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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Patria» 2016 bei Tusquets Editores, Barcelona.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Patria» Copyright © 2016 by Fernando Aramburu

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ISBN Printausgabe 978-3-498-00102-5 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-00126-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00126-8

Da geht sie, die Arme, um an ihm zu zerbrechen. So wie eine Welle an der Klippe bricht. Ein bisschen Gischt und tschüs. Sieht sie denn nicht, dass er sich nicht einmal die Mühe macht, ihr die Tür aufzuhalten? Unterwürfig, mehr als unterwürfig.

Und diese Stöckelschuhe und die rot geschminkten Lippen mit ihren fünfundvierzig Jahren, wozu? Bei deiner Klasse, Kind, bei deiner Position und deiner Bildung; was musst du dich da wie ein junges Ding aufführen? Würde der aita dich so sehen …

Beim Einsteigen ins Auto warf Nerea einen Blick zum Fenster hinauf, hinter dessen Jalousie vermutlich ihre Mutter stand und sie wie gewohnt beobachtete. Und ja, wenngleich sie von der Straße aus nicht zu sehen war, Bittori betrachtete sie voller Mitleid und mit gerunzelter Stirn, sprach im Flüsterton mit sich selbst, da geht sie hin, die Arme, mit der dieser eingebildete Kerl sich schmückt, der nie auch nur daran gedacht hat, jemand anderen als sich selbst zu beglücken. Ist ihr nicht klar, dass eine Frau schon arg verzweifelt sein muss, wenn sie ihrem Mann nach zwölf Ehejahren noch verführerisch kommen will? Im Grunde ist es ja gut, dass sie keine Kinder haben.

Sie richtete den Blick in eine Ferne jenseits der Dächer, jenseits der Insel und der blauen Linie des Horizonts, noch über die fernen Wolken hinaus in eine für immer verlorene Vergangenheit, auf das Hochzeitsfest ihrer Tochter. Und sah sie wieder in der Kathedrale zum Guten Hirten, ganz in Weiß, mit ihrem Blumenstrauß und überglücklich, und wie sie sie so aus der Kirche kommen sieht, schlank, lächelnd und wunderschön, da überkam sie eine dunkle Vorahnung. Nachts, als sie allein in ihr Haus zurückkehrte, hätte sie sich beinahe vor Txatos gerahmtes Foto gesetzt und ihm ihre Befürchtungen gebeichtet. Aber sie hatte Kopfschmerzen, und außerdem wurde Txato, wenn es um die Familie und vor allem um seine Tochter ging, gern sentimental. Er war nah am Wasser gebaut, der Mann, und wenn Fotos auch nicht weinen, weiß ich doch, was ich meine.

Die Stöckelschuhe sollten Quiques Appetit wecken; nicht unbedingt den, den man durch essen befriedigt. Tack, tack, tack, hatte sie sie eben noch übers Parkett klappern hören. Dass sie mir bloß keine Löcher rein macht. Um des lieben Friedens willen hatte sie nichts gesagt. Sie waren nur auf einen Sprung vorbeigekommen, um sich zu verabschieden. Und er hatte schon um neun Uhr morgens nach Whisky gerochen oder nach sonst einem der Schnäpse, die er verkauft.

«Ama, kommst du auch wirklich allein zurecht?»

«Warum nehmt ihr denn nicht den Bus zum Flughafen? Das Taxi von hier nach Bilbao kostet doch ein Vermögen.»

Er:

Das Gepäck, so unbequem, so langsam, wandte sie ein.

«Ja, aber ihr habt doch reichlich Zeit, oder?»

«Ama, hör auf damit! Wir haben das Taxi schon bestellt, es ist viel bequemer.»

Quique wurde ungeduldig.

«Es ist das Einzige, was bequem ist.»

Und fügte hinzu, er gehe nach draußen, eine Zigarette rauchen während ihr quatscht. Er roch stark nach Parfüm, dieser Mann. Aus dem Mund roch er aber nach Schnaps, und das schon um neun Uhr morgens. Er verabschiedete sich und betrachtete dabei sein Gesicht im Garderobenspiegel. Lackaffe. Dann – befehlsgewohnt? freundlich, aber kurz angebunden? – zu Nerea:

«Beeil dich.»

Fünf Minuten, versprach sie. Am Ende waren es fünfzehn. Allein mit ihrer Mutter: Diese Reise nach London bedeute ihr viel.

«Ich kann mir schwer vorstellen, dass du bei den Gesprächen deines Mannes mit den Kunden irgendwas zu sagen hast. Oder hast du es mir verschwiegen und arbeitest jetzt in seiner Firma?»

«In London will ich einen ernsthaften Versuch unternehmen, unsere Ehe zu retten.»

«Noch einen Versuch?»

«Den letzten.»

«Und welche Taktik verfolgst du dieses Mal? Du bleibst an seiner Seite, damit er dich nicht mit der Erstbesten betrügt, die ihm über den Weg läuft?»

«Ama, bitte. Mach es mir nicht noch schwerer.»

«Du siehst schön aus. Hast du den Friseur gewechselt?»

«Nein, ist immer noch derselbe.»

Nerea senkte die Stimme. Bei den ersten geflüsterten Worten schaute die Mutter wieder zur Tür, als fürchte sie, irgendein Fremder könne sie belauschen. Nein, nichts, die Idee, ein Kind zu adoptieren, hatten sie jetzt aufgegeben. Und was hatten sie nicht

«Hat er’s jetzt mit Bibelworten?»

«Er hält sich für modern, dabei ist er altmodischer als eine gestopfte Socke.»

