ISBN: 978-3-95428-679-9
1. Auflage 2017
© 2017 Wellhöfer Verlag, Mannheim
Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Malsch
Die Erzählung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.
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Dominik Pohl trat aus dem Hotel auf den Gehsteig. Er war benebelt von dem einen Whisky zu viel. Geschäfte nüchtern anzugehen war oberstes Gebot, das wusste er, und doch hielt er sich nicht daran. In der Innentasche seiner Lederjacke fühlte er nach der Ware. Pohl grinste in sich hinein, während er vor dem Eingang des Hotels verharrte. Er blickte die Straße entlang. Ein lang gestrecktes Schulgebäude, ein Laden, der Malerei anbot, eine Galerie mit Veranstaltungsraum. Dazwischen Wohnhäuser, in das Ensemble gezwängt. Von hier aus konnte er zu dem Treffpunkt hinschauen, an dem er zu dieser Spätabendstunde verabredet war.
Kein Mensch war jetzt hier unterwegs. Städte wie Göttingen waren wie geschaffen für Geschäfte wie das, was er vorhatte. Langsam verflüchtigte sich sein Ärger über die kleine Schlampe, die nicht mehr so wollte wie bisher. Sollte sie der Teufel holen. Pohl fingerte nach einer Zigarette und schob sie in den Mund. Er schützte das Feuerzeug, indem er seine Jacke in den Wind hielt, entflammte es und zündete die Kippe an. Begierig sog er den Duft ein, inhalierte tief mehrere Züge. Rot glühte das Ende der Camel auf, wenn er daran zog. Der Tabak biss leicht auf der Zunge. Vielleicht war der Streit heute ein Zeichen dafür, dass es richtig war, mit dem Handel aufzuhören. Er warf die Zigarette auf den Gehsteig, ohne sie auszutreten, und wandte sich nach rechts.
*
Niko Bendith duckte sich hinter einen Mauervorsprung. Bis hierher reichte das Licht der Straßenlaterne nicht. Wenn jemand vorübergehen würde, wäre er vor neugierigen Blicken geschützt. Er selbst hingegen konnte kontrollieren, wer den Schulhof betrat. Mit dem Zeigefinger schob er den Jackenärmel hoch und drückte den Knopf, der die Beleuchtung seiner Armbanduhr einschaltete. Anschließend betrachtete er die Fenster des gegenüberliegenden Wohnhauses. Nirgends brannte noch Licht. Vorsichtshalber würde er den, auf den er wartete, auffordern, mit ihm im Dunkel des Schulhofes zu verschwinden. Wer weiß, ob nicht doch ein Anwohner schlecht schlafen und herausschauen würde.
Niko schlich bis an den Eingang des Geländes, neben dem das Schild »Berufsbildende Schulen III« angebracht war. Er blickte die Straße entlang. Dort hinten näherte sich langsam ein Mann. Endlich. Das musste er sein, aber sicher war sich Niko nicht. Warum hatte niemand ihm den Frankfurter beschrieben? Der Auftritt passte jedenfalls. Lederjacke, Hose, Schuhe, alles teuer, das konnte man sogar von Weitem erkennen. Niko spürte seinen Herzschlag. Wie oft hatte er die Situation in Gedanken durchgespielt, und dennoch war er jetzt nervös. Er atmete tief durch, stutzte: Was war das? In einiger Entfernung tauchte eine Person auf, und die war schneller als der Typ aus Frankfurt. Warum trug sie eine Mütze? So kalt war es doch noch gar nicht. So ein Mist, ausgerechnet jetzt, dachte Niko. Die Mütze würde doch mitkriegen, wenn der Mann in den Schulhof abbog. Niko drückte sich in seine Ecke. Nicht lange, und die Mütze würde den anderen eingeholt haben. Bevor einer der Ankömmlinge ihn dabei beobachten konnte, schlich er gebückt zurück auf das Schulgelände. Wieder gab ihm die Mauer Schutz. Der Gutgekleidete betrat gerade das Gelände, und – der kleine Bandit traute seinen Augen nicht – die Mütze war ihm auf den Fersen. Niko ging in die Hocke, wandte den Blick nicht ab. Das Licht der Straßenlaterne beleuchtete die Gesichter der beiden Gestalten.
Erst in diesem Moment schien der Vorangehende die Verfolgung zu bemerken. Er wandte sich ihm zu – aber was zum Teufel war denn da los? Niko riss entsetzt die Augen auf. Panik ergriff ihn, sein Atem ging schneller, er fühlte den Herzschlag. Das durfte nicht wahr sein!
*
Pohl achtete nicht auf den Weg, nicht auf die leisen Geräusche hinter ihm. Wo war denn der Eingang zum Schulhof, bei dem die Übergabe stattfinden sollte? Der Großdealer, der die Göttinger Drogenszene beherrschte, hatte ihm die Örtlichkeit mehr als vage beschrieben. Er folgte dem Fußweg, dann lag der Schulhof zu seiner Rechten. Das Areal schien ihm abstoßend finster. Vielleicht lag es am wolkenverhangenen Himmel, der keinen Mondschein zuließ. Nach einem raschen Blick in den Hof wandte Pohl sich um, reflexartig, ohne zu wissen, warum. Sekunden später stand eine dunkle Gestalt vor ihm, ungehörig dicht, er konnte ihren Geruch wahrnehmen, irgendwie muffig. Eine Mütze hatte sie tief in die Stirn gezogen, und sie trug einen Gegenstand in der Hand. Es ging alles schnell. Pohl erkannte ein Messer mit einer geschwungenen Klinge. Abwehrend hob er die Rechte, versuchte die messerbewehrte Hand von sich zu drücken. Dann bohrte sich die Klinge durch die Haut seines Oberkörpers, ein Schmerz von nie geahnter Stärke durchflutete ihn. Das Messer fuhr in ihn hinein und wieder hinaus, und der Himmel brach ein und fiel schwarz auf ihn herab.
