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Das Buch

Wenn es sich das Schicksal noch einmal anders überlegt

»Emma?«

Die Stimme, die durchs Telefon dringt, würde ich überall und zu jeder Zeit erkennen – sie hat jahrelang Tag für Tag zu mir gesprochen. Ich war mir sicher, sie nie wieder zu hören, und kann nicht fassen, dass er dran ist. Der Mann, den ich geliebt habe, seit ich siebzehn war. Der mich als Witwe zurückgelassen hat, als er mit einem Hubschrauber irgendwo über dem Pazifik abstürzte und spurlos verschwand. Jesse.

»Emma«, wiederholt Jesse. »Ich bin’s. Ich lebe. Ich komme nach Hause.«

»Taylor Jenkins Reid stellt in diesem herzzerreißenden Roman die Frage, ob es im Leben mehr als nur einen Seelenverwandten gibt.«   Us Weekly

Die Autorin

Taylor Jenkins Reid wurde in Massachusetts geboren, studierte am Emerson College in Boston und lebt heute mit ihrem Mann in Los Angeles. Bevor sie ihr erstes Buch Neun Tage und ein Jahr schrieb, war sie für verschiedene Zeitungen tätig. Emmas Herz ist ihr vierter Roman im Diana Verlag.

TAYLOR

JENKINS REID

Emmas

Herz

ROMAN

Aus dem Amerikanischen

von Babette Schröder

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Copyright © 2016 by Taylor Jenkins Reid

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel One True Loves bei Washington Square Press, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Uta Rupprecht

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © Orfeev/Natalia Toropova/LABELMAN/Svesla Tasla/JETACOM AUTOFOCUS/Oleksandr Malysh/Yaroslavna Zemtsova/maritime_m/Marina Kutukova/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17747-8
V001

www.diana-verlag.de

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Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Bezüge zu tatsächlichen Ereignissen, realen Persönlichkeiten oder realen Orten sind frei erfunden. Die übrigen Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entstammen der Fantasie der Autorin, jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, Orten sowie lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Geschichte dieses Buches spielt in Acton, Massachusetts.

Deshalb möchte ich es natürlich Andy Bauch aus Boxborough widmen.

Und Rose, Warren, Sally, Bernie, Niko und Zach aus Encino, Kalifornien.

Ich habe gerade mit meiner Familie und meinem Verlobten zu Abend gegessen, als mein Ehemann anruft.

Es ist Vaters vierundsechzigster Geburtstag. Er trägt seinen Lieblingspullover, einen jägergrünen Kaschmirpullover, den ihm meine ältere Schwester Marie und ich vor zwei Jahren geschenkt haben. Ich glaube, darum mag er ihn so gern. Na ja, und natürlich vor allem, weil er aus Kaschmir ist.

Meine Mutter sitzt in einer hauchdünnen weißen Bluse und einer Kakihose neben ihm und unterdrückt ein Lächeln. Sie weiß, dass gleich ein kleiner Kuchen mit einer Kerze hereingetragen wird, und dann folgt ein Ständchen. Ihre Vorliebe für Überraschungen hat etwas Kindliches.

Meine Eltern sind seit fünfunddreißig Jahren verheiratet. Sie haben zwei Kinder großgezogen und betreiben erfolgreich einen Buchladen, den eine ihrer Töchter weiterführen wird. Außerdem haben sie zwei entzückende Enkelkinder. Es gibt vieles, worauf sie stolz sein können. Dies ist ein glücklicher Geburtstag für meinen Vater.

Marie sitzt neben meiner Mutter auf der anderen Seite, und wenn die beiden so dasitzen und in dieselbe Richtung blicken, fällt mir jedes Mal auf, wie ähnlich sie sich sehen. Schokoladenbraunes Haar, grüne Augen, zierliche Statur.

Den dicken Hintern habe ich abbekommen.

Zum Glück weiß ich das mittlerweile zu schätzen. Schließlich gibt es viele Songs über wundervolle Hinterteile, und wenn ich seit meinem dreißigsten Geburtstag etwas gelernt habe, dann, dass ich versuchen sollte, ohne Wenn und Aber zu mir zu stehen.

Ich heiße Emma Blair, und ich habe einen Hintern.

Ich bin einunddreißig Jahre alt, ein Meter siebzig groß und trage einen herausgewachsenen Pixie-Schnitt. Eine Ansammlung von Sommersprossen im oberen rechten Wangenbereich lenkt von meinen haselnussbraunen Augen ab. Mein Vater sagt gern scherzhaft, darin könne er den Kleinen Bären erkennen.

Letzte Woche hat mir mein Verlobter Sam einen Ring geschenkt, nach dem er mehr als zwei Monate gesucht hat: Rotgold mit einem Diamanten. Es ist zwar nicht mein erster Verlobungsring, doch einen Diamanten habe ich noch nie getragen. Wenn ich mich betrachte, sehe ich nur noch diesen Stein.

»O nein«, sagt Dad, als er drei Kellner mit einem Stück Torte, auf dem eine Kerze brennt, auf uns zukommen sieht. »Ihr habt doch nicht etwa …«

Das ist keine falsche Bescheidenheit. Mein Vater wird tatsächlich rot, wenn Menschen für ihn singen.

Meine Mutter dreht sich nach den Kellnern um. »Ach, Colin«, sagt sie, »freu dich einfach. Du hast Geburtstag …«

Doch da biegen die Kellner abrupt nach links ab und steuern einen anderen Tisch an. Anscheinend ist mein Vater nicht der Einzige, der am heutigen Tag geboren wurde. Als meine Mutter das Missverständnis bemerkt, versucht sie, die Situation zu retten.

»… darum habe ich denen gesagt, dass sie dir keinen Kuchen bringen sollen«, sagt sie.

»Vergiss es«, erwidert mein Dad. »Du hast dich bereits verraten.«

Die Kellner sind am anderen Tisch fertig, und aus der Küche kommt der Geschäftsführer mit einem weiteren Stück Torte. Jetzt steuern sie alle miteinander auf uns zu.

