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Über das Buch

Europa wurde in der Antike vom Meer her erschlossen. Die heutige europäische Zivilisation entwickelte sich jedoch in der Neuzeit, in einem ständigen Dialog mit den außereuropäischen Welten, die von Seefahrern, Entdeckern und Kaufleuten in den europäischen Horizont einbezogen wurden. Das Meer verband Europa und Außereuropa miteinander: Schiffe brachten europäische Güter und europäisches Wissen in die Welt und Informationen aus der Welt nach Europa. Das neue Weltwissen wurde hier verarbeitet und sorgte so dafür, dass eine völlig neue Wissenskultur entstand.

Auch unser Wohlstand ist fest an die Freiheit der Meere geknüpft. Nachdem der Mensch lange allzu sorglos mit dem Meer als Ökosystem umgegangen ist, beginnen wir jetzt zu begreifen, dass unser aller Zukunft vom Meer abhängt.

Über den Autor

JÜRGEN ELVERT, geboren 1955, lehrt als Universitätsprofessor Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind die Europäische Geschichte und die Geschichte der Europäischen Integration. Mehrere seiner Bücher gelten als Standardwerke. Für sein Projekt »European History in Global Context«, in dem er die europäische Geschichte als Teil einer globalen maritimen Kulturgeschichte sieht, wurde ihm 2013 von der Europäischen Kommission der Ehrentitel eines Jean-Monnet-Professors für Europäische Geschichte verliehen.

JÜRGEN ELVERT

EUROPA

DAS MEER

UND

DIE WELT

EINE MARITIME GESCHICHTE DER NEUZEIT

Deutsche Verlags-Anstalt

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1. Auflage
Copyright © 2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ditta Ahmadi, Berlin
Satz und Karten: Peter Palm, Berlin
Gesetzt aus der Adobe Jensen Pro
Bildbearbeitung: Aigner, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagmotiv vorne: © Port Scene in Venice, Jan Brueghel the Elder (1568–1625)/Worcester Art Museum, Massachusetts, USA/Bridgeman Images – hinten: »A View of Cape Stephens in Cook’s Straits with Waterspout« von William Hodges/Bridgeman Images
ISBN 978-3-641-15970-2
V002

www.dva.de

INHALT

PROLOG

1 – AUFBRUCH

Hinter dem Horizont geht es weiter: das geographische Wissen im 15. Jahrhundert

Ein Fischerboot macht Karriere: Schiffbau und Schiffe der frühen Entdecker

Kompass, Karten, Koppelnavigation

Wissen und Wirtschaft – Portugal um 1500

Das portugiesische Überseeimperium als Handels- und Kommunikationsraum

Der Kolumbus-Plan

Zwei Welten treffen aufeinander

2 – VERFLECHTUNGEN

Menschen, Meer und Land

Ein neues Weltbild entsteht

Die Erschließung der nordamerikanischen Ostküste

In a fit of absence of mind? Überseeische Aktivitäten und Akteure im England des 16. Jahrhunderts

Begegnungen

Zeitzeugen

Die Menschen und das Recht

3 – WISSEN, WIRTSCHAFT UND WERTE IM WETTBEWERB

Weltwissen um 1600

Die wunderbare Welt des Ostens

Eine Weltwirtschaft entsteht

Die Häfen

Der Silberhandel

Handelsbeziehungen mit Südostasien

Die Niederländische Ostindien-Kompanie als Beispiel einer erfolgreichen Handelsgesellschaft

Akteure

Von der Freiheit der Meere

4 – MERKANTILISTEN, MISSIONARE UND FORSCHER

Brandenburgisches Intermezzo

Kaperfahrer und Piraten

Die Kompanien und der Sklavenhandel

Europa verändert die Welt

Missionare und Entdecker erweitern die Perspektive

5 – HANDEL, WANDEL, MACHT UND ERKENNTNIS

Ein geschichtlicher Mikrokosmos: die Godeffroys aus Hamburg

Der europäische Überseehandel im 19. Jahrhundert

Neue Herausforderungen: Migration und Tourismus

Meer und Macht

Die Erforschung der Meere

EPILOG

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Erläuterungen zu den Karten

Landkarte Atlantischer Raum

Landkarte Pazifischer Raum

PROLOG

Die Geschichte der europäischen Expansion, des Kolonialismus und des Imperialismus erschließt sich erst dann, wenn sie als ein europäisches Phänomen verstanden wird. Die nationale Perspektive verstellt den Blick auf die innereuropäischen Wechselwirkungen, auf die gesamteuropäische Dimension des Kolonialismus und somit letztlich auch auf dessen globale Dimension. Globalgeschichtliche Themen haben in den letzten Jahren in den Geschichts- und Kulturwissenschaften eine deutliche Aufwertung erfahren, eine Vielzahl neuer Perspektiven und Forschungsansätze wurde erprobt. Mittels disziplinenübergreifender Fragestellungen wird zunehmend versucht, ein mehr ganzheitliches Bild unserer Vergangenheit zu zeichnen, als dies bisher innerhalb der jeweils eigenen Disziplin möglich war. Analog dazu wird innerhalb der Geschichtswissenschaften der Suche nach inter- und transnationalen Zusammenhängen, nach Erklärungsansätzen für menschliches Verhalten und Handeln und nach dem Einfluss von Raum und Zeit für unsere Gegenwart wachsende Bedeutung beigemessen. Lange galt ja insbesondere diese Wissenschaft als eine Art »Legitimationswissenschaft« des Nationalstaats. Eine Erklärung hierfür ist wohl in der Entwicklungsgeschichte des Fachs selbst zu finden.

