Zum Buch
»Ana, hör mir zu. Wir werden ein Spiel spielen, okay? Alles, was du tun musst, ist, ganz nah bei mir zu bleiben, sehr nah. Wenn ich dann in die Grube falle, lässt du dich auch fallen. Mach einfach die Augen zu und halte deinen Körper ganz gerade. Aber es funktioniert nur, wenn wir beide genau im selben Moment fallen. Hast du verstanden?« Dies sind die letzten Worte, an die sich die 10-jährige Ana erinnert, als sie vom Waldboden aufsteht. Sie hat durch einen Trick überlebt, doch ihr Vater und ihre Mutter sind tot. Es ist 1991, in der Nähe von Zagreb, in einem Land, in dem Nachbarn zu Feinden geworden sind. Ana gelingt die Flucht nach Amerika, zusammen mit ihrer kleinen Schwester Rahela, die noch ein Baby ist. Rahela wächst sorglos heran, doch Ana kann nicht vergessen. Bis sie eines Tages beschließt, zurückzukehren in das heutige Kroatien, an den Ort, der für sie noch immer voller Wunder ist und der einmal ihre Heimat war …
Zur Autorin
SARA NOVIĆ, geboren 1987, studierte an der Columbia University Literatur und Übersetzung. Sie arbeitet als Lektorin beim »Blunderbuss«-Magazin und unterrichtet kreatives Schreiben. »Das Echo der Bäume« ist ihr erster Roman, der sich auf Anhieb in 14 Länder verkauft hat. Sara Nović lebt in Philadelphia, Pennsylvania.
Sara Nović
Das Echo
der Bäume
Roman
Aus dem Englischen
von Judith Schwaab
Für meine Familie.
Und für A.
»Ich war nach Jugoslawien gekommen, um Geschichte in Fleisch und Blut zu erleben. Ein Reich war untergegangen, und wie ich nun erfahren musste, konnte daraus durchaus folgen, dass eine Welt voll starker Männer und Frauen, voll nahrhaftem Essen und kräftigem Wein trotzdem nur wie ein Schattenreich wirkt; und dass ein Mann, der in jeder Hinsicht überragend ist, vielleicht an einem Lagerfeuer sitzt und sich die Hände in der vergeblichen Hoffnung wärmt, eine Kälte zu vertreiben, die ihm gar nicht unter die Haut gegangen ist.«
aus der ungekürzten Originalfassung von Rebecca West, Black Lamb und Gray Falcon
»Lese ich diesen Satz, so verschwimmen vor meinen Augen Bilder von Feldwegen, Flussauen und Bergwiesen mit den Bildern der Zerstörung, und es sind die letzteren, perverserweise, und nicht die ganz irreal gewordenen frühkindlichen Idyllen, die so etwas wie ein Heimatgefühl in mir heraufrufen […].«
W. G. Sebald, Luftkrieg und Literatur
I
Sie fielen beide
1
In Zagreb begann der Krieg wegen einer Schachtel Zigaretten. Es hatte schon vorher Spannungen gegeben, Gerüchte über Unruhen in anderen Städten, von denen sie im Flüsterton über meinen Kopf hinweg redeten, doch keine Explosionen, keine Kampfhandlungen. Eingekesselt zwischen den Bergen, war Zagreb im Sommer ein Glutofen, und die meisten Leute verließen während der heißen Monate die Stadt und flohen an die Küste. Solange ich mich erinnern konnte, hatte meine Familie Urlaub bei meinen Pateneltern in einem Fischerdorf im Süden gemacht. Doch die Serben hatten die Straßen zum Meer blockiert, zumindest sagten das alle, und so verbrachten wir zum ersten Mal in meinem Leben den Sommer im Inneren des Landes.
In der Stadt war alles klebrig, die Türklinken und Griffe in der Straßenbahn waren glitschig vom Schweiß anderer Leute, und in der Luft hing der Geruch des letzten Mittagessens. Wir nahmen kalte Duschen und spazierten in Unterwäsche in der Wohnung umher. Wenn ich unter dem kalten Wasserstrahl stand, stellte ich mir vor, wie meine Haut zischte und Dampf aufstieg. Bei Nacht lagen wir auf unseren Laken und warteten auf unruhigen Schlaf und fiebrige Träume.
In der letzten Augustwoche wurde ich zehn, ein Ereignis, das mit einem durchweichten Kuchen gefeiert wurde und von Hitze und Unruhen überschattet war. An jenem Wochenende hatten meine Eltern ihre besten Freunde – meine Pateneltern Petar und Marina – zum Essen eingeladen. Das Haus, wo wir sonst den Sommer verbrachten, gehörte Petars Großvater. Meine Mutter hatte an ihrer Schule drei Monate frei, die wir sonst zu fünft an der Felsenküste der Adria verbracht hatten; mein Vater kam später mit dem Zug nach. Dieses Jahr jedoch saßen wir in der Stadt fest, und das Essen am Wochenende wurde zur Farce, weil wir uns vorgaukelten, alles sei normal.
Bevor Petar und Marina kamen, stritt ich mit meiner Mutter darüber, was ich anziehen sollte.
»Du bist kein Tier, Ana. Entweder du trägst Shorts beim Abendessen, oder dein Teller bleibt leer.«
»Aber in Tiska reicht mein Bikinihöschen«, sagte ich, doch ein Blick meiner Mutter genügte, und ich zog mich an.
An diesem Abend führten die Erwachsenen ihre übliche Diskussion darüber, wie lange genau sie sich schon kannten. Sie seien Freunde, seit sie so alt gewesen waren wie ich, sagten sie dann gern, ganz gleich, wie alt ich zu diesem Zeitpunkt auch sein mochte, und war erst eine Stunde vergangen und eine Flasche Feravino geköpft, beließen sie es meistens auch dabei. Petar und Marina hatten keine Kinder, mit denen ich hätte spielen können, und so saß ich am Tisch, hatte meine kleine Schwester auf dem Schoß und lauschte ihren Versuchen, auch noch die ältesten Erinnerungen auszugraben. Rahela war damals erst acht Monate alt und nie an der Küste gewesen, und so erzählte ich ihr vom Meer und von unserem kleinen Boot, und sie grinste, wenn ich Fischgesichter für sie zog.
