Das Buch
Sie wollten die Welt verändern, als sie ihr Jurastudium aufnahmen. Doch jetzt stehen Zola, Todd und Mark kurz vor dem Examen und müssen sich eingestehen, dass sie einem Betrug aufgesessen sind. Die private Hochschule, an der sie studieren, bietet eine derart mittelmäßige Ausbildung, dass die drei das Examen nicht schaffen werden. Doch ohne Abschluss wird es schwierig sein, einen gut bezahlten Job zu finden. Und ohne Job werden sie die Schulden, die sich für die Zahlung der horrenden Studiengebühren angehäuft haben, nicht begleichen können. Aber vielleicht gibt es einen Ausweg. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, nicht nur dem Schuldenberg zu entkommen, sondern auch die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Ein geniales Katz- und Mausspiel nimmt seinen Lauf.
Der Autor
John Grisham hat 31 Romane, ein Sachbuch, einen Erzählband und sechs Jugendbücher veröffentlicht. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
JOHN GRISHAM
FORDERUNG
ROMAN
Aus dem Amerikanischen von
Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter
und Imke Walsh-Araya
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Rooster Bar
bei Doubleday, New York
Copyright © 2017 by Belfry Holdings, Inc.
Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Oliver Neumann
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock / Sean Pavone
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-17419-4
V002
www.heyne.de
1
Wie immer am Ende eines Jahres bereiteten sich die Fraziers auch diesmal auf die Festtage vor, obwohl im Haus niemandem nach Feiern zumute war. Aus reiner Gewohnheit schmückte Mrs. Frazier ein Bäumchen, wickelte ein paar einfache Geschenke in Papier und backte Kekse, die niemand essen würde. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage erklang wie üblich ununterbrochen der Nussknacker, und sie summte in der Küche dazu, als herrschte eitel Sonnenschein.
Dabei waren die Zeiten alles andere als rosig. Vor drei Jahren hatte ihr Mann sie sitzen gelassen. Nicht dass sie ihn vermisste, ganz im Gegenteil. Er hatte es damals gar nicht abwarten können, mit seiner blutjungen und – wie sich herausstellen sollte – von ihm schwangeren Sekretärin zusammenzuziehen. Im Stich gelassen, mittellos und gedemütigt, war Mrs. Frazier in Depressionen verfallen, mit deren Folgen sie noch heute kämpfte.
Louie, ihr jüngerer Sohn, blickte schweren Zeiten entgegen, weil ihm ein Drogenprozess drohte. Er war auf Kaution frei, stand allerdings unter Hausarrest. Ein Geschenk erwartete sie nicht von ihm. Angeblich konnte er das Haus wegen der elektronischen Fußfessel nicht verlassen, doch das war eine billige Ausrede. In den beiden vergangenen Jahren hatte er sich frei bewegen können und trotzdem nie etwas für sie besorgt.
Mark, der ältere Sohn, machte Ferien vom Horror des Jurastudiums in Washington, D. C. Obwohl es ihm finanziell noch schlechter ging als seinem Bruder, hatte er ihr ein Parfüm gekauft. Er würde im Mai seinen Abschluss machen, im Juli die Prüfung zur Zulassung bei der Anwaltskammer und im September bei einer Kanzlei in Washington anfangen. Wie es der Zufall wollte, war Louies Prozess für den gleichen Zeitraum anberaumt. Dabei war fraglich, ob das Verfahren jemals vor Gericht gehen würde, und zwar aus zwei Gründen: Erstens war Louie von zivilen Drogenfahndern in flagranti erwischt worden, wie er zehn Tüten Crack verkaufte – es gab sogar eine Videoaufnahme davon. Zweitens konnten sich weder Louie noch seine Mutter einen anständigen Anwalt leisten. Während der Feiertage deuteten sowohl Mrs. Frazier als auch Louie wiederholt an, dass Mark doch einspringen und die Verteidigung seines Bruders übernehmen könne. Die Angelegenheit lasse sich bestimmt so lange verschleppen, bis Mark zugelassen sei, er stehe ja kurz davor. Anschließend werde er sicher einen dieser Formfehler finden, von denen man immer lese, sodass das Verfahren eingestellt werde.
Ihr bescheidener Wunschtraum wies ein paar grundlegende Denkfehler auf, doch Mark dachte ohnehin nicht im Traum daran, auf die Idee einzugehen. Als sich abzeichnete, dass Louie den Silvesterabend vor dem Fernseher zu verbringen gedachte, um mindestens sieben Football-Play-off-Spiele in Folge zu schauen, verzog er sich klammheimlich, um einen Freund zu besuchen. Auf der Heimfahrt beschloss er unter dem Einfluss des Alkohols, das Weite zu suchen, nach Washington zurückzukehren und sich bei seinem zukünftigen Arbeitgeber die Zeit zu vertreiben. Die Uni würde zwar erst in knapp zwei Wochen wieder anfangen, doch nachdem er sich zehn Tage lang Louies Jammern und Klagen angehört hatte, ganz zu schweigen vom ewigen Nussknacker-Gedudel, hatte Mark die Nase voll von zu Hause und freute sich geradezu auf das letzte Semester.
Er stellte seinen Wecker auf acht Uhr. Beim Frühstück erklärte er seiner Mutter, dass er in Washington gebraucht werde und leider vorzeitig abreisen müsse. Sorry, Mom, dass ich dich mit meinem nichtsnutzigen Bruder allein lasse. Aber es war nicht seine Aufgabe, Louie zu erziehen. Er hatte seine eigenen Probleme.
Zum Beispiel sein Wagen, ein Ford Bronco, den er seit der Highschool fuhr. Irgendwann mitten im Studium war der Tacho bei knapp dreihunderttausend Kilometer stehen geblieben. Das Auto brauchte unbedingt eine neue Benzinpumpe, und das war nicht der einzige Punkt auf der Liste der dringenden Reparaturen. Motor, Getriebe und Bremsen hatte Mark in den letzten zwei Jahren mit Klebeband und Büroklammern notdürftig zusammengeflickt, doch bei der Benzinpumpe hatten seine Künste versagt. Sie lief zwar noch, allerdings nur mit halber Kraft, sodass der Bronco selbst bei durchgedrücktem Gaspedal nicht mehr als achtzig Stundenkilometer schaffte. Um auf den Schnellstraßen nicht von Sattelzügen überrollt zu werden, kreuzte Mark auf Nebenstraßen durch das ländliche Delaware und an der Atlantikküste entlang, sodass er von Dover bis in die Innenstadt von Washington nicht zwei Stunden brauchte, sondern vier.