25. September
Niko sprang wütend hoch und schlug einen rechten Haken in die Luft. »Verdammt«, presste er hervor. Beinahe wäre er gestolpert. Wie konnte so etwas möglich sein! Er setzte einen Fuß vor den anderen, ohne auf den Weg zu achten. Seine große Chance! Er hatte sie sich erarbeitet. Ach was, erkämpft hatte er es sich, endlich zeigen zu können, was er auf dem Kasten hatte. So, wie er sein ganzes Leben um alles gekämpft hatte, was er haben wollte. Weil ein kleiner Mann doppelt so gut sein musste wie ein langer Lulatsch oder ein dicker Bär. Beinahe hätte er geheult. Vor Wut. Oder vor Angst? Der Wächter würde ihn totschlagen lassen. Sein Scherge Henner wartete doch nur darauf, ihnfertigzu machen, dieser Rocker. Fuck. Er hatte vermasselt, was ihm sowieso niemand zugetraut hatte. Der Wind durchdrang seine Jacke, er fühlte ihn bis auf die Haut. Jetzt fing es auch noch an zu regnen. Niko rannte weiter. Wie hatte die Übergabe nur scheitern können! Er war genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle gewesen, und der Mann, auf dem alle seine Hoffnungen gelegen hatten, der war auch da.
Was dann geschehen war, begriff Niko erst jetzt: Der Frankfurter hatte sich zu der Mütze umgedreht. Wenig später war er zusammengesackt, in die Knie gegangen, seitwärts weggeknickt und auf dem Rücken zum Liegen gekommen. Die Mütze hielt ein Messer in der Hand. Niko konnte es sehen, als wie aus dem Nichts ein kleiner Köter angerannt kam, herumsprang und zu kläffen anfing. Kurzerhand beugte sich die Mütze zu dem Mischling hinunter, kriegte ihn am Halsfell zu fassen und stach ihn mit einer einzigen Bewegung ab. Achtlos ließ die Mütze das Fellbündel fallen und beugte sich über den Mann am Boden. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Gestalt sich aufrichtete und in Nikos Richtung blickte. Für einen Moment beschien die Straßenlaterne das Gesicht unter der Kopfbedeckung. Mit klopfendem Herzen drückte sich der kleine Bandit in sein Versteck. Er wagte kaum zu atmen, bis er Schritte hörte, die sich entfernten.
Niko war noch immer entsetzt. Noch etwas bedrängte ihn, womit er nicht umgehen konnte: Dieses Gesicht, war es ihm wirklich unbekannt? Warum hatte er das Gefühl, die Person zu kennen? Abermals tauchte vor seinem geistigen Auge der Frankfurter auf, von dem er das Kokain hatte übernehmen sollen, ohne Geld, die Bezahlung würden andere regeln. Er sah ihn auf dem Pflaster des Gehwegs liegen, dicht neben einer der Säulen, an denen die Metalltore der Einfahrt befestigt waren. Schwarze Lederjacke und ein weißes Hemd, das im Dunkeln leuchtete. Der Fleck über der zerfetzten Stelle im Hemdenstoff war schwarz, nicht rot, doch Niko hatte sofort gesehen, dass es Blut war. Die offenen Augen des Mannes waren starr auf den Himmel gerichtet. Keine Frage, der Kerl war tot, und Niko hatte dicht neben ihm gestanden. Endlich war er über den finsteren Schulhof davongerannt, nicht die Straße entlang, aus Angst, gesehen zu werden.
Bis heute hatte er immer für alle Probleme eine Lösung gefunden, aber diesmal? Trotzdem, er konnte doch gar nichts dafür, dass alles schiefgegangen war! Das mussten sie ihm glauben. Im selben Moment wusste er, dass sie genau das nicht tun würden. Ihm glauben. Ihm, den sie alle den kleinen Banditen nannten, stets mit einem höhnischen Lächeln im Mundwinkel. Es musste ihm etwas einfallen, womit er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. Seine Nase begann zu laufen. Er wischte mit dem Ärmel über die Nasenlöcher und zog hoch. In der Ferne hörte er eine Polizeisirene. Was, wenn ihn jemand neben der Leiche gesehen hatte? Wenn er als Mörder dastehen würde?
Niko versuchte sich zu beruhigen. Gerade gelangte er zur Weender Straße. Möglicherweise waren hier noch einige Nachtschwärmer unterwegs, und er wollte nicht auffallen. Hatte er deshalb instinktiv nicht den direkten Weg nach Hause genommen? Er lief die Untere Karspüle hinauf, am Botanischen Garten vorbei, bog nach rechts in die Obere Karspüle ein. Dort stand das Häuschen, in dem er zur Miete wohnte. Seit Vater tot war, lebte er dort ganz allein. Sein Freund Frank wartete auf ihn, bestimmt war er furchtbar aufgeregt. Ihm würde er alles erzählen, und gemeinsam würden sie sich einen Plan ausdenken.
Robin und Lilly küssten sich inmitten der wartenden Reisenden auf dem Bahnsteig lang und innig. Lilly hatte ein Ticket nach Wien im Gepäck. Sie fuhr fort, um ihre Mutter zu besuchen, und würde einige Zeit fortbleiben.