Die geschichtswissenschaftliche Methodik wurde gewissermaßen parallel zum modernen Nationalstaat europäischer Prägung erarbeitet; über Jahrhunderte diente die Nation der Historiographie als Hauptreferenzrahmen, die ihrerseits den Nationalstaat historisch legitimierte. Demzufolge ließe sich das Konzept Benedict Andersons1 von den »Nationen als gedachten Gemeinschaften« (imagined communities) durchaus zu »Nationen als gedachten und historisch legitimierten Gemeinschaften« erweitern, zumal die historische Legitimation von Nationen ungeachtet aller gegenläufigen Tendenzen auch heute noch tagtäglich stattfindet. Ich denke hier beispielsweise an Formen der Geschichtsvermittlung in Ausstellungen und Museen. Nationalmuseen müssen sich schon ex officio mit der Vergangenheit der jeweils eigenen Nation befassen, schließlich liegt ihr Auftrag in der Bewahrung, Pflege und Präsentation des kulturellen Gedächtnisses von Nationen. Damit jedoch prägen sie das Geschichtsbewusstsein ihrer Besucherinnen und Besucher, die von den Ausstellungen mehrheitlich wohl erwarten, dass sie ihr jeweiliges Vorwissen um die Besonderheiten der nationalen Geschichten bestärken und erweitern. Dieser Aufgabe gerecht zu werden und zugleich die präsentierte nationale Geschichte in einen trans- oder internationalen Kontext einzubetten und zu zeigen, dass Nationen keineswegs isoliert handelnde Entitäten sind, sondern ihre Geschichte vor dem Hintergrund ihrer Einbettung in den internationalen Kontext betrachtet werden sollte, stellt eine schwierige Gratwanderung dar. Historische Phänomene werden für gewöhnlich noch immer als nationale Meistererzählungen präsentiert und tragen so zu einer weiteren Verfestigung eines primär am Nationalstaat ausgerichteten Geschichtsbewusstseins bei. Mangels alternativer Blickwinkel verlangt eine historisch interessierte Öffentlichkeit daher nach weiteren Narrativen aus der nationalen Perspektive, was wiederum zur Verfestigung des in erster Linie nationalstaatlich orientierten Geschichtsbewusstseins beiträgt. Die Rolle des Nationalstaats als primärer gesellschaftlicher Referenzrahmen bleibt damit weiterhin unangetastet, obwohl in Zeiten allgemeiner Globalisierung dessen Öffnung für internationale Zusammenhänge dringend notwendig wäre.

Mit diesem Buch soll zur Weitung des nationalen Bezugsrahmens beigetragen werden. Entstanden ist es im Zuge der langjährigen Beschäftigung mit verschiedenen Aspekten nationaler und europäischer Geschichten. Dabei verfestigte sich die Erkenntnis, dass hinter jedem Narrativ neue, noch umfangreichere und viel weiter zurückreichende Erzählungen stehen, deren Inhalte wiederum vom Blickwinkel, unter dem sie betrachtet werden, abhängig sind. Diese Blickwinkel bestimmen die Prämissen, die diesem Buch zugrunde liegen:

– Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten kann nur vor dem Hintergrund ihrer internationalen Verflechtungen angemessen und verständlich dargestellt werden. Jede Form nationaler Geschichtsschreibung sollte somit immer auch ein Stück weit europäische beziehungsweise Globalgeschichte sein.

– In der Moderne – in etwa seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert – wurden die Geschichten der europäischen Staaten wie die Geschichte des europäischen Kontinents insgesamt entscheidend durch ihre globalen Verflechtungen geprägt.

– Die globale Dimension der modernen europäischen Geschichte ist die Geschichte des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, sie muss aber genauso jene Rückwirkungen erfassen, die von den Begegnungen der Europäer mit »anderen« ausgingen.

– Die ersten Begegnungen mit »anderen« waren mangels besseren Wissens auf Seiten der Europäer noch von Unverständnis geprägt. Die ersten Urteile über »andere« wurden gewöhnlich auf der Grundlage des in Europa verfügbaren Wissens gefällt und gingen zumeist mit einer Abwertung des »anderen« einher. Diese buchstäblichen Vor-Urteile sind daher eher als Gradmesser europäischer Wissensdefizite zu verstehen denn als sachgerechte Urteile über Angehörige anderer Zivilisationen. Das gilt gleichermaßen für die »anderen«. So erschienen den Chinesen jahrhundertelang alle Zivilisationen jenseits des eigenen Herrschaftsbereichs als »barbarisch«.

– Diese Defizite im Urteilen wurden schon von Zeitgenossen erkannt, die Methoden entwickelten, um das »andere« beziehungsweise die »anderen« besser verstehen zu können. Die Entwicklung der europäischen Wissenschaftslandschaft und damit letztlich auch der europäischen Zivilisation der Moderne insgesamt ist daher stark beeinflusst – wenn nicht geprägt – von dem Wunsch, ja der Notwendigkeit, die zahlreichen neuen, infolge der Begegnungen mit dem nichteuropäischen »anderen« nach Europa gelangten Informationen zu verstehen. Dies betrifft die Ausdifferenzierungen der Wissenschaften in Europa ebenso wie die Aufnahme bestimmter nichteuropäischer Stilelemente in die neuzeitliche europäische Malerei und Architektur.

– Begegnungen mit »anderen« wurden ermöglicht und konnten nur gepflegt werden, weil es in Europa genügend Expertise im Hinblick auf Seefahrt und Schiffbau gab. Dieses maritime Fachwissen ist wiederum das Ergebnis eines weit in die europäische Antike zurückreichenden Entwicklungsprozesses. In dessen Verlauf entdeckten und vermaßen Seefahrer und Kaufleute die meisten europäischen Küstenlinien und -regionen. Durch gezielte Beobachtung natürlicher Verhältnisse oder durch Nutzung von eigens zu diesem Zweck entwickelten Instrumenten lernten sie, sich in unbekannten Gewässern zurechtzufinden und zu bewegen. Überdies entwickelten sie neue Techniken zum Bau von Schiffen, die so groß und stabil waren, dass sie den Herausforderungen von langen Überseereisen standhalten konnten.

– Im 15. Jahrhundert verfügten die Europäer schließlich über das notwendige geographische und navigatorische Wissen, um die Meere zu erkunden, und es waren vor allem die technischen Voraussetzungen für überseeische Entdeckungsfahrten gegeben. Diese Unternehmungen unterschieden sich von den vorangegangenen, eher zufälligen Kontakten einzelner Europäer mit nichteuropäischen Zivilisationen in aller Regel dadurch, dass ihnen ein – wenngleich wenig ausgefeilter – Plan zugrunde lag, der die Erlangung ökonomischer Vorteile, die Erweiterung jeweils eigener politischer Einflusssphären und schließlich auch die Fortsetzung des Kampfes gegen den Islam vorsah.

