Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.berlinverlag.de
Für Nick
Übersetzung aus dem Englischen von Stephan Johann Kleiner
ISBN 978-3-8270-7970-1
© Emily Fridlund 2016
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel History of Wolves bei Grove Atlantic, New York.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: Getty Images/CSA Images
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Berlin Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
»Werde dir einen einzigen Augenblick bewußt, daß Leben und Intelligenz nie rein geistig sind – weder in noch von der Materie –, und der Körper wird keine Klagen äußern.«
»Ich werde nun doch nicht sterben, nicht jetzt, sondern
werde fortan schwindelig
In der Wirklichkeit weiterleben, halb taub gegenüber der
Wirklichkeit, in dem Zimmer,
In dem es nach dem Feuer duftet, das unser unauslöschlicher
Wille anfacht.«
Es ist nicht so, dass ich nie an Paul denken würde. Manchmal kommt er zu mir, bevor ich ganz wach bin, wobei ich mich fast nie erinnern kann, was er gesagt hat oder was ich mit ihm gemacht oder auch nicht gemacht habe. In meiner Erinnerung plumpst mir der Junge einfach auf den Schoß. Bumm. Dadurch weiß ich, dass er es ist: ohne besonderes Interesse an mir, ohne jedes Zögern. Es ist ein Spätnachmittag wie jeder andere, wir sitzen im Nature Center, und sein Körper bewegt sich automatisch auf meinen zu – nicht aus Liebe oder Respekt, sondern einfach nur weil er noch nicht gelernt hat, höflicherweise darauf zu achten, wo sein Körper aufhört und ein anderer anfängt. Er ist vier, er muss ein Eulenpuzzle machen, sprich ihn nicht an. Ich tue es nicht. Eine Lawine aus Pappelflaum schwebt am Fenster vorbei, still und schwerelos wie Luft. Das Sonnenlicht verändert sich, das Puzzle spaltet sich in eine Eule auf und fällt wieder auseinander, ich ziehe Paul auf die Beine. Zeit zu gehen. Es ist Zeit. Aber in der Sekunde bevor wir aufstehen, bevor er seinen Protest herausjammert und darum bittet, noch ein bisschen bleiben zu dürfen, lehnt er sich mit dem Rücken an meine Brust, gähnt. Und es schnürt mir die Kehle zu. Weil es so seltsam ist, wisst ihr? Es ist wunderbar, und es ist traurig, wie gut es sich anfühlen kann, wenn dein Körper für jemanden eine Selbstverständlichkeit ist.
Vor Paul kannte ich nur einen Menschen, der vom Leben zum Tod übergewechselt war. Es war Mr Adler, bei dem ich in der achten Klasse Geschichte hatte. Er trug braune Cordanzüge und weiße Tennisschuhe, und obwohl Amerika auf dem Lehrplan stand, redete er lieber über die Zaren. Einmal zeigte er uns ein Bild des letzten russischen Kaisers, und so stelle ich ihn mir jetzt vor – mit einem schwarzen Bart und Schulterquasten –, obwohl er immer glatt rasiert und emsig war. Wir hatten gerade Englisch, als einer seiner Schüler aus der Vierten hereinplatzte und sagte, Mr Adler sei hingefallen. Wir stürmten alle auf den Gang hinaus, und da lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, die Augen geschlossen, die blauen Lippen am Teppich festgesaugt. »Ist er Epileptiker?«, fragte jemand. »Braucht er Tabletten?« Wir ekelten uns alle. Die Pfadfinder diskutierten über die richtigen Wiederbelebungstechniken, während die begabten und talentierten Kinder hysterisch flüsternd seine Symptome analysierten. Ich musste mich zwingen, zu ihm zu gehen. Ich hockte mich hin und nahm Mr Adlers trockenfleischartige Hand. Es war Anfang November. Seine Spucke machte dunkle Flecken auf den Teppich, die Abstände zwischen seinen japsenden Atemzügen wurden immer länger, und ich kann mich an einen entfernten Lagerfeuergeruch erinnern. Jemand verbrannte Müll in Plastiksäcken, irgendein Hausmeister, der vor dem ersten Schnee Blätter und Kürbisschalen beseitigte.
Als die Rettung Mr Adlers Körper schließlich auf eine Trage lud, dackelten die Pfadfinder hinterher, die auf irgendeinen Auftrag hofften. Sie wollten eine Tür zum Aufmachen, etwas Schweres zum Heben. Auf dem Gang standen Trauben schniefender Mädchen. Ein paar Lehrer drückten sich die Handflächen an die Brust, wussten nicht, was sie als Nächstes sagen oder tun sollten.
»Ist das ein Doors-Stück?«, fragte einer von den Notärzten. Er war zurückgeblieben, um Salzkräcker an benommene Schüler zu verteilen. Ich zuckte mit den Schultern. Ich musste wohl laut vor mich hin gesummt haben. Er gab mir einen Pappbecher mit orangem Gatorade und sagte – als wäre ich diejenige, die er retten wollte, als wäre es seine Pflicht, jedem Lebewesen, dem er begegnete, die Übelkeit zu vertreiben –: »Langsam trinken. Nur kleine Schlucke.«
Damals nannte man uns die Welthauptstadt des Barsches. An der Route 10 gab es ein Schild, auf dem so etwas in der Art stand, und auf die Seitenwand des Diners waren drei Fische mit Irokesenfrisur gemalt. Die warfen einem immer einen flossigen Gruß zu – Grinsen und Augenbrauen, Zähne und Zahnfleisch –, aber sobald die großen Seen im November zugefroren waren, kam niemand mehr von außerhalb zum Fischen oder sonst irgendetwas. Damals gab es das Resort noch nicht, nur ein gammeliges Motel. Das war die Innenstadt: Diner, Eisenwarenladen, Anglerbedarf, Bank. Der eindrucksvollste Ort in Loose River war damals wohl die alte Holzmühle, und das lag bloß daran, dass sie halb abgebrannt war und ihre verkohlten schwarzen Planken über dem Flussufer aufragten. Fast alle offiziellen Gebäude, das Krankenhaus, die Verkehrsbehörde, der Burger King und die Polizeiwache befanden sich im über dreißig Kilometer entfernten Whitewood.
Am Tag, an dem die Notärzte Mr Adler abholten, schalteten sie das Martinshorn ein, als sie vom Schulparkplatz hinunterfuhren. Wir standen alle am Fenster und sahen zu, selbst die Hockeyspieler mit ihren gelben Kappen, selbst die Cheerleader mit ihren elektrisch aufgeladenen Ponyfrisuren. Da hatte es schon heftig zu schneien begonnen. Als der Krankenwagen um die Ecke glitt, harkten seine Scheinwerfer wie wahnsinnig durch die dichten Flocken, die in Böen über die Straße geblasen wurden. »Müssten die nicht die Sirene anmachen?«, fragte jemand, und während ich den letzten Schluck Gatorade in meinem kleinen Becher abschätzte, dachte ich: Wie blöd kann man denn sein?