Nach dem Essen rief mich Petar zu sich und drückte mir ein paar Dinar in die Hand. »Schauen wir mal, ob du deinen Rekord brechen kannst«, sagte er. Das war ein Spiel zwischen uns – ich lief zum Laden, um ihm Zigaretten zu holen, und er stoppte die Zeit. Wenn ich meinen Rekord brach, durfte ich das Wechselgeld behalten. Ich stopfte das Geld in die Tasche meiner abgeschnittenen Jeans und rannte die neun Stockwerke hinunter.
Ich war mir sicher, dass ich einen neuen Rekord aufstellen würde. Ich hatte meine Route perfektioniert, wusste genau, wo ich bei den Gebäuden die Kurve schneiden konnte und in den Seitenstraßen Stolperstellen vermeiden musste. Ich flitzte an dem Haus mit dem orangeroten WARNUNG VOR DEM HUNDE-Schild vorbei (in dem meines Wissens nie ein Hund gelebt hatte), sprang über ein paar Zementstufen und hielt Abstand vom Müllcontainer. Unter einem Betonbogen, in dem es immer nach Pisse roch, hielt ich die Luft an, dahinter kam die Stadt. Ich wich dem größten Schlagloch vor der Bar mit den Männern aus, die schon tagsüber tranken, und wurde nur ein bisschen langsamer bei dem alten Mann, der auf einem Klapptisch geklaute Schokolade verkaufte. Die rote Markise des Zeitungskiosks, mein Fähnchen auf der Ziellinie, flatterte in einer seltenen Brise.
Ich legte die Ellbogen auf den Tresen, um den Zeitungsmann auf mich aufmerksam zu machen. Herr Petrović kannte mich und wusste, was ich wollte, doch an diesem Tag sah sein Lächeln eher aus wie ein Grinsen.
»Möchtest du serbische Zigaretten oder kroatische?« Es klang irgendwie komisch, wie er die beiden Herkunftsländer aussprach. Ich hatte in den Nachrichten Leute über Serben und Kroaten reden hören, weil in den Dörfern gekämpft wurde, doch nie hatte jemand etwas direkt über den Krieg zu mir gesagt. Und ich wollte nicht die falschen Zigaretten kaufen.
»Kann ich bitte die haben, die ich immer kaufe?«
»Serbische oder kroatische?«
»Sie wissen schon, die in der goldenen Hülle.« Ich versuchte, um ihn herumzusehen, und zeigte auf das Regal hinter ihm. Doch er lachte nur und winkte einem anderen Kunden zu, der mich höhnisch angrinste.
»He!«, versuchte ich, die Aufmerksamkeit des Kioskmanns wieder auf mich zu lenken, doch er beachtete mich nicht und nahm den nächsten Mann in der Schlange dran. Die Wette hatte ich bereits verloren, doch ich rannte trotzdem so schnell heim, wie ich konnte.
»Herr Petrović wollte, dass ich mich zwischen serbischen und kroatischen Zigaretten entscheide«, sagte ich zu Petar. »Ich wusste keine Antwort, und da hat er mir gar keine gegeben. Tut mir leid.«
Meine Eltern tauschten Blicke, und Petar bedeutete mir, ich solle mich auf seinen Schoß setzen. Er war groß – größer als mein Vater – und erhitzt von der Wärme und vom Wein. Ich kletterte auf seinen breiten Oberschenkel.
»Ist schon okay«, sagte er und tätschelte seinen Bauch. »Ich bin sowieso zu voll für Zigaretten.« Ich zog das Geld aus meinen Shorts und gab es ihm zurück. Er drückte mir ein paar Dinar in die Hand.
»Aber ich hab doch nicht gewonnen.«
»Stimmt«, sagte er. »Aber heute ist das nicht deine Schuld.«
In jener Nacht kam mein Vater ins Wohnzimmer, wo ich schlief, und setzte sich auf die Bank vor unserem alten Klavier. Das Klavier hatten wir von einer Tante von Petar geerbt – er und Marina hatten keinen Platz dafür –, doch wir konnten uns nicht leisten, es stimmen zu lassen, und die unterste Oktave klang so dumpf, dass alle Tasten den gleichen, müden Ton erzeugten. Ich hörte, wie mein Vater rhythmisch auf die Pedale trat und dabei – wie immer, wenn er nervös war – mit dem Bein zappelte, doch die Tasten berührte er nicht. Nach einer Weile stand er auf und hockte sich auf die Armlehne der Couch, wo ich lag. Bald würden wir eine Matratze kaufen.
»Ana? Bist du wach?«
Ich versuchte, die Augen zu öffnen, spürte, wie sie hinter den Lidern zuckten.
»Hm«, stieß ich hervor.
»Filter 160. Die sind kroatisch. Damit du das nächste Mal Bescheid weißt.«
»Filter 160«, murmelte ich, um es mir einzuprägen.
Mein Vater gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte gute Nacht, doch einen Augenblick später spürte ich, dass er immer noch in der Tür stand und mit seinem Körper das Licht aus der Küche abschirmte.
»Wäre ich bloß dagewesen«, flüsterte er, doch ich war mir nicht sicher, ob er mit mir redete, und so war ich still, und er sagte nichts mehr.
Am Morgen hielt Milošević eine Fernsehansprache, und als ich ihn sah, musste ich lachen. Er hatte große Ohren und sah mit seinem fetten roten Gesicht und den Hängebäckchen aus wie eine schwermütige Bulldogge. Er näselte, ganz anders als die sanfte, kehlige Stimme meines Vaters, sah wütend aus und schlug bei seiner Rede immer wieder mit der Faust auf den Tisch. Er sagte etwas von einer Säuberung im Land, das wiederholte er immer wieder. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, doch während er sprach und hämmerte, wurde sein Gesicht röter und röter. Deshalb lachte ich, und meine Mutter streckte den Kopf um die Ecke, um zu schauen, was so lustig war.