Immerhin hatte er auf diese Weise Zeit, um über seine anderen Probleme nachzudenken, zum Beispiel die horrenden Schulden aus dem Studienkredit. Das College hatte er mit sechzigtausend Dollar im Minus und ohne Aussicht auf einen Job abgeschlossen. Sein Vater – damals zwar noch glücklich verheiratet, aber hoch verschuldet – hatte ihn davor gewarnt, weiter zu studieren. »Verdammt, Junge«, hatte er gesagt, »nach vier Jahren College bist du mit sechzigtausend in den Miesen. Hör auf, bevor es noch schlimmer wird.« Doch Mark gab nichts auf die Finanzkompetenzen seines Vaters. Er jobbte als Barmann oder fuhr Pizza aus und versuchte unterdessen, seine Kreditgeber zu vertrösten. Im Rückblick konnte er nicht mehr sagen, wie er auf die Idee mit dem Jurastudium gekommen war, doch er erinnerte sich, ein Gespräch zwischen zweien seiner Verbindungsbrüder mitgehört zu haben, die beim Zechen ins Philosophieren geraten waren. Mark hatte hinter der Theke an jenem Abend nicht viel zu tun gehabt, und nach der vierten Runde Wodka und Cranberrysaft hatten sich die beiden so hineingesteigert, dass die ganze Bar mithören konnte. Von den vielen spannenden Dingen, die sie sagten, waren Mark zwei im Gedächtnis geblieben: »Die großen Hauptstadtkanzleien stellen ein wie verrückt.« Und: »Die Anfangsgehälter liegen bei hundertfünfzigtausend im Jahr.«
Kurz darauf hatte er zufällig einen ehemaligen Kommilitonen aus dem College getroffen, der inzwischen im ersten Semester an der Foggy Bottom Law School studierte. Der Freund schwärmte, dass er sein Studium innerhalb von zweieinhalb Jahren durchziehen und anschließend bei einer großen Kanzlei mit üppigem Gehalt unterkommen werde. Die Zentralbank werfe den Studenten die Darlehen förmlich hinterher. Jeder könne sich bewerben. Okay, er werde mit einem Berg Schulden ins Arbeitsleben starten, aber den baue er binnen fünf Jahren wieder ab. Es sei jedenfalls mehr als sinnvoll, »in sich selbst zu investieren«, so der Freund, denn die Schulden von heute seien die Grundlage für die Ertragskraft von morgen.
Das leuchtete Mark ein, und er begann, für die Aufnahmeprüfung zu lernen. Das Resultat war bescheiden, doch darüber sah die Foggy Bottom Law School großzügig hinweg. Ebenso wie über sein College-Diplom mit einem Notendurchschnitt von 2,8 von vier möglichen Punkten. Die FBLS empfing ihn mit offenen Armen. Der Kredit wurde umgehend bewilligt, und fortan überwies das Bildungsministerium jährlich 65000 Dollar für ihn. Ein Semester trennte Mark noch vom Abschluss, und er musste der bitteren Realität ins Auge sehen, dass er die Uni mit einer Belastung von 266000 Dollar inklusive Zinsen verlassen würde, für College und Jurastudium.
Nicht minder problematisch waren seine Jobaussichten. In Wahrheit war der Arbeitsmarkt bei Weitem nicht so reizvoll wie erhofft und auch nicht so dynamisch, wie in den Hochglanzbroschüren und auf der schamlos beschönigenden Website der Foggy Bottom dargestellt. Abgänger von Eliteuniversitäten fanden immer noch beneidenswert gut bezahlte Stellen, doch die Foggy Bottom gehörte nicht in diese Kategorie. Mark war es gelungen, sich von einer mittelgroßen Kanzlei anheuern zu lassen, die als Fachgebiet »Regierungskontakte« angab, was nichts anderes hieß als Lobbyismus. Sein Einstiegsgehalt stand noch nicht fest, weil sich die Kanzleileitung erst Anfang Januar zusammensetzen würde, um anhand des Vorjahresergebnisses die Gehälter zu bestimmen. In ein paar Monaten hatte Mark einen wichtigen Termin mit seiner »Kreditbetreuerin«, um zu besprechen, wie er seine Schulden abbezahlen konnte. Sie hatte bereits Besorgnis darüber geäußert, dass er noch nicht wusste, wie viel er verdienen würde. Das bereitete auch Mark Sorgen, zumal er in der Kanzlei niemandem über den Weg traute. Man musste schon gänzlich die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, um zu glauben, dass dieser Job sicher war.
Ein weiteres Problem war die Zulassungsprüfung der Anwaltskammer. Wegen der großen Nachfrage war dieser Test in der Hauptstadt besonders schwer, und Absolventen der Foggy Bottom fielen erschreckend oft durch. Auch hier schlugen sich die Eliteunis der Stadt prächtig. Im Vorjahr hatte die Georgetown University einundneunzig Prozent ihrer Absolventen durchgebracht, die George Washington immerhin neunundachtzig Prozent. An der Foggy Bottom lag die Erfolgsquote bei mageren sechsundfünfzig Prozent. Wenn er bestehen wollte, musste Mark sofort anfangen zu lernen und durfte die Bücher für die nächsten sechs Monate nicht mehr aus der Hand legen.