»Du könntest dich unter dem Tisch verstecken«, raunt Sam, »dann sage ich, du bist nicht da.«

Sam sieht auf eine freundliche Art gut aus – was vermutlich die beste Art ist, gut auszusehen. Seine braunen Augen scheinen alles mit Milde zu betrachten. Und er ist lustig. Richtig lustig. Seit Sam und ich uns kennen, fällt mir auf, dass sich meine Lachfalten ausgeprägt haben. Höchstwahrscheinlich liegt das auch daran, dass ich älter werde, aber es kommt mir so vor, als würde ich mehr lachen als je zuvor. Was will man mehr als Freundlichkeit und Humor? Ich weiß nicht, ob es für mich noch etwas Wichtigeres gibt.

Der Kuchen kommt, wir singen aus vollem Hals, und mein Vater wird puterrot. Dann entfernen sich die Kellner und lassen ein Riesenstück Schokoladentorte mit Vanilleeis bei uns zurück.

Man hat uns fünf Löffel auf den Tisch gelegt, die mein Vater jedoch alle an sich nimmt. »Ich weiß nicht, warum sie so viele Löffel dagelassen haben. Ich brauche nur einen«, bemerkt er.

Meine Mutter schnappt sich dennoch einen davon.

»Nicht so schnell, Ashley«, mahnt er. »Ich habe die Peinlichkeit über mich ergehen lassen, also darf ich die Torte auch allein essen.«

»Wenn das so ist …«, schaltet sich Marie ein. »Bitte veranstaltet auch so einen Zirkus, wenn ich nächsten Monat Geburtstag habe. Das ist es mir wert.«

Marie trinkt einen Schluck von ihrer Cola light und sieht auf ihrem Handy nach der Uhrzeit. Ihr Mann Mike ist mit meinen Nichten Sophie und Ava zu Hause, und Marie lässt sie ungern länger allein.

»Ich muss los«, sagt sie. »Tut mir leid, aber …«

Sie braucht nichts weiter zu erklären. Meine Mutter und mein Vater stehen beide auf, um sie zum Abschied zu umarmen.

Nachdem sie gegangen ist und mein Vater uns schließlich doch alle von seinem Kuchen essen lässt, sagt meine Mutter: »Es klingt albern, aber das vermisse ich richtig. Dass ich von irgendwo früh aufbrechen muss. Ich habe mich immer so gefreut, wieder zu meinen kleinen Mädchen zu kommen.«

Ich weiß, was als Nächstes kommt.

Ich bin einunddreißig und werde heiraten. Es liegt auf der Hand, was als Nächstes kommt.

»Habt ihr zwei schon mal darüber nachgedacht, wann ihr eine Familie gründen wollt?«

Ich muss mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. »Mom …«

Sam lacht. Er kann sich das erlauben. Schließlich ist sie nur ehrenhalber seine Mutter.

»Ich spreche das nur an, weil immer mehr Studien auf die Risiken später Schwangerschaften hinweisen«, ergänzt meine Mutter.

Es gibt immer irgendwelche Studien, die beweisen, dass ich mich beeilen sollte, und Studien, die das Gegenteil beweisen. Darum habe ich beschlossen, ein Baby zu bekommen, wenn ich wirklich bereit dazu bin, ganz egal, was meine Mutter in der Huffington Post liest.

Zum Glück rudert Mom zurück, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt. »Schon gut, schon gut.« Sie wedelt mit der Hand. »Ich klinge wie meine eigene Mutter. Vergiss es. Ich höre schon auf.«

Mein Vater nimmt sie lachend in den Arm. »Also dann«, sagt er. »Ich befinde mich im Zuckerkoma, und Emma und Sam haben sicher noch etwas Besseres vor, als mit uns auszugehen. Bestellen wir die Rechnung.«

Eine Viertelstunde später stehen wir vor dem Restaurant und machen uns auf den Weg zu unseren Autos.

Ich trage ein marineblaues Strickkleid mit langen Ärmeln und dazu dicke Strumpfhosen. Es schützt mich noch halbwegs vor der kühlen Abendluft. Heute ist wohl einer der letzten Abende, an dem ich ohne Wollmantel nach draußen gehen kann.

Es ist Ende Oktober, und in Neuengland hat der Herbst bereits Einzug gehalten. Die Blätter haben sich gelb und rot gefärbt, bald werden sie braun sein und rascheln. Sam hat schon im Garten meiner Eltern Laub geharkt. Im Dezember, wenn die Temperaturen in den Keller sinken, werden er und Mike Schnee schippen.

Doch momentan ist die Luft noch einigermaßen mild, was ich genieße, so gut ich kann. Als ich in Los Angeles gelebt habe, wusste ich die warmen Abende nicht zu schätzen. Wie es eben mit Dingen ist, die man ständig hat. Das ist einer der Gründe, weshalb ich zurück nach Massachusetts gezogen bin.

Als ich auf den Wagen zugehe, höre ich entfernt ein Handy klingeln. Während ich es in meiner Handtasche orte, höre ich, wie mein Vater Sam drängt, ihm Gitarrenunterricht zu geben. Mein Vater hat die lästige Angewohnheit, jedes Instrument lernen zu wollen, das Sam spielen kann. Nur weil Sam Musiklehrer ist, denkt mein Vater fälschlicherweise, er wäre automatisch sein Musiklehrer.

Ich durchwühle meine Tasche und greife nach dem Einzigen, was dort leuchtet und blinkt. Die Nummer auf dem Display ist mir unbekannt. Die Vorwahl 808 sagt mir nichts, macht mich jedoch neugierig.

In letzter Zeit hat mich niemand außerhalb von 978, 857, 508 oder 617 – den diversen Vorwahlen von Boston und Umgebung – angerufen.

978 ist für mich immer »zu Hause« gewesen, egal, wo ich gerade gelebt habe. Ich habe ein Jahr in Sydney (612) gewohnt und bin monatelang mit dem Rucksack von Lissabon (351) nach Neapel (39 081) gereist. In Mumbai (9112) habe ich meine Flitterwochen verbracht, und in Santa Monica, Kalifornien (310), habe ich jahrelang glücklich gelebt. Doch »zu Hause«, das war immer 978. Und inzwischen lebe ich auch wieder hier.

Plötzlich fällt es mir ein.

808 ist Hawaii.

»Hallo?«, melde ich mich.

Sam hat sich umgedreht und sieht mich an, und kurz darauf tun das auch meine Eltern.