Der Ersatz für Mr Adler war Mr Grierson, und als er einen Monat vor Weihnachten erschien, war er überirdisch tief gebräunt. Er trug einen kleinen goldenen Ohrring und ein leuchtend weißes Hemd mit Perlmuttknöpfen. Später erfuhren wir, dass er aus Kalifornien gekommen war, von einer privaten Mädchenschule am Meer. Niemand wusste, was ihn bis hierher ins nördliche Missouri verschlagen hatte, aber nach der ersten Unterrichtswoche nahm er Mr Adlers Karten des russischen Kaiserreichs von den Wänden und tauschte sie gegen vergrößerte Kopien der amerikanischen Verfassung aus. Er ließ uns wissen, dass er einen zweifachen Universitätsabschluss in Theaterwissenschaften hatte, was erklärte, warum er eines Tages mit ausgestreckten Armen vor der Klasse stand und die komplette Unabhängigkeitserklärung auswendig herunterbetete. Nicht nur die mitreißenden Teile über das Leben, die Freiheit und das Streben nach dem Glück, sondern auch die stichelnde, jämmerliche Auflistung von Ungerechtigkeiten gegenüber den unterjochten Kolonien. Ich merkte, wie wichtig es ihm war, gemocht zu werden. »Was bedeutet das?«, fragte Mr Grierson, als er an der Stelle mit der »gegenseitigen Verpflichtung zum Einsatz unserer heiligen Ehre« angelangt war.
Die Hockeyspieler schliefen unschuldig auf ihren verschränkten Händen. Sogar die begabten und talentierten Kinder waren unbeeindruckt, klickten auf ihren Druckbleistiften herum, bis das Blei obszön weit herausguckte wie Spritzennadeln. Sie duellierten sich über den Mittelgang hinweg. »En garde!«, zischten sie voller Verachtung.
Mr Grierson setzte sich auf Mr Adlers Schreibtisch. Er war nach seinem Vortrag außer Atem, und mir wurde – in einem merkwürdigen Aufblitzen, so als würde ein zu helles Licht über ihn hinweggleiten – bewusst, dass er nicht mehr jung war. Ich sah Schweiß auf seinem Gesicht und wie sein Pulsschlag unter den grauen Halsstoppeln pochte. »Leute. Freunde. Was bedeutet es, dass die Menschenrechte als selbstverständlich erachtet werden? Kommt schon. Das wisst ihr.«
Ich sah, dass seine Augen auf Lily Holburn ruhten, die glatte schwarze Haare hatte und trotz der Kälte nur einen dünnen purpurroten Pullover trug. Er schien zu glauben, dass ihre Schönheit ihn erlösen würde, dass sie, weil sie schöner war als wir anderen, auch nett und freundlich wäre. Lily hatte große braune Augen, eine Lese-RechtschreibSchwäche, keinen Bleistift, einen Freund. Unter Mr Griersons Blick wurde sie allmählich rot.
Sie zwinkerte. Er nickte ihr zu, gab ihr das stumme Versprechen, dass er mit allem, egal, was sie sagte, einverstanden wäre. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen wie ein Reh.
Ich weiß nicht, warum ich mich meldete. Ich hatte gar nicht unbedingt Mitleid mit ihr. Oder mit ihm. Die Anspannung war bloß unerträglich geworden, dem Anlass völlig unangemessen. »Es bedeutet, dass manche Dinge nicht erst bewiesen werden müssen«, schlug ich vor. »Manche Dinge sind einfach wahr. Man kann sie nicht ändern.«
»Genau!«, sagte er dankbar, wobei ich wusste, dass er weniger mir dankbar war als irgendeinem Kreis aus Glück, in den er hineingestolpert zu sein glaubte. Das konnte ich. Den Leuten geben, was sie wollten, ohne dass sie merkten, dass es von mir kam. Lily konnte die Leute aufbauen, ohne ein Wort zu sagen, konnte ihnen das Gefühl geben, sie seien etwas ganz Besonderes. Sie hatte Grübchen auf den Wangen und Brustwarzen, die durch den Pullover blitzten wie ein Zeichen von Gott. Ich war flach wie ein Brett und redete Klartext. Von mir fühlten die Leute sich durchschaut.
In diesem Jahr brach der Winter über uns zusammen. Erschöpft ging er in die Knie und blieb dort. Mitte Dezember fiel so viel Schnee, dass das Dach der Turnhalle einstürzte und wir eine Woche lang schulfrei hatten. Weil der Unterricht ausfiel, gingen die Hockeyspieler zum Eisfischen. Die Pfadfinder spielten auf den Seen Hockey. Dann kam Weihnachten mit den bunten Lichterketten entlang der Main Street und den rivalisierenden Krippenspielen der lutherischen und der katholischen Kirchengemeinde – das eine mit bemalten Sandsäcken als Schafen und das andere mit einem aus einem Eisblock geschnitzten Jesuskind. Das neue Jahr brachte noch einen schlimmen Schneesturm. Als im Januar die Schule wieder losging, hatte Mr Grierson seine frischen weißen Hemden gegen unscheinbare Pullover eingetauscht und seinen Ohrring gegen einen Stecker. Jemand musste ihm gezeigt haben, wie man die Maschine bediente, mit der man die Antworten der Multiple-Choice-Tests automatisch auslesen konnte, denn nach einer Woche Vorträge über Lewis und Clark ließ er uns zum ersten Mal einen Test schreiben. Während wir uns über unsere Tische beugten und winzige Kreise ausmalten, ging er auf dem Mittelgang auf und ab und klickte mit seinem Kugelschreiber.
Am nächsten Tag wollte Mr Grierson, dass ich nach dem Unterricht noch dablieb. Er saß hinter seinem Schreibtisch und befühlte seine Lippen, die rau und aufgesprungen waren und unter seinen Fingern abblätterten. »Du hast beim Test nicht besonders gut abgeschnitten«, sagte er zu mir.
