Hessisch-kriminelle Weihnacht

Anne Hassel, Ursula Schmid-Spreer, Johannes Paesler (Hrsg.)


ISBN: 978-3-95428-677-5
2. Auflage 2021
© 2017 Wellhöfer Verlag, Mannheim

Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Die Erzählungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Inhalt

Drei Schwestern

Krukenburg Bad Karlshafen

Kai Riedemann

 

Das Haus hätte auch mitten im Wald stehen können. Verwunschen sieht es aus, so einsam zwischen den Bäumen, deren Äste sich unter der Schneelast biegen. Oberhalb des Sockels aus groben Steinen erhebt sich die einst weiß gestrichene Fassade mit braun umrandeten Fenstern. Die Farbe ist rissig und mittlerweile grau. Die Fachwerkbalken wirken verwittert. Ein Anblick, der nur noch etwas Romantisches hat, weil im Garten knöchelhoch Schnee liegt und warmes Licht die Fenster erleuchtet.

»Heimweh?«, frage ich Sabine.

»Heimweh nach diesem alten Kasten?« Sie lacht. Etwas zu laut.

Durch das frisch gefallene Weiß führt eine einzelne Fußspur zu den Steinstufen am Eingang. Sie verliert sich nur kurz, weil unter einer mächtigen Kiefer kaum Schnee liegt und zwei zerbrochene Betonplatten durchschimmern. Offenbar ist Barbara schon vor uns eingetroffen.

Es könnte ein wehmütiger Adventsnachmittag hier in Bad Karlshafen werden. Keine Ahnung, wie lange sich die drei Schwestern schon jedes Jahr kurz vor Weihnachten im Elternhaus treffen, vergilbte Fotos betrachten, Diebchen mit Duckefett essen und schließlich zur nahen Krukenburg aufbrechen. Wohl seit dem Tod des Vaters. Fest steht nur, dass es das letzte Mal sein wird.

Sabine bleibt neben einem verschneiten Steinlöwen stehen und streicht ihm über den Kopf. Der Stein ist grau, Wind und Wetter haben dem stolzen Raubtier längst die Mähne zerfressen. Die Vogeltränke daneben sieht nicht viel besser aus.

»Traurig bin ich trotzdem«, gibt sie zu. »Aber wir brauchen das Geld. Tanja darf sich einfach nicht länger gegen den Verkauf wehren.«

Tanja, Sabine und Barbara – die drei Schwestern aus Bad Karlshafen. Nur die Älteste ist hiergeblieben und hat das gemeinsame Erbe mehr oder weniger gepflegt. Mir kommt der Kasten unheimlich vor. Gegen die Stadt selber habe ich nichts. Als Hamburger bin ich sogar fasziniert vom historischen Hafen, den barocken Bauten, den Berghängen und dem nahen Reinhardswald mit seinen Märchen und Legenden. Aber dieses Haus? Kein Wunder, dass Tanja als wunderlich gilt.

Sabine gibt dem Löwen einen letzten Klaps, fegt die weißen Flocken von der Vogeltränke und wir stapfen weiter. Die Haustür steht offen. Tanja hat unsere Ankunft bemerkt, begrüßt uns aber nicht. Also klopfen wir den Schnee von unseren Schuhen und aus unseren Jacken und treten in den Flur. Es riecht muffig. Eine Mischung aus feuchten Wänden, abgestandener Luft und Bratfett. Wir hinterlassen nasse Flecken auf dem Steinfußboden. Wo ist Tanja?

Der dunkle Flur führt direkt ins Esszimmer. Da auch hier die Tür offen steht, erhasche ich einen Blick auf den mit rot-grün karierten Decken und Tannenzweigen geschmückten Tisch. Kerzenleuchter werfen flackerndes Licht auf Teller und Silberbesteck. Wir hängen unsere Steppjacken an die Garderobenhaken am Dielenschrank. Eine kleine Pfütze am Boden deutet darauf hin, dass hier vor Kurzem von Schnee durchnässte Kleidung hing. Barbaras Mantel sehe ich nicht. Kommt sie doch erst später, obwohl sie von Frankfurt aus den deutlich kürzeren Weg hat?

Eine Standuhr schlägt dreimal. Das Geräusch klingt so ungewohnt, so altertümlich, dass ich unwillkürlich zusammenschrecke. Unfassbar! Ausgerechnet eine Uhr macht mir deutlich, dass hier die Zeit stehen geblieben ist.

Tanja hat vermutlich hinter der Tür gewartet und kommt jetzt auf uns zu. Ihr Lächeln will so gar nicht zur leicht gebückten Haltung und den steif herabhängenden Armen passen. Der weite schwarze Strickpullover fällt locker über die Jeans. Die dunklen Haare, bereits von grauen Strähnen durchzogen, hat sie mit einem Gummiband zum Pferdezopf zusammengebunden. Das also ist Tanja. Sabine hat mir viel von ihr erzählt, und doch läuft mir jetzt ein Schauer über den Rücken. Vielleicht weil sie so starr auf uns zusteuert und ihre Schwester wortlos in die Arme nimmt.

Schließlich blickt sie auch mich an.

»Heiko?«, fragt sie. Ihre Stimme klingt unerwartet hell und kräftig. »Willkommen in unserem Haus.« Sogar ihr Händedruck ist überraschend fest. »Ich freue mich, endlich Sabines neuen Freund kennenzulernen.«

Sie lächelt immer noch. Nur ihre Augen bleiben stumm und grau.

»Setzt euch. Das Essen ist fertig.«

»Wir sollten vorher das Geschäftliche besprechen«, schlägt Sabine vor. »Ich habe die Verträge mit dem Anwalt …«

»Nicht jetzt.« Tanja schüttelt energisch den Kopf. »Außerdem müssen wir auf Barbara warten.«

»Wann kommt sie?«

»Erst am späten Abend. Ein Geschäftstermin. Sie hat vorhin angerufen.« Dabei deutet sie auf ein Telefon, wie ich es seit bestimmt 20 Jahren nicht mehr gesehen habe. Grau und mit Wählscheibe.

»Setzt euch bitte.«

Sie lässt uns stehen und verschwindet durch eine Tür, die zur Küche zu führen scheint. Sabine seufzt. Ich hoffe immer noch, dass wir Tanja zur Unterschrift unter den Verkaufsvertrag bewegen können. Alles wäre dann so viel einfacher.