Nerea hatte sich heimlich über die Formalitäten für eine Adoption informiert, und ja, sie erfüllten sämtliche Bedingungen. Geld war auch nicht das Problem. Sie war bereit, bis ans Ende der Welt zu fahren, um Mutter zu werden, auch wenn sie dem Kind nicht selbst das Leben schenken konnte. Aber Quique hatte die Diskussion abrupt beendet. Nein, nein und nochmals nein.

«Ein wenig unsensibel, der Bursche, findest du nicht?»

«Er will einen Jungen, der von ihm ist, der ihm ähnlich sieht, der eines Tages bei Real spielt. Er ist besessen, Ama. Und er wird ihn bekommen. Wenn der sich einmal was vorgenommen hat! Ich weiß nicht, mit wem. Mit irgendeiner, die sich dafür hergibt. Frag mich nicht. Keine Ahnung. Er wird sich einen Bauch mieten und bezahlen, was dafür zu bezahlen ist. Was mich angeht, ich würde ihm helfen, eine gesunde Frau zu finden, die ihm seinen Wunsch erfüllt.»

«Du bist ja verrückt.»

«Gesagt habe ich ihm davon noch nichts. Ich hoffe, dass ich in diesen Tagen in London eine Gelegenheit finde. Ich habe es mir gut überlegt. Ich kann doch nicht von ihm verlangen, dass er unglücklich ist.»

Sie streiften Wangen an der Wohnungstür. Bittori: Ja, sie komme schon allein zurecht, gute Reise auch. Nerea – auf dem Treppenabsatz, wo sie auf den Fahrstuhl wartete – sagte etwas von Pech im Leben, dass wir aber die Freude nicht von uns weisen dürfen. Dann empfahl sie ihrer Mutter noch, sich eine neue Fußmatte zuzulegen.

Vor der Sache mit Txato war sie gläubig, jetzt glaubte sie nicht mehr. Dabei war sie als Mädchen so fromm gewesen. Hätte beinahe sogar das Gelübde abgelegt. Sie und die Freundin aus dem Dorf, an die man sich besser nicht mehr erinnert. In letzter Minute hatten sie ihren Vorsatz aufgegeben, mit einem Bein bereits im Noviziat. Heute hält sie das von der Auferstehung der Toten und dem ewigen Leben, dem Lieben Gott und dem Heiligen Geist für ausgemachten Schwindel.

Sie ärgerte sich über einige Worte des Bischofs, der so tat als. Einem so wichtigen Herrn die Hand zu verweigern, traute sie sich jedoch nicht. Seine fühlte sich feucht und kleberig an. Aber sie schaute ihm fest ins Gesicht und gab ihm still – nur mit lodernden Augen – zu verstehen, dass sie nicht mehr gläubig war. Beim Anblick von Txato im Sarg war ihr Glaube an Gott wie eine Blase zerplatzt. Sie hatte es sogar körperlich gespürt.

Trotzdem geht sie hin und wieder zur Messe. Die Macht der Gewohnheit vielleicht. Sie setzt sich in eine der hinteren Bänke, schaut auf die Rücken und Hinterköpfe der Gläubigen, spricht

Statt in Läden zu gehen, sitzt sie lieber in der Kirche und praktiziert ihren stillen Atheismus. Gotteslästerlichkeiten und Verachtung der dort versammelten Gläubigen hat sie sich verboten. Sie schaut die Statuen an und sagt/denkt: nein. Manchmal sagt/denkt sie es und schüttelt dabei leicht den Kopf zum Zeichen der Ablehnung.

Wird eine Messe gefeiert, bleibt sie länger. Dann widerspricht sie bei sich allem, was der Priester vorträgt. Lasset uns beten. Nein. Dies ist der Leib Christi. Nein. Und so weiter die ganze Zeit. Gelegentlich, wenn die Müdigkeit sie übermannt, macht sie unauffällig ein Nickerchen.

Sie kam aus der Jesuitenkirche in der Calle Andía, als es schon dunkel wurde. Es war Donnerstag. Die Temperatur war angenehm. Am Nachmittag hatte sie gesehen, dass die Leuchtziffern an einer Apotheke zwanzig Grad anzeigten. Verkehr, Fußgänger, Tauben. Ein bekanntes Gesicht kam ihr entgegen. Ohne zu zögern, wechselte sie die Straßenseite. Durch den abrupten Richtungswechsel konnte sie nicht anders, als in die Plaza de Guipúzcoa einzubiegen. Sie überquerte sie auf dem Weg, der am Teich vorbeiführte. Dort betrachtete sie die Enten. Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen! Wenn sie sich recht erinnerte, zuletzt mit der kleinen Nerea. Sie erinnerte sich an schwarze Schwäne, die man jetzt nicht mehr sieht. Ding dong ding. Das Glockenspiel am Rathaus riss sie aus ihren Gedanken.

Zwanzig Uhr. Milder Abend, goldener Oktober. Mit einem Mal musste sie an die Worte denken, die Nerea am Morgen gesagt hatte. Sie sollte sich eine neue Fußmatte zulegen? Nein, man dürfe die

In der Luft lag ein Geruch wie von Algen und Meeresfeuchtigkeit. Es war kein bisschen kalt, es wehte kein Wind, und der Himmel war klar. Gründe genug, sagte sie sich, zu Fuß nach Hause zu gehen und sich den Bus zu sparen. In der Calle Urbieta hörte sie ihren Namen. Sie vernahm ihn klar und deutlich, wollte sich aber nicht umdrehen. Sie ging sogar etwas schneller, doch es half nichts. Eilige Schritte näherten sich von hinten.

«Bittori, Bittori.»

Die Stimme klang schon viel zu nah, um noch so tun zu können, als hörte sie sie nicht.

«Hast du’s mitgekriegt? Sie wollen mit den Attentaten aufhören.»