– Infolgedessen überzogen die Europäer die Welt mit einem dichten Netz von maritimen Handels- und Verkehrswegen zum Transport von Menschen, Gütern und Informationen. Über dieses Netz wurden europäische rechtliche Normen und moralische Werte in alle Teile der Welt transferiert, was die weitere Entwicklung der davon betroffenen Regionen nachhaltig bis in die Gegenwart beeinflusste. So wurden Eroberungen in Übersee üblicherweise nach europäischem Vorbild gestaltet. Das betraf nicht nur die räumliche Ordnung der unterworfenen oder neu gegründeten Siedlungen und Städte, sondern bezog sich auch auf das geltende Recht und die christlich geprägten moralischen Maßstäbe, im Guten wie im Bösen.

– Umgekehrt wurden – ebenfalls über das Meer – Informationen, Güter und Menschen aus Übersee nach Europa oder in andere Teile der Welt verbracht. So sorgte der Import von Nutzpflanzen nicht nur für eine Veränderung der Ernährungs- und Konsumgewohnheiten in Europa, sondern auch für eine nachhaltig veränderte europäische Kulturlandschaft insgesamt. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die verschiedenen Formen des Orientalismus als Modeerscheinung, an die Entwicklung der europäischen Tee- und Kaffeehauskultur oder an die mit dem Tabakkonsum verbundenen kulturgeschichtlichen Folgen, von der Einführung entsprechender Salons über die Erfindung der »Zigarettenlänge« als neuer Zeiteinheit bis hin zur Verbannung der Zigarette aus dem öffentlichen Raum.

– In diesem globalen Netzwerk bildeten und bilden Hafenstädte die Knotenpunkte. Sie waren und sind nicht nur Umschlagplätze von Menschen und Gütern, sondern auch Zentren maritimen Wissens über Schiffbau und Seefahrt und die damit verbundenen Voraussetzungen und Folgen. Hafenstädte waren die Orte, in denen Informationen aus dem Hinterland gesammelt wurden, wo man sie diskutierte, gegebenenfalls modifizierte oder sogar transformierte, bevor sie dann in alle Teile der Welt verbreitet wurden. Umgekehrt trafen Informationen aus Übersee zunächst in den europäischen Hafenstädten ein, wo sie ausgewertet wurden und schon erste Wirkung entfalteten konnten, bevor sie ins Hinterland gelangten. Auch wenn die Bedeutung der Hafenstädte als Schnittpunkte globaler Kommunikationslinien durch die Einführung moderner Kommunikationstechniken wie Telefon, Fax und Internet zurückgegangen ist, treffen Import- und Exportgüter doch weiterhin hier aufeinander. Die typische hafenstädtische Infra- und Sozialstruktur, die sich mit der europäischen Moderne herausgebildet hat, bietet nach wie vor den am besten geeigneten Rahmen für den Umschlag von Gütern, und so profitieren diese Orte noch immer von ihrer Rolle als Knotenpunkt. Hafenstädte müssen weltoffen angelegt sein. Diese Weltoffenheit spiegelt sich im Verhalten der hafenstädtischen Bevölkerung, deren Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen und dieses in vorhandene Strukturen, Denk- und Verhaltensmuster zu integrieren, in der Regel ausgeprägter ist als im Hinterland. Nicht von ungefähr haben sich in der Geschichte vor allem Hafenstädte immer wieder als Keimzellen intellektueller und kultureller Avantgarden erwiesen.

– In diesem Buch wird, soweit möglich, dem Handeln einzelner Akteure besondere Aufmerksamkeit geschenkt, denn sie waren es, die mit den intendierten wie nicht intendierten Folgen ihres Tuns den Verlauf der europäischen und globalen Geschichte bestimmten. Sicher handelten sie in ihrem zeitlichen und sozialen Kontext und standen somit unter dem Einfluss des zu ihrer Zeit und an ihrem Ort geltenden Normen- und Wertekanons. Dieser war aber letztlich das Ergebnis älterer Diskurse, und genauso wie diese sollte nun ihr Denken und Handeln spätere Wert- und Normensysteme prägen. Die Fokussierung auf menschliches Handeln ist darüber hinaus geeignet, den Verlauf der europäischen Geschichte wie der Weltgeschichte der Moderne nicht als vorgezeichneten oder gar pfadabhängigen Prozess zu betrachten, sondern als von Zufälligkeiten geprägt. Akteure können Individuen sein, ebenso aber auch Gruppen von Individuen, die sich zur Verfolgung gemeinschaftlicher Interessen zusammengeschlossen oder einen institutionellen Rahmen gegeben haben.

– Menschen und ihr Handeln formten die europäische Zivilisation, wie wir sie heute kennen. Ebenso nachhaltig beeinflussten sie den Verlauf der Weltgeschichte, jedoch nicht im Sinne einer »Europäisierung« der Welt, sondern als Akteure in einem jahrhundertelangen und zumeist über das Meer geführten Austauschprozess. Dieser erscheint als eine Art Dialog zwischen Europa und der Welt, durch den die Gestalt der Welt ebenso geformt und geprägt wurde wie die Europas und der auf diese Weise Europa und die Welt in ein neues Verhältnis zueinander stellte, ja einander näherbrachte. Die moderne Schifffahrt machte es möglich, die getrennten Erdteile über das Meer zu vernetzen und das Schicksal der auf ihnen lebenden Menschen miteinander zu verknüpfen. Dieser Globalisierungsprozess lässt nicht nur die europäische Zivilisation, sondern alle daran beteiligten Zivilisationen auf der Erde zu maritimen Zivilisationen werden. Heute scheint diese Erkenntnis anderswo auf der Welt deutlicher präsent zu sein als in Europa.