»Schalt das aus.« Ich spürte, wie meine Wangen ganz heiß wurden, denn ich dachte, sie sei böse auf mich, weil ich bei einer offenbar wichtigen Ansprache gelacht hatte. Doch ihre Züge wurden schnell wieder milde. »Geh spielen«, sagte sie. »Bestimmt wartet Luka schon auf dem Trg auf dich.«
Mein bester Freund Luka und ich radelten den ganzen Sommer lang rund um den großen Stadtplatz oder trafen uns mit Klassenkameraden irgendwo zum Fußballspielen. Wir waren sommersprossig und braungebrannt und unsere Kleidung ständig voller Grasflecken, und jetzt, wo nur noch ein paar Wochen Freiheit vor uns lagen, bis die Schule wieder anfing, trafen wir uns sogar noch früher und blieben länger draußen, entschlossen, keine Ferienminute zu verpassen. Gewöhnlich fand ich ihn irgendwo auf unserer Radroute. Wir radelten Seite an Seite, ab und zu lenkte Luka seinen Vorderreifen direkt gegen meinen, sodass wir fast zusammenstießen. Das war sein liebster Spaß, und er lachte den ganzen Weg, doch ich dachte immer noch an Herrn Petrović. In der Schule hatte man uns beigebracht, auf ethnische Unterschiede nicht zu achten, obwohl es ganz leicht war, die Herkunft von jemandem am Nachnamen zu erkennen. Stattdessen drillte man uns darauf, bis zum Erbrechen die panslawischen Slogans aufzusagen: »Brastvo i Jedinstvo!«, Brüderlichkeit und Einheit. Doch auf einmal sah es so aus, als könnten die Unterschiede zwischen uns doch wichtig sein. Lukas Familie stammte aus Bosnien, einem Vielvölkerstaat und damit einer verwirrenden dritten Kategorie. Die Serben schrieben kyrillisch und die Kroaten lateinisch, doch in Bosnien waren beide Schriften geläufig und die gesprochenen Unterschiede noch geringer. Ich fragte mich, ob es auch eine bosnische Zigarettenmarke gab und ob Lukas Vater vielleicht die rauchte.
Als wir auf dem Trg ankamen, war er voller Leute, und ich merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Angesichts der neuen Unterteilung in Serbisch und Kroatisch schien mir auf einmal alles – einschließlich der Statue von Ban Jelačić mit seinem gezogenen Schwert – ein Hinweis auf die Spannungen zu sein, die ich nicht hatte kommen sehen. Während des Zweiten Weltkrieges hatte sich das Schwert des Ban zur Verteidigung gegen die Ungarn gerichtet, doch danach hatten die Kommunisten alle nationalistischen Symbole verbannt und auch diese Statue entfernt. Nach den letzten Wahlen hatten Luka und ich dabei zugesehen, wie Männer mit Seilen und schwerem Gerät Jelačić auf seinen angestammten Platz zurückgebracht hatten.
Jetzt schaute unser Nationalheld gen Süden, in Richtung Belgrad.
Der Platz war immer ein beliebter Treffpunkt gewesen, doch heute wirkten die Leute rund um den Sockel der Statue hektisch und drängten sich zwischen einem Pulk von Lastwagen und Traktoren, die mitten auf dem Kopfsteinpflaster des Trg parkten, wo an normalen Tagen nicht einmal Autos fahren durften. Koffer, Paletten und allerlei Hausrat wurden gerade von den Ladeflächen der LKW gehoben und überall auf dem Platz verteilt.
Ich musste an das Zigeunerlager denken, an dem meine Eltern und ich einmal vorbeigekommen waren, als wir das Grab unserer Großeltern in Čakovec besuchten – eine ganze Karawane aus Wohnwägen, in denen diese Leute geheimnisvolle Instrumente und gestohlene Kinder versteckten.
»Die schütten dir Säure in die Augen«, hatte mich meine Mutter später gewarnt, während ich in der Kirchenbank herumzappelte und mein Vater Kerzen anzündete und für seine Eltern betete. »Kleine blinde Bettler verdienen dreimal so viel wie die, die sehen können.« Ich hielt ihre Hand und war für den Rest des Tages mucksmäuschenstill.
Luka und ich stiegen von unseren Rädern und gingen vorsichtig auf die Leute und ihre Habseligkeiten zu. Doch da gab es keine Lagerfeuer oder Zirkuskunststückchen, und auch keine Musik – das hier war nicht das fahrende Volk, das ich am Rande der Dörfer im Norden gesehen hatte.
Das Lager war fast zur Gänze mit Schnur umspannt. Seile, Schnüre, Schuhbänder und Stoffstreifen in verschiedener Dicke verbanden Autos, Traktoren und Gepäckhaufen zu einem komplizierten Geflecht. Über den Schnüren hingen Bettlaken und Decken und größere Textilien, wodurch notdürftige Zelte entstanden. Luka und ich schauten uns stumm die Leute an, weil wir keine Worte für das kannten, was wir da sahen, doch wir begriffen, dass es nicht gut war.
Rund um das Lager brannten Kerzen, schmolzen neben Schachteln, auf die jemand »Spenden für die Flüchtlinge« geschrieben hatte. Die meisten Leute, die vorbeikamen, warfen etwas hinein, manche leerten ihre gesamten Taschen.
»Was sind das für Leute?«, flüsterte ich.
»Ich weiß nicht«, sagte Luka. »Sollen wir ihnen auch was geben?«
Ich nahm Petars Dinar aus meiner Tasche und gab sie Luka, weil ich Angst davor hatte, zu nahe ranzugehen. Auch Luka hatte ein paar Münzen, und ich hielt sein Fahrrad, während er das Geld einwarf. Als er sich über die Schachtel beugte, geriet ich kurz in Panik, weil ich befürchtete, die Stadt aus Schnur würde ihn verschlucken, so wie die Schlingpflanzen in den Horrorfilmen. Als er sich umdrehte, schob ich ihm so unsanft seinen Lenker hin, dass er ins Straucheln geriet. Während wir wegfuhren, spürte ich einen Kloß im Hals, dem ich erst Jahre später einen Namen geben würde. Die Schuldgefühle der Überlebenden.
Meine Klassenkameraden und ich trafen uns oft zum Bolzen im östlichen Bereich des Parks, wo der Rasen nicht so bucklig war. Ich war das einzige Mädchen, das Fußball spielte, doch manchmal kamen andere Mädchen aufs Feld, um Seil zu springen und zu ratschen.
»Warum ziehst du dich an wie ein Junge?«, fragte mich einmal ein Mädchen mit Rattenschwänzen.