»Emma?«

Die Stimme, die durchs Telefon dringt, würde ich überall und zu jeder Zeit erkennen – sie hat jahrelang Tag für Tag zu mir gesprochen. Ich war mir sicher, sie nie wieder zu hören, und kann nicht fassen, dass er dran ist.

Der Mann, den ich geliebt habe, seit ich siebzehn war. Der mich als Witwe zurückgelassen hat, als er mit einem Hubschrauber irgendwo über dem Pazifik abstürzte und spurlos verschwand.

Jesse.

»Emma«, wiederholt Jesse. »Ich bin’s. Ich lebe. Ich komme nach Hause.«

* * *

Vermutlich gibt es im Leben eines jeden Menschen einen Moment, der es in zwei Teile splittet. Wenn man auf sein Leben zurückblickt, ragt dort irgendwo eine scharfe Zacke auf, ein Ereignis, das einen selbst und das eigene Leben mehr verändert hat als jedes andere.

Ein Moment, der ein »Vorher« und ein »Danach« erschaffen hat.

Vielleicht ist es der Moment, in dem man der Liebe seines Lebens begegnet. Oder wenn man etwas findet, wofür man leidenschaftlich brennt. Oder wenn man sein erstes Kind bekommt. Vielleicht ist es etwas Wunderbares. Vielleicht etwas Tragisches.

Doch wenn es geschieht, ändert sich die Sicht auf das eigene Leben, und plötzlich kommt es einem so vor, als würde sich alles, was man erlebt hat, in ein »Vorher« und ein »Danach« aufteilen.

Ich dachte bisher, dieser Moment wäre für mich der Tag gewesen, an dem Jesse starb.

Unsere ganze Liebesgeschichte kam mir vor, als hätte sie unausweichlich darauf zugeführt, und seit damals erschien mir alles wie eine Reaktion darauf.

Doch gerade wird mir klar, dass Jesse nie gestorben ist.

Und ich bin mir auf einmal sicher, dass dies mein Moment ist.

Alles, was vor dem heutigen Tag geschehen ist, fühlt sich jetzt anders an, und ich habe keine Ahnung, was danach passieren wird.

Vorher

Emma und Jesse

Oder: Wie man sich verliebt und wie alles zerbricht

Ich bin noch nie eine Frühaufsteherin gewesen. Am heftigsten jedoch machte sich meine Abneigung gegen helles Morgenlicht zu meiner Highschool-Zeit bemerkbar, und zwar samstagmorgens um zehn nach acht.

Da klopfte mein Vater pünktlich an meine Tür und rief: »Der Bus fährt in dreißig Minuten!«, wobei der »Bus« sein Volvo war und er nicht in die Schule fuhr, sondern zur Buchhandlung unserer Familie.

Der Onkel meines Vaters hatte Blair Books in den Sechzigerjahren dort eröffnet, wo der Laden sich heute noch befindet – am nördlichen Ende der Great Road in Acton, Massachusetts.

Und das hatte zur Folge, dass ich, sobald ich alt genug war, um einen Job ausüben zu dürfen, an ein paar Wochentagen nach der Schule sowie jeden Samstag an der Kasse sitzen musste.

Ich war samstags dran, weil Marie gerne an den Sonntagen arbeitete. Sie hatte ihr Gehalt gespart und sich dafür im letzten Sommer einen heruntergekommenen marineblauen Jeep Cherokee gekauft.

Das einzige Mal, dass ich in Maries Jeep mitfahren durfte, war an dem Abend, als sie ihn abholte und mich in ihrem Überschwang auf ein Eis von Kimball’s Farm einlud. Wir kauften einen Becher Schokoladeneis für Mom und Dad, der vor sich hinschmolz, während wir gelassen unsere eigenen Eisbecher in der warmen Sommerluft auf der Motorhaube des neuen Autos verspeisten.

Wir schimpften über den Buchladen und darüber, dass Mom immer Parmesankäse auf die Kartoffeln streute. Marie gestand, dass sie Hasch geraucht hatte. Ich versprach, Mom und Dad nichts davon zu erzählen. Dann fragte sie, ob ich schon mal einen Jungen geküsst hätte. Ich drehte mich weg und sah auf die andere Seite, weil ich fürchtete, sie könnte mir die Antwort vom Gesicht ablesen.

»Schon okay«, bemerkte sie. »Es gibt viele, die erst auf der Highschool zum ersten Mal einen Jungen küssen.« Sie trug militärgrüne Shorts und ein marineblaues Button-down-Hemd, und ihre zwei dünnen goldenen Halsketten verschwanden in dem Spalt zwischen ihren Brüsten. Sie knöpfte ihre Hemden nie richtig zu. Immer waren sie einen Knopf weiter geöffnet, als es sich schickte.

»Ja«, erwiderte ich, »ich weiß.« Aber mir fiel schon auf, dass sie nicht gesagt hatte: »Auch ich habe erst auf der Highschool zum ersten Mal einen Jungen geküsst.« Was das Einzige war, was mich interessierte. Ich machte mir keine Sorgen darüber, nicht so zu sein wie alle anderen, sondern nicht so wie sie.

»Wenn du auf der Highschool bist, wird alles anders«, versicherte mir Marie und warf den Rest von ihrem Schokoladenpfefferminzeis weg. »Glaub mir.«

An dem Abend und in diesem Augenblick hätte ich ihr alles geglaubt.

Doch jener Abend bildete eine Ausnahme im Verhältnis zu meiner Schwester, es war ein seltener Moment der Einigkeit zwischen zwei Menschen, die sonst kaum etwas miteinander zu tun hatten.

Als ich dann auf die Highschool kam und mich täglich im selben Gebäude wie sie aufhielt, verhielten wir uns, wenn wir uns tagsüber auf dem Schulflur oder abends zu Hause begegneten, wie Feinde in einer Feuerpause.

Umso größer war meine Überraschung, als ich als Neuntklässlerin an einem Samstagmorgen im Frühjahr um zehn nach acht erwachte und feststellte, dass ich nicht zu meiner Schicht bei Blair Books antreten musste.

»Marie geht mit dir eine neue Jeans kaufen«, erklärte meine Mutter.