Bittori musste an die Zeit denken, als diese Nachbarin ihr tunlichst aus dem Weg gegangen, sogar an der Straßenecke – die Einkaufstüte zwischen den Beinen – im Regen stehen geblieben war, um bloß nicht am Hauseingang mit ihr zusammentreffen zu müssen.

Sie log:

«Ja, ich hab’s eben gehört.»

«Ist das nicht eine gute Nachricht? Endlich kriegen wir Frieden. Wurde auch Zeit.»

«Na, wir werden sehn …»

«Ich freue mich vor allem für euch, die ihr so Schlimmes durchgemacht habt. Das soll jetzt alles aufhören, und sie sollen euch in Ruhe lassen.»

«Dass sie sich an Leuten vergreifen, sie sollen endlich anfangen, für ihre Sache einzustehen, ohne zu morden.»

Da Bittori schwieg und keine Absicht erkennen ließ, das Gespräch fortzuführen, verabschiedete sich die Nachbarin, als habe sie es plötzlich eilig.

«Ich muss weiter. Ich habe meinem Sohn zum Abendessen Rotbarben versprochen. Die mag er so gern. Wenn du auch auf dem Heimweg bist, begleite ich dich.»

«Nein, ich bin hier ganz in der Nähe verabredet.»

Um der Nachbarin aus den Augen zu kommen, überquerte sie die Straße und bummelte eine Weile ziellos durch die Gegend. Denn, klar, wenn die Schlampe, während sie für ihren Sohn – der mir immer wie ein Trottel, ein ausgemachter Blödmann vorgekommen ist – die Fische säubert, mich kurz nach ihr nach Hause kommen hört, denkt sie natürlich, aha, die wollte nichts mit mir zu tun haben. Bittori! Was? Du ertrinkst in Verbitterung, und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass. Schon gut, lass mich in Ruhe.

Später, auf dem Heimweg, legte sie eine Hand an den rauen Stamm eines Baumes und murmelte: Danke für deine Menschlichkeit. Danach legte sie die Hand an eine Hauswand und wiederholte ihre Worte. Dasselbe tat sie – im Vorübergehen – bei einer Mülltonne, einer Parkbank, einer Straßenlaterne und weiterem Mobiliar des öffentlichen Raums, an dem sie vorbeikam.

Der Hauseingang, im Dunkeln. Sie war versucht, den Fahrstuhl zu nehmen. Vorsicht. Der Lärm könnte mich verraten. Sie beschloss, die drei Stockwerke auf Strümpfen hochzugehen. Da blieb noch Zeit für einen geflüsterten Dank ans Treppengeländer: für deine Menschlichkeit. So leise wie möglich schloss sie die Tür auf. Was hat Nerea bloß gegen diese Fußmatte? Ich verstehe das Kind einfach nicht; ich glaube, ich habe es noch nie verstanden.

Kurz darauf klingelte das Telefon. Ikatza schlummerte auf dem Sofa, eine Kugel aus schwarzem Fell. Ohne sich zu bewegen, die

Xabier, aufgeregt. Ama, ama. Sie solle den Fernseher einschalten.

«Ich hab’s schon gehört. Von wem? Von der von oben.»

«Ah, ich habe gedacht, du wüsstest es noch nicht.»

Er schickte ihr einen Kuss und sie ihm einen zurück, mehr sprachen sie nicht und legten auf. Ich mache den Fernseher nicht an, sagte sie sich. Doch dann siegte ihre Neugier. Auf dem Bildschirm erschienen drei Kapuzen unter Baskenmützen, nebeneinander an einem Tisch, Ku-Klux-Klan-Ästhetik, weiße Tischdecke, patriotische Poster, ein Mikrophon, und sie dachte: Ob die Mutter dessen, der spricht, seine Stimme erkennt? Sie empfand heftigen Abscheu beim Anblick der Bilder, und außerdem bekam sie Magengrimmen davon. Unfähig, sie länger zu ertragen, schaltete sie den Fernseher aus.

Für sie war der Tag zu Ende. Wie spät war es? Gleich zehn. Sie stellte der Katze frisches Wasser hin und ging früher als gewohnt zu Bett, ohne Abendessen, ohne einen Blick in die Zeitschrift zu werfen, die auf dem Nachttisch lag. Im Nachthemd blieb sie vor Txatos Foto an der Schlafzimmerwand stehen und sagte:

«Morgen komme ich dich besuchen und berichte dir. Ich glaube zwar nicht, dass du dich freuen wirst; aber es ist immerhin die Nachricht des Tages, und du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren.»

Sie löschte das Licht und versuchte, ihren Augen eine Träne abzupressen. Nichts. Trocken. Und Nerea hatte nicht angerufen. Sie hatte es nicht einmal für nötig gehalten, ihr mitzuteilen, ob sie gut in London angekommen waren. Klar, sie hat wohl genug damit zu tun, ihre Ehe zu retten.

Es ist schon ein paar Jahre her, dass sie zu Fuß nach Polloe hinaufgegangen ist. Können könnte sie, aber es ermüdet sie. Müde zu werden macht ihr nichts aus; aber wozu, hm, wozu? Außerdem gibt es Tage, da spürt sie so ein Stechen im Bauch. Also fährt Bittori mit dem Neuner, der hält nur ein paar Schritte vom Friedhofseingang entfernt. Nach Hause geht sie hinterher zu Fuß. Bergab ist ja was anderes.

Sie stieg hinter einer anderen Frau aus, sie beide die einzigen Fahrgäste. Freitag, Stille, schönes Wetter. An dem Bogen des Eingangstors las sie: BALD WIRD MAN VON EUCH SAGEN, WAS MAN VON UNS HEUTE SAGT: SIE SIND GESTORBEN! Mit finsteren Worten könnt ihr mich nicht beeindrucken. Sternenstaub (im Fernsehen hatte sie das gehört) sind wir. Ob wir leben oder die Radieschen von unten betrachten, völlig egal. Doch obgleich sie die unsympathische Inschrift verabscheute, konnte sie den Friedhof nie betreten, ohne sie zu lesen.