Doch es fehlte ihm an Motivation, vor allem jetzt, in den kalten, tristen Wintertagen. Manchmal fühlte er sich, als lasteten die Schulden wie Backsteine auf seinen Schultern. Das Gehen fiel ihm schwer. Lächeln war mühsam. Er lebte am Rande des Existenzminimums, und trotz des Jobangebots lag seine Zukunft im Ungewissen. Dabei gehörte er noch zu den Privilegierten. Die meisten seiner Kommilitonen hatten nur Schulden und keine Stellung in Aussicht. Rückblickend dämmerte ihm, dass die bösen Vorzeichen schon im ersten Studienjahr erkennbar gewesen waren. Mit jedem Semester hatte sich die Stimmung verdüstert und das Misstrauen verstärkt. Der Arbeitsmarkt hatte an Stabilität verloren. Foggy-Bottom-Absolventen waren bei der Zulassungsprüfung in Scharen durchgefallen. Die Schulden der Studenten hatten sich immer weiter aufgetürmt. In Marks drittem und letztem Studienjahr kam es in den Lehrveranstaltungen nicht selten zum offenen Schlagabtausch zwischen Studenten und Dozenten. Der Dekan ließ sich gar nicht mehr blicken. Im Internet hagelte es harsche Kritik, die Kommentatoren nahmen kein Blatt vor den Mund. »Das ist Betrug!« »Wurden wir reingelegt?« »Was passiert mit unserem Geld?«
Im Grunde waren sich alle, die Mark kannte, einig, dass die Foggy Bottom (1) eine Ausbildung unter dem üblichen Standard lieferte, (2) zu viel versprach und (3) zu hohe Gebühren verlangte, außerdem (4) zu hohe Darlehen zuließ und (5) Studenten aufnahm, die in einem Jurastudium nichts verloren hatten, weil sie (6) entweder zu faul waren, um sich ausreichend auf die Anwaltsprüfung vorzubereiten, oder (7) zu dumm, um sie zu bestehen.
Gerüchten zufolge waren die Bewerbungen an der Foggy Bottom um die Hälfte zurückgegangen. Ohne staatliche Subventionen oder Stiftungsgelder musste ein solcher Einbruch zwangsläufig zu Kosteneinsparungen führen, sodass die ohnehin miserable Ausbildung noch schlechter werden würde. Mark Frazier und seinen Freunden war das eigentlich egal. Sie würden die Zähne vier weitere Monate lang zusammenbeißen, um der Uni danach für immer den Rücken zu kehren.
Mark wohnte in einem fünfstöckigen Mietshaus, das achtzig Jahre alt und in einem desolaten Zustand war, doch die Mieten waren günstig, und das zog Studenten der George Washington University und der Foggy Bottom Law School an. In seinen frühen Tagen war das Gebäude als Cooper House bekannt gewesen; nach drei Jahrzehnten studentischem WG-Betrieb hatte sich der Name zu »Coop« abgeschliffen. Da die Aufzüge nur selten funktionierten, nahm Mark die Treppe zum dritten Stock und betrat seine bescheidene, spärlich möblierte Fünfzig-Quadratmeter-Bude, für die er stolze achthundert Dollar im Monat bezahlte. Aus irgendeinem Grund hatte er nach der letzten Prüfung vor den Feiertagen aufgeräumt. Als er das Licht einschaltete, stellte er zufrieden fest, dass alles so aussah, wie er es zurückgelassen hatte. Aber was sollte auch passiert sein? Außer ihm selbst hatte nur der Vermieter einen Schlüssel. Erst als er seine Taschen abstellte, fiel ihm die Stille auf. Normalerweise war hier rund um die Uhr Remmidemmi – kein Wunder, bei so vielen Studenten auf engem Raum und den dünnen Wänden. Stereoanlagen, Fernseher, Streit, Gelächter, lautstarke Pokerrunden, Handgreiflichkeiten, Gitarrengeschrammel … Im dritten Stock gab es sogar einen Irren, der mit seiner Posaune die Mauern zum Beben brachte. Aber nicht heute. Alle waren nach Hause gefahren und genossen die Ferien, sodass auf den Fluren eine geradezu schaurige Leere herrschte.
Nach einer halben Stunde wurde Mark langweilig, und er verließ das Gebäude. Auf seinem Weg über die New Hampshire Avenue schnitt der Wind durch seine dünne Fleecejacke und die abgetragene Baumwollhose. Spontan beschloss er, in die Twenty-First Street einzubiegen und bei der Uni vorbeizuschauen. Obwohl die Stadt keinen Mangel an Bausünden verzeichnete, stach die Foggy Bottom Law School in ihrer Hässlichkeit heraus. Das Nachkriegsgebäude mit der blassgelben Backsteinfassade maß acht Stockwerke, die in asymmetrischen Flügeln ineinander verschlungen waren – der misslungene Versuch des Architekten, etwas Extravagantes zu erschaffen. Angeblich waren früher Büros darin untergebracht gewesen. In den unteren vier Etagen hatte man großzügig Wände herausgerissen, dennoch waren die Seminarräume zu klein. In der vierten Etage befand sich die Bibliothek, ein Labyrinth aus Räumen, vollgestopft mit kaum beachteten Büchern und dekoriert mit Repliken gemalter Porträts von namenlosen Richtern und Juristen. In der fünften und sechsten Etage hatten die Lehrkräfte ihre Büros, und in der siebten – so weit von den Studenten entfernt wie möglich – befanden sich der Verwaltungstrakt und das Eckbüro des Dekans, das dieser nur in seltenen Ausnahmefällen verließ.
Die Eingangstür war unverschlossen, und Mark betrat das menschenleere Foyer. Es war angenehm warm, doch ansonsten empfand er die Umgebung wie immer als furchtbar deprimierend. An einem großen Schwarzen Brett prangten handgeschriebene Notizen, Ankündigungen und Werbungen. Es gab ein paar professionell aussehende Poster, die zum Studium im Ausland einluden, außerdem die übliche Mischung aus Mietangeboten und Kleinanzeigen – biete/suche Bücher, Fahrräder, Eintrittskarten, Vorlesungsmitschriften, Nachhilfe. Da die Zulassungsprüfung der Anwaltskammer ständig wie eine Gewitterwolke über der Uni schwebte, wurden auch Repetitorien offeriert. Wenn er lange genug suchte, würde er wahrscheinlich sogar Jobangebote finden, wobei die an der Foggy Bottom von Jahr zu Jahr weniger wurden. In einer Ecke entdeckte er die altbekannten Bankbroschüren zum Thema Studienkredite. Am entfernten Ende des Foyers befanden sich Verkaufsautomaten und eine kleine Cafeteria, deren Kaffeemaschinen in den Ferien allerdings stillstanden.