»Heute?«, fragte ich, setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen. Ich fragte mich, ob ich dann vielleicht noch etwas länger schlafen durfte.

»Ja, im Einkaufszentrum«, fügte meine Mutter hinzu. »Egal, welche du willst, ich bezahle. Ich habe dir fünfzig Dollar in die Küche gelegt. Wenn es teurer wird, musst du den Rest allerdings selbst drauflegen.«

Ich brauchte neue Jeans, weil meine alte zerschlissen war und schon Löcher hatte. Eigentlich sollte ich jedes Jahr zu Weihnachten eine neue Jeans bekommen, doch ich hatte derart spezielle, fast neurotisch genaue Vorstellungen, welche ich wollte und wie sie aussehen sollte, dass meine Mutter keine Lust mehr hatte, mit mir einkaufen zu gehen. Zweimal waren wir jetzt schon im Einkaufszentrum gewesen und hatten nach einer Stunde erfolglos aufgegeben, wobei meine Mutter ihren Unmut so gut wie möglich zu verbergen suchte.

Dies war eine neue Erfahrung für mich. Meine Mutter wollte stets in meiner Nähe sein, meine ganze Kindheit über hatte sie meine Gesellschaft gesucht. Endlich hatte ich es geschafft, ihr derart auf die Nerven zu gehen, dass sie bereit war, mich jemand anderem zu überlassen. Und das auch noch an einem Samstag!

»Wer übernimmt denn dann die Kasse?«, fragte ich. Kaum hatte ich die Frage gestellt, bereute ich sie schon. Wenn mir etwas so Gutes widerfuhr, durfte ich es nicht hinterfragen. Ich hätte einfach »Okay« sagen und mich unauffällig verdrücken sollen, um sie ja nicht von ihrem Plan abzubringen.

»Der neue Junge, den wir angestellt haben, Sam«, antwortete meine Mutter. »Das klappt schon. Und er braucht das Geld.«

Sam war ein älterer Schüler aus unserer Schule, der eines Tages in den Laden gekommen war und gesagt hatte: »Darf ich mich bei Ihnen bewerben?« Und das, obwohl wir eigentlich niemanden einstellten und die meisten Teenager in dem CD-Laden weiter unten an der Straße arbeiten wollten. Meine Eltern engagierten ihn auf der Stelle.

Er war recht gut aussehend – groß und schlaksig mit olivfarbener Haut und dunkelbraunen Augen – und immer gut gelaunt, doch nachdem Marie ihn als »hinreißend« bezeichnet hatte, konnte ich mich nicht dazu überwinden, ihn zu mögen. Ich ertrug es nicht, irgendetwas zu mögen, was ihr gefiel.

Zugegeben, diese Haltung schränkte meinen Freundeskreis stark ein und fiel mir allmählich immer schwerer.

Marie mochte jeden, und jeder mochte Marie.

Sie war das Goldkind, der natürliche Liebling unserer Eltern. Meine Freundin Olive nannte sie insgeheim immer »die Tochter des Buchhändlers«, weil sie sogar so aussah wie ein Mädchen, dessen Eltern einen Buchladen führten. Doch selbst so ein Klischee wirkte bei Marie wie eine zusätzliche Ehrennadel.

Sie las Erwachsenenbücher, schrieb Gedichte und war in Romanfiguren verliebt anstatt in Filmstars. Olive und ich hätten am liebsten gekotzt.

In meinem Alter hatte Marie als Wahlfach »Kreatives Schreiben« belegt und beschlossen, »Schriftstellerin« zu werden. Die Anführungszeichen sind erforderlich, weil sie außer einem neunseitigen Krimi, in dem sich Emily, die kleine Schwester der Protagonistin, als Mörderin entpuppt, nie mehr etwas schrieb. Ich hatte die neun Seiten gelesen, und selbst mir war klar, dass es sich um völligen Schrott handelte. Doch Marie reichte die Geschichte bei der Schülerzeitung ein, und denen gefiel sie so gut, dass sie als neunteiliger Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde.

Dass sie so etwas machen konnte und trotzdem noch zu den beliebtesten Mädchen der Schule zählte, machte es umso schlimmer. Es bewies einfach: Wenn man hübsch genug war, galt man automatisch als cool.

Ich hingegen hatte von den Büchern, die wir in Englisch 1 durchnahmen, lediglich heimlich die Inhaltsangaben in der Bibliothek gelesen. In meinem Zimmer standen jede Menge Romane, die meine Eltern mir geschenkt hatten, aber ich weigerte mich, sie auch nur aufzuschlagen.

Ich mochte Musikvideos, die tollen Fernsehserien auf NBC am Donnerstag und jede Frau, die auf dem Lilith-Fair-Musikfestival auftrat. Wenn ich mich langweilte, blätterte ich in Moms alten Reisezeitschriften, riss Bilder heraus und hängte sie auf. An der Wand über meinem Bett befanden sich wild durcheinander Titelblätter mit Keanu Reeves, CD-Cover von Tori-Amos-Alben und doppelseitige Abbildungen der italienischen Riviera und französischer Landschaften.

Und niemand, ich wiederhole, niemand hielt mich für beliebt.

Meine Eltern scherzten gern, die Hebamme habe ihnen im Krankenhaus wohl das falsche Kind mitgegeben. Darüber lachte ich zwar, aber ich sah mir mehr als ein Mal Kinderbilder meiner Eltern an und musterte mich anschließend im Spiegel, um einen Beweis zu entdecken, dass ich wirklich zu ihnen gehörte.

»Okay, toll«, sagte ich zu meiner Mutter und freute mich mehr darüber, nicht zur Arbeit zu müssen, als darüber, Zeit mit meiner Schwester zu verbringen. »Wann geht’s los?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte meine Mutter. »Besprich das mit Marie. Ich muss in den Laden. Wir sehen uns zum Abendessen. Hab dich lieb, Süße. Ich wünsch dir einen schönen Tag.«

Als sie meine Tür schloss, schlüpfte ich schnell wieder ins Bett, um jede einzelne Minute auszukosten, die ich länger schlafen durfte.

Irgendwann nach elf platzte Marie ins Zimmer und sagte: »Komm, wir fahren.«

Wir waren schon in drei Geschäften gewesen, und ich hatte schon zwölf verschiedene Jeans anprobiert. Einige waren zu weit gewesen, andere zu eng, wieder andere saßen zu hoch über der Taille.