Diese zwölf Prämissen bestimmen in unterschiedlicher Gewichtung und Reihung die Blickwinkel und Fragestellungen der Kapitel dieses Buches. Anhand ausgewählter Beispiele sollen die verschiedenen Stufen des europäischen Vordringens nach Übersee herausgearbeitet werden. Dabei wird das Handeln von Akteuren in den Blick genommen, die als typisch für die einzelnen Stufen der von Europa ausgehenden Erschließung der Welt sowie der damit verbundenen weltweiten Wirkungen und ebenso der Rückwirkungen auf Europa betrachtet werden können. Diese Akteure dienen gewissermaßen als Projektionsfläche des in ihren Herkunftsländern beziehungsweise in bestimmten Teilen Europas herrschenden Zeitgeistes. Ihre handlungsleitenden Motive werden ebenso offengelegt wie ihre Intentionen und die nicht intendierten Folgen ihres Handelns.

Ein weiterer Aspekt der Betrachtung ist die europäische Dimension der einzelnen Expansionsschritte. In diesem Zusammenhang wird der Frage nachzugehen sein, ob und wie sich andere europäische Nationen und Akteure oder Akteursgruppen aus diesen Nationen in der einen oder anderen Form an den überseeischen Aktivitäten anderer europäischer Nationen beteiligten. Hierbei werden die Folgen sowohl der einzelnen Expansionsschritte für die betroffenen überseeischen Regionen als auch für die darin involvierten europäischen Nationen betrachtet.

Die Verbindung zwischen Europa und Außereuropa war das Meer. Um den Nachweis zu erbringen, inwieweit dieser Veränderungsprozess vom Meer und von allem, was mit dem Meer zusammenhängt, beeinflusst wurde, ist daher die Bedeutung des Maritimen in den einzelnen Kapiteln der europäischen Expansionsschritte herauszuarbeiten.

Das Meer ist der rote Faden in diesem Buch, denn über das Meer veränderten die Europäer die Welt. Diese wiederum veränderte daraufhin – ebenso über das Meer – die Europäer. Die Hafenstädte, in denen die Wechselwirkungen zwischen Europa und der Welt zuerst, unmittelbar und ungefiltert ihre ganze Dynamik entfalten konnten, waren gewissermaßen Laboratorien der europäischen Moderne, weil in ihnen – bildlich gesprochen – großangelegte Experimente stattfanden, welche die Entwicklung auch der Gesellschaften im Hinterland des Kontinents stark und nachhaltig beeinflussten.

Die Säulen des Herakles, Gedenkmünze der Niederländischen Ostindien-Kompanie, 1702

Das Bild des Schiffes, das die Säulen des Herakles passiert und sich hinausbegibt in die unbekannte Welt jenseits der Grenzen Europas, war im Zeitalter der Entdeckungen ein beliebtes Motiv.

1
AUFBRUCH

Hinter dem Horizont geht es weiter: das geographische Wissen im 15. Jahrhundert

Zu den Grundvoraussetzungen für den Aufbruch in die Welt – und erst recht für eine erfolgreiche Rückkehr nach Europa – gehörten hinreichende geographische Kenntnisse und hochseetaugliche Schiffe. Darüber hinaus bedurfte es fundierter Kenntnisse in Küsten- und Hochseenavigation, um solche Fahrten ins Unbekannte zu bestehen. Insofern wird in diesem Kapitel zunächst der Kenntnisstand der Zeitgenossen um 1500 im Hinblick auf Geographie, Schiffbau und Navigation überprüft, bevor die portugiesischen und spanischen überseeischen Unternehmungen und die damit verbundenen Folgen für Europa und die Welt in den Blick genommen werden.

Am Ende des 17. Jahrhunderts wussten europäische Händler, Schiffseigner und Kapitäne recht genau, wohin sie segeln mussten, um die immer noch risikoreiche Fahrt nach Südostasien, zu den Gewürzinseln im Malaiischen Archipel, Richtung Afrika oder über den Atlantik gen Amerika mit einem signifikanten Gewinn abschließen zu können. Nur zweieinhalb Jahrhunderte zuvor wären solche Fahrten unmöglich gewesen, denn es gab noch keine Schiffe, mit denen Fahrten auf hoher See vergleichsweise gefahrlos unternommen werden konnten, und auch die navigatorischen Kenntnisse der Zeit reichten nicht aus, um jene Handelsplätze in Übersee anzulaufen, wo in Europa so begehrte Waren wie Seide und Gewürze erworben werden konnten. Nicht wenige glaubten noch, dass »südlich des Kaps Bojador« das Mar Tenebroso liege, ein »Meer der Finsternis«, auf dem Seefahrt unmöglich sei, da es aus rotem Schlamm bestehe und voller Ungeheuer sei, die glühende Sonne dort alle Menschen schwarz färbe, ein Magnetberg alles Eisen aus den Schiffen ziehe und riesige Strudel Schiffe und Menschen in die Tiefe rissen. Dass es sich bei diesem sagenhaften Kap tatsächlich um das geographisch auf 26° 07´ Nord liegende Kap Bojador gehandelt hat, ist in der Forschung allerdings umstritten. So führt beispielsweise Peter Russell den Hinweis auf die Umsegelung vom Kap Bojador, so wie er im Bericht des zeitgenössischen Chronisten Gomes Eanes de Zurara nachzulesen ist, auf einen Irrtum mittelalterlicher Kartographen zurück und vermutet, dass es sich bei diesem Bericht eigentlich um die Umsegelung des auf 24° 57´ Nord gelegenen Kap Juby handelt. Russell stützt seine Aussage auf zeitgenössische Reiseberichte, die das Kap gegenüber der Insel Fuerteventura verorten oder konstatieren, dass es zwölf Leguas von der Insel Lanzarote entfernt liege. Solche und ähnliche Berichte sowie die schwierigen Strömungsverhältnisse am Kap Juby lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass es sich in dem Bericht des Gomes Eanes de Zurara tatsächlich um dieses Kap gehandelt hat.1