Der lederbezogene Stuhl knarrt, als ich mich neben Sabine an den gedeckten Tisch setze. Die Kerzen verbreiten nur schummeriges Licht und das trübe Dezemberwetter kann auch nicht für mehr Helligkeit sorgen. In einer Ecke steht ein halb geschmückter Weihnachtsbaum. Trotzdem fühle ich keine besinnliche Festtagsstimmung. So vieles hier wirkt bedrückend, der schwere Eichentisch mit der rotgrünen Decke, das Silberbesteck, die Leuchter mit dem herabgetropften Wachs, die gerahmten Fotos an der Wand. Auf einem der Bilder erkenne ich Sabine, Tanja und Barbara. Sie stehen vor den Ruinen der Krukenburg. Wie lange mag das her sein? Vielleicht 30 Jahre? Sabine hatte damals viel kürzere blonde Haare, Tanja trug denselben Pferdeschwanz wie heute.

Ich muss an die Sage von der Krukenburg denken, die mir Sabine oft erzählt hat. Schon in der Schule wurden die drei Mädchen damit gehänselt. Im Reinhardswald lebte der Riese Kruko mit seinen drei Töchtern. Saba und Brama nahmen den christlichen Glauben an, nur Trendula verehrte die alten Götter. Heimtückisch und hinterlistig soll sie gewesen sein. Nach dem Tod des Vaters verließen Saba und Brama die Krukenburg. Irgendwie war auch Mord im Spiel, wenn ich mich recht entsinne. Trendula tötete ihre Schwester Brama im Waldstück Mordkammer bei Wülmersen. Zur Strafe ließ Gott einen Blitz vom Himmel herabfahren und Trendula verschwand in der Erde. Oder so ähnlich.

»Möchte jemand Rotwein zum Essen?« Tanjas Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Passt Rotwein zu Diebchen mit Duckefett? Das Gericht aus Ahle Wurst im Kloß mit Speck und Zwiebeln kommt mir eher deftig vor. Tanja stellt die Schüssel auf den Tisch und setzt sich.

»Guten Appetit«, wünscht sie. Ein fertig eingedeckter Platz mit Goldrandteller bleibt leer.

 

Besonders wohl fühle ich mich nicht so allein in diesem Haus. Aber Tanja und Sabine haben auf ihren traditionellen Spaziergang zur Krukenburg bestanden.

»Das machen wir jedes Jahr so«, hat Sabine gesagt und mir zugezwinkert. »Reine Schwesternsache. Da haben Männer nichts zu suchen.«

Außerdem hofft sie natürlich, bei dieser Gelegenheit das Problem mit Tanjas Unterschrift endgültig lösen zu können. Was sollen wir mit diesem verdammten Haus? Alles hier macht mir nur allzu deutlich, dass ihre Schwester in einer Traumwelt lebt. Das Ticken der Standuhr in der unheimlichen Stille. Die alten Fotos in Silberrahmen. Das Geschirr, von dem vermutlich bereits ihre Großeltern Diebchen mit Duckefett gegessen haben. Ich fahre mit dem Finger über eine Bleikristallschale voller künstlichem Obst, die auf dem Esszimmerschrank steht. Kein Staub. Tanja hält Ordnung. Und doch erinnert mich diese Einrichtung nicht an liebevoll gehegte Nostalgie, sondern an ein verzweifeltes Aussperren der Wirklichkeit.

»Wenn du Langeweile kriegst, blättere doch in unseren Fotoalben«, hat Sabine vorgeschlagen. »Damals war ich noch schön und schlank.« Das erwartete Kompliment dazu hat sie natürlich ergattert. Aber nach Fotoalben steht mir nicht der Sinn. Also trete ich hinaus in die Diele, in der es immer noch nach Feuchtigkeit, abgestandener Luft und Bratfett riecht. Wo Sabines hellblaue Steppjacke hing, ist der Steinfußboden nass vom getauten Schnee.

Durch das mit einem schmiedeeisernen Gitter versehene Glasfenster in der Eingangstür blicke ich hinaus in den Garten. Das Dämmerlicht reicht kaum aus, um den Steinlöwen zu erkennen. Ein dunkler Schatten, der vorbeihuscht, entpuppt sich als Amsel, die zur Vogeltränke flattert und dort ziemlich sinnlos in den weißen Flocken herumpickt. Doch Fotoalben? Warum ich stattdessen lieber zu meinem Smartphone greife, weiß ich selbst nicht genau. Irgendeine innere Unruhe vielleicht. Ich wähle Barbaras Nummer. Es ist merkwürdig, dass sie entgegen unserer Pläne nicht rechtzeitig nach Bad Karlshafen kommen konnte.

Es klingelt. Ihre Lieblingsmelodie aus Vivaldis »Vier Jahreszeiten«. Ich brauche eine Weile, bis ich begreife, dass ich dieses Klingeln eigentlich nicht hören dürfte. Ihr Telefon ist hier. Ganz in der Nähe. Leise nur dringt der Ton an mein Ohr, aber deutlich genug in der Stille dieses Hauses. Ich folge der Melodie. Durch die Diele, am dunklen Garderobenschrank vorbei in die Küche. Die Tür neben dem Gasherd ist nur angelehnt. Von dort führt eine Steintreppe in den Keller. Der muffige, feuchte Geruch wird stärker, der Klingelton lauter. Ich taste in der Dunkelheit nach einem Lichtschalter. Zehn Stufen hinunter. Ich zähle tatsächlich die Stufen, die im Schein einer nackten Glühbirne schmutziggrau wirken.

Dann sehe ich Barbara. Vielmehr sehe ich eine Gestalt, die merkwürdig zusammengekrümmt und verrenkt auf dem Kellerboden liegt. Daneben ein moosgrüner Mantel, eine Umhängetasche, eine Strickmütze. Und das Handy. Um den Kopf der Gestalt hat sich eine dunkle Pfütze gebildet, die sich immer noch auszubreiten scheint. Als ich mich hinabbeuge und den Körper vorsichtig umdrehe, blicke ich in Barbaras leere, weit aufgerissene Augen. Die blonden Haare sind vom Blut verklebt.