Vom Bahnhof aus ging Robin in das Thanners am Wilhelmsplatz. Er wollte ein, zwei Bier zischen, damit das Eingewöhnen in die leere Wohnung leichter fallen würde. Als er die Kneipentür aufschob, schlug ihm neben einem babylonischen Stimmengewirr ein Brei aus Heizungsluft, Alkohol und menschlichen Ausdünstungen entgegen. Robin registrierte, wie kühl die Abendluft war, die er hinter sich zurückließ. Dabei hatte der Herbst gerade erst begonnen. Er staunte, wie viele Gäste sich an der Theke drängten. Mitten in der Woche! Der Lärmpegel war entsprechend hoch.
Ein Kollege von Zeiss stand an der Theke. Andere Abteilung, aber man kannte sich. Robin überlegte, und tatsächlich fiel ihm der Name ein: Jason. Wenn er sich recht erinnerte, war sein Vater amerikanischer Soldat.
Als Jason ihn erkannte, nahm er sein Glas in die Hand und drängelte sich zu Robin durch. Sie hatten Glück: Direkt vor ihrer Nase machte ein Pärchen zwei Plätze frei. Robin bestellte ein Pils und wartete, bis der Kollege bei ihm anlangte. Als Jason sich neben ihn auf den Barhocker schob, stand das Glas bereits vor Robin auf der Theke. Sie hatten sich erstaunlich viel zu erzählen.
Sehr viel später sah Robin zur Uhr, die über der Theke hing. Die Zeiger, die über dem Bild einer Whiskyflasche ihre Kreise zogen, standen auf fünf nach zwei.
Robin blickte nach rechts und links, außer ihm saß nur noch ein Gast vor seinem Glas und starrte vor sich hin. Er hatte gar nicht registriert, dass nach und nach alle anderen Gäste gegangen waren. Jetzt aber los, sonst würde das Aufstehen morgen früh sauer werden. Er gab ein großzügiges Trinkgeld für den armen Barmann, der sich hier die Nacht um die Ohren schlagen musste. Von Jason verabschiedete er sich vor der Kneipentür mit einem Händedruck.
Auf der Straße zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Der Wind blies ungemütlich, es war tatsächlich Herbst, was wollte man erwarten. Wie ausgestorben wirkte die Stadt. So leer und so leise. Hätte er nicht Turnschuhe getragen, hätten seine Schritte bestimmt auf dem Pflaster widergehallt.
Robin Baumann bog in seine Wohnstraße ein. Seit drei Monaten lebte er nicht mehr bei seiner Mutter in Holtensen, sondern gemeinsam mit seiner Freundin in dem schicken Mietshaus am Ritterplan. Die Innenstadtwohnung konnten sie sich leisten, weil Lilly als Bürokauffrau bei Zeiss gut verdiente und eine feste Stelle hatte. Er wartete dort immer noch auf die Zusage für eine Festanstellung als Feinoptiker.
In Gedanken versunken, müde vom Alkohol, lief er die Straße hinauf und fingerte in der Hosentasche nach seinem Haustürschlüssel. Am Schlüsselband fasste er zunächst den Flaschenöffner, den er immer bei sich trug. Vielleicht würde er sich noch ein Flaschenbier gönnen, damit er auch wirklich gleich einschlafen konnte und nicht mehr lange an Lilly denken musste. Was war er doch für ein Sensibelchen! Er grinste, doch sein Lächeln erstarb. Sogar die Dunkelheit war ihm nicht geheuer, es war nur ein Gefühl. Etwas stimmte nicht. Er musste sich zusammenreißen, was sollte denn das? Er war ein Mann und keine Memme, auch wenn ihn Lilly manchmal romantisch nannte.
Robins Blick fiel auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort hatte sich etwas bewegt, ganz sicher. Der Schatten eines Menschen, zwischen der Mauer am Städtischen Museum und der BBS III war er hindurchgehuscht. Wer hatte hier mitten in der Nacht etwas zu suchen?
Lag dort im Hausschatten nicht etwas auf der Erde? Etwas Schwarzes, Unförmiges? Robin merkte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. »Feigling«, zischte er zwischen den Zähnen hindurch. Er ärgerte sich, weil er sich fürchtete, und gerade deshalb querte er die Straße, trotzig die Lippen zusammengepresst. Unmittelbar dort, wo das Schulgelände begann, stand er plötzlich vor einem Mann, der auf dem Gehweg lag.
»Hallo?«, stieß Robin hervor. Doch der Mann rührte sich nicht. Erst jetzt sah Robin die Blutlache und prallte zurück. Ein Toter, durchfuhr es ihn. Was sollte er denn jetzt nur machen? Was, wenn der Mann ermordet worden war, es sah ja ganz danach aus? Ein Messer, da lag ein Messer! Wenn der Mörder noch in der Nähe war, ihn beobachtete und als nächstes – aber der hatte ja keine Waffe mehr, die lag vor ihm am Boden. Robin beugte sich über den Mann und betrachtete entsetzt die Wunde an seiner Brust, den riesigen Blutfleck. Er ging in die Hocke, vielleicht war ja doch noch Leben in dem Körper, dann musste schnell ein Arzt kommen und ihm helfen! Er streckte die Hand aus und berührte die Stelle, an der er die Halsschlagader des Mannes vermutete. Nichts. Robin drehte sich so, dass er das Gesicht des Mannes sehen konnte, das nach links zeigte. Die aufgerissenen Augen blickten ins Leere. In diesem Körper war kein Leben mehr.
Robin versuchte, sich zu entspannen, doch vergeblich. Er riss den Kopf hoch: Da war er wieder, der Schatten hatte sich von der Wand gelöst und war sofort danach unsichtbar. Über seinen plötzlichen Mut erstaunt, sprang Robin auf und folgte der Erscheinung, dem Gespenst, eilig in den dunklen Schulhof nach.