Besser Informierte dürften schon damals Geschichten von Meeren aus rotem Schlamm eher für eine Art psychologische Abschreckungsmaßnahme interessierter Kreise denn als sachlich fundierte geographische Beschreibung verstanden haben. Schließlich gab es in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts bereits genügend Reise- und Erfahrungsberichte, die ernsthafte Zweifel an solchen Geschichten weckten.2 Prinz Heinrich glaubte sie offensichtlich nicht, sonst wäre er wohl kaum jener engagierte Förderer der portugiesischen Seefahrt geworden, aus dem spätere Generationen von Historikern die »Kunstfigur« Heinrich der Seefahrer formten und damit einen Mythos schufen, der im 19. Jahrhundert zum Kristallisationspunkt der portugiesischen Nationalidentität werden sollte. Den Höhe- und gewissermaßen Endpunkt dieser Geschichtskonstruktion bildet das anlässlich des 500. Todestages Heinrichs auf Veranlassung des Salazar-Regimes im Jahr 1960 errichte monumentale Padrão dos Descobrimentos, das Denkmal der Entdeckungen im Lissabonner Stadtteil Belém am Ufer des Tejo. Es soll den portugiesischen Beitrag zur Entdeckung der Welt würdigen und stellt insgesamt 32 Persönlichkeiten des 15. und 16. Jahrhunderts dar, die sich in der Tat auf unterschiedliche Weise um die Errichtung des portugiesischen Überseeimperiums verdient gemacht haben. Angeführt wird die Kohorte der Entdecker von Heinrich »dem Seefahrer«, der mit einer Karavelle in der Hand gen Südsüdost auf den Tejo blickt. In Verlängerung dieser Sichtachse liegt das Kap der Guten Hoffnung, das der ebenfalls mit dem Denkmal gewürdigte Bartolomeu Diaz 1488 als erster Europäer umrundet und sogleich »Kap der Stürme« getauft hatte. Ob es der portugiesische König Johann war, der aus dem »Kap der Stürme« das »Kap der Guten Hoffnung« machte, als der Seeweg nach Indien offen war, oder ob Diaz selbst die heutige Bezeichnung im Nachhinein geprägt hat, ist unter Historikern umstritten und wird es wohl auch bleiben. Festzuhalten ist allerdings, dass Diaz seine Reise ohne die Vorkenntnisse, die auf Betreiben Heinrichs erworben worden waren, wohl kaum hätte unternehmen können.

Es interessiert an dieser Stelle weniger die Kunstfigur »Heinrich der Seefahrer«, auf die im weiteren Verlauf des Buches noch eingegangen wird. Am Beispiel Prinz Heinrichs von Portugal lässt sich aber vorzüglich herausarbeiten, was europäische Fürsten im 15. Jahrhundert veranlasste, maritime Expeditionen in noch unbekannte Gewässer zu fordern und zu fördern. Unter Umständen eignet sich diese Figur auch dazu, die Revisionsbedürftigkeit der im kollektiven Gedächtnis fest verankerten und irgendwo am Ende des 15. Jahrhunderts verlaufenden Trennlinie zwischen Mittelalter und Neuzeit zu verdeutlichen, wenngleich Peter Russell, einer der besten Kenner Heinrichs, diesen in seiner im Jahr 2000 erschienenen Biographie noch als einen typischen Vertreter des Hochmittelalters charakterisiert hat.3 Mit wachsendem Abstand zum bisher als Übergang vom Hochmittelalter zur Neuzeit wahrgenommenen Wechsel vom 15. zum 16. Jahrhundert und unter Berücksichtigung des Forschungsstandes verwischen sich die Konturen dieser Epochenscheide zunehmend. Heute erscheint gerade das 15. Jahrhundert als ein Zeitraum, der – nach einer längeren Stagnationsphase – von einer bemerkenswerten Dynamik gekennzeichnet war. Diese entfaltete sich im gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Raum und schuf letztlich die Rahmenbedingungen für unsere heutige Welt. In diesem Zusammenhang ist auf die Welle der Stadtgründungen im 12. und 13. Jahrhundert zu verweisen, ebenso auf die Migrationsbewegungen in Mittel- und Westeuropa, die Erfolge der Rekonquista auf der Iberischen Halbinsel im 13. Jahrhundert sowie auf veränderte Anbautechniken und -methoden in der Landwirtschaft. Diese ließen die Nahrungsmittelproduktion steigen und in deren Folge das Bevölkerungswachstum, das erst mit der großen Pest in Europa Mitte des 14. Jahrhunderts für einige Zeit wieder zum Stillstand kam. Es spricht einiges dafür, dass diese Entwicklung durch günstige klimatische Bedingen zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert (der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit) befördert wurde, da sich die europäische Bevölkerung im selben Zeitraum etwa verdreifachte. Die im 15. Jahrhundert einsetzende und bis ins 19. Jahrhundert andauernde »kleine Eiszeit« führte hingegen wieder zu einer deutlichen Verschlechterung der landwirtschaftlichen Anbaubedingungen und damit zu einer spürbar problematischeren Versorgungslage in Europa.

Die vergleichsweise günstigen europäischen Umwelt- und Lebensbedingungen zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert hatten zweifellos einen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Gesellschaft. Die zumindest punktuelle Bevölkerungsverdichtung in den neu gegründeten Städten ging einher mit der Bündelung und Erweiterung des zeitgenössischen Wissens – man denke an die Entstehung der ersten Universitäten –, das durch die Migrationsbewegungen in viele Teile des Kontinents transferiert wurde und vor Ort Anwendung fand. Bevölkerungswachstum und Verstädterung wiederum stärkten die Nachfrage nach Handelsgütern und ließen zahlreiche Fernhandelsverbindungen entstehen. Besonders der Handel über das Meer erfuhr zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert eine signifikante Zunahme. In diesen Zusammenhang gehört die vornehmlich in Mittel- und Nordosteuropa tätige Hanse, die zugleich intensive Wirtschaftsbeziehungen zum Mittelmeerraum pflegte. Während der langen Wachstumsperiode in Europa bestand daher zunächst keine Notwendigkeit zur Erschließung neuer Gebiete außerhalb Europas. Dies änderte sich im 15. Jahrhundert unter dem Eindruck einer spürbaren Verschlechterung der Lebensbedingungen. Nun sollten sich die Kompetenzen, die in den Jahrhunderten zuvor erworben worden waren, als hilfreich erweisen. Sie bildeten die Voraussetzung für das Erschließen neuer überseeischer Räume.