Mädchen, den Mantel hättest du zu Hause lassen können. Der war überflüssig. Sie hatte ihn nur angezogen, um Schwarz zu

Txato teilt sich das Grab mit seinen Großeltern mütterlicherseits und einer Tante. Das Grab liegt in einer Reihe mit anderen ähnlichen an einem leicht abschüssigen Weg. Auf dem Grabstein stehen Name und Vorname des Verstorbenen, sein Geburtsdatum und das Datum, an dem er ermordet worden ist. Der Rufname nicht.

Vor der Beerdigung hatten Angehörige aus Azpeitia Bittori geraten, Anspielungen, Hinweise oder Zeichen auf der Grabtafel zu vermeiden, die Txato als Opfer der ETA kennzeichneten. Sonst könnte sie Ärger bekommen.

Sie protestierte:

«Na, hört mal! Sie haben ihn schon umgebracht. Ich glaube nicht, dass sie ihn noch einmal ermorden.»

Nicht, dass Bittori daran gedacht hätte, irgendeine Erklärung über den Tod ihres Mannes eingravieren zu lassen; aber man muss nur versuchen, sie von irgendetwas abzubringen, dann setzt sie alles daran, es umzusetzen.

Xabier stimmte den Verwandten zu. So wurden nur Namen und Daten eingraviert. Nerea, die aus Saragossa anrief, hatte die Stirn vorzuschlagen, das zweite Datum zu fälschen. Ungläubig: was?

«Ich habe mir gedacht, auf dem Grab sollte der Tag vor oder nach dem Attentat stehen.»

Xabier zuckte die Achseln. Bittori sagte von wegen.

«Hier siehst du, dass es besser war, den aita ein wenig abzusichern. Dies jedenfalls ist uns erspart geblieben.»

Da knallte Bittori die Gabel auf den Tisch und sprang auf.

«Wo willst du hin?»

«Mir ist der Appetit vergangen.»

Mit finsterem Blick und wütenden Schritts stürmte sie aus der Wohnung ihrer Tochter. Quique, der sich gerade eine Zigarette anzündete, verdrehte die Augen.

Die Gräber liegen in einer langen Reihe entlang des Weges. Das Gute für Bittori ist, dass sich der Rand des Grabes zwei Handbreit über dem Boden erhebt und sie sich so problemlos auf den Stein setzen kann. Klar, wenn es regnet, nicht. Auf jeden Fall hat sie, da der Stein meistens kalt ist (und bedeckt mit Moos und dem Schmutz der Jahre), immer ein aus einer Einkaufstüte ausgeschnittenes Rechteck aus Plastik und ein Halstuch in der Handtasche und benutzt sie als Kissen. Darauf setzt sie sich und erzählt dem Txato, was sie ihm zu erzählen hat. Wenn Leute in der Nähe sind, spricht sie in Gedanken; ist niemand da – was meistens der Fall ist –, spricht sie so, wie man sich unterhält.

«Die Tochter ist schon in London. Nehme ich wenigstens an; sie hat’s ja nicht mal für nötig gehalten, mich anzurufen. Hat sie dich etwa angerufen? Mich jedenfalls nicht. Da im Fernsehen nichts von einem Flugzeugabsturz gesagt wurde, gehe ich davon aus, dass die beiden in London sind und vollauf damit beschäftigt, ihre Ehe zu kitten.»

Im ersten Jahr stellte Bittori vier Blumentöpfe auf das Grab. Sie goss sie regelmäßig. Sah schön aus. Dann ging sie eine Zeitlang nicht mehr zum Friedhof. Die Blumen vertrockneten. Die

«Ich rede, wie es mir passt, und lass mir nicht den Mund verbieten, von dir schon gar nicht. Ob ich Witze mache? Ich bin nicht mehr so wie früher, als du noch lebtest. Ich bin böse geworden. Na ja, nicht böse. Kalt, abweisend. Wenn du auferstehst, erkennst du mich nicht wieder. Und auch wenn du es nicht glaubst: Deine Tochter, dein Liebling, trägt die Hauptschuld daran, dass ich mich so verändert habe. Sie raubt mir den letzten Nerv. Genau wie schon als Kind. Mit deinem Segen, klar. Weil du sie immer verteidigt hast. Du hast mir die Autorität genommen, und sie hat nie gelernt, mich zu respektieren.»

Drei oder vier Gräber weiter oben gab es einen Streifen Sand neben dem asphaltierten Weg. Bittori beobachtete ein Spatzenpaar, das sich dort niedergelassen hatte. Mit gespreizten Flügeln nahmen die Vögel ein Sandbad.

«Dann wollte ich dir noch erzählen, dass die Bande bekannt gegeben hat, mit dem Morden aufzuhören. Noch weiß man nicht, ob die Ankündigung ernst gemeint ist oder ob es sich nur um einen Trick handelt, damit sie Zeit gewinnen und sich neu organisieren und bewaffnen können. Morden oder nicht mehr morden, dir nutzt das nicht viel. Mir auch nicht, glaub das bloß nicht. Ich muss nur unbedingt erfahren, was gewesen ist. Die ganze Zeit wollte ich das wissen. Und ich lasse mich nicht davon abhalten. Niemand kann mich davon abhalten. Auch die Kinder nicht. Wenn sie überhaupt was merken. Ich werde es ihnen nicht sagen. Du bist der Einzige, der es weiß. Unterbrich mich nicht. Der Einzige, der weiß, dass ich wieder zurückgehe. Nein, ins Gefängnis kann ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, in welchem der Schuft sitzt. Aber die anderen sind bestimmt noch alle im Dorf.