Niko kauerte in seinem Sessel und wartete. Er hatte die Hände aneinandergelegt, massierte mit den Fingerkuppen der Zeigefinger seine Nase und versuchte, seine Gedanken zu beruhigen. Es gelang nicht, im Gegenteil. Niko fuhr hoch, setzte sich kerzengerade hin. Ein Antlitz war aus den Tiefen seines Bewusstseins aufgetaucht. Es war das Gesicht unter der Mütze, die er vom Schulhof aus beobachtete hatte. Überdeutlich stand es vor seinem inneren Auge, und es gab für Niko keinen Zweifel mehr. Er wusste, wer es war!
Der kleine Bandit sprang auf die Füße. Er begann, in Zimmer auf und ab zu laufen. Wie sollte er damit umgehen, dass er die Mütze kannte? Wie der Polizei erklären, warum er nachts auf dem Schulhof gelauert hatte? Die Spur würde schneller zu dem Wächter führen, als Niko einmal »fuck« gesagt hätte. Anschließend würde er sich aussuchen können, ob er sich von den Schergen des Wächters totschlagen lassen oder gleich vom Iduna-Zentrum springen sollte. Außerdem: Was kümmerte es ihn, ob jemand im Knast landete oder nicht? Der Frankfurter war tot, daran war nichts mehr zu ändern. Nein, er würde den Mund halten. Eine bessere Lösung gab es nicht. Niemandem würde er verraten, dass er die Mütze erkannt hatte. Wo blieb Frank denn nur? Wie lange war der Freund eigentlich weg?
Als er vorhin völlig außer sich heimgekommen war, hatte Frank auf ihn gewartet. Auf den ersten Blick hatte der Freund Niko angesehen, dass etwas gründlich schiefgegangen war.
»Was sagst du da? Der Frankfurter ist gestorben?«
»Gestorben? Er ist abgestochen worden wie ein Schlachtvieh, ach was, schlimmer, beim Vieh achtet der Schlachter noch darauf, dass – was rede ich denn? Jemand ist ihm gefolgt und hat ihn umgebracht, fertig.« Niko schüttelte heftig den Kopf. »Sag mir, dass das alles nur ein schlechter Traum ist oder ein Scherz!«
Frank sagte bestürzt: »Kann ich doch nicht! Ich war doch nicht dabei!«
Niko boxte zweimal mit beiden Fäusten in die Luft. »Und jetzt? Was machen wir denn jetzt?« Er war außer sich.
»Hast du die Leiche untersucht?«
»Ob ich was habe? Sag mal, spinnst du? Polizeisirenen hab ich gehört, die kamen immer näher, meinst du, ich wollte mich festnehmen lassen? Als Mörder? Die Mütze war längst über alle Berge!«
»Gut. Du hast ihn also nicht durchsucht.«
»Genau, Schlaumeier. Gerannt bin ich, nur noch weg! Wollte mal sehen, was du –«
»Es geht nicht um mich! Du wolltest Kokain übernehmen, und zwar Stoff für schlappe 40.000 Euro, schon vergessen?«
Niko sackte in sich zusammen und ließ sich neben Frank auf das Sofa fallen. »Nein, verdammt.«
Niko erwiderte Franks mitleidige Blicke, mit denen er ihn musterte. »Ich kann doch nichts dafür«, sagte er kleinlaut. »Aber das ist dem Wächter egal, oder?«
»Komplett egal.« Frank dachte nach. »Ich laufe zum Schulhofeingang. Wenn der Frankfurter noch dort liegt, keine Polizei da ist oder sonst jemand, werde ich nach dem Stoff suchen.« Er betrachtete Niko strafend. »Wie konntest du das nur vergessen! Bis gleich, ich beeile mich.«
Niko hatte sein Zeitgefühl völlig verloren. Bis gleich, hatte Frank gesagt. Gleich war für seinen Geschmack seit Längerem vorüber. Er griff sich an die Stirn, als könnte er so seine Nerven beruhigen.
Kaum dass er die Haustür geschlossen hatte und ins Wohnzimmer zurückgekehrt war, klingelte es einmal kurz, anschließend noch einmal länger. Das war das Zeichen, das er und Frank verabredet hatten, in der Schulzeit schon.
»Und?«
Frank schob sich an Niko vorbei. »Mach doch erstmal dicht, schließ am besten ab, wer weiß, besser ist besser«, sagte er orakelhaft.
Den kleinen Banditen beschlich ein noch unangenehmeres Gefühl, als er es ohnehin die ganze Zeit gehabt hatte. Beunruhigt sah er zu, wie sich Frank auf das Sofa setzte. Immer waren seine Sitzmöbel zu klein für die langen Beine des Freundes.
»Nun erzähl schon«, drängelte Niko und drückte sich in seinen Sessel. Sofort sprang er wieder auf. »Willst du ein Bier?«
»Ja.«
Niko lief in die Küche, brachte sich ebenfalls eine Flasche mit und stellte beide im Wohnzimmer auf den Tisch vor dem Sofa. Hoffentlich blieb Frank nicht weiterhin so einsilbig. Fahrig öffnete er eine der Flaschen, das Bier schäumte auf und lief über Hals und Bauch der Pulle auf die Tischplatte, ein kleiner See bildete sich. Niko fluchte.
Frank nahm ihm den Öffner aus der Hand und öffnete selbst sein Bier. »Der Typ lag noch immer da. Aber er war nicht allein.« Er trank einen langen Schluck.