Mark ließ sich in einen durchgesessenen Ledersessel sinken. Die Atmosphäre war erdrückend. War das eine Hochschule? Oder doch nur eine Titelmühle? Allmählich dämmerte ihm die Wahrheit. Wie schon so oft wünschte er, er wäre nie durch diese Tür getreten, damals als ahnungsloser Studienanfänger. Jetzt, fast drei Jahre später, ächzte er unter Schulden, die er nie würde abbezahlen können. Falls es ein Licht am Ende des Tunnels gab, konnte er es nicht erkennen.
Woher kam eigentlich der Name Foggy Bottom? Als wäre das Studium hier nicht schon schlimm genug, hatte sich ein schlauer Kopf vor rund zwanzig Jahren einen Namen überlegt, der jeden positiven Gedanken sofort erstickte – »nebliger Grund«. Der Typ, der inzwischen tot war, hatte den Laden an Wall-Street-Investoren verkauft, denen eine ganze Reihe solcher »Universitäten« gehörten. Sie erzielten zwar hübsche Gewinne, brachten aber kaum juristischen Nachwuchs hervor.
Wie konnte man überhaupt mit Universitäten handeln? Für Mark war das immer noch ein Rätsel.
Als er Stimmen hörte, floh er rasch nach draußen. Er wanderte die New Hampshire entlang bis zum Dupont Circle, wo er sich bei Kramer Books mit einer Tasse Kaffee aufwärmte. Er ging immer zu Fuß. Sein Bronco ruckelte und spuckte im Stadtverkehr, und so ließ er ihn lieber auf einem Parkplatz hinter dem Coop stehen, stets mit dem Schlüssel in der Zündung. Leider war bislang niemand in Versuchung geraten, ihn zu stehlen.
Wieder aufgewärmt, eilte Mark auf der Connecticut Avenue sechs Blocks Richtung Norden zu seiner zukünftigen Kanzlei, die in einem modernen Gebäude unweit des Hinckley Hilton mehrere Stockwerke belegte. Im letzten Sommer hatte er sich dort Zugang verschafft, indem er ein miserabel bezahltes Praktikum annahm. Die großen Kanzleien boten Sommerpraktika an, um Topstudenten das Glamourleben der Großverdiener zu zeigen. Leistung wurde von ihnen kaum erwartet. Stattdessen bekamen sie Tickets zu Sportgroßveranstaltungen und Einladungen zu rauschenden Partys in den luxuriösen Gärten ihrer reichen Arbeitgeber. Einmal verführt, unterschrieben sie die Arbeitsverträge; sobald sie ihr Examen in der Tasche hatten, wurden sie in Hundert-Stunden-Wochen verheizt.
Anders bei Ness Skelton. Mit gerade einmal fünfzig Anwälten gehörte die Kanzlei nicht zu den Top Ten. Ihre Mandanten waren Berufsverbände – der Verband der Sojabauern, die Vereinigung ehemaliger Postangestellter, die Rind- und Lammfleisch-Innung, der Bundesverband der Straßenbauer, die Vertretung der Lokführer mit Behinderungen und ein paar Waffenhändler, die auch nicht zu kurz kommen wollten. Das Fachgebiet der Kanzlei – wenn man es so nennen durfte – waren ihre Beziehungen zum Kongress. Die Sommerpraktika dort dienten nicht dazu, Elitestudenten anzulocken, sondern möglichst billig an Arbeitskräfte zu kommen. Mark hatte sich angestrengt, sosehr er auch unter der stupiden Tätigkeit gelitten hatte. Als er am Ende der Ferien ein vages Stellenangebot bekam – unter der Voraussetzung, dass er die Zulassungsprüfung bestand –, wusste er nicht, ob er jubeln oder weinen sollte. Mangels Alternative nahm er an und konnte sich fortan damit brüsten, einer der wenigen Foggy-Bottom-Studenten zu sein, die eine Zukunft hatten. In den Folgemonaten hatte er bei seinem Vorgesetzten immer wieder freundlich wegen der Details zu seiner künftigen Position nachgehakt, aber nur zu hören bekommen, dass es unter Umständen zu einer Fusion, vielleicht aber auch zu einer Aufspaltung kommen werde. Vieles schien denkbar, nur von einem Arbeitsvertrag für ihn war nie die Rede.
Und so zeigte er Präsenz. An Nachmittagen, Samstagen, Feiertagen, immer wenn ihm langweilig war, schaute er in der Kanzlei vorbei, stets ein künstliches Lächeln im Gesicht und demonstrativ bereit, die Ärmel hochzukrempeln und bei der Drecksarbeit zu helfen. Ob diese Taktik von Vorteil für ihn war, wusste er nicht, aber er ging davon aus, dass sie ihm wenigstens nicht schaden würde.
Sein Vorgesetzter hieß Randall und arbeitete seit zehn Jahren für die Kanzlei. Er war kurz davor, zum Partner aufzusteigen, und stand entsprechend unter Druck. Wer es bei Ness Skelton nach zehn Jahren nicht schaffte, Partner zu werden, wurde vor die Tür gesetzt. Randall hatte an der George Washington University studiert, was in der akademischen Hackordnung der Hauptstadt zwar weniger wert war als ein Abschluss von der Georgetown, aber immer noch weit mehr als einer von der Foggy Bottom. Diese Hierarchie war ebenso unveränderlich wie unumstößlich und wurde besonders leidenschaftlich von den Abgängern der George Washington gepflegt. Sie fanden es unerträglich, von der Georgetown als unzulänglich betrachtet zu werden, und blickten umso verächtlicher herab auf die Foggy Bottom. Ness Skelton war geprägt von Klüngelei und Standesdünkel, und Mark fragte sich regelmäßig, was er hier sollte. Zwei der Angestellten stammten von der Foggy Bottom, doch sie taten alles, um das zu verschleiern. Unterstützung brauchte sich Mark von ihnen nicht zu erhoffen, dafür taten sie zu beschäftigt. In Wahrheit ignorierten sie ihn konsequent. »Wie kann man eine Kanzlei nur auf diese Weise führen?«, hatte Mark oft vor sich hin gemurmelt, war jedoch irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass wohl jede Berufssparte ihre Rangordnung hatte. Außerdem fürchtete er viel zu sehr um seine eigene Haut, als dass er sich über die Studienabschlüsse der anderen Gedanken machen wollte. Probleme hatte er auch so genug.