Die Spatzen waren verschwunden.

«Glaube mir, ich übertreibe nicht. Ich muss es unbedingt wissen, um mit mir selbst ins Reine zu kommen, mich hinsetzen zu können und zu sagen: Gut, es ist vorbei. Was ist vorbei? Tja, Txato, genau das muss ich herausfinden. Und die Antwort – falls es überhaupt eine gibt – findet sich nur im Dorf, und deshalb gehe ich da heute Abend noch hin.»

Sie stand auf. Faltete das Tuch und das Plastikrechteck zusammen und steckte beides ein.

«So, jetzt weißt du Bescheid. Und bleibst, wo du bist.»

Neun Uhr abends. In der Küche steht das Fenster offen, damit der Geruch von gebratenem Fisch nach draußen ziehen kann. Im Fernsehen beginnen die Nachrichten mit der Meldung, die Miren schon am Vortag im Radio gehört hat. Schluss mit dem bewaffneten Kampf. Nicht mit dem Terrorismus, wie die es nennen; mein Sohn ist kein Terrorist. Und an ihre Tochter gewandt:

«Hast du gehört? Sie hören wieder auf. Mal sehen, wie lange diesmal.»

Arantxa wirkt, als kriegte sie nichts mit; aber sie nimmt alles wahr. Sie bewegte ihr auf die Seite gesunkenes Gesicht – oder ist es der Hals, der verdreht ist? –, als wollte sie etwas äußern. Sicher sein konnte man sich bei ihr nie; aber wenigstens wusste Miren, dass ihre Tochter sie verstanden hatte.

Mit der Gabel teilte sie zwei Stücke vom panierten Seehecht ab. Die Stücke nicht zu groß, damit sie sie ohne Schwierigkeiten hinunterschlucken kann. So empfiehlt es die Physiotherapeutin, ein patentes Mädel. Keine Baskin, aber gut. Arantxa muss üben. Ohne Üben gibt es keinen Fortschritt. Die Gabelkante, als sie auf

«Bin gespannt, welche Ausrede sie sich jetzt einfallen lassen, um Joxe Mari weiter festhalten zu können.»

Sie setzte sich an den Tisch, neben ihre Tochter, ließ sie nicht aus den Augen. Bei ihr musste man immer wachsam sein. Schon mehr als ein Mal hatte sie sich verschluckt. Das letzte Mal im Sommer. Da hatten sie den Krankenwagen rufen müssen. Sirenengeheul im ganzen Dorf. Mein Gott, was für eine Aufregung. Als die Sanitäter eintrafen, hatte sie sich schon selbst ein Stück Filet aus ihrem Hals gezogen, so einen Klumpen.

Vierundvierzig Jahre. Die Älteste von dreien. Danach Joxe Mari, in Puerto de Santa María I. Bis nach da unten haben sie uns geschickt. Die Schweine. Und schließlich der Kleine. Der ist eigen. Den kriegen wir nicht mal zu Gesicht.

Arantxa griff nach dem Glas Weißwein, das die Mutter ihr eingeschenkt hatte. Sie hob es an und führte es mit der Hand, derer allein sie sich bedienen konnte, zitternd an die Lippen. Die Linke ist eine tote Faust. Sie hielt sie wie immer in Höhe der Taille an die Seite gedrückt; aufgrund eines spastischen Krampfes war sie nicht zu gebrauchen. Sie nahm einen ordentlichen Schluck aus dem Weinglas, was – wie Joxian meint – eine wahre Freude ist, wenn man bedenkt, dass Arantxa bis vor kurzem noch mit einer Sonde ernährt werden musste. Ein bisschen Flüssigkeit rann ihr am Kinn hinunter, aber das macht nichts. Miren war sogleich mit der Serviette zur Stelle und tupfte ab. So ein hübsches Mädchen, so gesund, mit glänzender Zukunft, Mutter zweier Kinder, und dann das.

«Und, schmeckt’s?»

Arantxa schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen, dass der Fisch schon mal besser geschmeckt hatte.

«Na, hör mal, der war nicht billig. Ganz schön verwöhnt.»

«Sie stellen den Kampf ein und kriegen dafür was? Haben sie die Befreiung von Euskal Herria vergessen? Und die Gefangenen sollen weiter im Gefängnis schmachten. Feiglinge. Was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen. Kommt dir die Stimme von dem, der das Kommuniqué verlesen hat, bekannt vor?»

Arantxa kaute langsam auf einem Stück Seehecht. Sie schüttelte den Kopf. Wollte etwas sagen und streckte den guten Arm aus, bat die Mutter, ihr das iPad zu reichen. Miren reckte den Hals, um zu lesen, was sie geschrieben hatte: «Es fehlt Salz.»

Joxian kam kurz nach elf in der Nacht mit einem Bündel Lauch nach Hause. Er hatte den ganzen Tag im Garten zugebracht. Das Hobby des Rentners. Der Garten liegt unten am Fluss. Wenn der über die Ufer tritt – das letzte Mal Anfang des Jahres –, leb wohl, Garten. Gibt Schlimmeres, sagt Joxian. Früher oder später geht das Wasser wieder zurück. Er reibt die Gartengeräte trocken, kehrt das Gartenhäuschen, kauft wieder junge Kaninchen, erneuert die fortgespülten Beete. Der Apfelbaum, der Feigenbaum und die Mandelbäume halten das Hochwasser aus, das ist alles. Alles? Da das Hochwasser Industrieabfälle mit sich führt, liegt hinterher ein penetranter Geruch auf dem Land. Von Fabrik, sagt er. Miren sagt zu ihm:

«Von Gift. Eines Tages winden wir uns hier vor Bauchschmerzen und sind alle tot.»