Er wartete auf eine Erklärung, und ich hob verteidigend die Schultern. Aber bevor ich ein Wort sagen konnte, fügte er hinzu: »Hör mal, es tut mir leid.« Er drehte den Stecker – zarte, hakelige Schraube – in seinem Ohr. »Ich bin noch dabei, meinen Lehrplan auszuarbeiten. Was habt ihr denn durchgenommen, bevor ich kam?«
»Russland.«
»Ah.« Ein spöttischer Ausdruck glitt über sein Gesicht, unmittelbar gefolgt von echtem Amüsement. »Im Hinterland geht der Kalte Krieg also weiter.«
Ich nahm Mr Adler in Schutz. »Wir haben nicht nur über die Sowjetunion gesprochen. Wir hatten die Zaren.«
»O Mattie.« So nannte mich nie jemand. Es war, als würde einem jemand von hinten auf die Schulter tippen. Ich hieß Madelaine, aber in der Schule nannten sie mich Linda oder rote Socke oder Freak. Ich ballte die Hände in meinen Ärmeln zu Fäusten. Mr Grierson sprach weiter. »Vor Stalin und der Bombe hat sich niemand für die Zaren interessiert. Sie waren Marionetten auf einer weit entfernten Bühne, vollkommen bedeutungslos. 1961 gingen dann die ganzen Mr Adlers zur Uni, und es herrschte eine generelle Nostalgie in Bezug auf die alten russischen Spielzeuge, die Inzucht-prinzessinnen aus einem anderen Jahrhundert. Ihre Belanglosigkeit machte sie interessant. Verstehst du?« Daraufhin lächelte er, schloss halb die Augen. Seine Schneidezähne waren weiß, die Eckzähne gelb. »Aber du bist erst dreizehn.«
»Vierzehn.«
»Ich wollte nur sagen, es tut mir leid, wenn wir einen schlechten Start hatten. Wir werden bald besser miteinander auskommen.«
In der nächsten Woche wollte er, dass ich nach der Schule in sein Klassenzimmer kam. Diesmal hatte er den Stecker aus seinem Ohr gezogen und auf seinen Schreibtisch gelegt. Mit Zeigefinger und Daumen befühlte er vorsichtig das Fleisch um das Ohrläppchen herum.
»Mattie«, sagte er und richtete sich auf.
Ich sollte mich auf einen blauen Plastikstuhl neben dem Tisch setzen. Er legte mir einen Stapel Hochglanzbroschüren auf den Schoß, bildete mit seinen Fingern ein Zelt. »Kannst du mir einen Gefallen tun? Sei mir nicht böse, ich muss das fragen. Es ist mein Job.« Er wand sich.
Und dann fragte er mich, ob ich die Schule bei der Geschichtsodyssee vertreten würde.
»Das wird klasse«, sagte er wenig überzeugend. »Du gestaltest ein Poster. Dann hältst du eine Rede über Verzeichnisse aus dem Vietnamkrieg, Grenzübertritte nach Kanada oder etwas in der Art. Oder vielleicht willst du lieber was über die Schändung der Anishinabe-Völker machen? Oder über diese Zurück-zur-Natur-Leute, die sich hier oben niedergelassen haben. Irgendetwas Regionales, etwas ethisch Uneindeutiges. Etwas mit verfassungsrechtlichen Auswirkungen.«
»Ich möchte etwas über Wölfe machen«, sagte ich zu ihm.
»Wie, eine Geschichte der Wölfe?« Er war verdutzt. Dann schüttelte er den Kopf und grinste. »Klar. Du bist ein vierzehnjähriges Mädchen.« Die Haut um seine Augen herum schob sich zusammen. »Ihr habt es alle mit Pferden und Wölfen. Herrlich. Einfach herrlich. Das ist so sonderbar. Was hat es damit bloß auf sich?«
Weil meine Eltern kein Auto hatten, kam ich folgendermaßen nach Hause, als ich den Bus verpasste. Ich lief fünf Kilometer am schneegeräumten Rand der Route 10 entlang und bog dann rechts in die Still Lake Road ein. Nach weiteren anderthalb Kilometern gabelte sich die Straße. Die linke Seite lief am See entlang in Richtung Norden, und die rechte, wo nicht geräumt war, führte auf einen Hügel. Dort blieb ich stehen, stopfte die Hosenbeine meiner Jeans in die Socken und zog die Bündchen meiner Wollfäustlinge zurecht. Im Winter sahen die Bäume vor dem orangen Himmel wie Adern aus. Der Himmel zwischen den Ästen sah wie Sonnenbrand aus. Zwanzig Minuten ging es durch Schnee und Sumach, bis mich die Hunde hörten und an ihren Ketten zu zerren begannen.
Als ich zu Hause ankam, war es dunkel. Ich öffnete die Tür und sah, wie sich meine Mutter über das Waschbecken beugte, die Arme bis zu den Ellbogen in tintenschwarzem Wasser. Ihre langen glatten Haare, die ihr wie ein Vorhang über Gesicht und Hals fielen, ließen sie meist etwas verschlossen wirken. Aber ihre ganz aus Vokalen bestehende Stimme war typisch Mittlerer Westen, weit offenes Kansas. »Gibt es ein Gebet für verstopfte Abflüsse?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.
Ich legte meine Fäustlinge auf dem Holzofen ab, wo sie steif werden und am Morgen nicht mehr richtig auf meine Hände passen würden. Die Jacke ließ ich an. Es war kalt im Haus.
Meine Mutter, deren eigene Jacke vom Spülwasser feucht war, ließ sich am Tisch schwer auf einen Stuhl fallen. Aber die fettigen Hände hielt sie in die Luft gestreckt, als würde es sich um etwas Wertvolles handeln – etwas Zuckendes und noch Lebendiges –, das sie aus einem Teich gefischt hatte. Etwas, das sie uns vielleicht zu essen geben würde, ein Paar hübscher kleiner Barsche. »Wir brauchen Abflussfrei. Mist.« Sie schaute nach oben in die Luft und wischte sich dann ganz langsam die Handflächen an ihren Hosentaschen aus Segeltuch ab. »Bitte hilf uns, Gott des unerschöpflichen Mitleids bei der armseligen Farce, die wir Leben nennen.«
Sie meinte es nur halb im Scherz. Das wusste ich. Ich kannte die Geschichten, wie meine Eltern Anfang der Achtziger in einem gestohlenen Lieferwagen nach Loose River gekommen waren, wie mein Vater Gewehre und Hasch gehortet hatte und wie meine Mutter nach der Auflösung der Kommune das, was noch von ihrem fanatischen Hippietum übrig war, gegen das Christentum eingetauscht hatte. Soweit ich zurückdenken konnte, war sie dreimal die Woche zur Kirche gegangen – mittwochs, samstags, sonntags –, weil sie die Hoffnung hatte, dass am Konzept der Buße etwas dran sei, dass man über Jahre hinweg Teile der Vergangenheit nach und nach ungeschehen machen könne.
Meine Mutter glaubte an Gott, aber widerwillig, so wie eine Tochter, der man Hausarrest gegeben hat.
»Meinst du, du könntest einen der Hunde nehmen und noch mal zurückgehen?«
»Zurück in die Stadt?« Ich schlotterte immer noch. Der Gedanke machte mich kurz rasend, löschte alles andere in mir aus. Ich spürte meine Finger nicht mehr.
»Oder lieber doch nicht.« Sie warf ihre schwarzen Haare zurück und fuhr sich mit dem Handgelenk über die Nase. »Nein, nein. Es sind wahrscheinlich minus 20 Grad da draußen. Tut mir leid. Ich hole noch einen Eimer.« Aber sie bewegte sich nicht von ihrem Stuhl weg. Sie wartete auf etwas. »Entschuldige, dass ich gefragt habe. Du kannst es mir doch nicht übel nehmen, dass ich gefragt habe.« Ihre fettigen Hände klammerten sich aneinander fest. »Entschuldige, entschuldige, entschuldige.«
Mit jedem Entschuldige wurde ihre Stimme eine halbe Stufe höher.