»In Hosen spielt es sich leichter Fußball«, sagte ich ihr. In Wirklichkeit trug ich Kleidung, die wir von irgendwelchen Nachbarn bekommen hatten, weil wir uns keine andere leisten konnten.
Wir fingen an, Geschichten zu sammeln. Sie begannen mit komplizierten Beziehungsverhältnissen – die zweite Cousine meiner besten Freundin, der Chef von meinem Onkel –, und wer den Ball zwischen die improvisierten (und immer verhandelbaren) Torpfosten kickte, musste seine Geschichte zuerst erzählen. Daraus entwickelte sich ein unausgesprochener Wettbewerb des Blutvergießens, bei dem derjenige gewann, der am einfallsreichsten beschrieben hatte, wie seinen entfernten Verwandten das Hirn aus dem Schädel gepustet worden war. Stjepans Cousin hatte zum Beispiel gesehen, wie eine Mine einem Kind das Bein zerfetzt hatte, und er berichtete, dass noch eine Woche später Hautfetzen in den Ritzen des Gehwegs geklebt hatten. Tomislav hatte von einem Jungen gehört, dem in Zagora von einem Heckenschützen ins Auge geschossen worden war; sein Augapfel sei flüssig geworden, wie ein glibberiges Ei, und alle hätten es gesehen.
Zu Hause ging meine Mutter in der Küche auf und ab und redete am Telefon mit Freunden in anderen Städten, hängte sich anschließend aus dem Fenster und gab die Neuigkeiten ins Nachbarhaus weiter. Während sie mit den Frauen am anderen Ende der Wäscheleine über die wachsenden Spannungen am Donauufer diskutierte, stand ich daneben und versuchte, mir so viel wie möglich zu merken, bevor ich mich mit meinen Freunden traf. Wir waren wie ein stadtweites Spionagenetz, gaben jede Information, die wir mit anhörten, weiter und schilderten die Geschichten von Opfern, deren Verbindungen zu uns allmählich immer enger wurden.
Am ersten Schultag rief die Lehrerin unsere Namen auf und stellte fest, dass einer unserer Klassenkameraden fehlte.
»Hat jemand von Zlatko gehört?«, fragte sie.
»Vielleicht ist er ja nach Serbien zurück, wo er hingehört«, sagte Mate, ein Junge, den ich noch nie ausstehen konnte.
Ein paar kicherten, und unsere Lehrerin brachte sie zum Schweigen. Neben mir hob Stjepan die Hand.
»Er ist umgezogen«, sagte er.
»Umgezogen?« Unsere Lehrerin blätterte in irgendwelchen Papieren auf ihrem Klemmbrett. »Bist du sicher?«
»Er hat bei mir im Haus gewohnt. Vorgestern Abend habe ich gesehen, wie seine Familie große Koffer zu einem Lastwagen hinaustrug. Er sagte, sie müssten weg, bevor die Luftangriffe beginnen. Und er meinte, ich soll alle grüßen.«
In der Klasse ging aufgeregtes Geschnatter los:
»Was ist ein Luftangriff?«
»Wer wird dann unser Torwart?«
»Gut, dass er weg ist!«
»Halt die Klappe, Mate!«, sagte ich.
»Genug!«, rief unsere Lehrerin. Wir verstummten.
Ein Luftangriff, erklärte sie, sei, wenn Flugzeuge über Städte flögen und versuchten, mit Bomben Gebäude zu zerstören. Sie zeichnete mit Kreide Karten an die Tafel, auf denen Luftschutzkeller eingezeichnet waren, und zählte auf, was unsere Familien alles dorthin mitbringen müssten: ein Radio mit Mittelwellensender, Wasser, eine Taschenlampe, Batterien für die Taschenlampe. Ich verstand nicht, welche Flugzeuge welche Gebäude in die Luft jagen wollten, oder wie man ein reguläres Flugzeug von einem bösen unterscheiden sollte, aber ich freute mich über die Pause im Unterricht. Doch schon bald wischte die Lehrerin die Tafel so heftig mit einem trockenen Lappen ab, dass eine große Kreidewolke aufstieg, stieß einen Seufzer aus, als hätte sie jetzt genug von Luftangriffen, und klopfte sich den Kreidestaub aus den Falten ihres Rockes. Dann machten wir mit der schriftlichen Division weiter, und die Fragestunde war beendet.
Es geschah, als ich Besorgungen für meine Mutter machte. Ich sollte Milch holen; die gab es in glitschigen Plastikbeuteln, die bei jedem Versuch, sie zu packen oder die Milch auszugießen, wackelten wie Pudding, und ich hatte einen Pappkarton an meinen Fahrradlenker geklemmt, um die widerspenstige Ladung zu transportieren. Doch allen Läden in unserer Umgebung war die Milch ausgegangen – in den Läden gab es mittlerweile fast gar nichts mehr –, und so hatte ich Luka verdonnert, mir bei der Suche zu helfen, die sich immer weiter auf die Innenstadt ausdehnte.
Das erste Flugzeug flog so niedrig, dass Luka und ich später jedem, der es hören wollte, schworen, dass wir das Gesicht des Piloten gesehen hatten. Ich duckte mich, verdrehte dabei den Lenker und stürzte vom Rad. Luka, der zum Himmel schaute, dabei aber vergaß zu treten, krachte auf mich drauf, landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und schürfte sich das Kinn am Kopfsteinpflaster auf.
Wir rappelten uns hoch, und das Adrenalin überdeckte den Schmerz, als wir versuchten, weiterzufahren.
Dann der Alarm. Das körnige Knistern eines schlechten Lautsprechers. Dann heulte die Sirene, wie eine Frau, die durch ein Megafon schrie. Wir rannten. Über die Straße und durch Seitengässchen.
»Welcher ist am nächsten?«, schrie mir Luka über den Lärm hinweg zu. Ich rief mir die Karte an der Schultafel ins Gedächtnis, all die Sternchen und Pfeile, die verschiedene Wege markierten.