Joxians anderes Hobby ist das Kartenspiel am Nachmittag. Die vier Freunde spielen Mus um einen Krug Wein. Weiter unten, wenn man auf die Plaza kommt, in der Bar Pagoeta. Ob es zu viert bei einem Krug bleibt, man wird sehen.

So wie er den Lauch hielt, wusste Miren gleich, dass er einen sitzen hatte. Sie sagte ihm, er kriege schon genauso eine rote Nase,

Er kann nicht nein sagen. Das ist das Problem. In der Bar schluckt er, weil die anderen auch schlucken. Wenn einer von denen sagen würde: «Kommt, wir springen in den Fluss», würde Joxian ihnen folgen wie ein Lamm.

Jedenfalls kam er mit glänzenden Augen nach Hause, die Mütze schief auf dem Kopf, kratzte sich das Hemd, da, wo die Leber sitzt, und wurde sentimental.

Im Esszimmer gab er Arantxa einen langen, zärtlichen, beinahe schmatzenden Kuss auf die Stirn. Um ein Haar wäre er auf sie gefallen. Miren aber schob ihn von sich.

«Hör auf, verschwinde, du riechst nach Kneipe.»

«Frau, sei nicht so hart.»

Sie streckte beide Arme aus, um ihn auf Abstand zu halten.

«In der Küche ist noch Fisch. Ist sicher schon kalt. Musst ihn dir eben aufwärmen.»

Eine halbe Stunde später rief Miren ihn, damit er ihr half, Arantxa ins Bett zu bringen. Sie hoben sie aus dem Rollstuhl, indem er sie unter einen Arm nahm, sie unter den anderen.

«Hast du sie?»

«Hä?»

«Ob du sie hast. Sag mir, ob du sie hast, bevor wir beide anheben.»

Ein Klumpfuß hindert Arantxa am Gehen. Manchmal geht sie ein paar Schritte. Wenige, unsichere. Mit Handstock oder fremder Hilfe. Durchs Haus gehen, allein essen, wieder sprechen können, das sind auf mittlere Sicht die Hoffnungen der Familie. Auf lange Sicht wird man sehen. Die Physiotherapeutin macht ihnen

Vater und Mutter hoben sie vor dem Bett auf die Füße. Sie hatten das schon oft getan. Hatten Übung darin. Und außerdem, Arantxa, was wog sie denn zu der Zeit? Etwas über vierzig Kilo. Mehr nicht. Wo sie doch so stark gewesen war in ihren guten Zeiten! Ihr Vater hielt sie, während Miren den Rollstuhl an die Wand schob.

«Lass sie nicht fallen.»

«Ich werd doch meine Tochter nicht fallen lassen!»

«Du bist zu allem fähig.»

«Quatsch.»

Sie schauten sich grimmig an, feindselig, er mit zusammengebissenen Zähnen, als müsste er ein schlimmes Wort im Mund zurückhalten. Miren schlug die Decke auf, dann hoben sie Arantxa vorsichtig – langsam, hast du sie? – aufs Bett.

«Du kannst gehen, ich ziehe sie jetzt aus.»

Joxian beugte sich vor und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Er wünschte ihr eine gute Nacht. Und sagte: «Bis morgen, polita», wobei er mit einem Fingerknöchel über ihre Wange strich. Dann ging er, sich die Seite kratzend, zur Tür. Er war schon fast aus dem Zimmer, da drehte er sich um und sagte:

«Auf dem Heimweg habe ich im Haus von denen Licht gesehen.»

Miren war gerade dabei, ihrer Tochter die Schuhe auszuziehen.

«Wird wohl jemand sauber gemacht haben.»

«Um elf Uhr nachts?»

«Mich interessieren diese Leute nicht.»

«Jedenfalls hab ich dir gesagt, was ich gesehen habe. Vielleicht kommen sie ja zurück ins Dorf.»

«Vielleicht. Jetzt, wo der bewaffnete Kampf aufgehört hat, werden sie womöglich frech.»

Ein paar Wochen nachdem sie Witwe geworden war, fuhr Bittori für ein paar Tage nach San Sebastián. Hauptsächlich, um den Gehweg nicht mehr sehen zu müssen, auf dem sie ihren Mann umgebracht hatten, und auch nicht die finsteren Blicke der Nachbarn, die jahrelang immer freundlich gewesen waren und dann, plötzlich, das Gegenteil davon; und auch, um nicht jeden Tag an den Wandschmierereien vorbeigehen und vor allem nicht die Schmierereien am Pavillon auf der Plaza sehen zu müssen, eine der letzten, eine Zielscheibe über dem Namen des Getöteten, und wenige Tage später, tschüs.

In Wirklichkeit hatten die Kinder sie unter einem Vorwand nach San Sebastián gebracht. Jesus, Maria und Josef, in einen dritten Stock! Sie war daran gewöhnt, zu ebener Erde zu wohnen.

«Schon, ama, aber mit Fahrstuhl.»

Nerea und Xabier waren übereingekommen, sie um jeden Preis aus dem Dorf zu bringen, dem Dorf, in dem sie ihr Leben verbracht hatte, in dem sie geboren war, in dem sie getauft worden war und geheiratet hatte, und ihr dann die Rückkehr schwer zu machen,

In der Wohnung gab es Lampen und ein paar Möbel. Die Kinder sagten zu Bittori, sie würde da nur vorübergehend wohnen müssen. Du konntest sie ansprechen, und sie reagierte nicht. Sie war wie weggetreten. Apathisch. Sie, die eigentlich so ein Plappermaul war. Und jetzt wie aus Stein gemeißelt. Man könnte meinen, sie vergäße sogar zu blinzeln.