Die europäischen Küstengewässer von der Ostsee bis zum Mittelmeer waren schon bestens bekannt, die Kenntnisse in Nautik und Schiffbau hatten sich deutlich verbessert, und es lagen bereits vereinzelte Berichte von Seereisenden vor, die von Fahrten ins Unbekannte und Ungewisse zurückgekehrt waren und von unermesslichen Reichtümern jenseits der Grenzen der bekannten Welt berichteten. Ihre Reiseberichte dürften die Zeitgenossen auch deshalb geglaubt haben, weil seit längerem über Fernhandelsrouten wie die Seidenstraße Luxusgüter auf dem Landweg nach Europa gelangten. Doch infolge des Dauerkonflikts zwischen Christentum und Islam wurde der Transport dieser wertvollen Waren über Land nach Europa immer schwieriger und damit die Suche nach schiffbaren Überseehandelsrouten immer intensiver. Solche ökonomischen Erwägungen gewannen noch an Attraktivität, wenn sie sich mit dem Kampf gegen den Islam verbinden ließen, schließlich versprach dieser neben dem Wohlwollen des Heiligen Stuhls in Rom die Aussicht, Aufnahme im Paradies zu finden.

Solche oder ähnliche Überlegungen dürften das Handeln des Prinzen Heinrich von Portugal geleitet haben. Zwar darf er wegen seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Verdienste um die frühe europäische Expansion in keinem einschlägigen Lehrbuch fehlen, doch im Grunde wissen wir über ihn vergleichsweise wenig. Seit über sechs Jahrhunderten haben Chronisten und Historiker versucht, seine Persönlichkeit zu fassen. Den einen galt er als der eigentliche Begründer der europäischen Expansion, als Held der Renaissance, Erfinder und begnadeter Wissenschaftler, als Idealtyp des Kreuzritters, als Botschafter des römisch-katholischen Glaubens, als Verkörperung des portugiesischen Wesens und als Symbol des portugiesischen Goldenen Zeitalters schlechthin. Andere sahen in ihm eher einen Piraten, Sklavenhalter, Heuchler oder schlicht einen Opportunisten.4 Für alle diese Wesensmerkmale lassen sich in der Tat Belege finden, doch sie zeigen nur, dass es sich bei Heinrich um eine vielschichtige Persönlichkeit handelt, die sich nicht problemlos in ein Gut-Böse-Raster zwängen lässt. Solcher Rubrizierung liegt gewöhnlich ohnehin ein Wertesystem zugrunde, das von späteren Generationen aufgestellt wurde und damit für eine Beurteilung der Lebensleistung eines Menschen aus seiner Zeit heraus problematisch ist. Nur wenn die Nutzung des Maßstabs »gut vs. böse« den Kriterien folgt, die in der jeweiligen Lebenszeit der zu beurteilenden Person Gültigkeit besaßen, ist ein angemessenes Urteil über deren moralische Integrität überhaupt möglich.

Peter Russell umgeht dieses Problem, indem er seinem Protagonisten »Janusköpfigkeit« bescheinigt. Heinrichs tief gespaltenes und obsessives Wesen sei einerseits gekennzeichnet von Praxisnähe, Rationalität und Skrupellosigkeit, andererseits habe er ritterliche Tugenden besessen, die allerdings immer auch mit einer Kreuzfahrerattitüde verbunden waren, was wiederum als Erklärung für die ihm verschiedentlich attestierte Rücksichtslosigkeit gegen Andersdenkende herangezogen werden kann. Grundsätzlich müsse man, so Russell, sorgfältig zwischen der Privatperson Heinrich und dem Staatsmann Heinrich unterscheiden,5 sofern das möglich ist, da die Quellenlage zu Heinrich – trotz mancher Anstrengungen insbesondere auch der portugiesischen Geschichtswissenschaft in den letzten fünf Dekaden – keinesfalls befriedigen kann. Immerhin scheint Forschungskonsens darüber zu bestehen, dass Heinrichs Lebensumstände und ebenso seine persönlichen wie politischen Ziele denen anderer Mitglieder des portugiesischen Adels seiner Zeit weitgehend entsprachen. Ihnen ging es vor allem darum, auf Kriegszügen gegen die »Ungläubigen« Ruhm und Ehre zu erwerben. Von seinen Gefolgsleuten habe sich Heinrich wohl nur dadurch unterschieden, dass er darin eine Art Lebenszweck sah und Kriegszüge ihm als Mittel zur Selbstverwirklichung dienten. Diesem Zweck habe er sein ganzes Handeln untergeordnet, unabhängig davon, ob es um die Mehrung seines Wohlstands, um wirtschaftliche Privilegien oder um die Erweiterung seiner politischen Machtbasis ging.6

Die Förderung der Seefahrt half Heinrich letztlich, seinen Lebenszweck zu erfüllen – mit nachhaltigen Folgen für die europäische und die Weltgeschichte. Er ging dabei durchaus planvoll vor. Um die Welt besser kennenlernen und verstehen zu können, suchte er neue Wege zu erkunden, über die sich wirtschaftliches Wachstum stimulieren und attraktive Gewinne erzielen ließen. Dazu galt es, Präsenz zu zeigen, um vergleichbare Ambitionen konkurrierender Mächte auszugleichen und Rechtsansprüche auf bislang unerkundetes Gebiet und die dort vermuteten Schätze geltend machen zu können. Darüber hinaus verfolgte Heinrich wohl das Ziel, christliche Werte und das christlich-abendländische Gesellschaftsmodell zu verbreiten und so Händlern, Kaufleuten und Siedlern den Boden zu bereiten in der Hoffnung, dass diese zum Gelingen seines Plans beitrugen.7 Seine entsprechenden Maßnahmen und die seiner Nachfolger lassen sich drei Phasen zuordnen. Die erste umfasst den Zeitraum von etwa 1415 bis 1443, mithin die ersten beiden Jahrzehnte belegbarer politischer und militärischer Aktivitäten des Prinzen, die 1415 mit dem Angriff auf und der Eroberung von Ceuta im Rahmen der Rekonquista durch einen portugiesischen Flottenverband unter der Führung Heinrichs begannen.8 In der Folgezeit ließ der Prinz die ersten Expeditionsschiffe ausrüsten, die zur Erkundung des Atlantiks in Richtung der Kanarischen Inseln und gen Süden entlang der afrikanischen Küste segelten. Dass damit der Entdeckung des Seegebiets zwischen dem portugiesischen Festland, den Kanaren, Madeira und den Azoren neue Impulse verliehen wurden, war durchaus beabsichtigt.