»Es gibt einen unter dem Kindergarten.« Unter der Rutsche unseres ersten Spielplatzes führten ein paar Zementstufen zu einer Stahltür hinab, die dreimal so dick wie normal war, fett wie ein Wörterbuch. Zwei Männer hielten die Tür offen, und Leute liefen aus allen Himmelsrichtungen ins Dunkel hinunter. Weil wir unsere Räder nur ungern zurückließen, während oben die Welt unterging, legten Luka und ich sie so nahe wie möglich beim Eingang ab.
Im Bunker roch es nach Schimmel und ungewaschenen Körpern. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaute ich mich um. Da standen mehrere Stockbetten, eine Holzbank in der Nähe der Tür, an der entgegengesetzten Wand ein Fahrradgenerator. Bei den folgenden Luftangriffen würden sich meine Klassenkameraden und ich um dieses Rad streiten, weil jeder einmal drankommen wollte, um durch Strampeln den Strom zu erzeugen, mit dem man das Licht im Bunker betreiben konnte. Doch beim allerersten Mal bemerkten wir das Ding kaum, so sehr waren wir damit beschäftigt, uns das Sammelsurium von Leuten anzusehen, die aus ihren alltäglichen Beschäftigungen herausgerissen worden waren und nun bunt zusammengewürfelt in dieser Höhle aus dem Kalten Krieg hockten. Ich betrachtete die Gruppe, die mir am nächsten saß: Männer in Businessanzügen, in Overalls oder Arbeitskleidung, wie mein Vater sie trug, Frauen in Strumpfhose und Bleistiftrock. Andere in Kittelschürze, mit Babys auf der Hüfte. Ich fragte mich, wo meine Mutter und Rahela wohl waren; in der Nähe unseres Hauses gab es keinen Luftschutzkeller. Dann hörte ich Luka nach mir rufen, und wir wurden von einer Gruppe hereinströmender Neuankömmlinge getrennt. Ich tastete mich zu ihm, erkannte ihn nur am Umriss seines Strubbelkopfes.
»Du blutest«, sagte ich.
Luka wischte sich das Kinn mit dem Arm ab und spähte auf den Blutstreifen an seinem Ärmel hinab.
»Dachte mir schon, dass das passieren würde. Gestern Abend hab ich meinen Vater darüber reden hören.« Lukas Vater arbeitete an der Polizeiakademie; er war zuständig für die Ausbildung neuer Rekruten. Mich ärgerte, dass Luka die Möglichkeit eines Luftangriffs nicht früher erwähnt hatte. Er schien sich dort in der Dunkelheit, den Arm um die Leiter eines der Etagenbetten geschlungen, recht wohl zu fühlen.
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Ich wollte dir keine Angst machen.«
»Ich habe keine Angst«, sagte ich. Und das hatte ich auch nicht. Noch nicht.
Jetzt heulte wieder die Sirene, das Zeichen für Entwarnung. Die Männer drängten sich in Richtung Tür, und wir traten ins Freie, unsicher, was uns erwartete. Oben war es immer noch taghell, und die Sonne blendete mich, so wie mich unten die Dunkelheit blind gemacht hatte. Ich sah Sternchen. Als sie sich auflösten, kam der Spielplatz in Sicht, genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Nichts war passiert.
Zu Hause stürmte ich in die Wohnung und verkündete meiner Mutter, in ganz Zagreb gebe es keine Milch mehr. Sie schob den Stuhl vom Küchentisch zurück, an dem sie gerade einen Stapel Klassenarbeiten korrigierte, und drückte Rahela beim Aufstehen enger an ihre Brust. Rahela weinte.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte meine Mutter. Sie zog mich an sich und nahm mich in die Arme.
»Alles gut. Wir sind zum Kindergarten. Wo bist du denn mit Rahela hin?«
»In den Keller. Zu den šupe.«
Der Keller in unserem Mietshaus hatte nur zwei Besonderheiten: Dreck und die šupe. Jede Familie hatte eine solche šupe, einen hölzernen Verschlag mit einem Schloss daran. Ich liebte es, bei den šupe der anderen Familien das Gesicht in die Lücke zwischen Tür und Angel zu quetschen und hineinzuspähen, mir heimlich anzuschauen, was für Habseligkeiten die Leute darin aufbewahrten. Wir brachten hauptsächlich unsere Kartoffeln darin unter, die sich im Dunkeln sehr gut hielten. Der Keller schien mir nicht besonders sicher zu sein, denn es gab dort weder eine Metalltür noch Etagenbetten oder einen Generator, doch als ich meine Mutter später danach fragte, sagte sie nur traurig: »Der Keller ist so gut wie jeder andere auch.«
An jenem Abend kam mein Vater mit einer Schuhschachtel voll braunem Packband nach Hause, das er aus dem Büro der Straßenbahn, wo er an manchen Tagen arbeitete, hatte mitgehen lassen. Damit klebte er mehrere große X diagonal auf die Fenster, und ich half ihm, strich die Luftblasen glatt. Eine doppelte Schicht klebten wir an die Glastür, die auf den kleinen Balkon vor dem Wohnzimmer hinausführte. Der Balkon war mein Lieblingsplatz der gesamten Wohnung. Manchmal, wenn ich neidisch von Luka heimkam, weil sie in einem eigenen Haus lebten, seine Mutter nicht arbeiten musste und Luka in einem richtigen Bett schlief, trat ich auf den Balkon hinaus, legte mich auf den Rücken, ließ die Beine unter dem Geländer hindurch über die Kante baumeln. Dann dachte ich, dass niemand, der in einem eigenen Haus wohnte, einen so schönen Balkon in luftiger Höhe hatte wie ich.
Jetzt allerdings sorgte ich mich, dass mein Vater die Balkontür zukleben könnte. »Wir können doch immer noch raus, oder?«
»Natürlich, Ana. Wir verstärken nur das Glas.« Das Band sollte die Scheiben zusammenhalten, falls es eine Explosion gab. »Außerdem«, sagte er mit müder Stimme, »ist Packband heutzutage nicht für viel zu gebrauchen.«
2
»Welche Farbe sind wir noch mal?« Ich stand hinter meinem Vater, hatte das Kinn auf seine Schulter gelegt, während er Zeitung las, und zeigte auf eine Landkarte von Kroatien, auf der mit roten und blauen Punkten die gegnerischen Armeen gekennzeichnet waren. Er hatte es mir bereits einmal gesagt, aber ich konnte es mir einfach nicht merken.