Was hat Sabine vorhin gesagt? Tanja darf sich einfach nicht länger gegen den Verkauf wehren. Sie hat sich gewehrt. Tanja. Sabine. Die Krukenburg. Die beiden allein, die dritte Schwester tot. Verdammt, das war doch ganz anders geplant!

Ich spüre das Smartphone in der rechten Hand. Während ich die steile Kellertreppe hinaufhaste, wähle ich Sabines Nummer. Durch die Küche, zurück in die Diele. Ich reiße die Jacke vom Garderobenhaken. Die Haustür bleibt offen, als ich in den Garten laufe und immer noch vergeblich auf eine Antwort warte. Mein Gott, Sabine, geh endlich ran! Der Schnee knirscht unter meinen Schritten, ich schreie irgendetwas Sinnloses, die Amsel auf der Vogeltränke fliegt erschreckt auf. Geh ran, Sabine!

Wo ist diese Krukenburg? Im Auto tippe ich mit zitternden Fingern das Ziel ins Navigationsgerät. Zum Glück hat Sabine die Adresse schon für alle Fälle eingespeichert. »Jetzt links abbiegen«, verrät die emotionslose Stimme, während der Wagen mit durchdrehenden Rädern vorwärtsschießt. Die Straße ist nicht geräumt. An der nächsten Kurve schleudere ich in eine Hecke und streife eine lichtergeschmückte Tanne. »Jetzt links abbiegen und der B83 folgen«, erklärt die Stimme. Die Krukenburg kenne ich bislang nur von Fotos. Eine Steinruine aus dem 13. Jahrhundert. Oberhalb des Stadtteils Helmarshausen. Auf dem 184 Meter hohen Waltersberg. Mit weitem Blick über das Diemeltal. Schon bizarr, dass mir ausgerechnet in dieser Situation solche Details einfallen. Sabine hat mir davon vorgeschwärmt. Von den verfallenen dicken Mauern der alten Kirche, von den Rundbogenfenstern, durch die man den blauen Himmel sieht. Von den kühlen grauen Steinen, die man berühren kann, um die Vergangenheit zu spüren. Vom Bergfried, der als Aussichtsturm dient.

Genau diesen Bergfried stelle ich mir jetzt vor. Ein hoch aufragender Turm, wie ein zu dick geratener Schornstein. Von Schnee bedeckte Bäume berühren fast die mächtigen Mauern. Ob man den Bergfried um diese Jahreszeit überhaupt besteigen kann? Vermutlich nicht. Aber es gibt dort zweifellos genug andere Möglichkeiten, um einen Unfall …

»In 50 Metern rechts abbiegen.« Ich biege rechts ab, der Wagen schleudert wieder um eine scharfe Kurve. Der Weg wird jetzt schmaler, meine Autoscheinwerfer reichen nicht, um dem Wald seine Unheimlichkeit zu nehmen. Dicht am Straßenrand stehen die kahlen Bäume, auf der linken Seite schimmern die Lichter eines einsamen Gehöfts in der Dämmerung. Endlich tauchen die Mauern der Burgruine vor mir auf. Die Reste der alten Kirche blicken mich mit toten Augen an. Zwei Fensterlöcher in der Höhe, ein drittes darunter wie ein zum Schrei geöffneter Mund.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, sagt die Stimme. Ich bringe den Wagen auf dem verschneiten Weg zum Stehen und blende die Scheinwerfer voll auf. Vor der Rundmauer der Kirche liegt eine Gestalt. Reglos. Nur ein schwarzer Fleck im Schnee. Zu spät. Ich bin zu spät. Eigentlich müsste ich jetzt aussteigen, aber ich kann es nicht. Warum haben wir Tanja so unterschätzt? Warum haben wir so felsenfest ans Gelingen unseres eigenen Plans geglaubt? Als sich meine Hände immer fester ums Lenkrad krallen, tritt plötzlich jemand in den Scheinwerferkegel. Lange blonde Haare leuchten über einer hellblauen Steppjacke. Sabine?

»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, wiederholt die Stimme.

Diebchen mit Duckefett

Für vier Personen

Diebchen

300 g Ahle Wurst (nordhessische Spezialität, sonst andere Rotwurst)

1.000 g Pellkartoffeln

2 Eier

120–150 g Kartoffelstärke

Salz, Pfeffer, Majoran

Duckefett

125 g magerer Speck

250 g Zwiebeln

1 Becher Schmand

1/8 l Milch

Salz, Pfeffer

Die Kartoffeln am Vortag kochen, dann am nächsten Tag pellen und mit einer Küchenreibe fein reiben. Eier, Kartoffelstärke, Majoran, Salz und Pfeffer dazugeben und alles zu einem glatten festen Teig kneten. Mit angefeuchteten Händen etwa 10 bis 16 Klöße formen und jeweils in die Mitte zwei Stücke Ahle Wurst drücken. 15 bis 20 Minuten in heißem Salzwasser garen.

Den Speck würfeln und in einer Pfanne auslassen, dann die geschnittenen Zwiebeln zugeben und braun andünsten. Schmand und Milch unterrühren, mit Salz und Pfeffer abschmecken.

»De Kleeße ducked (tunkt) me dann ins Duckefett.«

M. Marpels Fall

Bad Arolsen

Inge Witschel

 

Martina Marpel konnte ihr Glück kaum fassen. Carla Hörbach, ja – die Carla Hörbach, die in den 1980er-Jahren zu den bekanntesten Schauspielerinnen des Landes zählte, war vor wenigen Tagen in das Haus gegenüber eingezogen. Seitdem verbrachte Martina, die nicht nur vom Namen her Ähnlichkeiten mit der englischen Romanfigur aufwies, einen beträchtlichen Teil des Tages am Küchenfenster, um einen Blick auf ihr Idol zu erhaschen. Seit sie vor fünf Jahren aus gesundheitlichen Gründen in Frührente gehen musste, war sie über jede Abwechslung froh, die das doch recht beschauliche Mengeringhausen bot. Sie vermisste ihren alten Beruf als Fremdenführerin im nahen barocken Bad Arolsen. Jetzt war sie Mitglied des Gesangvereins, las Unmengen von Krimis, sammelte Geld für diverse Wohltätigkeitsvereine und bastelte eifrig Weihnachtsdekorationen oder »Staubfänger«, wie ihr Mann es nannte. Und trotzdem hatte sie immer das Gefühl, ihr Leben stehe still. Ein umgestürzter Gartenzwerg, eine verschwundene Katze, eine verkratzte Autotür – das war alles, was sich in dem Ort ereignete. »Und genau deshalb lebe ich so gerne hier«, pflegte ihr Mann zu sagen, wenn sie sich wieder über Langeweile beklagte. Er war Mitglied bei der Freiwilligen Feuerwehr, die nur selten einen Einsatz hatte, obwohl es reichlich alte Fachwerkhäuser gab. Deshalb fanden die Löscharbeiten der Feuerwehrleute meistens nur am Stammtisch statt, »um nicht aus der Übung zu kommen«, wie ihr Mann augenzwinkernd sagte, wenn er sich zum sonntäglichen Treffen aufmachte und sie mit ihren Krimis und Basteleien allein ließ.