Ich wartete einen Moment lang, bis ich sprach. »Ist schon gut«, sagte ich.
Mit Mr Grierson verhielt es sich folgendermaßen. Ich hatte gesehen, wie er sich neben Lilys Tisch gehockt hatte. Ich hatte gesehen, wie er sagte: »Du machst das gut«, und seine Hand ganz behutsam wie einen Briefbeschwerer auf ihre Wirbelsäule legte. Wie er die Fingerspitzen hob und sie leicht tätschelte. Ich sah, wie neugierig und ängstlich er den Karens begegnete, den Cheerleadern, die manchmal ihre Wollstulpen auszogen, unter denen nackte Winterhaut zum Vorschein kam, weiß und mit Gänsehaut genoppt. Von den Stulpen bekamen sie Ausschlag, und sie kratzten daran herum, bis der Schorf mit Klopapierfetzen betupft werden musste. Ich sah, wie er im Unterricht jede Frage an eine von ihnen – an die Karens oder an Lily Holburn – richtete, während er sagte: »Weiß es irgendjemand? Hallo? Jemand zu Hause?« Dann formte er mit der Hand ein Telefon, senkte die Stimme und brummte: »Hallo, bin ich da bei Holburn? Ist Lily zu sprechen?« Lily wurde rot und lächelte mit geschlossenen Lippen in ihren Ärmel hinein.
Wenn ich dann nach der Schule zu ihm ging, schüttelte Mr Grierson den Kopf. »Das mit dem Telefon war ziemlich daneben, oder?« Es war ihm peinlich. Er wollte hören, dass alles in Ordnung sei, dass er ein guter Lehrer sei. Er wollte, dass man ihm all seine kleinen Fehler verzieh, und weil ich häufig die Arme verschränkte und bei Tests schlecht abschnitt, schien er zu glauben, dass meine Mittelmäßigkeit Absicht war, gegen ihn gerichtet. »Hier«, sagte er leutselig und schob eine schmale blaue Dose über den Tisch. Ich nippte ein paarmal an seinem Energydrink, der so süß und koffeinhaltig war, dass ich fast augenblicklich Herzklopfen bekam. Nach ein paar weiteren Schlucken zitterte ich auf meinem Stuhl. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht aufeinanderschlugen.
»Hat Mr Adler euch jemals Filme gezeigt?«, wollte er wissen.
Ich kann nicht genau sagen, warum ich auf seine Spielchen einging. Ich weiß nicht, warum ich ihm so entgegenkam. »Sie zeigen viel mehr Filme als er«, sagte ich.
Er lächelte befriedigt. »Also, wie läuft es denn mit deinem Projekt?«
Darauf antwortete ich nicht. Stattdessen trank ich unaufgefordert noch einmal von seinem Energydrink. Er sollte wissen, dass ich sah, wie er Lily Holburn anschaute, dass ich seinen Blick besser einordnen konnte als sie, dass ich ihn, obwohl ich ihn überhaupt nicht mochte – obwohl ich den Witz mit dem Telefon gruselig fand und seinen Ohrring lächerlich –, verstand. Aber die Dose war leer. Ich musste das Metall an meine Lippen führen und so tun, als würde ich trinken. Vor dem Fenster wurden sämtliche Schneewehen von Eisregen überzogen, die ganze Welt steinhart gemacht. In einer Stunde, in weniger als einer Stunde würde es dunkel sein. Die Hunde würden wartend an der äußeren Umlaufbahn ihrer Ketten auf und ab laufen. Mr Grierson zog seine Jacke an. »Wollen wir?« Niemals – nicht ein einziges Mal – fragte er, wie ich nach Hause kam.
Mr Grierson sprach über die Geschichtsodyssee, als wüssten wir beide, dass es sich um eine unangenehme Pflicht handelte. Insgeheim wollte ich gewinnen. Ich wollte unbedingt einen Wolf sehen. Nachts ging ich aus dem Haus, in Mukluks, einer Skimaske und der Daunenjacke meines Vaters, die von seinen Gerüchen getränkt war, von Tabak und Moder und bitterem Kaffee. Es war, als hätte ich seinen Körper an, während er schlief, als verdiente ich mir einen Zugang zu seiner Gegenwart, zu seiner Schweigsamkeit und seiner Masse. Ich setzte mich auf einen alten Eiseimer in der Nähe der am weitesten entfernten Fischerhütte und trank in kleinen Schlucken gekochtes Wasser aus einer Thermoskanne. Aber so spät im Winter gab es hier selten Wölfe – alles, was ich zu sehen bekam, waren von Krähen wimmelnde Baumstämme in der Ferne. Am Ende musste ich mich mit einem toten zufriedengeben. Samstags ging ich auf Schneeschuhen zum Forest Service Nature Center, wo ich die ausgestopfte Wölfin in der Eingangshalle studierte, mit ihren Glasaugen und ihren rotgelblichen Nägeln, die eingefallenen schwarzen Lefzen zu etwas zurückgezogen, das wie ein Lächeln aussah. Peg, die Naturkundlerin dort, zog eine Schnute, als sie sah, wie ich versuchte, den Schwanz der Wölfin zu berühren. »Äh-äh«, tadelte sie. Sie gab mir Gummibärchen und erklärte mir Präparationstechniken, brachte mir bei, wie man Augenlider aus Lehm machte und Muskeln aus Polyurethanschaum. »Bügel die Haut, bügel die Haut«, ermahnte sie mich.
Am Morgen der Geschichtsodyssee sägte ich einen Ast von der alten Kiefer hinter unserem Haus ab. Nadeln rieselten als kleine Propeller – wick wick – zu Boden. Nach der Schule fuhr ich mit dem Casino-Bus nach Whitewood, schleppte mein Wolfsplakat und den Ast an den alten Leuten vom Seniorenheim vorbei, die nur wortlos die Stirn runzelten. In der Aula der Whitewood High School lehnte ich den Ast gegen das Pult, um die notwendige Atmosphäre zu erzeugen. Ich ließ eine Aufnahme von heulenden Wölfen in Endlosschleife laufen. Ich hatte zwar einen trockenen Mund, als ich zu sprechen anfing, aber ich musste nicht in meine Notizen schauen und wippte auch nicht die ganze Zeit vor und zurück wie der Junge vor mir. Ich war konzentriert, ruhig. Ich zeigte auf Schaubilder mit Wolfsjungen in verschiedenen Stadien der Unterwerfung und zitierte aus einem Buch, in dem stand: »Der Ausdruck Alpha – der sich zu einer Bezeichnung für Tiere in Gefangenschaft entwickelt hat – ist irreführend. Ein Alphatier ist mitunter nur zu bestimmten Zeiten und in speziellen Zusammenhängen ein Alphatier.« Diese Worte gaben mir jedes Mal das Gefühl, etwas Kühles, Süßes, Verbotenes zu trinken. Ich dachte an die schwarze Wölfin im Nature Center, die in ihrer hündischen Freundlichkeitspose gefangen war, und wiederholte diesen Teil meiner Rede, langsam diesmal, als wäre er ein Zusatzartikel zur Verfassung.