»Blau«, sagte mein Vater. »Die kroatische Nationalgarde. Die Polizei.«
»Und die roten?«
»Jugoslavenska Narodna Armija. Die JNA.«
Ich verstand nicht, wieso die jugoslawische Volksarmee Kroatien angreifen sollte, das doch voller Jugoslawen war, doch als ich meinen Vater danach fragte, seufzte er nur und klappte die Zeitung zusammen. Dabei fiel mein Blick auf die Titelseite, auf der ein Foto von Männern abgedruckt war, die Kettensägen und Flaggen mit Totenköpfen schwenkten. Sie hatten einen Baum gefällt und auf beiden Seiten eine Straßenblockade errichtet; darunter zog sich die Schlagzeile BAUMSTAMMREVOLUTION in dicken fetten Lettern quer über die Seite.
»Wer ist das denn?«, fragte ich meinen Vater. Die Männer trugen Bärte und zusammengewürfelte Uniformen. Ich hatte die Soldaten der JNA bei einer Militärparade noch nie Piratenflaggen schwenken sehen.
»Tschetniks«, sagte er, faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf ein Regal über dem Fernseher, wo ich nicht drankam.
»Was machen die denn mit den Bäumen? Und warum haben sie Bärte, wenn sie bei der Armee sind?«
Ich wusste, die Bärte bedeuteten etwas, weil ich das mit dem Rasieren bemerkt hatte. Überall in der Stadt wurden Männer, die mehr als zwei Tage alte Stoppeln hatten, von ihren glatt rasierten Zeitgenossen argwöhnisch beäugt. In der Woche zuvor hatte Lukas Vater sich den Bart abnehmen lassen, den er schon getragen hatte, bevor Luka und ich auf die Welt kamen. Da er es nicht übers Herz gebracht hatte, sich ganz davon zu trennen, hatte er sich einen Schnurrbart stehen lassen, doch die Wirkung war überaus komisch; mit dem buschigen Schnauzer auf der Oberlippe war er nur noch ein Abklatsch des Mannes, den wir gekannt hatten, und sah ziemlich kläglich aus.
»Das sind Orthodoxe. In ihrer Kirche lassen sich die Männer Bärte stehen, wenn sie trauern.«
»Und worüber sind sie traurig?«
»Sie warten darauf, dass der serbische König auf seinen Thron zurückkehrt.«
»Wir haben doch gar keinen König.«
»Jetzt ist es genug, Ana«, sagte mein Vater.
Ich wollte mehr wissen – was ein Bart damit zu tun hatte, dass jemand traurig war, oder warum die Serben sowohl die JNA als auch die Tschetniks auf ihrer Seite hatten und wir nur die alte Polizeiarmee, doch bevor ich noch weiter nachhaken konnte, stellte meine Mutter eine Schüssel ungeschälter Kartoffeln und ein Messer vor mir auf den Tisch.
Mitten in dem Durcheinander stellte Luka seine Analysen an. Er hatte schon immer die Angewohnheit, mir Fragen zu stellen, auf die ich keine Antwort wusste, hypothetische Fragen, durch die uns auf unseren kleinen Radtouren niemals der Gesprächsstoff ausging. Meistens sprachen wir über den Weltraum; darüber, wie es möglich war, dass ein Stern bereits erloschen war, obwohl wir ihn noch leuchten sahen; warum Flugzeuge und Vögel in der Luft blieben und wir nicht; und ob man auf dem Mond alles mit einem Strohhalm trinken musste. Nun jedoch lenkte Luka seinen ganzen detektivischen Spürsinn auf den Krieg. Was meinte Milošević, wenn er sagte, das Land müsse gesäubert werden? Wozu sollte ein Krieg eigentlich gut sein, wenn die Bomben so viel Schaden anrichteten? Warum blieb das Wasser weg, wenn die Rohre unterirdisch waren? Und wenn die Rohre durch die Bombardierungen zerstört wurden, waren wir dann in den Luftschutzkellern überhaupt sicherer als zu Hause?
Ich hatte Lukas Frage- und Antwortspiele immer geliebt und war froh, dass er etwas auf meine Meinung gab. Bei anderen Freunden, den Jungs in der Schule, hielt er meistens den Mund. Und da die Erwachsenen die Neigung hatten, meinen Fragen auszuweichen, war es eine Erleichterung, jemanden zu haben, mit dem ich über alles reden konnte. Doch der Mond war weit weg, und jetzt, wo Luka seine Spitzfindigkeit auf Dinge richtete, die vor unserer Haustür geschahen, bereitete mir der Gedanke, dass all die vertrauten Gesichter und Stadtteile Stückchen eines Puzzles waren, die nicht recht zusammenpassen wollten, großes Kopfzerbrechen.
»Was, wenn wir bei einem Luftangriff ums Leben kommen?«, fragte er eines Nachmittags.
»Na ja, Gebäude haben sie bislang noch nicht in die Luft gejagt«, argumentierte ich.
»Aber wenn sie es machen, und einer von uns stirbt?«
Irgendwie war die Vorstellung, dass nur er sterben könnte, so grauenvoll, dass ich mich bisher noch gar nicht zu ihr vorgewagt hatte. Mir brach vor Nervosität der Schweiß aus, und ich öffnete den Reißverschluss meiner Jacke. Ich war so selten wütend auf Luka, dass ich das Gefühl gar nicht als solches erkannte.
»Du wirst nicht sterben«, sagte ich. »Also vergiss es einfach.« Mit diesen Worten fuhr ich eine scharfe Kurve und ließ ihn dort auf dem Trg, wo die Flüchtlinge ihre Habseligkeiten auspackten und sich für was auch immer bereithielten, allein.
Dann kam eine Zeit der Fehlalarme. Warnungen vor Luftangriffen und Warnungen vor Warnungen. Wann immer die Luftaufklärung serbische Flugzeuge sichtete, die sich der Stadt näherten, lief ein Streifen mit der Eilmeldung über den Bildschirm des Fernsehers. Keine Sirene heulte, niemand lief zu den Luftschutzkellern, doch diejenigen, die die Warnung gesehen hatten, streckten die Köpfe auf den Flur und riefen: »Zamračenje, zamračenje!« Der Ruf hallte durch die Treppenhäuser, über die Wäscheleinen zu den Nachbargebäuden, durch die Straßen, und die Luft summte von dem unheilverkündenden Gemurmel: »Verdunkelung!«
Wir zogen die Rollos vor unsere abgeklebten Scheiben, legten schwarze Stoffstreifen über die Rollläden. Wenn ich im Stockdunkeln auf dem Boden saß, hatte ich keine Angst; es fühlte sich mehr an wie die erwartungsvolle Spannung bei einer besonders packenden Runde Versteckspielen.