Doch jetzt schien das Schicksal es endlich gut mit ihr zu meinen. Carla Hörbachs Erscheinen versprach, etwas Bewegung in Martinas Alltag zu bringen. Sie malte sich aus, wie sie bald ein fester Teil im Leben dieser Berühmtheit werden würde. Sie konnte von ihrem Fenster aus in den Wintergarten ihres Idols schauen, doch obwohl sie ihren Posten nur selten verließ, war ihr das Glück noch nicht hold gewesen – von Carla war nichts zu sehen. Und weil Martina keine Zeit verlieren wollte, beschloss sie, aktiv zu werden und sich bei der neuen Nachbarin vorzustellen.

Schnee fiel in dicken Flocken, als sie kurze Zeit später mit einem großen Strohstern als Gastgeschenk vor dem Nachbarhaus stand und klingelte. Nur wenige Sekunden später öffnete sich die Haustür. Ein recht gut aussehender Mann um die dreißig stand vor ihr und schaute sie fragend an. Martina war einen Augenblick verwirrt, fasste sich aber schnell wieder und nannte ihren Namen. Meistens erntete sie damit zumindest ein Lächeln. Viele fragten auch: »Wie die berühmte Miss Marple?« Worauf Martina dann kokett antwortete: »Leider sind wir nur Seelenverwandte.«

Doch ihr Gegenüber sagte nichts, schaute sie nur weiter mit großen Augen an. Martina hielt ihm den Stern hin und fragte nach der Hausherrin. »Meine Frau schläft. Der Umzug hat sie sehr angestrengt«, erhielt sie als Antwort von ihrem Gegenüber. »Sie werden das sicher verstehen.« Als Martina keine Anstalten machte zu gehen, sagte er: »Ich habe gerade Kaffee gemacht … Wenn Sie mir Gesellschaft leisten und eine Tasse mittrinken wollen?« Das musste man Martina nicht zweimal fragen.

Neugierig schaute sie sich um, während ihr Gastgeber sie ins Wohnzimmer führte, und war von dem, was sie sah, enttäuscht. Die Einrichtung war so normal. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Filmstar wohnte. Aber was hatte sie eigentlich erwartet? Alte Kinoplakate? Einen Butler in Livree? Frisierte Pudel? Er bat sie, Platz zu nehmen, den Kaffee bringe er gleich. Kurze Zeit später kam er mit einem Tablett zurück, auf dem auch ein Teller mit Kuchen stand. »Hessischer Kartoffelkuchen«, erklärte er, »Carlas Lieblingskuchen. Ich koche leidenschaftlich gerne, aber Backen liegt mir nicht. Meine Mutter hat ihn geschickt. Früher hat Carla ihn immer gebacken, aber seit ihrem Unfall vor einem halben Jahr ...« Seine Stimme zitterte, er schluckte und schwieg. Plötzlich erinnerte sich Martina, etwas über einen Autounfall gelesen zu haben. Wie hatte sie das nur vergessen können?

»Wie geht es ihr?«, fragte sie und erfuhr, dass Carla jeglichen Lebensmut verloren habe. »Sie verlässt ihr Bett selten, isst kaum noch etwas, will niemanden sehen.« Er reichte Martina ein Stück Kuchen. »Ich hoffe, das Klima hier wird ihr guttun. Sie lebte als Kind in Bad Arolsen. Wie oft hat sie vom Twistesee geschwärmt.« Seine Stimme versagte, Tränen standen in seinen Augen. Als leidender Ehemann erwartete er wahrscheinlich Anteilnahme, doch er hatte Pech, denn hinter Martinas schon etwas schrumpeliger Schale steckte kein weicher Kern. Sie rührten seine Tränen nicht. Ihr machte man so leicht nichts vor. Als versierte Krimileserin spürte sie instinktiv, dass hier etwas faul war. Dieser Mann war zweifellos nur hinter dem Geld der Schauspielerin her. Wer so aussah, verliebte sich nicht in eine Frau, die seine Mutter sein könnte.

Für sie stand also fest, dass ihr Idol Opfer eines Erbschleichers geworden war. In ihrem Kopfkino sah sie Carla hilflos im Bett liegen, vollgestopft mit Beruhigungsmitteln. Aber wie sollte sie ihr helfen? Sie brauchte Beweise, die sie der Polizei vorlegen konnte, und sie überlegte, unter welchem Vorwand sie in Carlas Zimmer gelangen könnte. Weil sie darüber nachdachte, wie sie das anstellen sollte, hörte sie ihrem Gastgeber nur mit einem halben Ohr zu. Sie war verwundert, dass er ihr, einer völlig Fremden, sein Herz ausschüttete, indem er schilderte, wie rapide sich Carlas Zustand in den letzten Wochen verschlechtert hatte.

»Vielleicht macht er sich ja wirklich Sorgen um seine Frau«, meldete sich schüchtern ein zartes Stimmchen in ihrem Kopf zu Wort. Martina ärgerte sich über diesen Einwand. Von wegen! Er benutzt mich als Teil seines perfiden Planes. Er braucht einen Zeugen, der bestätigt, wie sehr er sich um seine Frau sorgt.

»Ich muss jetzt das Abendessen vorbereiten«, riss sie die Stimme ihres Gegenübers in die Gegenwart zurück und Martina blieb nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden.