Xabier und ein Kollege aus dem Krankenhaus brachten ihr ein paar Sachen. Gegen Abend kamen sie mit einem Lieferwagen ins Dorf, als es schon dunkel wurde, damit es nicht so auffällig war. Sie unternahmen ungefähr ein Dutzend Fahrten, stets nach Sonnenuntergang. Mal holten sie dieses, beim nächsten Mal jenes, viel Platz war im Lieferwagen ja nicht.

Das Ehebett ließen sie im Haus im Dorf, denn Bittori weigerte sich, ohne ihren Ehemann darin zu schlafen. Die wichtigsten Habseligkeiten holten sie jedoch heraus: Geschirr, den Teppich aus dem Esszimmer, die Waschmaschine.

Eines Tages, unter der Woche, wurden sie beschimpft, als sie ein paar Sachen holten. Die typische Bande, alte Bekannte von Xabier, ein paar Schulkameraden. Einer sagte mit zornknirschender Stimme, ihr Kennzeichen hätten sie sich gemerkt.

Auf dem Weg nach San Sebastián bemerkte Xabier, dass sein Freund eine Art Panikattacke bekam und sie einen Unfall bauen würden, wenn er in diesem Zustand weiterfuhr. Er bat ihn, am Straßenrand anzuhalten.

Der Kollege:

«Nur mit der Ruhe.»

«Tut mir leid, ehrlich. Tut mir leid.»

«Wir müssen nicht mehr fahren. Wir haben jetzt alles. Meiner Mutter reicht das, was wir ihr bis jetzt gebracht haben.»

«Verstehst du mich, Xabier?»

«Ja, klar. Mach dir keine Gedanken.»

Ein Jahr verging, ein weiteres, mehrere. Und Bittori ließ sich in der Zeit einen Schlüssel ihres Hauses nachmachen, weil, blöd ist sie ja nicht. Und dann? Zuerst Nerea; ein paar Tage später, Xabier. Ama, der Schlüssel vom Haus? Den hast du doch. Nein, ich. Täuschungsmanöver. Sie sagte beiden, sie wisse nicht, wo sie ihn gelassen habe, was ist bloß mit meinem Kopf, sie würde aber weitersuchen, und nach einigen Tagen tat sie dann so, als habe sie ihn doch noch gefunden; aber klar, da hatte sie sich vom Schlosser schon einen Nachschlüssel anfertigen lassen. Den alten gab sie Nerea, die ab und zu (ein-, zweimal im Jahr?) einen Blick ins Haus warf und abstaubte, und danach behielt sie den Schlüssel, und Bittori erwartete auch nicht, ihn jemals zurückzubekommen.

Ein anderes Mal schlug Nerea vor, das Haus im Dorf zu verkaufen. Ein paar Tage später machte Xabier den gleichen Vorschlag. Bittori roch den Braten sofort, diese beiden haben sich hinter meinem Rücken abgesprochen. Deswegen brachte sie selbst das Thema zur Sprache, sobald sie alle drei zusammen waren.

«Solange ich lebe, wird mein Haus nicht verkauft. Wenn ich tot bin, macht damit, was ihr wollt.»

Es gab keinen Widerspruch. Bittori hatte mit harter Miene und einem strengen Glanz in den Augen gesprochen. Die Geschwister wechselten einen raschen Blick. Dann wurde nie mehr über die Angelegenheit geredet.

Und ja, möglichst unauffällig fuhr sie wieder ins Dorf, meistens an regnerischen und windigen Tagen, wenn die Straßen

Zum Friedhof ging sie nie. Warum auch? Txato war in San Sebastián beerdigt worden, nicht im Dorf, obwohl dort seine Großeltern väterlicherseits in einem Familiengrab beigesetzt sind. Aber das hatte nicht sein dürfen, man hatte ihr lebhaft abgeraten, wenn du ihn im Dorf begräbst, werden sie das Grab verwüsten, wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.

Beim Begräbnis auf dem Friedhof von Polloe hatte Bittori Xabier etwas ins Ohr geflüstert, was dieser nie vergessen hat. Und was? Nun, dass sie den Eindruck habe, der Txato solle eher versteckt als begraben werden.

Der Autobus ist ja so langsam. Viel zu viele Haltestellen. Da, schon wieder. Die zwei Frauen – charakteristische Gesichter – saßen nebeneinander. Sie fuhren mit dem letzten Bus ins Dorf zurück. Sie sprachen beide gleichzeitig, hörten einander gar nicht zu. Jede für sich, aber sie verstanden sich. Jetzt stieß die, die am Gang saß, die am Fenster verstohlen mit dem Ellenbogen an. Als diese reagierte, deutete sie mit einem kurzen Ruck des Halses zum vorderen Teil des Busses.

Flüsternd:

«Die im dunklen Mantel.»

«Wer ist das?»

«Sag bloß, du erkennst sie nicht!»

«Ich sehe ja nur ihren Rücken.»

«Die vom Txato.»

«Den sie umgebracht haben? Die ist aber alt geworden.»

«Die Zeit vergeht, was glaubst du?»

Sie schwiegen. Der Bus setzte seine Fahrt fort. Fahrgäste stiegen aus und ein, und die beiden Frauen schauten schweigend

«Wieso?»

«Was sie durchgemacht hat.»

«Was wir alle durchmachen.»

«Ja, aber sie hat es doch besonders schlimm getroffen.»

«Der Konflikt, Pili, der Konflikt.»

«Ja, ich sag ja auch gar nichts.»

Kurz darauf die, die nicht Pili hieß:

«Wetten, dass sie im Industriegebiet aussteigt?»

Sie wandten den Blick ab, sobald Bittori aufstand. Sie war die Einzige, die ausstieg.

«Was habe ich gesagt?»

«Wie hast du das erraten?»