Ich kam gerade aus der Umkleidekabine und führte Marie, die mich unendlich gelangweilt musterte, das dreizehnte Modell vor.

»Sieht gut aus, nimm die«, sagte sie. Sie selbst war von Kopf bis Fuß in Abercrombie & Fitch gekleidet. Es war um die Jahrtausendwende. Ganz Neuengland trug ausschließlich Abercrombie & Fitch.

»Die sitzt am Po irgendwie komisch«, stellte ich fest und rührte mich nicht vom Fleck.

Marie musterte mich, als würde sie auf etwas warten.

»Drehst du dich nun um, damit ich sehen kann, ob sie von hinten komisch aussieht, oder was?«, fragte sie schließlich.

Ich drehte mich um.

»Du siehst aus, als hättest du eine Windel an«, bemerkte sie.

»Genau das meinte ich.«

Marie verdrehte die Augen. »Warte.« Sie beschrieb mit dem Finger eine Kehrtwende und schickte mich zurück in die Umkleide. Ich gehorchte.

Ich hatte gerade die letzte Jeans ausgezogen, als Marie mir ein helles Modell mit geraden Beinen über die Tür warf.

»Probier die mal an«, sagte sie. »Die trägt Joelle, und die hat auch so einen großen Hintern wie du.«

»Na, vielen Dank«, sagte ich und nahm die Jeans von der Tür.

»Ich bemühe mich doch nur, dir zu helfen«, gab sie zurück. Dann beobachtete ich unter der Tür hindurch, wie sich ihre Schuhe entfernten, als wäre das Gespräch einfach vorbei, weil es sie nicht länger interessierte.

Ich öffnete den Reißverschluss und stieg in die Hose. Ich brauchte etwas Kraft, um sie über die Hüften zu zerren, und musste den Bauch einziehen, damit sie zuging. Dann richtete ich mich auf und betrachtete mich im Spiegel. Ich wendete mich von einer Seite zur anderen und drehte mich um, damit ich mit einem Blick über meine Schulter prüfen konnte, wie ich von hinten aussah.

Mein Po schien von Tag zu Tag praller zu werden, meine Brüste blieben dagegen unverändert klein. Aus den Hochglanzmagazinen meiner Mutter wusste ich, dass man diese Figur als »Birnenform« bezeichnete. Mein Bauch war flach, meine Hüften rund. Olive hingegen nahm an den Brüsten und am Bauch zu. Wäre mir das nicht vielleicht lieber? Die Apfelform?

Doch wenn ich ehrlich war, wollte ich eigentlich nur das, was meine Mutter Marie vererbt hatte. Einen mitteldicken Po, mittelgroße Brüste, braune Haare, grüne Augen und dichte Wimpern.

Stattdessen kam ich farblich nach meinem Vater – die Haare weder richtig blond noch richtig braun, die Augen irgendetwas zwischen braun und grün –, wohingegen keiner in der Familie meinen Körperbau besaß. Als ich meine Mutter einmal fragte, woher ich die kurzen stämmigen Beine hätte, antwortete sie ungerührt: »Das weiß ich wirklich nicht«, dabei hatte sie noch nie etwas Schlimmeres zu mir gesagt.

Es gab nur eines an meinem Aussehen, das ich wirklich mochte: meine Sommersprossen, diese Ansammlung winziger dunkler Punkte unter meinem rechten Auge. Wenn meine Mutter mich als Kind ins Bett brachte, verband sie die einzelnen Punkte mit dem Finger.

Ich liebte meine Sommersprossen, und ich hasste meinen Hintern.

Während ich dort in der Umkleidekabine stand, wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Jeans, in der mein Po kleiner aussah. Was diese zu erfüllen schien.

Ich trat aus der Kabine, um Marie nach ihrer Meinung zu fragen. Leider war sie nirgends zu entdecken.

Ich ging zurück in die Umkleide und stellte fest, dass ich diese Entscheidung wohl allein treffen musste.

Erneut betrachtete ich mich im Spiegel.

Gefiel sie mir?

Ich blickte auf das Preisschild. Fünfunddreißig Dollar.

Die Steuern eingerechnet, bliebe mir noch genug Geld übrig, um mir im Food-Court Hühnchen Teriyaki zu leisten.

Ich zog die Hose aus, marschierte zur Kasse und reichte der Kassiererin das Geld meiner Eltern. Zur Belohnung erhielt ich eine Tüte mit einer Jeans, die ich nicht verabscheute.

Marie war noch immer nicht aufgetaucht.

Ich suchte den Laden ab und ging dann hinüber zum Body Shop. Vielleicht kaufte sie dort Lippenbalsam oder Duschgel? Schließlich fand ich sie eine halbe Stunde später bei Claire’s, wo sie gerade Ohrringe erstand.

»Ich habe dich überall gesucht«, sagte ich vorwurfsvoll.

»Tut mir leid, ich habe mir Schmuck angesehen.« Marie nahm ihr Wechselgeld entgegen, steckte es sorgsam zurück in ihr Portemonnaie und nahm eine winzige weiße Plastiktüte entgegen, in der sich zweifellos falsches Gold befand, das ihre Ohren grünlich grau färben würde.

Ich folgte Marie, die selbstbewusst den Laden verließ und zu dem Ausgang ging, vor dem wir geparkt hatten.

»Warte«, sagte ich und blieb stehen. »Ich möchte noch in den Food-Court.«

Marie drehte sich zu mir um und blickte auf ihre Armbanduhr. »Tut mir leid, das geht nicht. Wir kommen zu spät.«

»Zu spät wofür?«

»Zum Schwimmwettkampf«, erklärte sie.

»Welchem Schwimmwettkampf?«, fragte ich. »Davon hat mir niemand etwas gesagt.«

Marie antwortete nicht, weil es nicht notwendig war. Ich folgte ihr zum Wagen und war bereit zu tun, was sie mir sagte, ihr überallhin zu folgen.

Erst, als wir im Wagen saßen, ließ sie sich dazu herab, mich einzuweihen. »Graham ist dieses Jahr der Kapitän des Schwimmteams«, verriet sie.