»Mit ihr stimmt was nicht«, sagte meine Mutter eines Nachts, als wir unter der Fensterbank hockten. Rahela weinte, wollte schon seit Tagen nicht mehr damit aufhören.
»Vielleicht fürchtet sie sich vor der Dunkelheit«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass das nicht der Grund war.
»Ich bring sie zum Arzt.«
»Das wird schon wieder«, sagte mein Vater in einem Ton, der die Diskussion beendete.
Ein Serbe, der in unserem Haus wohnte, weigerte sich, seine Rollläden runterzulassen. Er knipste alle Lichter in seiner Wohnung an und spielte auf einem gigantischen Ghettoblaster ohrenbetäubend laute Orchestermusik, wie sie während der schlimmsten Zeiten des Kommunismus beliebt gewesen war. Nachts gingen die Nachbarn abwechselnd zu ihm und flehten ihn an, seine Lichter auszumachen und Erbarmen mit ihnen zu haben, damit sie ihre Kinder schützen könnten. Wenn das nicht fruchtete, appellierten sie an seine Vernunft und argumentierten, ganz gewiss würde er doch selbst bei der Explosion sterben, wenn das Mietshaus bombardiert würde. Doch er schien das in Kauf nehmen zu wollen.
An den Wochenenden, wenn er auf dem Parkplatz stand und an seinem kaputten Jugo herumschraubte, lungerten wir in der Nähe herum und klauten ihm sein Werkzeug, wenn er gerade nicht hinschaute. Manchmal, am Morgen vor der Schule, versammelten wir uns auch auf dem Flur vor seiner Wohnung und drückten auf die Klingel, wieder und wieder, und wenn wir ihn zur Tür tapsen hörten, rannten wir weg.
Ein paar Wochen nach ihrer Ankunft in der Stadt tauchten die Flüchtlingskinder in der Schule auf. Da es keine Unterlagen darüber gab, wie weit sie im Unterricht waren, versuchten die Lehrer sie so gleichmäßig wie möglich auf die Klassen zu verteilen. In unsere Klasse kamen zwei Jungs, die anscheinend tatsächlich in unserem Alter waren und nicht weiter auffielen. Sie stammten aus Vukovar und sprachen mit einem lustigen Akzent.
Vukovar war eine kleine Stadt, ein paar Stunden entfernt, und hatte in Friedenszeiten keine große Rolle für mich gespielt, doch jetzt war ständig in den Nachrichten davon die Rede. In Vukovar verschwanden Leute. Menschen wurden unter vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, gen Osten zu marschieren; andere verwandelten sich bei den Explosionen in eine blutige Masse. Die Jungs waren den ganzen Weg nach Zagreb zu Fuß gegangen und wollten nicht darüber reden. Selbst nachdem sie sich eingelebt hatten, waren sie immer ein bisschen schmutziger als wir, die Ringe unter ihren Augen einen Tick dunkler, und wir behandelten sie mit distanzierter Neugier.
Sie wohnten in einem Lagerhaus, das bei uns vorher Sahara geheißen hatte, weil es so leer und verlassen war wie die Wüste; dorthin waren die Jugendlichen gegangen, um im Dunkeln zu rauchen und zu knutschen. Allerlei Gerüchte kursierten: dass die Leute dort auf dem Boden schliefen und es nur ein Klo gab, oder nicht einmal eins, und definitiv kein Klopapier. Luka und ich versuchten, uns ein paarmal heimlich hineinzuschleichen, doch ein Soldat überprüfte an der Tür die Ausweispapiere der Flüchtlinge.
Schon bald danach überprüften sie auch vor unserem Miethaus die Papiere. Die Familien im Haus schickten abwechselnd je einen Erwachsenen, der in einer Fünf-Stunden-Schicht die Tür bewachte, wodurch vermieden werden sollte, dass ein Tschetnik hereinkam und sich in die Luft jagte. Eines Nachts brach ein Streit aus; die Männer draußen krakeelten so laut, dass ich es durchs Fenster hören konnte. Die Wachposten wollten den Serben nicht mehr ins Haus lassen.
»Du bist ein Tier! Du versuchst, unsere Kinder umzubringen!«, schrie der Mann an der Tür.
»Ich tu nichts dergleichen.«
»Dann mach dein verdammtes Licht aus, wenn Verdunkelung ist!«
»Ich mach dir dein verdammtes Licht aus, du dreckiger Muslim!«, sagte der Serbe, worauf es noch mehr Geschrei und Gezeter gab.
Mein Vater öffnete unser Fenster und streckte den Kopf raus. »Ihr seid alle beide Tiere!«, rief er. »Wir versuchen hier, ein bisschen zu schlafen.« Von dem Krach wurde auch Rahela wach und fing wieder zu weinen an. Meine Mutter schaute meinen Vater böse an und ging ins Schlafzimmer, um meine Schwester aus ihrem Bettchen zu holen. Mein Vater zog seine Arbeitsstiefel an und lief nach unten, um zu verhindern, dass der Streit außer Kontrolle geriet. Alle Polizisten waren mittlerweile zum Militär eingezogen worden, und so war niemand mehr da, der für Ordnung sorgen konnte.
»Musst du eigentlich irgendwann auch zur Armee?«, fragte ich meinen Vater.
»Ich bin kein Polizist«, antwortete er.
»Stjepans Vater ist auch keiner, und er ist eingezogen worden.«
Mein Vater seufzte und rieb sich die Stirn. »Na los, ich bring dich ins Bett.« Er hob mich mit einer schwungvollen Armbewegung hoch und ließ mich auf die Couch fallen.