Du Schaf, warum hast du ihm nicht deine Hilfe angeboten?, dachte sie, als sie wieder in ihrer eigenen Küche stand. Vielleicht hätte sich eine Gelegenheit ergeben, Carla zu sehen. Sie verspürte den Wunsch, ihrem Mann von dem Verdacht zu erzählen, obwohl sie wusste, dass er sie auslachen würde. Er arbeitete seit über dreißig Jahren als Steuerberater, war also ein Mann der Zahlen und könnte ihr zweifellos schlüssig beweisen, dass die Wahrscheinlichkeit, sechs Richtige samt Superzahl im Lotto zu tippen, um ein Vielfaches höher sei, als dass ein Mord in einer Kleinstadt wie Mengeringhausen geschähe. Da ihr Mann aber vorhatte, den Abend und auch einen großen Teil der Nacht, wie sie annahm, mit seinen Kollegen bei der betrieblichen Weihnachtsfeier zu verbringen, hätte sie ihre trüben Gedanken sowieso nicht mit ihm teilen können.

Als Martina am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie sofort, unter welchem Vorwand sie wieder bei den Nachbarn klingeln konnte. Sie würde Carlas Mann nach dem Rezept für den Kartoffelkuchen fragen. Gleich nach einem schnellen Frühstück ohne ihren Mann, der erst in den Morgenstunden nach Hause gekommen war und sicher nicht vor dem Mittagessen aufstand, setzte sie ihren Plan in die Tat um. Diesmal dauerte es eine Weile, bis die Tür geöffnet wurde, und während sie wartete, fiel ihr auf, dass es über Nacht ungewöhnlich mild geworden war. Dabei feierte man am nächsten Tag schon den vierten Advent. Sie wollte gerade ein zweites Mal auf die Klingel drücken, doch schon öffnete sich die Tür. Als Carlas Mann die Besucherin sah, sagte er gleich: »Ich habe jetzt leider keine Zeit, ich helfe gerade meiner Frau beim Baden.« Er wirkte nervös. Martina konnte gerade noch ihr Anliegen hervorbringen und murmeln, dass sie später noch einmal vorbeikommen werde, als die Tür sich vor ihrer Nase schloss.

Während Martina das Mittagessen vorbereitete, musste sie unentwegt an Carla denken. Schwebte sie jetzt gerade in Lebensgefahr? Was konnte nicht alles in einer Badewanne passieren! Und sie wusste nicht, wie sie ihr helfen sollte. Was würde Jane Marple, die berühmte Ermittlerin, an ihrer Stelle tun? Sicher nicht Kräuter hacken oder Eier für die Grüne Soße pellen. Als ihr Mann gegen Mittag in die Küche kam, legte er die Post auf den Tisch, unter der sich auch ein Blatt Papier befand. Martina sah sofort, dass es sich um das Kuchenrezept handelte. Carlas Mann hatte es in den Briefkasten gesteckt und ihr so die Möglichkeit genommen, noch einmal ins Haus zu gelangen. Aber so leicht wurde man sie nicht los. Sie beschloss, umgehend den Kuchen zu backen und am Nachmittag vorbeizubringen. Nachdem sie die Kartoffeln geschält, halb gar gekocht und fein gerieben hatte, schlug sie das Eiweiß steif. Doch als sie den Grieß mit den geriebenen Mandeln vermengen wollte, stellte sie fest, dass sie nur einen kleinen Rest im Schrank hatte. Da sie sich nicht erinnerte, Mandeln aus dem Kuchen herausgeschmeckt zu haben, beschloss sie kurzerhand, sie durch Erdnüsse zu ersetzen. Sicher würde man den Unterschied nicht bemerken.

Am späten Nachmittag stand Martina mit dem Kuchen vor dem Haus der Nachbarn. Doch wie groß war ihr Erstaunen, als ihr die Tür diesmal von einer bildhübschen jungen Frau geöffnet wurde. Verwirrt fragte Martina nach dem Hausherrn. »Er ist einkaufen gegangen, während ich, der Pflegeengel, mich um seine Frau kümmere.« Da wusste Martina, dass ihre Chance gekommen war. Sie hielt der jungen Frau den Kuchen hin und sagte forsch: »Ich möchte Carla Hörbach sprechen.« Die Pflegerin nahm den Teller entgegen und verschwand ins Innere des Hauses. Martina stand unschlüssig vor der offenen Tür, doch gerade als sie sich entschieden hatte, in den Flur zu treten, kam die Frau zurück und sagte, sie bedauere, aber Carla Hörbach wolle niemanden sehen. Und zum zweiten Mal an diesem Tag wurde Martina die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Niedergeschlagen ging sie nach Hause. Der Kuchen war weg, sie hatte also keinen Vorwand mehr, um bei den Nachbarn aufzutauchen. Jane Marple wäre sicherlich etwas eingefallen, um sich an dem Pflegeengel vorbeizuschieben und Carla zu sehen.

»Von wegen Pflegeengel«, lästerte die Stimme des Misstrauens, »Todesengel wäre die bessere Bezeichnung. Die und Carlas Mann passen doch schon optisch perfekt zusammen. Wer weiß, welche Mittelchen sie der Armen verabreicht hat. Ob sie überhaupt noch am Leben ist?«, überlegte sie laut.

Martinas Frage sollte schneller beantwortet werden, als sie es erwartet hätte. Als sie nämlich in ihre Küche zurückkam und aus dem Fenster schaute, sah sie Licht im Wintergarten. Eine Person saß in einem Sessel und Martina sah mithilfe ihres starken Fernglases, dass es sich um Carla Hörbach handelte. Dünn und krank sah sie aus. Aber sie war wenigstens noch am Leben. Kurze Zeit später kamen der Pflegeengel und Carlas Mann in den Wintergarten. Die beiden redeten kurz, die Pflegerin schien sich verabschieden zu wollen und sie verließen gemeinsam den Wintergarten. Was sie draußen wohl besprachen?