Danach stocherte eines der Jurymitglieder mit seinem Bleistift in der Luft. »Aber – hier muss ich einhaken. Eine Sache hast du nicht sehr gut erklärt. Was haben Wölfe denn mit der menschlichen Geschichte zu tun?«
Das war der Moment, in dem ich Mr Grierson an der Tür sah. Er hielt seine Jacke über dem Arm, als wäre er gerade erst hereingekommen, und ich sah, wie er den Blick des Jurymitglieds auffing und mit den Schultern zuckte. Es war das subtilste Schulterzucken, so als wollte er sagen: Was soll man bloß mit diesen Kindern machen? Was soll man bloß mit diesen Teenagermädchen machen? Ich holte tief Luft und blitzte sie beide wütend an. »Wölfe haben überhaupt nichts mit Menschen zu tun. Sie gehen ihnen aus dem Weg, wo sie nur können.«
Ich bekam den Originalitätspreis, einen Strauß Nelken, die zum St. Patrick’s Day grün eingefärbt worden waren. Mr Grierson wollte wissen, ob wir den Kiefernast mit dem Poster in sein Auto laden sollten, damit er sie mit zur Schule nehmen konnte. Ich war deprimiert und schüttelte den Kopf. Die Gewinnerin, ein Mädchen aus der Siebten in einem Hosenanzug, wurde zusammen mit ihrem Aquarell vom Untergang der SS Edmund Fitzgerald fotografiert. Ich knöpfte meinen Mantel zu und folgte Mr Grierson, der den Ast hinter sich herschleifte, durch einen Seitenausgang nach draußen. Er warf den Ast wie einen Speer in eine grießige Schneeverwehung, in der dieser aufrecht stecken blieb. »Sieht aus wie bei Fröhliche Weihnachten, Charlie Brown«, sagte er lachend. »Man will direkt Lametta dranhängen. Echt niedlich.«
Er bückte sich, um ein paar verirrte Nadeln von seiner Hose zu wischen, und ich streckte reflexartig eine Hand aus, um – swisch, swisch – ebenfalls über seinen Schenkel zu streichen. Er trat einen Schritt zurück, schüttelte seine Hosenbeine ein wenig aus, lachte verlegen. Männer können so unbeholfen sein, wenn es um Sex geht. Das fand ich später heraus. Aber damals kam mir das, was ich getan hatte, nicht sexuell vor. Das will ich ganz klar sagen. Es fühlte sich wie Striegeln an. Oder als würde man einen Hund zu sich locken, als würde man zusehen, wie sich sein Nackenfell sträubt und wieder glättet, und dann hätte man ein Haustier.
Ich fuhr mir nach Lily-Holburn-Art mit der Zunge über die Lippen, rehmäßig, ganz und gar unschuldig. Ich sagte: »Mr Grierson, könnten Sie mich vielleicht nach Hause fahren?«
Bevor wir an der Whitewood High losfuhren, ging Mr Grierson noch einmal nach drinnen, um ein feuchtes Papierhandtuch zu holen, das er um die Nelkenstängel wickelte. Dann legte er mir den Strauß behutsam in die Arme, als wäre er so eine Art Blumenbaby. Auf der vierzig Kilometer weiten Fahrt von Whitewood zum Haus meiner Eltern sahen wir, wie ein Sturm monströse Eiskrusten von Ästen fegte – was zum zeitlupenartigen Gefühl einer sich nähernden Katastrophe beitrug. Mr Griersons Gebläse funktionierte nicht besonders gut, und ich wischte mit dem schmutzigen Saum meines Ärmels über die Windschutzscheibe.
»Müssen wir hier abbiegen?«, fragte er, als er die Still Lake Road entlangfuhr. Mit den Schneidezähnen zog er kleine Hautfetzen von seinen Lippen ab. Sogar im Halbdunkel konnte ich den Riss in seiner Lippe erkennen, der leicht blutig schimmerte, ohne wirklich zu bluten. Aus irgendeinem Grund freute mich das. Es fühlte sich an, als hätte ich ihm das angetan – mit meinem Wolfsreferat, mit meinen Kiefernnadeln.
Die Abzweigung zu unserer Straße war wie immer nicht geräumt. Mr Grierson hielt an der Kreuzung an, und wir beugten uns beide vor, um durch die Windschutzscheibe den steilen, düsteren Hügel hinaufzuspähen. Als ich zu ihm hinüberschielte, sah sein Hals so breit und weich aus wie ein entblößter Bauch, also reckte ich mich und küsste ihn dorthin. Schnell, schnell.
Er zuckte zusammen.
»Hier entlang also?«, sagte er, zog den Reißverschluss seines Mantels hoch und versteckte seinen Hals wieder im Kragen. Oben auf dem Hügel kauerte die erleuchtete Hütte meiner Eltern, und ich merkte, dass er seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hatte, weil es das Erste war, was es zu sehen gab. »Ähm, da war früher diese Sekte drin, oder? Über die habe ich viel Merkwürdiges gehört. Sind das Nachbarn von euch?«
Natürlich machte er nur Small Talk – aber ich umklammerte trotzdem meine Nelken. Ich fühlte, wie ich gespalten wurde wie Kleinholz. »Die bleiben für sich.«
»Ja?« Er war mit den Gedanken woanders.
Graupeln knallten auf die Windschutzscheibe, aber ich konnte sie nicht sehen, weil das Glas schon wieder beschlug.
»Bringen wir dich nach Hause«, sagte er, zog am Schaltknüppel und drehte am Lenkrad, und ich merkte, dass er die Verantwortung für mich abgeben wollte.
»Von hier aus kann ich laufen«, sagte ich zu ihm.
Ich glaubte, wenn ich die Tür heftig genug zuschlug, würde mir Mr Grierson vielleicht hinterherkommen. So ist das, wenn man vierzehn ist. Ich glaubte, wenn ich die Straße verließ und ein paar Schritte in den Schnee hineinrannte, würde er mir vielleicht folgen – um sein Gewissen zu beruhigen, um dafür zu sorgen, dass ich gut nach Hause käme, um seine kreidigen Geschichtslehrerhände unter meine Jacke zu schieben oder was auch immer. Ich hielt auf den See zu, statt den Hügel hinaufzusteigen. In dem piksenden Schneeregen rannte ich auf das Eis hinaus, aber als ich mich umdrehte, drehte sein Auto mit eingeschaltetem Fernlicht, machte zwischen den Bäumen eine sorgfältige Kehrtwende.