»Ehrlich gesagt ist es mir peinlich. Aber die nehmen mich nicht bei der Armee. Wegen meines Auges.«
Mein Vater hatte ein krankes Auge und konnte Nähe und Ferne nicht unterscheiden. Selbst beim Autofahren musste er manchmal das schlimme Auge schließen und das andere zukneifen, um die Entfernung von anderen Autos zu schätzen; ansonsten hoffte er auf das Beste. Er hatte gelernt, sich so durchs Leben zu schlagen, und gab gern damit an, dass er noch nie einen Unfall gehabt hatte. Doch die Polizei-die-zur-Armee-wurde war schwerer davon zu überzeugen, dass die Hoffnung auf das Beste eine effektive Methode war, besonders, wenn Handgranaten im Spiel waren.
»Wenigstens vorläufig. Wenn es bei den Truppen knapp wird, könnte ich vielleicht als Funker oder Mechaniker tätig sein. Allerdings nicht als richtiger Soldat.«
»Das ist doch nicht peinlich«, sagte ich. »Du kannst nichts dafür.«
»Aber besser wäre doch, wenn ich auch meinen Beitrag zur Verteidigung des Landes leisten könnte, oder?«
»Ich bin froh, dass du nicht gehst.«
Mein Vater beugte sich herab und küsste mich auf die Stirn. »Na ja, jedenfalls würde ich dich vermissen, bestimmt.« Die Lampen flackerten, gingen dann aus. »Na gut, na gut, sie geht ja schon ins Bett!«, rief er, an die Zimmerdecke gerichtet, und ich kicherte. Er ging in die Küche, und ich hörte ihn rumpeln, während er nach Streichhölzern suchte.
»In der Schublade neben der Spüle«, rief ich. Ich legte den Lichtschalter um, für den Fall, dass mitten in der Nacht der Strom zurückkam, und zwang mich zu schlafen. In der Wohnung wurde es still.
Als Begleiterscheinung der modernen Kriegsführung hatten wir das besondere Privileg, uns die Zerstörung unseres Landes im Fernsehen anschauen zu können. Es gab zwei Programme, und bei all den Grabenkämpfen und Panzergefechten überall in den östlichen Regionen und angesichts der Tatsache, dass die Truppen der JNA nur hundert Kilometer vor Zagreb standen, waren beide Sender voll und ganz mit allgemeinen Ankündigungen, Nachrichten oder auch mit politischer Satire beschäftigt – einem Genre, das aufzublühen begann, seit die Geheimpolizei keine Rolle mehr spielte. Die Angst, irgendwann ohne Fernsehen, ohne Radio, ohne die neuesten Nachrichten von unseren Freunden dazustehen und nichts zu wissen, nagte in uns, und so lief bei all unseren Mahlzeiten das Fernsehen im Hintergrund. Deshalb stand noch lange, nachdem der Krieg vorüber war, das Fernsehgerät in einem kroatischen Haushalt in der Küche und nicht im Wohnzimmer.
Meine Mutter unterrichtete Englisch an der technischen Oberschule, und wir kamen etwa zur gleichen Uhrzeit von unseren jeweiligen Schulen nach Hause, ich dreckverkrustet und sie todmüde und mit Rahela im Schlepptau, die die Schultage bei der alten Frau auf der anderen Seite des Flurs verbrachte. Dann schalteten wir die Nachrichten ein, und meine Mutter reichte Rahela an mich weiter, während sie den Kochlöffel schwang, um mal wieder aus Wasser und Karotten und ein paar übrig gebliebenen Hühnerknochen eine Mahlzeit zu zaubern. Ich saß mit Rahela auf dem Schoß am Küchentisch und erzählte den beiden, was ich an dem Tag gelernt hatte. Was die Schule anging, kannten meine Eltern kein Pardon – meine Mutter, weil sie auf die Uni gegangen war, und mein Vater, weil er nicht auf die Uni gegangen war. Meine Mutter fragte immer wieder dazwischen, wenn ich vom kleinen und großen Einmaleins erzählte oder Wörter buchstabierte, oder sie stellte mir Quizfragen, für deren Beantwortung sie mich manchmal mit einem Stück trockenem Kuchen belohnte, den sie in dem Schränkchen unter der Spüle aufbewahrte.
Eines Nachmittags erregte ein besonders langer Nachrichtenblock im Fernsehen meine Aufmerksamkeit, und ich unterbrach den Bericht über meine schulischen Erlebnisse und drehte den Ton lauter. Der Reporter drückte seinen Kopfhörer fest auf die Ohren und verkündete, es gebe neue Entwicklungen und ungeschnittenes Filmmaterial von der Südfront in Šibenik. Meine Mutter entfernte sich hastig vom Herd und trat hinter mich, um zuzuschauen.
Ein aufgeregter Kameramann sprang auf einen Felsvorsprung, um einen besseren Blick auf ein serbisches Flugzeug zu bekommen, das spiralförmig in Richtung Meer abtrudelte. Sein Motor stand in Flammen und verschwamm vor den leuchtenden Orangetönen eines Sonnenuntergangs Ende September. Dann ging rechts ein zweites Flugzeug in Flammen auf. Der Kameramann schwenkte herum und zeigte einen Soldaten der kroatischen Flugabwehr, der ungläubig auf das zeigte, was er angerichtet hatte, und rief: »Oba dva! Oba su pala!« – »Beide! Beide sind abgestürzt!«
Das Bildmaterial zu Oba su pala wurde auf beiden Kanälen gezeigt, für den Rest des Tages und immer wieder bis zum Ende des Krieges. Oba su pala wurde zum Schlachtruf, und wann immer er im Fernsehen ertönte, ihn jemand auf der Straße schrie oder zu dem Serben oben im Haus hinaufgrölte, wurden wir daran erinnert, dass wir zwar zahlenmäßig und waffenmäßig unterlegen waren, aber trotzdem siegen würden.
Als ich es, zusammen mit meiner Mutter, zum ersten Mal sah, klopfte sie mir auf die Schulter, weil diese Männer Kroatien verteidigten und die Kämpfe nicht gefährlich aussahen. Sie lächelte, die Suppe dampfte, und sogar Rahela weinte zur Abwechslung mal nicht, und so gab ich mich der Illusion hin, die ich bereits als solche erkannte, als sie mir in den Sinn kam: dass ich dort in der Wohnung, bei meiner Familie, in Sicherheit sei.