Es handelte sich hier um ein Seegebiet, über das im zweiten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts bereits gewisse geographische Kenntnisse vorlagen. Das ist durch Quellen belegbar, die sich allerdings kaum auf die wikingischen Vorstöße des 9. bis 11. Jahrhunderts beziehen, die Leif Eriksson und andere über Island und Grönland nach Neufundland geführt hatten. Dass man davon auf der Iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert noch wusste, darf bezweifelt werden. Bekannt gewesen sein dürften dagegen Berichte über Reisen, die europäische Seeleute seit dem 13. Jahrhundert tiefer in den atlantischen Raum geführt hatten. Auf einer dieser Fahrten, die 1291 von Genua aus unternommen worden war, wurden die seit römischer Zeit bekannten Kanarischen Inseln wiederentdeckt. Seit 1341 lassen sich dann regelmäßige Fahrten europäischer Schiffe in Richtung Kanaren belegen, 1404 wurde dort die erste europäische Siedlung auf Veranlassung des normannischen Adligen Jean de Béthencourt gegründet, der die Inseln im Auftrag des spanischen Königs Heinrich III. erobern sollte und dabei vor dem Einsatz militärischer Mittel gegen die Guanchen, die Ureinwohner der Kanaren, nicht zurückschreckte. Wie groß die Hoffnungen Prinz Heinrichs waren, aus solchen Fahrten nicht nur neue geographische Erkenntnisse, sondern auch direkten ökonomischen Nutzen zu ziehen, zeigt deren Finanzierung in den ersten beiden Jahrzehnten seiner politischen Tätigkeit. Die Kosten wurden entweder vom Christusorden getragen, dessen weltlicher Administrator Heinrich von 1420 an war, oder er finanzierte sie aus eigener Tasche vor. Eventuelle Gewinne wurden zu gleichen Teilen zwischen dem Schiffsführer und Heinrich beziehungsweise dem Orden geteilt. Ob diese Phase zu Recht als »Phase des Gemeinwohls« bezeichnet werden kann,9 wie gelegentlich zu lesen ist, erscheint angesichts der bei Heinrich vermuteten Leitmotive fraglich. Dass es ihm in erster Linie um die Erkundung der afrikanischen Küste ging, zeigt die Entschlossenheit, mit der er seit 1422 entsprechende Unternehmungen förderte. Aufgrund mangelnder Kenntnisse der Wind- und Strömungsverhältnisse waren die Hinreise zu den Kanaren und ebenso die Rückkehr von dort schwierig. Immer wieder hatten die Schiffsführer, insgesamt 15 an der Zahl, ihre Reisen in diesen Raum vorzeitig abbrechen müssen. Erst Gil Eanes schaffte 1434 auf seiner zweiten Fahrt gen Süden den Durchbruch, vielleicht weil die Takelage seines Schiffes einen höheren Kurs am Wind erlaubte, als es bei den Schiffen, die zuvor genutzt worden waren, möglich gewesen war.

Die zweite Phase der von Heinrich geförderten Überseefahrten beginnt im Jahr 1443 mit der Rückkehr eines seiner Expeditionsschiffe von Arguin, einer Insel vor der Küste des heutigen Mauretanien, das tatsächlich Gold an Bord hatte. Arabische Händler hatten diesen Ort bereits seit längerem für ihren Handel mit Sklaven, Goldstaub, Elfenbein und anderen Waren genutzt. Die Entdeckung des Inselhafens schien zu bestätigen, was sich Heinrich und die anderen Förderer der frühen portugiesischen Expeditionen immer erhofft hatten: Jenseits der Grenzen des bekannten Europa lockten interessante Handelsplätze, wo in Europa begehrte Waren zu günstigen Konditionen eingekauft und später in der europäischen Heimat mit satten Gewinnen wieder verkauft werden konnten. Insofern überrascht es nicht, dass sich bald nach der Rückkehr des Schiffes aus Arguin private Interessenten vermehrt bereitfanden, eigenes Kapital in weitere Afrikafahrten zu investieren. Diese führten nun ja nicht mehr ins Ungewisse, sondern zu bekannten Handelsplätzen. Daher kann diese Phase der portugiesischen Erkundungsfahrten entlang der afrikanischen Küste als die einer Public-private-Partnership10 bezeichnet werden. Von da an wurden die damit verbundenen Kosten für die Schiffe, deren Bewaffnung, Ausrüstung und Besatzung zwischen Heinrich, dem Hof und privaten Geldgebern geteilt. Gleiches geschah mit dem durch die Fahrten erzielten Gewinn entsprechend den Einlagen beziehungsweise zuvor getroffenen Vereinbarungen.

Alles deutet darauf hin, dass bei Fahrten mit unbekanntem Ziel die Kosten weiterhin zum größten Teil bei Heinrich lagen und damit dessen Anteil am gegebenenfalls erwirtschafteten Gewinn offenbar entsprechend höher ausfiel, während Fahrten mit bekanntem Ziel seit Mitte der 1440er Jahre zum größten Teil privatwirtschaftlich finanziert wurden und der Anteil Heinrichs am Gewinn dabei auf ein Viertel festgesetzt wurde.11 Die Beteiligung privaten Kapitals sorgte für eine spürbare Dynamisierung der Afrikafahrten, denn während 1440 lediglich zwei Schiffe ausgerüstet werden konnten, verließen 1447 bereits 26 Karavellen Portugal in Richtung afrikanische Westküste, um dort bekannte Handelsplätze anzusteuern. Das Risiko des Totalverlusts war inzwischen deutlich besser zu kalkulieren, ebenso der Gewinn, der im Rahmen des Unternehmens erzielt werden konnte.12 Reine Entdeckungsfahrten in unbekannte Seegebiete fanden dagegen mehrere Jahre lang gar nicht mehr statt. Es bedurfte dazu erst eines neuen politischen Impulses. Dieser kam in Form eines Erlasses König Alfons’ V. im Jahr 1454, in dem dieser Prinz Heinrich mit der Durchführung neuer maritimer Expeditionen betraute mit dem Ziel, endlich auch den Seeweg nach Indien zu finden.13 Damit war die Voraussetzung für die dritte Phase der frühen portugiesischen Erkundungsfahrten geschaffen, die freilich erst nach dem Tod Heinrichs um 1469 ihre volle Dynamik entfalten konnte. Sie ist gekennzeichnet durch eine Veränderung des rechtlichen Status der Expeditionen. Nunmehr konnte ein Kaufmann oder Schiffseigner gegen eine hohe jährliche Konzessionsgebühr das Monopol im Afrikahandel erwerben, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Konzessionär pro Jahr etwa 100 Leguas – also etwa 600 Kilometer – neue Küstenlinie erkundete.14