Er hatte in einer E-Mail angekündigt, dass er vorbeikommen würde, um auszuhelfen. Randall empfing ihn kurz angebunden: »Schon zurück?«
Besten Dank für den freundlichen Empfang, Randall, und wie waren Ihre Ferien? »Ja, ich hatte keine Lust mehr auf das Feiertagsgedöns. Was gibt’s Neues?«
»Zwei Sekretärinnen haben Grippe.« Randall deutete auf einen dreißig Zentimeter hohen Stapel Akten. »Ich brauche vierzehn Kopien davon, sauber sortiert und gebunden.«
Kopieren, dachte Mark, na klar, was sonst. »Gern«, sagte er, als könnte er es nicht erwarten, sich an die Arbeit zu machen. Er schleppte den Papierberg in einen dunklen Kellerraum, wo er drei Stunden lang zwischen Kopiergeräten stand und einen stumpfsinnigen Job verrichtete, für den er nie einen Penny sehen würde.
Drei Stunden, in denen er Louie und dessen Fußfessel beinahe vermisste.
2
Genau wie Mark hatte sich auch Todd Lucero von bierseligen Kneipengesprächen zum Jurastudium anregen lassen. In den vergangenen drei Jahren hatte er Cocktails gemixt, im Old Red Cat, einer Kneipe im Stil eines Pubs, die vor allem von Studenten der George Washington und der Foggy Bottom besucht wurde. Nach seinem College-Abschluss an der Frostburg State University in Baltimore war Todd nach Washington gezogen, um sich einen Job zu suchen. Als er nichts fand, was seinem Abschluss entsprochen hätte, heuerte er im Old Red Cat als Teilzeitkraft an. Bald schon stellte er fest, dass es ihm Spaß machte, Bier zu zapfen und Drinks zu mixen. Ihm gefiel das Kneipenleben, und er konnte mit den Schnapsdrosseln genauso gut umgehen wie mit den Rowdies. Todd war jedermanns Lieblingsbarkeeper und mit Hunderten seiner Stammgäste per Du.
Schon oft in den letzten zweieinhalb Jahren hatte Todd daran gedacht, das Studium abzubrechen, um seinen Traum zu verwirklichen und eine eigene Kneipe zu eröffnen. Doch dafür hätte sein Vater, Polizeibeamter aus Baltimore, keinerlei Verständnis gehabt. Mr. Lucero hatte seinem Sohn von klein auf eingeschärft, wie wichtig es sei, einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Bedauerlicherweise war es bei den strengen Worten geblieben. Und so war Todd in die gleiche Falle getappt wie Mark, indem er das großzügig von der Bank bereitgestellte Geld annahm und den gierigen Typen der Foggy Bottom Law School in den Rachen warf.
Er hatte Mark Frazier am ersten Tag kennengelernt, bei der Einführungsveranstaltung. Damals hatten beide noch erschreckend blauäugig von einer Anwaltskarriere mit üppigem Gehalt geträumt, genau wie dreihundertfünfzig andere Erstsemester. Als Todd nach einem Jahr aufhören wollte, bekam sein Vater einen Tobsuchtsanfall und warf ihm vor, dass er wegen des Kneipenjobs nie Zeit gehabt habe, Klinken putzen zu gehen und sich um ein Sommerpraktikum zu bemühen. Nach dem zweiten Jahr wollte er wieder aufhören, um die Schuldenlast zu begrenzen, doch diesmal riet ihm seine Kreditbetreuerin dringend davon ab. Solange er studiere, so ihr Argument, müsse er keine Raten zahlen. Es sei doch viel sinnvoller, so lange Geld zu leihen, bis das Studium abgeschlossen sei. Danach werde er einen lukrativen Job finden, und die Schulden wären bald kein Thema mehr. So weit die Theorie. Todd war längst klar, dass solche Jobs nicht existierten.
Wenn er sich damals nur 195000 Dollar von einer Bank geliehen und eine Kneipe eröffnet hätte. Er würde jetzt Geld wie Heu verdienen und das Leben genießen.
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit betrat Mark das Old Red Cat, nahm seinen Lieblingsplatz am Ende der Theke ein und tauschte einen Faust-zu-Faust-Gruß mit Todd. »Schön, dich zu sehen.«
»Ebenso«, erwiderte Todd und schob ihm einen eisgekühlten Krug helles Bier entgegen. Da er schon lange hier arbeitete, konnte er Getränke ausgeben, so viel und wem er wollte. Mark hatte seit Jahren nichts mehr bezahlt.
Da die meisten Studenten noch in den Ferien waren, ging es in der Kneipe geruhsam zu. Todd stützte sich auf die Ellbogen. »Und, was treibst du so?«
»Heute Nachmittag war ich bei meinen Freunden von Ness Skelton und habe im Kopierraum Ausdrucke sortiert, die kein Mensch je lesen wird. Ich habe den Hiwi gespielt, wie immer. Selbst die Assistenten nehmen mich nicht für voll. Ich hasse den Laden. Dabei haben sie mich noch nicht mal eingestellt.«
»Immer noch kein Vertrag in Sicht?«
»Nein, und die Aussichten werden immer trüber.«
Todd nahm einen raschen Schluck aus seinem Glas, das unter der Theke stand. Obwohl er schon so lange hier arbeitete, galt auch für ihn das Alkoholverbot am Arbeitsplatz. Doch der Chef war nicht da. »Wie war Weihnachten bei den Fraziers?«
»Ho, ho, ho. Ich hab’s zehn Tage ausgehalten und dann die Biege gemacht. Und bei dir?«
»Drei Tage, dann rief die Pflicht, und ich musste wieder zur Arbeit. Wie geht’s Louie?«
»Wartet immer noch auf seinen Prozess. Sieht so aus, als müsste er tatsächlich in den Knast. Er sollte mir leidtun, aber mein Mitgefühl hält sich ehrlich gesagt in Grenzen. Die eine Hälfte des Tages verpennt er, und die andere verbringt er auf dem Sofa, glotzt Gerichtsserien und jammert über seine Fußfessel. Arme Mom.«
»Du bist ganz schön streng mit ihm.«
»Nicht streng genug. Genau das ist sein Problem. Niemand war jemals streng mit ihm. Mit dreizehn ist er zum ersten Mal mit Pot erwischt worden. Er hat es einem Freund in die Schuhe geschoben, und natürlich sind ihm unsere Eltern sofort beigesprungen. Er musste nie Konsequenzen tragen. Bis jetzt.«
»Echt übel, Mann. Ich möchte keinen Bruder im Gefängnis haben.«
»Ja, das ist beschissen. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Keine Chance.«
»Nach deinem Vater frage ich lieber nicht.«
»Ich habe ihn nicht gesehen und auch kein Wort von ihm gehört. Nicht mal eine Postkarte hat er geschrieben. Er ist jetzt fünfzig und stolzer Papa eines Dreijährigen. Ich vermute, dass er im Weihnachtsmannkostüm einen Haufen Spielzeug unter den Baum gelegt und blöde grinsend zugesehen hat, wie das Kind quietschend die Treppe runterkommt. Diese miese Ratte.«
Zwei Studentinnen traten an die Theke, und Todd ging zu ihnen, um sie zu bedienen. Mark holte sein Handy heraus und rief seine Nachrichten ab.