Martina hatte nicht lange Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn nur wenige Augenblicke später erschien Carlas Mann wieder. Er trug ein Tablett mit einer Tasse und einem Teller, auf dem ein Stück von Martinas Kuchen lag, und stellte es vor Carla auf den Tisch. Dann setzte er sich zu ihr und schlug ein Buch auf. Er schien ihr daraus vorzulesen, während sie etwas Kuchen aß. »Er liebt sie vielleicht wirklich und will ihr gar nichts Böses«, flüsterte das zarte Stimmchen in ihrem Kopf, doch Martina wollte ihm kein Gehör schenken. Es passte nicht zu ihrer Theorie. Vielleicht ahnte er, dass sie ihn von ihrem Küchenfenster aus beobachtete, und spielte deshalb den fürsorglichen Ehemann?

»Was um alles in der Welt machst du da?«, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Mannes hinter sich. Sie erschrak und fast wäre ihr das Fernglas aus der Hand gefallen. »Du kannst doch nicht die Nachbarn heimlich beobachten!«, empörte er sich. Als sie ihm in wenigen Worten erklärte, dass sie den Ehemann von Carla Hörbach verdächtigte, seine Frau ermorden zu wollen, nahm er ihr das Fernglas aus der Hand und schaute selbst hindurch. »Du spinnst!«, sagte er, »er liest ihr vor. Daran ist, soweit mir bekannt ist, noch keiner gestorben. Nicht einmal aus Langeweile. Du liest zu viele Krimis. Du brauchst eine sinnvolle Beschäftigung. Weißt du was? Schreib doch selber einen, statt harmlosen Mitmenschen nachzuspionieren und ihnen üble Machenschaften zu unterstellen!«

Er wollte gerade das Fernglas weglegen, als das geschah, was selbst Martina nicht so erwartet hätte. Carla, die gerade die Tasse zum Mund geführt hatte, ließ diese plötzlich fallen und griff sich mit beiden Händen an den Hals. Ihr Mann schaute von seinem Buch auf und starrte sie entsetzt an. Er blieb regungslos sitzen, während seine Frau offensichtlich keine Luft mehr bekam. Martinas Mann reagierte dagegen sofort. »Ruf einen Krankenwagen!«, rief er ihr noch zu, bevor er aus dem Haus rannte. Als sie nach dem Anruf wieder durch das Fernglas schaute, sah sie ihren Mann, der es irgendwie geschafft haben musste, ins Haus zu gelangen. Er war gerade dabei, Carla zu beatmen, während deren Mann völlig aufgelöst daneben stand. Wenige Minuten später kamen die Sanitäter.

 

Martinas Mann begleitete den Transport ins Krankenhaus. Während sie auf seine Rückkehr wartete, hoffte sie inständig, Carla möge den Mordanschlag überlebt haben. Denn daran, dass es sich um einen solchen gehandelt hatte, hegte sie nun keinerlei Zweifel mehr. Wahrscheinlich war das Gift in der Tasse gewesen, und sicherlich hatte die Pflegerin dafür gesorgt, dass es keine Spuren hinterließ. So etwas sollte es ja geben. Und ebenso klar war es, dass Herr Hörbach den völlig unter Schock stehenden untröstlichen Ehemann nur brillant spielte.

Als ihr Mann schließlich nach Hause kam, erfuhr Martina, dass es ihm nicht gelungen war, Carla wiederzubeleben. Sie fühlte sich elend und schuldig, weil sie ihr Idol nicht hatte retten können. Aber sie musste der Polizei ihren Verdacht mitteilen. Das war sie Carla schuldig. Und das sagte sie auch ihrem Mann, der sie ungläubig anstarrte. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass dieser Mann seine Frau ermorden wollte. Er war im Krankenhaus so aufgelöst, dass man ihm eine Beruhigungsspritze verabreichen musste. Und sie werden ihn über Nacht dort behalten. Sie ist sicherlich einen ganz natürlichen Tod gestorben. Du wirst sehen, die Autopsie wird das bestätigen.« Und er versprach ihr, »sich umzuhören«; er hatte Freunde bei der Polizei.

Als er einige Tage später abends nach Hause kam, rief er ihr noch in der Türe stehend zu: »Ich glaube, da ist doch etwas dran an deinem Verdacht.« Martina konnte nicht umhin, einen Hauch von Genugtuung zu verspüren. Miss Marple wäre vielleicht doch ein wenig stolz auf sie gewesen. »Irgendetwas ist faul an der Sache. Da pflegt dieser Mann seine Frau fast rund um die Uhr, verabreicht ihr Medikamente, kocht für sie, weiß, was die essen darf und was nicht, und dann stirbt sie aufgrund eines anaphylaktischen Schocks, ausgelöst durch eine Erdnussallergie.«

Martina wurde blass.

Hessischer Kartoffelkuchen

Für eine Springform

500 g Kartoffeln (eine vorwiegend festkochende Sorte)

4 Eier

120 g Zucker

2 TL Zimt

Saft und abgeriebene Schale einer Zitrone

100 g Rosinen

1 EL Grieß

100 g gehackte Mandeln

Butter und 1 EL Semmelbrösel für die Form

Puderzucker zum Bestreuen

Die Kartoffeln schälen, ohne Salz halb gar kochen, reiben und auskühlen lassen. Die Rosinen im Zitronensaft ziehen lassen. Das Eiweiß steif schlagen und mit der Hälfte des Zuckers weiterschlagen. Das Eigelb mit dem restlichen Zucker schaumig rühren. Rosinen, Zimt, Zitronenschale und Mandeln zugeben. Den Grieß, die Kartoffeln und zuletzt den Eischnee unterziehen.

Die Springform einfetten und mit den Semmelbröseln ausstreuen. Den Teig einfüllen und im vorgeheizten Ofen bei 175 Grad ungefähr 90 Minuten backen, eventuell mit Papier abdecken, damit er nicht zu dunkel wird. Nach dem Erkalten mit dem Puderzucker bestreuen.