»Was, was, was? Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Das ist jetzt eine Leiche, die ist nicht mehr zusammen oder allein, die ist ein, ein, ein ...«, Niko ruderte mit den Händen in der Luft, »ein Stück totes Fleisch!« Er schüttelte sich, griff mit verzerrtem Gesichtsausdruck nach der Flasche, setzte sie an die Lippen und sofort danach ab. »Hör auf mit dem Schwachsinn, ja?«
»Bleib doch ruhig! Ich meine, es war ein Typ da. Ziemlich lang, ziemlich dünn. Stand da, über den Toten gebeugt. Wenn ich es richtig gesehen habe, hat der den angepackt.« Frank verzog das Gesicht.
»Angefasst? Du meinst, der hat den Frankfurter durchsucht?« Niko wurde rot vor Aufregung.
»Weiß ich nicht. Aber ich habe ihn fotografiert, mit dem Handy. Hier!« Frank streckte das linke Bein aus und hob das Gesäß an, damit er das Telefon aus der engen Jeanstasche ziehen konnte. Er drückte den Schalter, entsicherte das Gerät mit einem Zahlencode, wischte durch das Menü bis zu den aufgenommenen Fotos. »Gar nicht so schlecht geworden, auch ohne Blitz. Zum Glück hat der Typ nichts gemerkt. Trotzdem. Ich bin dann abgehauen. Eigentlich will ich mit dem ganzen Mist gar nichts zu tun haben, das weißt du.«
»Weiß ich«, knurrte Niko und nahm Franks Handy in die Hand. Auf dem Bild war ein schlaksiger Mann zu sehen, jung noch, der sich über die Leiche beugte. Niko wischte über den Bildschirm. Auf dem nächsten Foto saß der Typ in der Hocke und streckte die Hand aus. Auf der dritten und letzten Aufnahme war sein Rücken zu sehen. Er hatte sich so gedreht, dass seine Hände nicht zu erkennen waren.
»Was meinst du«, fragte Frank, »ob er das Kokain abgezogen hat?«
Niko grübelte. Er erinnerte sich, wie der Mörder gebückt über der Leiche stand, einen langen Moment, sich dann aufrichtete und in seine, Nikos Richtung schaute. »Weiß nicht.«
»Aber damit wärst du aus dem Schneider, denk mal nach, das wäre gut.«
»Warum?«
»Oh Mann, Niko! Weil der Wächter sonst denkt, du hast den Stoff geklaut. Selbst wenn der es dir nicht zutraut: Henner und Andy werden es ihm erklären, die wollen dir doch andauernd was am Zeug flicken.«
»Die Wanzen«, sagte Niko verächtlich.
»Wanzen, ja. Aber mein Cousin hört auf die, nichts zu machen.«
»Schöne Verwandtschaft.«
»Vorsicht!«
»Warum verteidigst du ihn? Du willst doch auch nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
»Mit der ganzen kriminellen Scheiße will ich nichts mehr zu tun haben, das ist es.«
»Weil du dich um einen feinen Ausbildungsplatz als Versicherungskaufmann beworben hast«, sagte Niko spöttisch.
»Ja, genau. Wenn ich den kriege, werde ich mein Leben komplett ändern!« Frank beugte sich vor und schimpfte mit erhobener Stimme. »Willst du mit mir streiten? Du steckst bis zum Hals im Dreck, du schuldest dem Wächter Kokain für 40.000 Tacken, und der hat den Stoff gekriegt, ohne sofort bezahlen zu müssen! Warum? Weil er bei dem Großdealer in Frankfurt als absolut vertrauenswürdig gilt!« Er zeigte mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Du hast ein Problem, nicht ich!«
Der kleine Bandit sackte in sich zusammen und ließ die schmalen Schultern nach vorn sinken. »Was meinst du, wie er reagieren wird?«
»Mein Cousin? Kannst du dir das wirklich nicht selbst beantworten? Schnee für 40.000 Euro, für die er geradezustehen hat, ist weg. Der Lieferant tot. Noch Fragen?«
Niko wand sich. »Nein. Er wird seinen Bodyguard auffordern, mich umzubringen«, orakelte er mit düsterem Blick.
Frank betrachtete den Freund, holte tief Luft und lenkte ein. »Erzähl dem Wächter, wie es gewesen ist. Er wird toben. Er wird dich beschimpfen. Aber er ist kein Idiot. Am Ende wird er begreifen, dass du nichts dafür kannst, wie alles gekommen ist. Ruf ihn an und sag ihm, dass wir vorbeikommen. Er wartet auf deinen Anruf, richtig?«
Niko blickte auf und nickte. »Du kommst mit?«
Ein Lächeln huschte über Franks Gesicht, dann sagte er nur: »Ja.«
Der kleine Bandit schöpfte wieder Hoffnung, mit seinem Leben davonzukommen.
Robin folgte dem gepflasterten Weg, der auf das Gelände führte. Die Fenster des mehrgeschossigen Schulgebäudes aus rotem Backstein starrten in die Dunkelheit. Davor reckte ein Baum seine Äste in die Höhe, an denen noch das gesamte Laub hing. Warum nahm er diese Dinge so aufreizend genau wahr? Bäume und Häuser interessierten ihn sonst nicht die Bohne. Er blieb stehen, lauschte. Schritte waren nicht zu hören. Auch andere Geräusche fehlten, die zu einem Menschen gehören könnten. Sollte er den Rückweg antreten? Von zu Hause aus die Polizei anrufen?