Der Grierson-Skandal ereignete sich, ein paar Monate nachdem ich im darauffolgenden Herbst auf die Highschool gekommen war. Ich hatte einen Teilzeitjob als Kellnerin im Diner der Stadt und hörte das Gerede, als ich jemandem Kaffee einschenkte. Man hatte ihm an seiner ehemaligen Schule Pädophilie und Sexualstraftaten vorgeworfen, und er flog auch prompt von unserer – in einer ehemaligen Wohnung von ihm in Kalifornien war ein Stapel schmutziger Fotos sichergestellt worden. An diesem Tag nahm ich nach der Arbeit mein Trinkgeld, ging damit in die Bar die Straße hinunter und zog meine erste ganze Schachtel Zigaretten aus dem Automaten im Vorraum. Von den Zigaretten, die ich zu Hause geklaut hatte, wusste ich, dass man beim Anstecken nicht zu stark inhalieren durfte. Aber als ich mich zwischen die nassen Büsche hinter dem Parkplatz duckte, fingen meine Augen an zu tränen, und ich musste husten, während mein Herz in hässlicher Raserei trommelte. Mehr als alles andere fühlte ich mich getäuscht. Es kam mir vor, als hätte ich eine Saat in Mr Griersons Wesen erkannt, und er hätte mich nach Strich und Faden belogen, als er einfach über das hinweggegangen war, was ich im Auto getan hatte, als hätte er sich für einen besseren Menschen ausgegeben, als er in Wirklichkeit war. Für einen ganz normalen Lehrer. Ich dachte daran, wie Mr Grierson seinen breiten, warmen Hals in seinem Mantelkragen eingeschlossen hatte. Ich dachte an seinen ranzigen Geruch, als ich ihm näher gekommen war, so als hätte er seine Klamotten durchgeschwitzt und sie in der Winterluft trocknen lassen. An all das dachte ich, und was ich letztlich für ihn empfand, war ein unangenehmes Aufwallen von Mitleid. Es erschien mir unfair, dass Menschen nicht etwas anderes sein konnten, auch wenn sie sich wirklich anstrengten, wenn sie es immer und immer wieder behaupteten.
Mit sechs oder sieben hatte mich meine Mutter in meiner Unterwäsche in den Badezuber gesetzt. Es war ein Vormittag mitten im Sommer. Ein Lichtstrahl landete auf ihrem Gesicht. Aus einem Messbecher ließ sie Wasser auf mein Gesicht tropfen. »Ich wünschte, ich würde an diesen Scheiß glauben«, sagte sie zu mir.
»Was soll denn angeblich passieren?« Ich fröstelte.
»Gute Frage«, sagte sie. »Du bist ein frischer Topf Reis, Baby. Ich fange mit dir noch mal bei null an.«
An dem Abend, als Mr Grierson mich abgesetzt hatte, wollte ich nicht nach Hause gehen. Ich stellte mir vor – freudig erregt, mit einer Halskette voller Haken in der Kehle, die ich beim Schlucken spürte –, wie ich durch das spröde Eis des Sees brach und einfach unterging. Meine Eltern würden sich lange Zeit keine Sorgen machen, vielleicht bis zum Morgen nicht. Meine Mutter nickte Abend für Abend beim Nähen von Quilts für Gefängnisinsassen ein. Mein Vater verbrachte seine Abende damit, auf dem verwaisten, zum Verkauf stehenden Grundstück am gegenüberliegenden Ufer des Sees Holz zu sammeln. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie wirklich meine Eltern waren oder einfach nur die Leute, die zurückgeblieben waren, als die anderen wieder in den Twin Cities auf die Uni oder ins Büro gingen. Sie waren eher wie Stiefgeschwister als wie Eltern, auch wenn sie mich immer gut behandelten – was auf gewisse Weise das Schlimmste war. Schlimmer, als mit Cent-Stücken Müsli zu kaufen, schlimmer, als abgetragene Klamotten von den Nachbarn annehmen zu müssen, schlimmer, als rote Socke oder Freak genannt zu werden. Als ich zehn war, hängte mein Vater eine Schaukel an eine riesige Pappel; meine Mutter schnitt mir Kletten aus den Haaren. Aber an dem Abend, als Mr Grierson mich abgesetzt hatte, dachte ich, während ich darauf wartete, dass mein Körper durch das Eis brach, trotzdem immer wieder voller Bosheit: Da geht der Reis dahin, Mom. Da geht der ganze Topf dahin.
Nachdem ich mich am Community College eingeschrieben und es wieder abgebrochen hatte, nachdem ich in der Stadt ein paar Aushilfsjobs gemacht hatte, stieß ich im Internet auf eine landesweite Datenbank, in die man den Namen eines beliebigen Sexualstraftäters eingeben und seinen aktuellen Standort abrufen konnte. Auf Karten aller Bundesstaaten kann man anhand einer kleinen roten Linie verfolgen, wie sich jemand von Stadt zu Stadt bewegt, von Arkansas nach Montana, wie er nach der nächsten miesen Wohnung sucht, wie er ins Gefängnis kommt und wieder entlassen wird. Man kann sehen, wie sie bei dem Versuch erwischt werden, einen anderen Namen anzunehmen, und wie dann jedes Mal ein Windstoß wütender Kommentare durch das Netz fegt. Man kann die Entrüstung sehen. Man kann sehen, wie sie es wieder versuchen. Man kann ihnen in den Süden Floridas folgen, ins Sumpfgebiet, wo sie zwischen den Mangroven ein verstecktes kleines Antiquitätengeschäft aufmachen und irgendwelches Zeug, irgendwelchen Müll verkaufen. Rostige Laternen und ausgestopfte Enten, falsche Haizähne, billige Goldohrringe verhökern. Man kann alles sehen, was sie verkaufen, weil die Leute ihre Einträge aktualisieren, mit allen Einzelheiten. Es machen so viele mit. Ständig wird irgendetwas aktualisiert. »Sollte ich einem verurteilten Sexualstraftäter eine Landkarte abkaufen?«, schreiben die Leute, und die Frage scheint ethisch uneindeutig zu sein. »Habe ich nicht das verfassungsmäßige Recht, ihm zu sagen, dass ich ihn hier nicht haben will, dass er seine Postkarten zum halben Preis woanders verkaufen soll?« Die Leute schreiben: »Habe ich nicht das Recht, ihm das in sein Scheißgesicht zu sagen?« Die Leute schreiben: »Was glaubt der denn, wer er ist?«
Papierstapel, die herumgegeben wurden. Das war die Highschool. Sie liefen einen Gang hinunter, von Tisch zu Tisch, und kamen dann nach einer langsamen Schleife am Ende des Klassenzimmers einen anderen Gang wieder herauf. Die begabten und talentierten Kinder – die inzwischen zum Lateinklub und zur Forensikgruppe geworden waren – leckten ihre Finger an, um sich ihren Teil vom Stapel zu nehmen. Sie machten sich immer so an die Arbeit, wie die Schwimmer aus dem Schwimmkurs ihre Bahnen zogen, atmeten durch die Mundwinkel, nagten an ihren Bleistiften. Die Hockeyspieler mussten angestupst werden, damit sie aufwachten, wenn der Stapel in ihrer Reihe ankam, mussten mit tiefer Ehrfurcht behandelt werden – sonst würden wir die Bezirksmeisterschaft verlieren. Wieder einmal. Sie erwachten gerade lange genug aus ihrem Schlummer, um sich ein Blatt zu nehmen und den Rest weiterzureichen, lange genug, um offene Chipstüten in ihre Münder zu leeren, sich das Salz von den Lippen zu wischen und zu ihren Träumen von Ruhm und Ehre zurückzukehren. Wovon sollten Hockeyspieler sonst träumen? Wir lebten in ihrer Welt. Das wurde mir mit fünfzehn klar. Sie waren es, die sie ins Dasein träumten. Sie brachten die Lehrer dazu, ihnen ihre leeren Arbeitsblätter zu verzeihen, sie brachten die Cheerleader dazu, vor den Spielen ihre Namen zu schreien, sie brachten die Eisbearbeitungsmaschinen dazu, die Welt, so weit das Auge reichte, mit perfekten, ununterbrochenen Streifen aus gefrierendem Wasser zu überziehen. Wir waren dieses Jahr in einem neuen Gebäude, in einem größeren Klassenzimmer mit blassen Backsteinwänden, aber draußen war alles, wie es seit unserer Kindheit immer gewesen war. Der Winter kam zurück wie ein Bumerang.