Pinke Brötchen

Fernbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe

Sandra Niermeyer

 

Mein Aktenkoffer fuhr mir ständig in die Hacken, die Rampe war einfach zu steil. Neben mir rollte ein Rollstuhlfahrer schnell den Abhang hinab, eine Sekunde lang hatte ich Sorge um ihn, aber er schien die Sache im Griff zu haben. Dann waren wir unten, und ich suchte die Anzeigetafel nach meinem Zug ab. Zehn Minuten Verspätung. Das war nicht weiter ungewöhnlich, nur wurden diese zehn Minuten oft zu zwanzig und, wenn ich Pech hatte, zu dreißig Minuten. Auf die Weise hatte ich mir allein im November schon zwei Erkältungen geholt. Jetzt ging es auf Weihnachten zu, und das wollte ich gesund feiern. Der Palast der tausend Winde machte seinem Namen alle Ehre. Es zog praktisch überall. Man konnte auf dem ganzen Bahnhof kein Eckchen finden, in dem einem nicht der Wind um die Ohren pfiff. Ich sah auf die Uhr. Wenn ich der Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn vertraute, schaffte ich es vielleicht noch, Geld am Automaten zu holen und die ersten Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Ich zog meinen Aktenkoffer wieder aufwärts. Mit seinen langen Rampen, die ursprünglich dafür gebaut worden waren, mit dem Auto direkt an den Bahnsteig zu fahren, war der Bahnhof ein architektonisches Desaster. Eine Betonwüste der weiten Wege. Wenn man schnell umsteigen musste, rannte man die eine Rampe hoch, raste durch die Bahnhofshalle, wurde von den Leuten, die aus den Shops kamen, fast umgelaufen, rannte die andere wieder hinunter – und sah die Schlusslichter seines Zugs. Ein Umsteigebahnhof, auf dem man schlecht umsteigen konnte. Heute wurde mein Zug hoffentlich nicht auf ein anderes Gleis gelenkt. Mein Aktenkoffer war tonnenschwer. Ich pendelte seit ein paar Monaten beruflich zwischen Altenbeken und Würzburg hin und her, und hier hatte ich schon so manche Stunde verbracht. Der Rollstuhlfahrer fuhr ebenfalls wieder hoch. Offenbar hatte er sich auch gegen eine Erkältung entschieden. Auf seinem Schoß lag eine Zeitung. »Mann bei Prügelei erschlagen«, war die Schlagzeile. Als ich endlich oben in der Bahnhofshalle angekommen war, war mir heiß. Ganz schlecht. Schwitzen durfte man hier überhaupt nicht. Ich verließ das Gebäude und ging ein paar Schritte zu dem Bankautomaten rechts vom Eingang. Wie viel Geld würde ich für die ersten Weihnachtsgeschenke brauchen? Ich entschied mich für 480 Euro. Ich hob immer krumme Beträge ab. Hinter mir stand ein Mann mit Kapuze, Schultern hochgezogen, und tippte auf seinem Smartphone. Er merkte gar nicht, dass er an der Reihe war, so vertieft war er. Ich ging wieder ins Bahnhofsgebäude und lief zur fast allzeit geöffneten Drogerie, die von den meisten Reisenden als Schutz vor Wind und Zugluft genutzt wurde. Als ich die Regale absuchte, bekam ich plötzlich Angst. Was, wenn die Bahn heute ausnahmsweise zu ihren zehn angekündigten Minuten Verspätung stand? Schnell nahm ich ein teures Duschgel aus dem Regal und lief zur Kasse. Das offiziell erste Weihnachtsgeschenk.

Die Rampe raste ich fast hinunter, ich hatte ein ganz ungutes Gefühl. Mein Trolley knallte mir so oft in die Hacken, dass ich die Zähne zusammenbiss, um nicht aufzuschreien. Unten jedoch konnte ich gleichzeitig aufatmen und mich ärgern. Aus den zehn Minuten waren natürlich zwanzig geworden. Ich setzte mich auf eine Bank, schlug meinen Mantelkragen hoch und packte meine pinken Burgerbrötchen aus. Die hatte ich eigentlich im Zug essen wollen, aber ich wollte die Zeit nutzen. Das Rezept hatte ich im Fernsehen bei hessen à la carte gesehen, und pinke Brötchen hatte ich immer schon mal essen wollen. Ich biss herzhaft hinein. Eine Frau mit geblümter Cordjacke blieb vor meiner Bank stehen und starrte mich an. Gleich fragt sie nach dem Rezept, dachte ich, aber sie ging weiter. Dann kamen zwei Teenager mit Rucksäcken vorbei, die meine pinken Brötchen sahen, sich gegenseitig anstießen, tuschelten und lachten. Ein Mann mit Kapuze, vielleicht der vom Geldautomaten, blieb ebenfalls neben meiner Bank stehen. Vielleicht war es auch nicht der vom Automaten, ich hatte sein Gesicht nicht gesehen, aber die Haltung seiner Schultern erkannte ich wieder. Der Rollstuhlfahrer war auch wieder da. Er wollte offenbar in denselben Zug steigen wie ich. »Schmecken die so, wie sie aussehen?«, fragte er.

»Wie sehen sie denn aus?«, fragte ich zurück.

»Seltsam«, sagte er, »irgendwie ungesund. Pinkes Essen.«

»Sie sind sehr gesund«, entgegnete ich, »und sie schmecken ausgezeichnet.«

Er schaute ungläubig und rollte mit seinem Elektroantrieb ein paar Meter weiter.

Dann fuhr der Zug ein. Früher als angekündigt. Ich packte schnell meine pinken Brötchen ein und stellte mich in den Abschnitt, in dem mein Waggon halten würde. Dutzende Reisende stiegen aus. Ich schaute nach jemandem, der dem Rollstuhlfahrer helfen würde, aber der rollte wieder langsam in Richtung Rampe. Seltsam, dachte ich. Endlich nahm der Reisendenstrom ein Ende, und ich konnte samt Aktenkoffer die Stufen hochsteigen. Jemand drängelte sich an mir vorbei, ziemlich grob, er stieß mich fast um. Es war der Mann mit der Kapuze, er hielt die Schultern hochgezogen und rannte in den Großraumwagen. Als ich meine Balance wiedergefunden hatte, suchte ich nach meiner Platznummer. Noch ein paar Stunden bis nach Würzburg. Zeit für einen Krimi. Ich schaute aus dem Fenster, als der ICE langsam anrollte, auf dem Bahnsteig stand der Mann mit den hochgezogenen Schultern. Komisch, dachte ich, er war offenbar einfach nur durch den Wagen gerannt und dann wieder ausgestiegen. Vielleicht hatte er etwas gesucht oder jemanden abholen wollen oder sich einfach nur vertan.