Er sah sich um. Rechts am Weg lag eine Steintreppe, die zu einem Hauseingang führte. Auch hier war nichts zu sehen oder zu hören, was sich kurz zuvor bewegt haben könnte. Alles wirkte still, reglos und keineswegs furchteinflößend. Fürchte dich vor den Lebenden, nicht vor den Toten, fuhr es Robin durch den Kopf. Bestimmt war das richtig, wer hatte es noch gesagt? Dennoch dachte er mit Schaudern an den Mann, der leblos nur wenige Meter von ihm entfernt in einer Blutlache lag. Robin blieb stehen. Ein weiteres Mal lauschte er in die Dunkelheit. Hatte nicht etwas geknackt? Oder war es etwas anderes gewesen, ein Seufzen oder ein Stöhnen? Ein Schauer durchlief ihn, mit einem Mal war ihm kalt. Was suchte er hier eigentlich? Warum verfolgte er etwas, das möglicherweise nichts Gutes im Schilde führte? Er musste die Polizei rufen, das war wichtig. Nur noch einen Blick würde er in das Innere des Schulhofes werfen und anschließend sofort telefonieren. Entschlossen umrundete er die Treppe. Was war das? Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, dennoch realisierte er nur langsam das, was er sah: An die Hauswand gelehnt hockte eine Frau, die Beine angezogen. Sie trug einen langen schwarzen Rock und eine schwarze Strickjacke darüber. Die Arme ließ sie an den Seiten herunterhängen. Auf eine, wie Robin fand, merkwürdige Art blickte sie geradeaus, ihre Pupillen bewegten sich dabei, als würden sie versuchen, ein entferntes Ziel zu erkennen. Den Kopf der Frau bedeckten kurz geschorene Haare. Ihr Schädel erinnerte ihn an die KZ-Häftlinge, deren Fotos er im Geschichtsunterricht begegnet war. Robin musste schlucken. Neben der Fremden aufgebaut befand sich eine Art Altar. Ein Lager, offenbar aus Pflanzenteilen hergerichtet, aus Laub und abgestochenen Grasnarben, aus denen welkende Halme ragten. Auf diesem Bett ruhte ein toter kleiner Hund, den Kopf unnatürlich überstreckt.
Noch immer sah ihn die Frau nicht an. Sie musste ihn doch längst bemerkt haben? Robin zuckte zusammen, als sie zu singen anfing. Aus ihrem Mund drang ein auf- und abschwellender Singsang. Es waren Töne in immer gleicher Länge und Lautstärke, aus denen sich keine Worte formten. Robin sah sich um. Ergab es einen Sinn, die Frau anzusprechen? Würde sie darauf reagieren? Oder war es klüger, fortzulaufen und endlich die Polizei anzurufen? Vorsichtig beugte er sich ein kleines Stück weit zu ihr hinunter.
»Hallo?« Mehr fiel Robin nicht ein.
Sein Blick streifte wiederum den toten Hund. Ob er der Frau gehörte? Ob sie seinen Tod besang? »Ist das ihr Hund?«, fragte Robin. Doch die Antwort bestand nur aus der immer gleichen Folge der orientalisch anmutenden Töne.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« Im nächsten Augenblick sah er auf die Hände der Frau: Sie waren blutverschmiert.
»Sind Sie verletzt?« Robins Stimme klang heiser, er hatte das Gefühl, niemand verstehe seine Worte. Gleichzeitig wurde ihm immer unheimlicher zumute. Warum hockte die seltsame Frau hier an der Mauer? War es ihr Schatten gewesen, den er gesehen hatte? Wenn dem so war, musste sie den toten Mann im Eingangsbereich entdeckt haben. Wie hatte sie so unbeteiligt an ihm vorübergehen können? Aber saß sie nicht völlig abwesend da? Wie abgebrüht musste jemand sein, den der Fund einer Leiche dermaßen kalt ließ?
»Warum antworten Sie nicht?«, herrschte Robin die Frau an.
Sofort danach tat es ihm leid, so barsch gewesen zu sein. Vermutlich war sie krank. Oder sie stand unter Schock. Oder – er erschrak vor seinen eigenen Gedanken – konnte sie die Mörderin sein? Eine Messerstecherin, eine Geisteskranke? Er wich einen Schritt zurück. Die blutigen Hände! War es das Blut des Opfers? Vielleicht hatte sie auch den kleinen Hund erstochen, und die verschmutzten Hände stammten von dem Tier? Robin versuchte, eine Wunde an dem Hund auszumachen oder Blut im Fell, aber es war zu dunkel, als dass er etwas erkennen konnte. Das reglose Bündel tat ihm leid, er mochte Hunde sehr, und Lilly war vernarrt in sie. Lilly. Wie gut, dass sie das alles nicht mit ansehen musste.
Abrupt hörte die Frau auf zu singen. »Ausgeblutet«, sagte sie.
Robin erschrak fast zu Tode, weil sie ihm so unvermittelt antwortete. Aber meinte sie überhaupt ihn? Noch immer suchte sie in der Ferne nach einem imaginären Ziel.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Robin entsetzt.