Als Todd zurückkam, fragte er: »Hast du die Noten schon gesehen?«
»Nein. Wozu? Wir sind doch sowieso alle Einserstudenten.« Die Notengebung an der Foggy Bottom war ein Witz. Die Studenten mussten natürlich erstklassig abschneiden, deshalb verteilten die Dozenten grundsätzlich nur Bestnoten. Man konnte an der FBLS praktisch nicht durchfallen. Die Folge war, dass sich niemand mehr anstrengte und es keine Konkurrenz unter den Studenten gab. Mittelmäßige Schulabgänger wurden zu miserablen Uniabsolventen. Kein Wunder, dass die Zulassungsprüfungen für sie so schwer waren. »Außerdem«, setzte Mark hinzu, »kann man von überbezahlten Dozenten nicht erwarten, in den Weihnachtsferien Prüfungsbögen zu korrigieren, oder?«
Todd nahm noch einen Schluck und beugte sich näher zu Mark. »Wir haben ein viel größeres Problem.«
»Gordy?«
»Gordy.«
»Das hatte ich befürchtet. Ich habe versucht, ihn per SMS oder Anruf zu erreichen, aber sein Handy ist abgestellt. Was ist passiert?«
»Es sieht schlimm aus«, sagte Todd. »Offenbar hat er sich an Weihnachten zu Hause die ganze Zeit mit Brenda gestritten. Sie will eine große kirchliche Hochzeit mit tausend Gästen. Gordy will überhaupt nicht heiraten. Ihre Mutter mischt sich dauernd ein. Seine Mutter redet nicht mit ihrer Mutter, und jetzt sieht es aus, als würde die ganze Sache platzen.«
»Sie heiraten am 15. Mai, Todd. Wenn ich mich recht entsinne, sind wir sogar Trauzeugen.«
»Sei dir da mal nicht so sicher. Er ist schon wieder zurück. Und er hat seine Medikamente abgesetzt. Zola war heute Nachmittag hier, um mich einzuweihen.«
»Was für Medikamente?«
»Eine lange Geschichte.«
»Komm schon, was für Medikamente?«
»Er ist bipolar, Mark. Wurde vor ein paar Jahren festgestellt.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Warum sollte ich darüber Witze machen? Er ist bipolar, und Zola sagt, er hat die Medikamente abgesetzt.«
»Warum hat er uns das nicht erzählt?«
»Keine Ahnung.«
Mark nahm einen ausgiebigen Schluck Bier und schüttelte den Kopf. »Ist Zola auch wieder hier?«
»Ja, offenbar ist sie spontan zurückgekommen, um die letzten Ferientage mit Gordy zu verbringen, wobei ich bezweifle, dass sie die gemeinsame Zeit genießen konnten. Sie meint, er nimmt seit einem Monat keine Medikamente mehr, also seit der Zeit, als wir für die Semesterabschlussprüfungen gelernt haben. Mal ist er manisch und springt herum wie ein Flummi, dann wieder liegt er apathisch da, weil er total stoned und mit Tequila abgefüllt ist. Er redet wirres Zeug, dass er das Studium schmeißen und mit ihr nach Jamaika will. Sie fürchtet, er könnte eine Dummheit begehen oder sich was antun.«
»Gordy ist ein Idiot. Er ist mit seiner Freundin aus der Highschool verlobt, die nicht nur echt hübsch ist, sondern noch dazu aus betuchtem Haus kommt. Stattdessen zieht er mit einer Afroamerikanerin herum, deren Eltern und Brüder nicht mal im Besitz der berühmten Einwanderungsdokumente sind, von denen zurzeit alle reden. Völlig schwachsinnig.«
»Gordy hat Probleme, Mark. In den letzten Wochen wurde es immer schlimmer mit ihm. Er braucht unsere Hilfe.«
Mark schob sein Glas ein paar Zentimeter von sich weg und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Als hätten wir nicht genug Sorgen. Wie sollen wir ihm helfen?«
»Sag du’s mir. Zola versucht, ihn ständig im Auge zu behalten. Sie möchte, dass wir heute Abend vorbeikommen.«
Mark lachte und nahm noch einen Schluck.
»Was ist so witzig?«, wollte Todd wissen.
»Nichts. Aber kannst du dir den Skandal in Martinsburg, West Virginia, vorstellen, wenn sich herumspricht, dass Gordon Tanner, dessen Vater Pfarrer ist und der mit der Tochter eines prominenten Arztes verlobt ist, komplett durchgedreht ist, sein Jurastudium geschmissen hat und mit einer afroamerikanischen Muslima nach Jamaika durchgebrannt ist?«
»Die Vorstellung entbehrt nicht einer gewissen Komik.«
»Komm schon, das ist zum Totlachen.« Doch Mark lachte nicht mehr. »Wir können ihn nicht zwingen, seine Pillen zu nehmen, Todd. Er würde uns was husten.«
»Er braucht unsere Hilfe. Um neun Uhr bin ich hier fertig, dann gehen wir hin.«
Ein Mann in einem eleganten Anzug setzte sich an die Bar, und Todd ging zu ihm, um seine Bestellung aufzunehmen. Mark schlürfte sein Bier und versank in düstere Grübeleien.