Ich wechselte in den Speisewagen. Ich konnte besser lesen, wenn ich gleichzeitig Kaffee trank. Mit den Augen und Gedanken in einen Krimi zu reisen, dabei durch die Welt gefahren zu werden, und, um dem Ganzen ein bisschen Bodenhaftung und Gegenwärtigkeit zu geben, einen Kaffee zu trinken, war das, was ich mir unter einer guten Zugfahrt vorstellte.

Der Krimi war einer der altbackenen Sorte, er nahm nur langsam Fahrt auf. Der obligatorische Knaller, beziehungsweise Mord, im Prolog fehlte. Man wusste gar nicht, ob es überhaupt eine Leiche geben würde.

Mir gegenüber nahm ein Mann mit dicker, aber sehr moderner Hornbrille Platz. Er las dieselbe Zeitung wie der Rollstuhlfahrer. Die Schlagzeile war in so fetten Lettern gedruckt, dass ich immer wieder von meinem Krimi zu seiner Zeitung hinüberschielte, um ein paar Wörter des Artikels zu lesen. »Blut«, las ich, und »seinen Verletzungen noch auf der Straße erlegen.«

Schließlich wurde Würzburg angesagt, ich griff nach meinem Portemonnaie. Aber dort, wo immer mein Portemonnaie steckte, war nichts. Eine kurze Schrecksekunde durchfuhr mich, wie immer, wenn Schlüssel oder Geldbörse nicht an gewohnter Stelle, sondern wo ganz anders steckten. Ich suchte die anderen Stellen ab. Der Schlüssel war da, das Portemonnaie nicht. Mir schossen die Tränen in die Augen, weil ich wusste, ahnte, fühlte, dass es nirgendwo sein würde. Es war mir gestohlen worden. Und ich wusste auch, von wem. Von dem Mann mit der Kapuze, der seine Schultern beständig hochzog. Er hatte mich mit voller Absicht beim Einsteigen angerempelt. Dabei hatte er das Portemonnaie aus meiner Tasche gezogen. Mir liefen die Tränen hinunter. Mich schockierte so etwas. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit, wenn man 480 Euro als Kleinigkeit bezeichnen konnte, aber dieser Übergriff erschreckte mich trotzdem. Und weil ich so aussah wie ein Häufchen Elend, glaubte mir sogar der Speisewagenangestellte, dass ich ihn nicht um einen Kaffee prellen wollte, sondern wirklich ausgeraubt worden war. Er schenkte mir den Kaffee und wünschte mir alles Gute.

Ich stand tränenflüssig auf dem Würzburger Bahnsteig. Geld weg, Lieblingsportemonnaie weg, Ausweis weg, na ja, der lief demnächst sowieso ab, und – der Schreck durchfuhr mich – EC-Karte weg.

Mit flatternden Fingern kramte ich mein Handy heraus. Sperrhotline anrufen. Die Nummer der Sperrhotline lag immer in meinem Portemonnaie, da lag sie nun auch. Manchmal handelte ich wirklich sehr kurzsichtig.

Und technisch war ich auch nicht auf dem neuesten Stand, darum sprach ich jemanden an, ob er mir auf seinem Smartphone die Nummer der Sperrhotline heraussuchen könnte. Das tat er. Ich rief sofort an und ließ die Karte sperren.

Ich war zu spät, natürlich war ich zu spät. Der Kapuzenträger hatte ja während der ganzen Zugfahrt Zeit gehabt. Er hatte zweitausend Euro abgehoben, mehr waren nicht auf dem Konto gewesen.

Ich war völlig neben der Spur, vollkommen erschüttert. Der Kapuzenträger hatte, als er am Geldautomaten hinter mir stand, keineswegs nur Augen für sein Smartphone gehabt, er hatte mir zugeschaut, welche PIN ich eingetippt hatte, dann war er mir auf den Bahnsteig gefolgt, hatte mich beim Brötchenessen beobachtet, und danach hatte er die Rempelgelegenheit beim Einsteigen genutzt, um an mein Portemonnaie zu kommen. Und das alles, ohne dass ich irgendeinen Verdacht geschöpft hatte. Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass er so auffällig in meiner Nähe stehen geblieben war. Aber ich hatte es auf meine pinken Brötchen zurückgeführt.

Dass so etwas mir passierte, ich, die ihre Umgebung immer sehr genau beobachtete, konnte ich kaum fassen.

Ich war komplett durchgeschüttelt und -gerüttelt.

 

Pinke Burgerbrötchen

Für 8 bis 10 Burgerbrötchen

250 ml Rote-Bete-Saft

2 EL Mandel- oder Reismilch

2 EL Rohrohrzucker

3 große EL Margarine oder Butter, weich, pflanzlich

1 Würfel frische Hefe

1 kg Dinkelmehl

1-2 EL Chia- oder Sesamsamen

2 TL Guarkernmehl

1 1/2 TL Salz

2 EL Reis- oder Mandelmilch, zum Bestreichen am Schluss

1-2 EL Sesamsamen, zum Bestreuen am Schluss

Rote-Bete-Saft erwärmen und in eine Rührschüssel geben. Hefe in den Saft bröseln und Rohrohrzucker dazugeben, zwei Minuten stehen lassen. Mehl, Guarkernmehl, Margarine / Butter, Salz und Chia- / Sesamsamen dazugeben und auf niedrigster Stufe mit dem Knethaken drei bis vier Minuten lang vermischen. Bei Bedarf noch Reis- / Mandelmilch dazugeben. Der Teig sollte eher feucht, sehr elastisch und weich sein und nicht zu trocken.

Acht bis zehn runde Teiglinge formen. Mit etwas Öl an den Händen klebt der Teig nicht so sehr beim Formen. Mit genügend Abstand auf ein mit Backpapier ausgelegtes und leicht bemehltes Backblech setzen und 45 bis 60 Minuten zugedeckt gehen lassen. Die Brötchen vor dem Backen mit etwas Reis- oder Mandelmilch bestreichen und nach Belieben mit Sesamsamen bestreuen. Bei ca. 170 Grad (Umluft) 12 bis 15 Minuten backen. Die Brötchen lassen sich auch gut einfrieren, wenn sie nicht alle gleich verzehrt werden.

Alle Zutaten sollten Raumtemperatur haben, damit der Teig schön aufgeht. In der knalligen pinken Variante sind die Burgerbrötchen ein echter Hingucker.