»Der kleine Kerl hier ist völlig ausgeblutet. Wie ein Schlachtvieh.« Mit einer raschen Bewegung wandte die Frau Robin den Kopf zu und blickte ihn von unten herauf an. In ihren großen Augen sammelten sich Tränen. »Nun melde dich bei der Polizei, das wolltest du doch sowieso.«
»Ja«, antwortete Robin. Woher wusste sie, was er vorhatte? Konnte sie Gedanken lesen? Unsinn. Wahrscheinlich hatte sie die Leiche gesehen und kombiniert, was geschehen würde. Offenbar war die Frau doch nicht geisteskrank, wie er vermutet hatte, so klar und deutlich, wie sie sprach. Er fingerte eilig sein Handy aus der Jackentasche. »Was ist denn passiert mit dem Hund?«
»Interessiert dich das, oder willst du das der Polizei sagen?«
»Ich, nein, warum sollte ich.« Robin hielt das Telefon unschlüssig in der Hand. »Es ist nur wegen – haben Sie den toten Mann da vorn nicht bemerkt?«
Die Frau entspannte sich und blickte dem Nachthimmel entgegen, indem sie den Kopf in den Nacken legte. »Der Tod ist das Ende menschlichen und tierischen Lebens. Wir leben zum Tod hin. Das Töten gehört zur Philosophie des Lebens dazu. Mensch und Tier töten, um zu überleben. Eine absurde Gleichung, ein Fehler in der Schöpfung, ein gefährlicher Irrtum. Wer Kreaturen schafft, die ihresgleichen umbringen können, muss sich nicht wundern, wenn sie es tun.« Sie schloss die Augen. »Ein bitteres Thema.«
Sie ist doch verrückt, dachte Robin. Was redet die da für einen Stuss zusammen. Aber richtig blöd ist es ja nicht, was da aus ihrem Mund kommt. Er war sich unsicher, was er tun sollte. Aber hatte sie ihn nicht selbst aufgefordert, die Polizei zu rufen?
»Also wähle ich jetzt«, sagte er, als wollte er eine Bestätigung von ihr erhalten. Doch sie antwortete nicht mehr, blickte weiterhin zum Himmel hinauf und begann, ihren Oberkörper wiegend hin und her zu bewegen. Robin hörte auf das ausgehende Rufzeichen. Unmittelbar danach meldete sich die Stimme eines Polizisten: »Polizei, Notruf.«
Niko steckte sein verschrammtes Handy zurück in die Hosentasche und sah Frank mit sorgenvollem Blick an. »Wir sollen in den Club kommen.«
»So? Der Club Hainberg hat doch heute geschlossen. Verstehe ich nicht.« Frank strich sich über das stoppelig geschnittene Blondhaar.
»Ist doch egal, ob einer das versteht. Wir sollen kommen, sofort.«
Niko schnappte sich seine schwarze Jacke, die er achtlos auf den Boden geworfen hatte. Schon im Gehen zog er sie über und lief in den Flur. Aus einer abgegriffenen Holzschale schnappte er sich den Haustürschlüssel. Er fasste nicht richtig zu, und der Schlüsselbund knallte scheppernd auf den Boden. »Fuck«, fluchte Niko, bückte sich, hob den Bund auf und stieß sich an der Kommode, als er sich aufrichtete. »Aua! Verdammt, wo bleibst du denn?«
Frank tauchte im Türrahmen auf. »Bleib ruhig! Wenn du rumzappelst, glauben die dir kein Wort. Los jetzt, ich fahre.«
Den blauen Golf, den Frank als Dauerleihgabe seiner Mutter nutzen durfte, hatte er unweit von Nikos Haus geparkt. Sie stiegen ein und Frank steckte den Schlüssel ins Zündschloss, drehte um. Der Anlasser jaulte, der Wagen sprang nicht an. Auch beim zweiten Versuch rührte sich der Motor nicht.
»Der müsste mal in die Werkstatt, schönen Gruß an deine Mutter!«, sagte Niko.
»Mach mal halblang! Ich bin froh, mit der Karre fahren zu dürfen. Jetzt nehme ich dich mit, und du meckerst auch noch! Kannst ja laufen!«
»Schon gut. Es ist nur so: Wenn wir die noch warten lassen, reißen sie mir den Kopf ab, bevor ich papp sagen kann.«
»Quatsch! Die wollen den Stoff, und du bist der, der ihn holen sollte. Ohne dich ist der Schnee von vornherein verloren.«
»Mit mir auch. Das werden die schnell mitkriegen. Ich habe das Zeug nicht, verdammt!«
Endlich sprang der Motor an.
»Die Kiste macht vielleicht einen Krach«, murrte Niko.
»Ein Wort noch, mein Freund, und du läufst wirklich!«
Wortlos fuhren sie durch die Stadt bis ins Ostviertel, zum neuen Szene-Club Hainberg, einer Diskothek nach Vorbild moderner In-Treffs in Großstädten wie München oder Berlin.
»Bin gespannt, was mein Cousin heute in dem Schuppen zu suchen hat. Keine Gäste, kein Türsteher, oder?« Frank lenkte den Wagen nur mäßig schnell durch die Straßen, er wollte kein Aufsehen erregen.
»Türsteher ist gut. Der kassiert mit seinen Leuten die Drogen ein, die die Gäste mitschleppen. Anschließend verkloppt er sie drinnen wieder, zusammen mit seinem eigenen Zeug.« Niko drückte sich in den Rücksitz. »Die Tour hat er bestimmt in Berlin gelernt. Wie lange war er dort Türsteher?«
Frank überlegte. »Nicht länger als zwei, drei Jahre. Seitdem ist er zurück in Göttingen. In Berlin hat er sich auch den Drachen auf die rechte Schädelseite tätowieren und das ganze Eisen an den Körper hängen lassen. Schläfen, Nase, Lippen, überall dieser Piercing-Mist.«
Niko kurbelte das Seitenfenster herunter. Er brauchte Luft. »Brutal«, stieß er aus, »der Wächter ist ein Tier. Er ist der größte Dealer hier. An den kommt keiner ran. Und wenn es einer versucht, wird er von seinen Schergen weggeknüppelt.«
»Weiß ich alles, feine Verwandtschaft, ja. Ich werde mich von denen fernhalten. Das bringt nichts, bei einer Versicherung zu lernen und nach Feierabend mit dem gewalttätigen Cousin rumzuhängen.«
»Brauchst seine Kohle dann ja nicht mehr. Aber ich, ich brauche die Aufträge, sonst – ach, fuck.«
Niko schlug die Arme unter und starrte durch die Frontscheibe. Von fern sah er das von innen beleuchtete Schild mit dem Aufdruck »Privatclub Hainberg« an dem Haus, in dem sich die Club-Diskothek befand. Frank brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen und stieg aus. Gemeinsam liefen sie den mit feinem weißem Kies aufgeschütteten Weg bis zum Eingang des Clubs entlang. Es knirschte unter ihren Tritten. Die schwarze Eingangstür war nur angelehnt. Die Männer folgten einem Gang, der sich nach links anschloss. An dessen Ende drang Licht durch einen Spalt. Frank klopfte einmal mit der Faust gegen das Türblatt. Ohne abzuwarten, trat er ein, Niko trabte hinterher.