Mit dieser Neuregelung sollten – nicht zuletzt unter dem Eindruck des zuvor spürbaren Nachlassens der Explorationsdynamik – neue Anreize für weitere Entdeckungsfahrten gesetzt werden, die man nun mit kommerziellem Gewinnstreben verknüpfte, wobei man zugleich darauf achtete, dass auch der Staat von dem Unternehmen profitierte und die geographischen Kenntnisse erweitert und verbessert wurden. Um solche Konzessionen aber überhaupt vergeben zu können, musste die portugiesische Krone zunächst einen sicheren rechtlichen Rahmen schaffen. Es genügte nicht mehr, dass Heinrich von der Krone die Genehmigung zur Erkundung der Gewässer südlich der Kanarischen Inseln erhielt, wie das nach der Entdeckung Arguins 1443 der Fall gewesen war. Um seine Ansprüche auch international rechtlich abzusichern, hatte sich Heinrich schon seit Mitte der 1440er Jahre bemüht, vom Heiligen Stuhl in Rom die Rechte an allen von portugiesischen Entdeckern gefundenen Gebieten übertragen zu bekommen. 1450 konnte er einen ersten Erfolg erzielen, als Papst Nikolaus V. Portugal alle Rechte an den neu entdeckten Gebieten der portugiesischen Krone übertrug, einschließlich des Rechts auf Unterwerfung und Versklavung von Muslimen und Heiden – und im Gegenzug dafür erwartete, dass Portugal das Christentum in Afrika verbreitete.15 Fünf Jahre später bekräftigte der Papst seine Entscheidung noch einmal in der Bulle Romanus Pontifex und übertrug die damit verbundenen Rechte auch auf die Nachfolger Alfons’ V. Die portugiesische Krone konnte sich nun in Zeiten internationaler Spannungen auf eine päpstliche Bulle stützen, wenn die Entdeckungen in Afrika und die damit verbundenen ökonomischen Vorteile gegen europäische Rivalen verteidigt werden mussten. In erster Linie richtete sich dies gegen Kastilien, den Nachbarn im Osten, wo unter dem Eindruck der portugiesischen Erfolge das Interesse an eigenen Expeditionen nach Übersee gewachsen war, wobei insbesondere die östlich der Kanarischen Inseln gelegenen afrikanischen Küstengebiete in den Blick genommen wurden. Eine Kontrolle dieses Seegebiets durch Kastilien hätte den portugiesischen Traum von der Entdeckung des Seewegs nach Indien vermutlich beendet. Insofern nutzte Alfons V. einen Thronstreit in Kastilien zwischen 1474 und 1479 zur Intervention und konnte 1479 schließlich im Vertrag von Alcáçovas als Gegenleistung für die Anerkennung der Thronfolge Isabellas in Kastilien das portugiesische Afrika- und Atlantikmonopol südlich vom Kap Bojador vom 26. Grad nördlicher Breite an sichern. Die Kanarischen Inseln hingegen fielen an Kastilien, das seinen Machtanspruch dort bis zum Ende des Jahrhunderts durchsetzen konnte.16

Im Jahr 1960, zum 500. Todestag von Heinrich dem »Seefahrer«, ließ das Regime Salazar an der Promenade von Bélem das monumentale »Denkmal der Entdeckungen« errichten zur Erinnerung an die große Zeit Portugals. Das kleine Land im äußersten Westen Europas erstreckt sich in einem schmalen Streifen über Hunderte von Kilometern entlang der Küste des Atlantiks. Kein Wunder, dass Portugiesen die Ersten waren, die dieses Meer zu erkunden suchten, zumal in anderer Richtung nichts zu gewinnen war. Im Zuge des portugiesischen Ausgreifens über den Atlantik gelangte Heinrich zu Ruhm und Ehren, und zwar keineswegs als kühner Seefahrer, sondern weil er die risokoreichen Fahrten ins Ungewisse finanziell förderte und rechtlich so gut wie möglich absicherte, so dass die maritimen Unternehmungen für ihn und andere Geldgeber durchaus ertragreich waren. Zunächst erkundeten die Portugiesen die Küsten Afrikas. Bartolomeu Diaz umsegelte 1487 das Kap der Guten Hoffnung, und Vasco da Gama erschloss 1497 den südlichen Seeweg nach Indien. Damit besaß Portugal eine Zeitlang das Monopol im lukrativen Gewürzhandel und dominierte die europäischen Handelsströme. Wirtschaftlich galt zu dieser Zeit: Alle Wege führen nach Lissabon.

Tafel aus dem Sankt-Vinzenz-Altar von Nuño Gonçalves, um 1440

Auf dem Altarbild sind neben dem Schutzpatron von Portugal und Heiligen der Seefahrer rund 50 Mitglieder des Geschlechts der Avis dargestellt. Vor dem Heiligen kniet Alfons V. (der Afrikaner), hinter diesem stehen sein Sohn und Nachfolger Johann II., jener König, der Christoph Kolumbus abwies, sowie sein Onkel Heinrich der »Seefahrer«.

Lissabon, Hafenansicht aus dem 16. Jahrhundert

In dem langgestreckten Gebäude auf dem großen Platz residierte die Casa da Índia, direkt daneben befand sich die Schiffswerft.