand sich ein so genannter Waldspielplatz. Hier tobten vor allem an Wochenenden immer wieder Kinder herum, kreischten, plärrten, lachten, weinten. So jedenfalls verhielt es sich in meiner Welt, dachte ich, als ich den Hang hinunterrutschte. Jetzt war alles still. Selbst die Singvögel verstummten in der heraufziehenden Dämmerung.
Unten, dem Verlauf des Baches folgend, der überraschend viel Wasser führte, erkannte ich einen Trampelpfad. Es konnte ein Wildwechsel sein. Ich folgte dem Pfad ein Stück bergauf und bemerkte, wie er sich immer wieder verzweigte. Plötzlich stand ich auf einer kleinen Lichtung. Hier war vor noch nicht allzu langer Zeit etwa ein Dutzend mittelgroßer Bäume gefällt worden. An den Stümpfen waren eindeutig Spuren von Axthieben zu sehen, daneben lagen Späne und gröbere Holzstücke im Gras. Die gefällten Bäume mussten wegtransportiert worden sein.
Plötzlich war mir, als beobachte mich jemand. Mir wurde es unheimlich. So schnell ich konnte, machte ich mich auf den Weg zurück zu meinem Wagen.
Ich setzte mich hinein und verriegelte von innen die Türen.
Was bedeutete das alles? Trampelpfade, gefällte Bäume, Wege, Lichtungen, die vermutlich Felder waren, schließlich der Rauch über der Ebene, das merkwürdige, klotzartige Gebäude. Ich war nicht allein in dieser fremden Welt. Ich hoffte, die Bewohner dieser Welt waren menschlich – und gleichzeitig hoffte ich es auch wieder nicht. Aber was wünschte ich mir dann? Aufrecht gehende Saurier? Affen? Androiden?
Wieder saß ich stundenlang da und sinnierte vor mich hin. Es wurde dunkel. Nun sangen Vögel. Nachtigallen? Die Leuchtkäfer erschienen wieder über dem Parkplatz und umschwirrten das Auto. Grillen zirpten. Ich kippte den Fahrersitz zurück und lehnte mich nach hinten. Ich machte es mir ein wenig bequemer als in der Nacht zuvor, legte ein Nackenkissen unter meinen Kopf und deckte mich mit meinem Pullover zu. Zum Glück war es immer noch warm. Das Fenster auf der Fahrerseite ließ ich einen winzigen Spalt offen, der frischen Luft wegen. Frische Luft – in der Tat: Es roch angenehm nach Erde und irgendwelchen Blüten.
Der Mond erschien am Horizont. Mir war, als riefe ein Käuzchen. Hinter dem Wagen raschelte es. Ich drehte mich vorsichtig um – und erblickte zwei Gestalten.
In der Dunkelheit konnte ich zunächst nicht klar erkennen, ob sie wirklich menschlich waren, zumal die eine Gestalt etwas auf ihrem Rücken trug, das ihr den Anschein gab, als habe sie eine gorillabreite Schulter.
Es waren zwei Männer. Derjenige mit der Last auf dem Rücken war der kleinere der beiden, doch auch der andere war nicht sonderlich groß, maß vielleicht 1,60 Meter. Er trug ein langärmeliges Hemd, das ihm bis fast zu den Knien reichte. Um den nicht gerade schlanken Bauch hatte er einen Gürtel geschnallt, an dem etwas baumelte, das ein Messer sein konnte. Genaueres konnte ich im Finstern nicht ausmachen. Seine Beine steckten in enganliegenden Hosen; die Füße wiederum in Stiefeln. Ob diese aus Leder oder anderem Material waren, war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Beeindruckend waren seine langen Haare, die ihm über die Schultern fielen, sowie sein Bart, der bis zur Brust reichte. Die Haare waren mit einem Stirnband gebändigt. Über der einen Schulter trug er ein seltsames Gerät, eine Art Kreuz, der längere Stiel nicht größer als einen halben Meter. Ich hatte Ähnliches bereits gesehen, konnte mich aber nicht mehr erinnern bei welcher Gelegenheit. Der Kleinere, jener mit der Last auf dem Buckel, war kurz geschoren und hatte keinen Bart. Auch er steckte in einem hemdartigen Gewand, das an ihm seltsam schlaff herunterhing. Anscheinend trug er keinen Gürtel. Sein Kleid erinnerte an einen Schlafrock aus der Biedermeierzeit. Beine und Füße schienen nackt zu sein. Ja, ich erkannte es nun ganz deutlich: Der Bursche war barfuß.