«Sie steigt hier schon aus, damit niemand sie sieht, und dann – piano, piano – schleicht sie zu ihrem Haus.»

Der Bus setzte seinen Weg fort, und Bittori – glauben die etwa, ich hätte sie nicht gesehen? – ging zwischen Fabriken und Werkstätten in dieselbe Richtung; nicht mit hochmütiger, das nicht, aber mit ernster Miene, zusammengepressten Lippen und erhobenen Hauptes, denn verstecken muss ich mich vor niemand.

Das Dorf, ihr Dorf. Schon beinahe Nacht. Die Fenster erleuchtet, der Pflanzengeruch umliegender Felder, wenige Fußgänger auf der Straße. Sie überquerte die Brücke mit hochgeschlagenem Mantelkragen und sah unter sich den stillen Fluss mit den Gärten am Ufer. Kaum war sie zwischen den Häusern, überkam sie so etwas wie Atemnot. Ein Erstickungsanfall? Nicht direkt. Eine unsichtbare Hand drückt ihr jedes Mal, wenn sie ins Dorf geht, die Kehle zu. Nicht hastig, aber auch nicht langsam ging sie auf dem Bürgersteig, erkannte Einzelheiten wieder: In diesem Hauseingang hat mir ein Junge die erste Liebeserklärung gemacht; wunderte sich über Neuerungen: Diese Laternen kommen mir fremd vor.

Es dauerte nicht lange, da vernahm sie ein Raunen hinter sich.

Vor dem Pagoeta standen ein paar Raucher zusammen. Bittori war versucht, ihnen auszuweichen. Wie? Umdrehen und auf der anderen Seite um die Kirche herumgehen. Einen Moment hielt sie inne, schämte sich aber, stehen geblieben zu sein. Also ging sie mit gezwungener Natürlichkeit mitten auf der Straße weiter. Und ihr Herz schlug so heftig, dass sie einen Moment lang fürchtete, die Männer könnten es pochen hören.

Ohne sie anzusehen, ging sie an ihnen vorbei. Es waren vier oder fünf mit dem Glas in der einen und der Zigarette in der anderen Hand. Als sie auf ihrer Höhe war, mussten sie sie erkannt haben, denn ganz plötzlich wurde es still. Ein, zwei, drei Sekunden. Als Bittori das Ende der Straße erreichte, nahmen sie ihre Unterhaltungen wieder auf.

Ihr Haus mit heruntergelassenen Jalousien. Unten an der Hausmauer klebten zwei Plakate. Eines, das relativ neu aussah, kündete ein Konzert in San Sebastián an, und das andere, verblasst und zerrissen, den Großen Zirkus der Welten genau da, wo eines Morgens eine der vielen Schmierereien gestanden hatte: TXATO ENTZUN PENG PENG BUM.

Bittori trat in das Haus, und es war, als betrete sie die Vergangenheit. Die Lampe seit Kindertagen, die knarrenden alten Treppenstufen, die Reihe der klapprigen Briefkästen, in denen der ihre fehlte. Xabier hatte ihn irgendwann abgeschraubt. Um Probleme zu vermeiden, sagte er. Als er ihn von der Wand nahm, sah man ein Rechteck von der Farbe, die die Wand vor langer Zeit gehabt hatte, als Nerea noch nicht geboren war und auch der Sohn

Sie atmete den Geruch von altem Holz ein, von frischer, eingeschlossener Luft. Und dann merkte sie, dass die unsichtbare Faust ihren Hals losließ. Schlüssel, Schloss: Sie trat ein. Wieder stieß sie auf Xabier, ein ganzes Stück jünger, im Flur, der mit Tränen in den Augen zu ihr sagte, ama, lassen wir nicht zu, dass der Hass uns das Leben verbittert, er macht uns nur klein, oder so was in der Art, genau erinnerte sie sich nicht mehr. Und ihr Ausbruch an derselben Stelle, so viele Jahre war das jetzt her:

«O ja, singen und tanzen werden wir.»

«Bitte, ama, reiß die Wunde nicht noch weiter auf. Wir müssen uns bemühen, all das, was passiert ist …»

Sie unterbrach ihn.

«Was sie uns angetan haben.»

«Dass das alles keine schlechten Menschen aus uns macht.»

Worte. Man kann ihnen nicht entgehen. Sie lassen einen niemals wirklich allein sein. Eine Plage von lästigem Ungeziefer, hörst du. Sie sollte die Fenster weit aufreißen, damit sie nach draußen können, die Wörter, die Klagen, die alten traurigen Gespräche, die in den Wänden des unbewohnten Hauses gefangen sind.

«Txato, Txatito, was willst du zu Abend essen?»

Vom Foto an der Wand schenkte ihr Txato das verhaltene Lächeln eines zu meuchelnden Mannes. Man brauchte ihn bloß anzusehen, um zu wissen, dass sie ihn irgendwann umbringen würden. Und diese Ohren! Bittori legte Zeige- und Mittelfinger zusammen, drückte einen Kuss auf die Fingerkuppen und legte sie sanft auf das Gesicht des schwarzweißen Fotos.

«Spiegeleier mit Schinken. Ich kenne dich, als würdest du noch leben.»

Sie drehte den Wasserhahn im Badezimmer auf. Tatsächlich, das Wasser lief, und gar nicht so trübe, wie sie sich vorgestellt hatte.

Ein paar Jungs kamen vorbei. Einzelne Leute. Ein Junge und ein Mädchen gingen die Straße hinauf und stritten sich, er versuchte, sie zu küssen, aber sie wollte nicht. Ein alter Mann mit einem Hund. Sie war sicher, dass sie früher oder später einen von denen vorm Haus sehen würde. Und woher willst du das wissen? Ich kann es dir nicht erklären, Txato. Weibliche Intuition.