Aha.

Graham Hughes. Der war Kapitän jedes einzelnen seiner Sportteams. Der Favorit für das »tollste Lächeln« im Jahrbuch. Genau die Art von Mann, mit dem die heilige Marie von Acton ausging.

»Na super«, bemerkte ich. Offenbar würde ich nicht nur herumsitzen und beim Fünfzig-Meter-Freistilschwimmen zusehen müssen, sondern durfte anschließend auch noch in unserem Auto auf sie warten, während sie mit Graham in seinem herumknutschte.

»Können wir wenigstens unterwegs bei einem Drive-in halten?«, fragte ich und gab mich bereits geschlagen.

»Ja, okay«, willigte sie ein.

Und da nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte: »Du zahlst.«

Sie sah mich an und lachte. »Du bist vierzehn. Und da kannst du dir nicht selbst etwas zu essen kaufen?«

Sie besaß die erstaunliche Fähigkeit, mir auch dann das Gefühl zu geben, ich sei dumm, wenn ich mich gerade noch absolut selbstsicher gefühlt hatte.

Wir hielten an einem Burger King, ich aß auf dem Beifahrersitz einen Junior-Whopper, bekleckerte meine Hände mit Ketchup und Senf und musste warten, bis wir vor dem Schwimmbad parkten, um eine Serviette zu suchen.

Marie ließ mich stehen, sobald uns der Chlorgeruch in die Nase stieg. Also setzte ich mich auf die Tribüne und beschäftigte mich, so gut ich konnte.

Das Hallenbad war voll mit kaum bekleideten, gut trainierten Jungs meines Alters. Ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte.

Schließlich stieg Graham auf den Startblock. Als die Pfeife ertönte, tauchte er mit der Geschmeidigkeit eines heranschwebenden Vogels ins Wasser ein. Es war sofort klar, dass er den Wettkampf gewinnen würde.

Ich sah Marie am anderen Ende des Beckens auf- und abspringen. Sie wollte, dass er gewann, und glaubte mit aller Kraft an ihn. Während Graham seinen Thron erklomm, stand ich auf und lief hinter der Tribüne entlang und durch den Fitnessraum zu einem Verkaufsautomaten.

Als ich zurückkam – um fünfzig Cent ärmer und eine Tüte Doritos reicher –, entdeckte ich im Publikum Olive mit ihrer Mutter.

Irgendwann im letzten Sommer, kurz bevor die Schule wieder anfing, hatten Olive und ich bei ihr im Keller gehockt und sie hatte mir erzählt, sie sei vielleicht lesbisch.

Sicher war sie sich nicht, sie hatte nur das Gefühl, nicht ganz normal zu sein. Jungs gefielen ihr durchaus. Aber sie hatte den Verdacht, dass sie eigentlich Mädchen mochte.

Ich war mir ziemlich sicher, dass das außer mir niemand wusste. Und ich war mir auch ziemlich sicher, dass ihre Eltern langsam etwas ahnten. Aber das ging mich nichts an. Meine einzige Aufgabe war es, ihre Freundin zu sein.

Darum tat ich Dinge, die Freundinnen tun, wie beispielsweise stundenlang Musikvideos mit ihr zu gucken, nur damit Olive Natalie Imbruglia in ihrem »Torn«-Video anstarren konnte. Das war allerdings kein ganz selbstloser Akt, da das mein Lieblingssong war und ich davon träumte, mir die Haare wie Natalie Imbruglia schneiden zu lassen.

Auch meine Bereitschaft, alle paar Wochen »Titanic« mit ihr anzusehen, entsprang nicht reiner Selbstlosigkeit. Olive versuchte herauszufinden, ob sie sich bei der Sexszene zwischen Jack und Rose von Leonardo DiCaprio angezogen fühlte oder von Kate Winslet.

»Hey!«, sagte sie, als ich an jenem Tag im Schwimmbad in ihr Blickfeld trat.

»Hey«, gab ich zurück. Olive trug ein weißes Mieder unter einem offenen hellblauen Hemd. Ihre langen pechschwarzen Haare fielen ihr glatt über die Schultern. Bei dem Namen Olive Berman hätte man vielleicht nicht vermutet, dass sie halb Jüdin, halb Koreanerin war, aber sie war stolz auf ihre südkoreanische Familie und auch darauf, wie wundervoll ihre Bar-Mizwa gewesen war.

»Was machst du hier?«, fragte sie.

»Marie hat mich hergeschleppt und dann sitzen lassen.«

»Ach so.« Olive nickte. »Die typische Tochter des Buchhändlers. Ist sie wegen Graham hier?« Olive verzog das Gesicht, als sie Grahams Namen aussprach, und ich war froh, dass sie ihn genauso albern fand wie ich.

»Ja«, bestätigte ich. »Aber … Moment, warum bist du hier?«

Olives Bruder war geschwommen, bis er letztes Jahr seinen Abschluss gemacht hatte. Olive hatte versucht, ins Schwimmteam der Mädchen zu kommen, es aber nicht geschafft.

»Mein Cousin Eli schwimmt für Sudbury.«

Olives Mutter löste den Blick vom Geschehen im Schwimmbecken und sah mich an. »Hallo, Emma! Komm, setz dich zu uns.« Als ich neben Olive Platz genommen hatte, wandte Mrs. Berman ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schwimmwettkampf zu.

Eli kam als Dritter ins Ziel, und Mrs. Berman ballte verzweifelt die Hände zu Fäusten und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich erneut zu Olive und mir um.

»Ich gehe kurz zu Eli, um ihn in den Arm zu nehmen und ein bisschen aufzubauen, dann können wir nach Hause fahren, Olive«, sagte sie.

Ich hätte sie gern gefragt, ob sie mich mitnehmen würde. Olive wohnte nur fünf Minuten von mir entfernt. Unser Haus lag zwischen der Ausfahrt vom Highway und ihrem Haus. Doch es fiel mir schwer, Menschen direkt um etwas zu bitten. Lieber redete ich um den heißen Brei herum.