Der Bärtige nahm das Gerät von der Schulter und deutete damit auf meinen Wagen. Dabei sagte er ein paar Worte in einer mir unbekannten Sprache. Der andere antwortete schüchtern. Beide schienen über die Erscheinung auf der Lichtung sehr erstaunt zu sein. Sie wechselten weitere Worte; schienen sich nicht ganz einig zu sein, wie sie das alles deuten sollten.
Ich verhielt mich still, wagte kaum zu atmen. Ob sie mich sehen konnten? Wenn ja, wie würden sie reagieren, sollten sie in diesem ihnen vermutlich völlig fremden Gebilde auch noch einen Menschen erblicken? Besser ich wartete ab, wie sich die beiden verhielten.
Nun erkannte ich auch, was es war, das der Bärtige geschultert hatte: eine Armbrust. Gleichzeitig konnte ich sehen, dass der Kleinere auf dem Rücken ein totes, halbwüchsiges Reh trug. Ich schlussfolgerte, die beiden waren Jäger, oder besser gesagt, der Bärtige war der Jäger, sein Begleiter wohl nur ein Gehilfe.
Die beiden drehten sich urplötzlich um und verschwanden im Gestrüpp. Wohin würden sie gehen? Wo war ihr Zuhause? Was würden sie jetzt dort erzählen? Sie hätten am Waldrand, oberhalb des Baches, wo sie auf der Jagd gewesen sein mochten, etwas entdeckt, von dem sie sich nicht erklären konnten, wie es dorthin gekommen war: Auf einer Lichtung stand ein Fahrzeug, halb verdeckt von einem umgestürzten Baum. Selbst wenn sie in ihrer Welt Autos wie wir besaßen, so blieb es ihnen sicher ein Rätsel, wie ein solches auf den Hang gelangen konnte, obwohl dort keine Straße hinaufführte. Möglicherweise würden sie weiterhin berichten, ihnen sei es so vorgekommen, als befände sich in diesem Fahrzeug ein Mensch, doch wären sie sich dessen nicht sicher, da die Scheiben spiegelten. Scheiben? Vielleicht kannten sie gar keine Scheiben aus Glas, und wussten nicht, dass die glänzenden Flächen Fenster waren?
Sicher würden sie die Neugierde bei ihren Zeitgenossen wecken und mit Verstärkung bei Tagesanbruch zurückkommen. Was dann?
Immerhin: Die Bewohner der Welt, in die ich gelangt war, waren menschlich.
Meine Armbanduhr zeigte kurz vor 22 Uhr. Auf der Uhr am Display des Wagens war es weiterhin noch 18 Uhr 10. Seltsamerweise schien das Thermometer im Wagen, im Gegensatz zur Uhr, noch zu funktionieren. Er stand nun auf 18 °C, was meiner gefühlten Temperatur entsprach. Bei dem Gedanken an den Ausdruck »gefühlte Temperatur« musste ich lachen. Es war ein bitteres Lachen. Meiner, der nach Perfektion schreienden Welt genügte es nicht, eine messbare Temperatur vorherzusagen: Wir wussten auch, wie wir sie empfinden würden. Wobei mir stets schleierhaft geblieben war, wer dafür den Maßstab setzte. Wieso sollten 20 °C sich einmal wie 18 °C, dann wieder wie 22 °C anfühlen? Überhaupt: Wie fühlen sich 18/20/22 °C an?
18 °C fühlten sich, nach der Schwüle des Tages, angenehm an. Ich versuchte zu schlafen, was mir aber nicht gelang. Ich war zu nervös, lauschte auf jedes Geräusch, hoffte erneut, der Spuk würde irgendwann vorbeigehen und diese unheimlich fremde Welt sich in Wohlgefallen auflösen.