3
Drei Jahre vor Zola Maals Geburt waren ihre Eltern aus dem Senegal geflohen. Sie hatten für sich und ihre zwei kleinen Söhne Unterschlupf in einem Slum in Johannesburg gefunden, wo sie sich als Hilfsarbeiter über Wasser hielten. Nach zwei Jahren Bödenwischen und Gräbenschaufeln hatten sie genug Geld gespart, um ein Ticket über den Atlantik bezahlen zu können. Ein Menschenschmuggler verhalf ihnen zu einer mehr als unkomfortablen Überfahrt auf einem liberianischen Frachter, zusammen mit einem Dutzend weiterer Senegalesen. Nachdem sie erfolgreich an Land geschmuggelt worden waren, wurden sie von einem Onkel abgeholt, der sie mit zu sich nahm, nach Newark, New Jersey, wo sie in einer Zweizimmerwohnung unterkamen, in einem Haus voller Senegalesen, die alle keine Greencard besaßen.
Ein Jahr nach ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten wurde Zola in der Universitätsklinik von Newark geboren und war damit automatisch amerikanische Staatsbürgerin. Während ihre Eltern in zwei bis drei unterbezahlten Jobs gleichzeitig schufteten, gingen Zola und ihre Brüder zur Schule und wuchsen im Schoß ihrer kleinen Gemeinde auf. Als gläubige Muslime praktizierten sie ihre Religion, wobei Zola sich von klein auf zur westlichen Lebensart hingezogen fühlte. Ihr Vater war sehr streng und bestand darauf, dass statt der beiden Muttersprachen Wolof und Französisch nur noch Englisch gesprochen wurde. Die Jungen nahmen die neue Sprache rasch an und unterstützten die Eltern, wo es nur ging.
Die Familie zog häufig innerhalb von Newark um. Die Wohnungen waren immer klein, wenn auch von Mal zu Mal ein wenig größer, und stets wohnten andere Senegalesen in der Nähe. Alle lebten ständig in der Angst vor Abschiebung, und nur gemeinsam waren sie stark – zumindest wollten sie das glauben. Dennoch zuckten sie jedes Mal zusammen, wenn es an der Tür klopfte. Sie durften sich nicht den geringsten Fehltritt erlauben. Zola und ihre Brüder wurden dazu erzogen, auf keinen Fall Aufmerksamkeit zu erregen. Obwohl Zola gültige Papiere besaß, wusste sie, dass ihre Familie in ständiger Gefahr lebte. Sie wuchs mit dem Albtraum auf, dass ihre Eltern und Brüder verhaftet und in den Senegal zurückgeschickt werden könnten.
Mit fünfzehn fand sie ihren ersten Job in einem Diner, wo sie für einen Hungerlohn Teller wusch. Und obwohl auch ihre Brüder etwas dazuverdienten, kam die Familie nur knapp über die Runden.
Wenn Zola nicht arbeitete, büffelte sie für die Schule. Die Highschool fiel ihr leicht, sie schloss mit guten Noten ab und schrieb sich bei einem Community College zunächst als Abendschülerin ein. Ein bescheidenes Stipendium ermöglichte es ihr, ein Vollstudium zu beginnen, und brachte ihr außerdem einen Job in der College-Bibliothek ein. Nebenbei fuhr sie fort, Teller zu waschen, mit ihrer Mutter putzen zu gehen und Kinder für Freunde der Familie zu hüten, die besser verdienten. Ihr ältester Bruder heiratete eine Amerikanerin, die keine Muslima war. Das ebnete ihm zwar den Weg in die Staatsbürgerschaft, führte aber zugleich zu erheblichen Spannungen mit den Eltern. Der Bruder und seine neue Frau gingen schließlich nach Kalifornien, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Mit zwanzig Jahren zog Zola von zu Hause aus und begann ein Studium an der Montclair State University. Im Wohnheim teilte sie sich ein Zimmer mit zwei Amerikanerinnen, die ebenfalls finanziell keine großen Sprünge machen konnten. Sie wählte Buchführung im Hauptfach, weil sie Spaß an Zahlen hatte und gut mit Geld umgehen konnte. Wenn es die Zeit erlaubte, lernte sie fleißig, doch mit zwei und zuweilen sogar drei Jobs kamen die Bücher oft zu kurz. Ihre Zimmergenossinnen führten sie in die Partyszene der Stadt ein, und sie stellte fest, dass sie auch am Feiern Spaß hatte. Zwar hielt sie sich an das strenge Alkoholverbot der Muslime – zumal sie den Geschmack ohnehin nicht mochte –, doch für andere Versuchungen war sie durchaus zu haben, insbesondere Mode und Sex. Sie war knapp eins dreiundachtzig groß und bekam oft Komplimente, wenn sie enge Jeans trug. Ihr erster Freund brachte ihr alles über Sex bei, ihr zweiter machte sie mit Partydrogen bekannt. Am Ende ihres vorletzten Studienjahres betrachtete sie sich selbst insgeheim und mit einem gewissen Trotz nicht mehr als praktizierende Muslima. Ihre Familie hatte keine Ahnung.
Doch Zolas Eltern würden alsbald wesentlich ernstere Probleme bekommen. Im Wintersemester ihres Abschlussjahres wurde ihr Vater festgenommen und saß zwei Wochen im Gefängnis, ehe er auf Kaution freikam. Zu der Zeit arbeitete er für einen Maler, einen Senegalesen mit legalem Aufenthaltsstatus. Offenbar hatte der Mann einen Konkurrenzbetrieb unterboten, um sich einen Großauftrag zu sichern – die Renovierung eines großen Bürogebäudes in Newark. Daraufhin hatte sich der leer ausgegangene Konkurrent an die ICE, die Einwanderungs- und Zollbehörde, gewandt und gemeldet, dass sein Landsmann Mitarbeiter ohne Papiere beschäftige. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war auch noch von entwendeten Büromaterialien die Rede, und die Verdächtigen waren rasch ausgemacht. Zolas Vater und vier Kollegen ohne Papiere wurden des schweren Diebstahls beschuldigt. Sie erhielten eine Vorladung vom Einwanderungsgericht, außerdem wurde ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet.