»Ich sollte wohl besser Marie suchen«, sagte ich. »Mal sehen, ob wir aufbrechen können.«

»Wir können dich doch mitnehmen«, bot Olive an. »Oder, Mom?«

»Natürlich«, bestätigte Mrs. Berman, während sie aufstand und sich über die vollbesetzte Tribüne drängte. »Willst du dich noch von Eli verabschieden? Oder sollen wir drei uns am Auto treffen?«

»Am Auto«, erwiderte Olive. »Sag Eli aber liebe Grüße von mir.«

Olive steckte ihre Hand in meine Doritos-Tüte und bediente sich.

»Okay«, sagte sie, als ihre Mutter außer Hörweite war. »Hast du das Mädchen auf der anderen Seite vom Becken gesehen? Das sich mit dem Typen in der roten Badehose unterhält?«

»Hä?«

»Das Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Unterhält sich mit einem Jungen aus Elis Team. Ich finde, sie ist das schärfste Mädchen der Welt. Das schärfste Mädchen, das es gegeben hat.«

Ich blickte in Richtung Becken und hielt nach einem Mädchen mit Pferdeschwanz Ausschau, konnte jedoch keins entdecken. »Wo denn?«, fragte ich.

»Okay, jetzt steht sie neben dem Sprungbrett.« Olive zeigte in die entsprechende Richtung. »Gleich dort drüben. Neben Jesse Lerner.«

»Wem?«, fragte ich, während ich mit dem Blick Olives Finger zum Sprungbrett folgte. Dort entdeckte ich tatsächlich ein hübsches Mädchen mit einem Pferdeschwanz. Doch das interessierte mich nicht.

Weil ich im selben Moment den großen, schlanken, muskulösen Jungen neben ihr bemerkte.

Er hatte tief liegende Augen, ein hageres Gesicht und volle Lippen. Sein kurzes hellbraunes Haar stand vom Kopf ab, nachdem er sich die Badekappe heruntergezogen hatte. An seiner Badehose erkannte ich, dass er auf unsere Schule ging.

»Siehst du sie?«, wollte Olive wissen.

»Ja«, sagte ich. »Ja, sie ist hübsch. Aber der Typ, mit dem sie sich unterhält … Was hast du gesagt, wie heißt der?«

»Wer?«, fragte Olive. »Jesse Lerner?«

»Genau, wer ist Jesse Lerner?«

»Wieso weißt du nicht, wer Jesse Lerner ist?«

Ich wandte mich zu Olive um. »Weiß ich eben nicht. Wer ist das?«

»Er wohnt weiter unten in der Straße von den Hughes.«

Ich drehte mich erneut zu Jesse um und beobachtete, wie er eine Schwimmbrille vom Boden aufhob. »Ist der in unserem Jahrgang?«

»Ja.«

Olive sprach weiter, doch ich hörte ihr längst nicht mehr zu. Stattdessen sah ich Jesse nach, der mit seinem Team zurück in die Umkleidekabine ging. Graham ging direkt neben ihm, legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter und sprang dann vor ihn in die Schlange vor den Kabinen. Ich konnte den Blick nicht von Jesse abwenden, wie er selbstbewusst einen Fuß vor den anderen setzte. Er war jünger als die anderen Schwimmer – ein Schüler aus dem ersten Semester in der Schulmannschaft! –, und dennoch schien es ihm überhaupt nichts auszumachen, in seiner knappen Badehose vor allen Leuten zu stehen.

»Emma«, sagte Olive. »Du glotzt.«

Genau in dem Moment drehte Jesse ganz leicht den Kopf, und sein Blick landete für einen kurzen, atemlosen Augenblick direkt auf mir. Instinktiv sah ich zur Seite.

»Was hast du gesagt?«, fragte ich Olive und versuchte, so zu tun, als würde mich das Gespräch mit ihr interessieren.

»Ich habe gesagt, du glotzt.«

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach ich.

Da kam Mrs. Berman zurück auf unsere Seite der Tribüne. »Ich dachte, wir würden uns am Auto treffen«, sagte sie.

»Tut mir leid!« Olive sprang auf. »Wir kommen jetzt.«

»Tut mir leid, Mrs. Berman«, entschuldigte ich mich und folgte den beiden hinter die Tribüne und aus der Tür.

Kurz vor dem Ausgang blieb ich stehen, um ein letztes Mal zu Jesse hinüberzuspähen. Er lächelte. Es war ein breites, durch und durch ehrliches Lächeln. Sein ganzes Gesicht strahlte.

Wie gut es sich wohl anfühlen würde, wenn er mich so anlächelte, wenn ich der Grund für ein solches Lächeln wäre – und plötzlich wurde aus meiner frischen Verknalltheit in Jesse Lerner ein derart monumentaler Luftballon – wir hätten uns an ihm festhalten und in die Lüfte aufsteigen können.

In jener Woche sah ich Jesse beinahe täglich auf dem Schulflur. Nachdem ich ihn das erste Mal im Schwimmbad bemerkt hatte, schien er auf einmal überall zu sein.

»Das ist das Baader-Meinhof-Phänomen«, erklärte Olive, als ich ihr beim Mittagessen davon berichtete. »Mein Bruder hat mir davon erzählt. Wenn man von etwas hört, was einem bis dahin gar nicht aufgefallen ist, taucht es plötzlich überall auf.« Olive dachte einen Augenblick nach. »Oha. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Baader-Meinhof-Phänomen zum Baader-Meinhof-Phänomen habe.«

»Siehst du Jesse denn auch überall?«, fragte ich und hatte den Sinn ihrer Aussage überhaupt nicht begriffen. Als ich vorhin aus dem Spanischunterricht gekommen war, war ich schon wieder an ihm vorbeigelaufen. Er unterhielt sich mit Carolyn Bean neben ihrem Spint. Carolyn Bean war Kapitän der Mädchen-Fußballmannschaft. Sie trug ihre blonden Haare immer in einem Dutt und dazu ein Haarband. Noch nie hatte ich sie ohne Lipgloss gesehen. Wenn Jesse auf diesen Typ Mädchen stand, hatte ich keine Chance bei ihm.

»Ich sehe ihn nicht häufiger als sonst«, antwortete Olive auf meine Frage. »Aber ich sehe ihn ziemlich oft. Er ist in meinem Algebra-1-Kurs.«

»Bist du mit ihm befreundet?«, fragte ich.