Wie erwartet, war der Wächter nicht allein. Henner, sein Bodyguard, Motorradkleidung und überall Tattoos, und Andy der Schönling, der junge Frauen anfixte und süchtig machte, um ihnen später problemlos die Ware anzudrehen, waren bei ihm.
»Oh, der kleine Bandit«, sagte Henner höhnisch, »wird ja Zeit, dass der hier auftaucht.« Er grinste breit.
Andy betrachtete seine Fingernägel. »Wird einen Grund geben, warum er uns warten lässt.«
»Nun haltet die Klappe.«
Der Wächter saß hinter einem Tisch, auf dem sich Papiere stapelten und Zeitschriften wild durcheinanderlagen. An den Wänden hingen Fotos, die ihn in Berlin zeigten: breitbeinig auf einer Harley, im schwarzen Mantel vor dem Eingang der Diskothek, in der er als Türsteher gearbeitet hatte, im schwarzen Shirt und in Lederhosen vor dem Brandenburger Tor. Der fast zwei Meter große Mann erhob sich, umrundete den Tisch und trat auf die Ankömmlinge zu. Niko mit seinen einhundertsechsundfünfzig Zentimetern reichte ihm etwa bis zum Bauchansatz. Der kleine Bandit spürte einen schalen Geschmack im Mund, als der Wächter ihm die Hand reichte und überraschend sanft zudrückte. Frank begrüßte er mit einem Schlag auf die Schulter.
»Ein großer Tag«, sagte der Wächter. »Der Deal ist außerordentlich für Göttinger Verhältnisse.«
Niko fiel ein, dass der Wächter früher einmal Betriebswirtschaft studiert hatte. Immer, wenn er ihn reden hörte, dachte er daran. So redete nur einer, der eine Uni irgendwann von innen gesehen hatte.
»Niko!«, sagte der Wächter laut und riss ihn aus seinen Überlegungen. »Leg den Stoff hier auf den kleinen Tisch.« Seine Stimme klang betont unaufgeregt. Er beugte sich nach links und tippte mit dem Zeigefinger neben sich auf einen runden Beistelltisch.
Es folgte eine lange Pause. Niemand sagte etwas. Henner kaute auf einem Zahnstocher herum und zeigte noch immer ein blödes Grinsen. Schönling Andy guckte überheblich zu Niko und Frank, er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung. Frank sah aus, als hielte er heimlich die Luft an.
Der kleine Bandit spürte, wie sein Mund trocken wurde. Er fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Er vermutete, dass er ganz blass war. Die Ausdünstung, die der Wächter ausströmte, kroch ihm in die Nase, er roch nach kaltem Rauch und Herrenparfum. Warum musste er in so etwas hineingeraten? Warum gerade er? Es nutzte nichts, er musste mit der Wahrheit herausrücken.
»Ich habe den Stoff nicht.« Die Worte waren heraus, sie hatten in Nikos Ohren wie ein Paukenschlag geklungen, und ihr Nachklang kam ihm vor wie Donnerhall. Er zwang sich, zu dem Wächter aufzublicken und Augenkontakt zu suchen. »Der Frankfurter ist tot, erstochen, vor meinen Augen!« Er sagte eilig: »Ein Typ mit einem Messer! Erst sticht er es dem Frankfurter in die Brust, danach einer kleinen Töle, die plötzlich an seinem Bein hängt. Ich stehe und gucke und kann es kaum glauben in meinem Versteck. Dann die Sirenen! Polizei! Ich renne nur noch weg, und zu Hause …«
Nachdenklich blickte der Wächter auf Niko hinab. »Du willst mir erzählen, der größte Kokaindeal in Göttingen seit den Siebzigern ist gescheitert, weil irgendein Typ den Frankfurter umgebracht hat?«
Niko bemühte sich, ruhig zu atmen. Er hatte die Wahrheit gesagt. Er war nicht schuld. Was sollte ihm passieren? »So sieht es aus, leider«, sagte er.
Der gepiercte Silberring an der Augenbraue des Wächters zitterte, als er erwiderte: »Leider, so. Der Stoff ist so gut wie vollständig verkauft. Ich hätte ihn noch ein wenig, sagen wir, aufbereitet, und anschließend an die Kunden abgegeben. Was soll ich denen, die darauf warten, jetzt sagen?«
Niko musste schlucken. »Die Wahrheit?«
Mit bebender Stimme sagte der Wächter: »Die Wahrheit ist, dass ich jetzt nicht 60.000 verdiene, sondern 40.000 bezahlen muss für etwas, das ich nicht auf dem Tisch liegen habe!«
Niko spürte das Donnerwetter, das aufzog, beinahe körperlich. Irgendwo tief im großen Körper des Wächters fühlte er ein Grollen aufsteigen, das sich nach außen übertrug, sodass es ihn erreichte wie eine Brise vor dem Sturm. Er sah, wie der Wächter die Rechte zur Faust ballte, wie die Haut über seinen Schläfen rot und bedrohlich anschwoll.