Draußen: 1,20 Meter tiefer Schnee, mit einer schimmernden Kruste versiegelt.
Drinnen: Europäische Geschichte, amerikanische Gemeinschaftskunde, Trigonometrie, Englisch.
Biologie kam immer zuletzt dran. Sie wurde von Liz Lundgren, unserer alten Sportlehrerin aus der achten Klasse, unterrichtet, die zum Ende des Schultags in ihrem Polartec-Parka und ihrer Schneehose im Tarnfleckmuster von der Middle School herübergestapft kam. Ms Lundgren hatte einen Tick. Wenn sie sich über etwas aufregte oder für etwas begeisterte, fing sie augenblicklich an zu flüstern. Sie glaubte, dann würden wir besser zuhören; sie glaubte, wir würden uns für Protisten und Pilze interessieren; sie glaubte, wir würden uns mehr anstrengen, Meiose zu verstehen, wenn wir nicht jedes Wort mitbekamen. »Ohne ausreichend Wasser und Wärme … die Sporen … in großen Mengen bewegen«, murmelte sie, und es war, als würde sie irgendein obskures Gerücht weitergeben, das schon so oft erzählt worden war, dass es für uns jede Bedeutung verloren hatte.
In diesem Unterrichtsfach konnte man immer die Uhr ticken hören. Durch jedes der Fenster sah man, wie der Schnee in Böen davongeweht wurde und am nächsten Tag in Form von haushohen Haufen zurückkehrte. Als wir mit der Evolution beinahe durch waren, ließ ein später Schneesturm einen langen Pappelast mit einem eisigen Wumpff abstürzen. Durchs Fenster sah ich, wie er zu Boden fiel und ein kleines blaues Auto, das soeben von dem Lebensmittelladen gegenüber der Schule wegfuhr, knapp verfehlte. Ms Lundgren schrieb gerade in quietschender Schreibschrift die Vor- und Nachteile der natürlichen Auslese an die Tafel. Das Fenster beschlug, als ich mich zu ihm vorbeugte. Ich lehnte mich zurück. Jemand in einem riesigen Kapuzenparka stieg aus dem blauen Auto, zerrte den Ast von der Straße, stieg wieder ein. Dann fuhr der Honda in einem großen Bogen um ihn herum und zermalmte dabei ein paar kleinere Zweige unter seinen Reifen.
Einige Minuten später kam die Sonne heraus: Sie schien so hell, dass wir alle überwältigt waren. Trotzdem waren wir nicht überrascht, als der Schultag wegen der eisigen Winde eine halbe Stunde früher endete. Ich legte den Weg von der Bushaltestelle nach Hause in einem steifen Trab zurück. Ich knirschte über den zugeschneiten Pfad, spürte den Wind, der in heftigen Stößen vom See herüberwehte, hörte die Kiefern über mir ächzen und knarren. Auf der Hälfte des Hügels fühlte sich meine Lunge zerschlissen an. Mein Gesicht wurde zu etwas anderem als einem Gesicht, wurde weggerubbelt. Als ich endlich oben angekommen war, als ich langsamer ging, um mir Eis von der Nase zu wischen, drehte ich mich um und sah eine Auspuffwolke auf der anderen Seite unseres Sees. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um sie in dem ganzen Weiß zu sehen.
Es war der blaue Honda-Kleinwagen aus der Stadt. Ein Mann und eine Frau luden das Auto aus.
An dieser Stelle war der See extrem schmal, nicht viel mehr als 250 Meter von einem Ufer zum anderen. Ich sah ihnen ein paar Minuten lang zu, hätschelte meine Finger, knüllte sie zu festen Bällen zusammen.
Ich hatte das Paar schon einmal gesehen, im August. Sie waren vorbeigekommen, um den Bau ihres Hauses am See zu überwachen, der von ein paar Collegestudenten aus Duluth durchgeführt wurde. Den ganzen Sommer lang beseitigten sie mit Baggern Gestrüpp, stellten Sperrholzwände auf, tackerten Schindeln an den Dachstuhl. Als das Haus fertig war, sah es anders aus als alles, was ich je in Loose River gesehen hatte. Es war mit Halbrundhölzern verkleidet und hatte riesige dreieckige Fenster, eine breite Veranda aus hellem Holz, die wie ein Schiffsbug auf den See hinausragte. Aus dem Kleinwagen hatte der Vater Adirondack-Stühle und gefügige Katzen herausgehoben: eine schwarz und dick, die andere weiß und kleidsam auf seinem Arm drapiert. Eines Nachmittags Ende August hatte ich sie auf ihrer neuen Veranda gesehen, von Kopf bis Fuß in Handtücher gewickelt. Vater, Mutter, winziges Kind. Das Handtuch des Kindes schleifte über die Holzplanken, und Mutter und Vater hatten sich beide gleichzeitig hingekniet, um es zu richten. Sie waren wie Bedienstete, die sich um eine sehr kleine Braut kümmerten, sie anschwärmten, ihr nicht von der Seite wichen. Sie schienen etwas sehr Liebes zu dem Kind zu sagen, das eine hohe, ängstliche Stimme hatte, die über Wasser trug. Seitdem hatte ich sie nicht mehr gesehen.
Doch an diesem Wintertag kamen sie zurück. Am Abend sah ich den Vater mit einem rosa Besen den Schnee von seiner Veranda fegen. Rauch waberte aus dem Schornstein. Am nächsten Nachmittag kamen die Mutter und das Kind in ihren Stiefeln und Schneeanzügen herausgewackelt. Der Junge bewegte sich unsicher über die frische Schneekruste, machte ein paar Schritte darauf, bis er einbrach. Als die Mutter ihn an den Achseln herauszog, wurden ihm die Stiefel von den Füßen gepflückt. Ich sah zu, wie die Mutter den armen Jungen hilflos in der Luft baumeln ließ, ohne zu wissen, ob sie ihn absetzen oder ihn so tragen sollte, in Socken über einem Universum aus Schnee hängend.