Zola schaltete einen Anwalt ein, der sich nach eigener Aussage auf solche Fälle spezialisiert hatte, und die Familie leistete eine Anzahlung von neuntausend Dollar, die praktisch ihre gesamten Ersparnisse auffraß. Der Anwalt war extrem beschäftigt und rief selten zurück. Während sich ihre Eltern und Brüder in und nahe bei Newark versteckten, musste Zola sich mit dem Anwalt herumärgern. Irgendwann hasste sie den Kerl, der wie ein Wasserfall redete und es mit der Wahrheit nicht sonderlich genau nahm. Wenn die Anzahlung nicht gewesen wäre, hätten sie ihn gefeuert. Aber sie hatten kein Geld, um einen anderen zu engagieren. Als er zum Termin nicht erschien, entband ihn der Richter von dem Fall. Zola konnte schließlich den Anwalt eines Rechtshilfevereins überreden, den Vater kostenlos zu vertreten. Am Ende wurde das Verfahren eingestellt. Die Abschiebung war damit aber nicht abgewendet. Der Fall zog sich immer weiter in die Länge und nahm sie so in Anspruch, dass ihre schulischen Leistungen darunter litten. Nach mehreren Gerichtsterminen und Anhörungen kam sie zu der Überzeugung, dass alle Anwälte entweder faul oder dumm waren und dass sie selbst den Job besser erledigen könnte.
Zola fiel dem Trugschluss anheim, dass mit dem Sofortkredit der Zentralbank jeder Jura studieren konnte, und machte die ersten kühnen Schritte auf dem Weg, der sie an die Foggy Bottom führen würde. Heute, kurz vor dem Abschluss, hatte sie mehr Schulden, als sie sich je hätte vorstellen können. Ihre Eltern und ihr unverheirateter Bruder Bo blickten unterdessen immer noch der Abschiebung entgegen. Allerdings waren die Einwanderungsgerichte so überlastet, dass mit einem baldigen Abschluss des Verfahrens nicht zu rechnen war.
Zola wohnte in der Twenty-Third Street in einem Gebäude, das nicht ganz so heruntergekommen war wie das Coop, dem es jedoch sonst in vielerlei Hinsicht ähnelte. Eine große Anzahl von Studenten teilte sich kleine, billig ausgestattete Wohnungen. Anfang des dritten Studienjahres hatte sie dort einen blonden jungen Mann kennengelernt, gut aussehend und sportlich, der auf dem Flur gegenüber wohnte: Gordon Tanner. Rasch hatte eines zum anderen geführt, und sie hatten sich in eine verhängnisvolle Affäre gestürzt, in der alsbald von Zusammenziehen die Rede war, natürlich nur um Geld zu sparen. Gordon hatte sich schließlich dagegen entschieden, weil Brenda, seine hübsche Verlobte aus der Heimat, die Großstadt liebte und ziemlich häufig zu Besuch kam.
Zwei Frauen auf einmal aber waren zu viel für Gordy. Mit Brenda war er im Grunde schon zeit seines Lebens verlobt, doch jetzt, kurz vor der Hochzeit, hatte er das Bedürfnis, die Notbremse zu ziehen. Zola warf ganz andere Fragen auf. Besaß er den Mumm, mit einer Afroamerikanerin durchzubrennen und seine Familie und Freunde nie wiederzusehen? Hinzu kamen der angespannte beziehungsweise nicht existierende Stellenmarkt, die erdrückenden Schulden und die Aussicht, womöglich die Zulassungsprüfung zu vermasseln. Also brannten bei Gordy alle Sicherungen durch. Fünf Jahre zuvor war eine bipolare Störung bei ihm diagnostiziert worden, doch dank Medikamenten und Psychotherapie war sein Leben – abgesehen von einer ziemlich schaurigen Phase im College – bislang relativ normal verlaufen. Das hatte sich im dritten Studienjahr Ende November geändert, als er seine Medikamente absetzte. Schockiert über seine Stimmungsschwankungen, hatte Zola ihn darauf angesprochen. Er hatte ihr seine Krankheit gebeichtet und die Pillen wieder genommen. Zwei Wochen lang hielten sich die Hochs und Tiefs in Grenzen.
Nach den Semesterabschlussprüfungen waren sie über die Feiertage heimgefahren, wobei sie beide eigentlich keine rechte Lust dazu verspürt hatten. Gordy hatte sich vorgenommen, mit Brenda einen ultimativen Streit vom Zaun zu brechen, der zur Absage der Hochzeit führen würde. Zola war nicht scharf darauf, ihre Familie zu besuchen, weil ihr Vater, allen Widrigkeiten zum Trotz, keine Gelegenheit auslassen würde, um ihr Strafpredigten zu halten, in denen er sie für ihren sündigen westlichen Lebensstil schalt.
Eine Woche später waren beide wieder in Washington. An den Hochzeitsplänen hatte sich nichts geändert, doch Gordy nahm seine Medikamente nicht mehr und verhielt sich völlig unberechenbar. Zwei Tage lang verließ er sein Schlafzimmer gar nicht. Entweder er schlief stundenlang, oder er starrte, das Kinn auf die Knie gestützt, im Dunkeln die Wände an. Zola schaute hin und wieder vorbei, wusste aber nicht, was sie tun sollte. Dann verschwand Gordy für drei Tage. In einer SMS teilte er ihr mit, dass er im Zug auf dem Weg nach New York sei, um »ein paar Leute zu interviewen«. Er sei einem großen Komplott auf der Spur und habe immens viel zu tun. Wieder zurück, stürmte er in ihre Wohnung, rüttelte sie wach, riss ihr die Kleider vom Leib und wollte Sex. Im Laufe des Tages verschwand er abermals, um böse Buben zu jagen und »im Dreck zu wühlen«. Als er zurückkam, war er immer noch manisch und saß stundenlang am Laptop. Er sagte, sie brauche nicht vorbeizukommen, weil er anderweitig beschäftigt sei.
Verängstigt und verzweifelt ging Zola schließlich ins Old Red Cat, um mit Todd zu reden.