Was zum Teufel hat sie denn erwartet?, dachte ich spöttisch. Aber sie taten mir auch leid. So gut wie nichts auf dem See bewegte sich oder atmete. Es war der schlimmste Teil des Winters, eine weiße Wüste erstreckte sich in alle Richtungen, kein Ort für kleine Kinder oder Stadtmenschen. Unter dreißig Zentimeter tiefem Eis, unter meinen Stiefeln, trieben die Barsche dahin. Sie versuchten nicht zu schwimmen oder sonst irgendetwas zu tun, das irgendeine Anstrengung erforderte. Sie schwebten, warteten zusammen mit dem Treibholz darauf, dass der Winter vorüberging, schlugen kaum mit ihren Herzen.
Wir hatten uns auf mindestens einen weiteren Monat Winter eingestellt. Jeden Abend fütterte ich den Ofen in der Hütte, bevor ich die Leiter meines Hochbetts hinaufstieg, und an jedem schwarzen Morgen kratzte ich die Kohlenreste wieder zusammen und zündete mit trägen Fingern und ein paar Zedernspänen eine neue Flamme an. Wir hatten anderthalb Klafter Holz an der Außenwand der Hütte aufgestapelt, die ich mir gut einteilte. Wir stopften das Fensterfutter mit noch mehr Lappen aus, um die Wärme drinnen zu halten, ließen große Töpfe auf dem Ofen stehen, um morgens Schmelzwasser zu haben. Mein Vater hatte ein frisches Loch zum Angeln in das fast 45 Zentimeter starke Eis gebohrt.
Dann aber, Mitte März, schoss die Temperatur auf zehn Grad hoch, wo sie wundersamerweise auch blieb. Innerhalb von ein paar Wochen schrumpften die Schneewehen auf den Südseiten der Hänge zu Stalagmitensäulen zusammen. Ein nasser Schimmer erschien auf dem Eis, spätnachmittags konnte man den gesamten See knallen und zischen hören. Risse erschienen. Es war warm genug, um ohne Handschuhe Holz vom Stapel zu holen, um die Schnappverschlüsse an den Ketten der Hunde mit der Wärme der eigenen Finger zu enteisen. Auf der anderen Seite des Sees stellte die Familie ein Teleskop auf ihre Veranda – lang und speerförmig, auf den Himmel gerichtet. Unter dem Stativ stand ein Hocker, auf den sich das Kind manchmal abends stellte, um mit beiden in Fäustlingen steckenden Händen das Okular zu seinem Gesicht herunterzuziehen. Der Junge trug einen Schal, gestreift wie eine Zuckerstange, und eine rote Bommelmütze. Immer wenn der Wind auffrischte, tänzelte der Bommel in der Luft wie ein Köder beim Fischen.
Manchmal kam seine Mutter mit einer Skimütze auf dem Kopf heraus und justierte das Stativ neu, richtete das Rohr auf den Himmel und spähte selbst hindurch. Sie legte dem Jungen eine behandschuhte Hand auf den Kopf. Während sich der Abend zu seiner letzten Schattierung verdunkelte, sah ich sie dann wieder nach drinnen gehen. Ich sah, wie sie die Schals von ihren Hälsen wickelten. Ich sah, wie sie die Katzen knuddelten, sich die Hände unter dem Wasserhahn wuschen, Wasser in einem Kessel heiß machten. Offenbar hatten sie keine Jalousien vor ihren riesigen dreieckigen Fenstern. Ich sah ihnen beim Abendessen zu, als fände es nur für mich statt. Ich saß mit dem Bushnell-Fernglas meines Vaters auf dem Dach unserer Hütte, drehte an den klebrigen Röhren, wärmte meine Hände an meinem Hals. Das Kind hockte mit den Knien auf seinem gepolsterten Stuhl und schaukelte vor und zurück. Die Mutter kam kaum zum Sitzen. Sie ging zur Arbeitsplatte und wieder zurück, sie schnitt auf dem Teller des Jungen Dinge in Streifen. Sie machte grüne Spalten, gelbe Dreiecke, Scheiben aus irgendetwas Braunem. Sie pustete auf seine Suppe. Sie grinste, wenn er grinste. Ich konnte ihre Zähne über den See hinweg sehen. Der Vater schien verschwunden zu sein. Wo steckte er?
Der Frühlingsbeginn brachte weitere Eiszapfen. Sie schwitzten auf dem Schuldach blauschwarzes Wasser aus. Sie ließen die Nachmittage dahinsickern, im Rhythmus der tickenden Uhr, dann so schnell wie mein Herzschlag, den ich fühlte, wenn ich die Finger auf mein Schlüsselbein drückte. Ich war wie immer schlecht in der Schule, und während die Hockeyspieler uns in den Dezember zurückträumten und die Kinder aus dem Debattierklub ihre wechselseitigen Rollen einübten, beobachtete ich, wie Lily Holburn nach und nach ihre Freundinnen verlor. Sie war immer die Nummer zwei in einem Vierergrüppchen gewesen, aber seit dem Beginn des Winters war sie die Nummer fünf. Man hätte nicht sagen können, was anders geworden war, wann genau die Gerüchte über sie und Mr Grierson aufgekommen waren. Aber bis März war eine Leere um sie herum entstanden – wie nach einem Waldbrand –, und ihr Schweigen wirkte nicht mehr besonders dümmlich. Es war beunruhigend. Schlampe, flüsterten ihre ehemaligen Freundinnen höhnisch hinter ihrem Rücken. Früher hatten sie ihr genau das ins Gesicht gesagt, wenn sie nach dem Unterricht herumalberten. Wegen ihrer zerrissenen Jeans, ihrer billigen engen Pullover. Jetzt waren sie immer freundlich zu ihr, wenn sie ihr nicht aus dem Weg gehen konnten. Sie lachten nicht, wenn sie ohne Stift in den Unterricht kam, ärgerten sie nicht, wenn sie ihr Pausenbrot vergessen hatte. Sie liehen ihr Geld, wenn sie darum bat. Sie reichten ihr Toilettenpapier unter der Tür durch, wenn es ausgegangen war, und flüsterten: »Brauchst du mehr? Reicht das?«
Aber auf dem Flur gingen sie an ihr vorbei, ohne sie zu beachten.
Ich hatte eine Nachricht für sie. Ich schrieb ihr einen Zettel und gab ihn ihr, als eines Nachmittags der Stapel mit den Arbeitsblättern unseren Gang herunterkam: Es ist mir egal, was über dich und Mr G. geredet wird. Es ging mir nicht darum, sie in Schutz zu nehmen – wir waren nie befreundet gewesen, waren nie allein zusammen in einem Raum gewesen –, aber irgendwie war ihr Name plötzlich mit dem von Mr Grierson verbunden, und ich wollte wissen, woran das lag. Aber Lily schrieb nicht zurück. Sie drehte sich nicht einmal um und sah mich an, saß einfach nur vornübergebeugt da und tat so, als würde sie das mit den Quadratwurzeln kapieren.