»Eigentlich nicht«, erwiderte Olive. »Aber er ist nett. Du solltest ihn mal grüßen.«

»Das ist doch krank. Ich kann ihn nicht einfach grüßen.«

»Klar kannst du das.«

Ich schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Das ist doch albern, was du sagst.«

»Was du sagst, ist albern. Schließlich ist er in unserem Jahrgang. Er ist nicht Keanu Reeves.«

Im Stillen dachte ich: Wenn ich mit Jesse Lerner reden könnte, wäre mir Keanu Reeves völlig schnuppe.

»Ich kann mich ihm doch nicht einfach vorstellen, das ist verrückt«, sagte ich, nahm mein Tablett und steuerte auf den Mülleimer zu. Olive folgte mir.

»Okay«, sagte sie. »Aber er ist total nett.«

»Sag das nicht! Das macht es nur noch schlimmer.«

»Soll ich etwa sagen, dass er gemein ist?«, fragte Olive.

»Ach, ich weiß doch auch nicht, was du sagen sollst.«

»Du bist eine ganz schöne Nervensäge«, stellte Olive überrascht fest.

»Ich weiß!«, sagte ich. »Ach … komm schon. Ich kaufe dir eine Packung Kekse.«

Damals konnte man jemanden noch mit einer Packung Kekse für fünfundsiebzig Cent besänftigen. Als wir zum Verkaufstresen gingen, grub ich in meiner Hosentasche und zählte meine Silbermünzen.

»Ich habe genau eins fünfzig«, stellte ich fest, während ich Olive zum Ende der Schlange folgte. »Das genügt für eine Packung für jede.« Als ich aufsah, bemerkte ich, dass Olive große Augen machte.

»Was ist?«

Sie deutete mit dem Blick vor sich.

Direkt vor uns in der Schlange stand Jesse Lerner. Er trug dunkle Jeans, ein Smashing-Pumpkins-T-Shirt und dazu schwarze Converse One Stars.

Und er hielt Carolyn Beans Hand.

Olive sah mich an und versuchte, meine Reaktion zu ergründen. Doch ich starrte nur nach vorn und gab mich völlig unbeeindruckt.

Dann beobachtete ich, wie Carolyn Bean Jesses Hand losließ, in ihre Tasche langte, eine Tube Lippenbalsam hervorholte und auf ihre Lippen auftrug.

Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass sie seine Hand hielt, sie besaß auch noch die Dreistigkeit, sie einfach loszulassen.

Von da an hasste ich sie. Ich hasste diese fußballspielende, haarbandtragende, Dr.-Pepper-Lippenbalsam-mit-Geschmack benutzende Tusse von ganzem Herzen.

Wenn Jesse je meine Hand nehmen sollte, würde ich sie niemals wieder loslassen.

»Lass uns lieber gehen«, sagte ich zu Olive.

»Ja«, stimmte sie mir zu. »Wir können uns ja stattdessen etwas aus dem Automaten ziehen.«

Niedergeschlagen und liebeskrank ging ich zum Verkaufsautomaten neben dem Band-Raum.

Ich kaufte zwei Snickers und reichte einen davon Olive. Sofort biss ich in meinen, als wäre Schokolade das Einzige, was die Leere in meinem Herzen füllen könnte.

»Ich bin über ihn hinweg«, sagte ich. »Ich war total verknallt. Aber das ist vorbei. Ich bin drüber hinweg. Echt.«

»Okay«, sagte Olive und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Nein, ehrlich«, beharrte ich. »Es ist vorbei.«

»Klar«, entgegnete Olive, zog die Brauen zusammen und schürzte die Lippen.

Dann hörte ich eine Stimme hinter mir.

»Emma?«

Ich drehte mich um und sah Sam aus dem Band-Raum auf mich zukommen.

»Oh, hallo«, entgegnete ich.

»Ich wusste nicht, dass du um diese Zeit Mittagspause hast.«

Ich nickte. »Ja.«

Sein Haar war etwas zerzaust, und er trug ein grünes T-Shirt, auf dem »Bom Dia!« stand.

»Wir haben offenbar morgen unsere erste gemeinsame Schicht«, sagte er. »Im Laden, meine ich.«

»Ach«, erwiderte ich. »Ja, stimmt.« Am Dienstag hatte sich Marie, ohne zu fragen, meine Fiona-Apple-CD geliehen und mich dadurch gezwungen, sie als »Arschloch« zu bezeichnen, was leider meine Eltern gehört hatten. Zur Strafe musste ich am Freitag im Laden arbeiten. Wir erhielten weder Hausarrest noch verbot man uns etwas, in meiner Familie musste man arbeiten, um Buße zu tun. Mit Extraschichten konnten meine Eltern uns eine Lektion erteilen und zugleich kostenlose Arbeitskräfte rekrutieren. Dass sie mich ausgerechnet für den Freitagabend eingeteilt hatten, bedeutete, dass ich nicht mit Olive zusammen sein konnte, während meine Eltern ins Kino gingen.

»Morgen?«, fragte Olive. »Ich dachte, wir würden nach der Schule zu mir gehen.«

»Tut mir leid«, erwiderte ich. »Ich habe vergessen, dass ich arbeiten muss.«

Es klingelte, ich musste in meinen Geografie-Kurs.

»Oh«, sagte Olive. »Ich muss los. Ich habe mein Buch im Spind gelassen.«

Ohne auf mich zu warten, ließ Olive mich einfach stehen. Wenn es um Pünktlichkeit ging, ließ sie sich von nichts und niemandem aufhalten.

»Ich muss auch los«, sagte ich zu Sam, der es anscheinend nicht eilig hatte, irgendwohin zu kommen. »Wir schreiben in Geo einen Test.«

»Ja, klar, ich will dich nicht aufhalten«, erwiderte Sam. »Ich wollte nur fragen, ob ich dich mitnehmen soll. Morgen, meine ich, zum Laden. Nach der Schule.«

Ich sah ihn verwirrt an. Dabei verwirrte mich nicht, was er sagte. Der technische Vorgang an sich war mir klar: Ich sollte in ein Auto steigen, das mich von der Schule zur Arbeit beförderte. Aber es überraschte mich, dass er mir das anbot, dass er überhaupt daran dachte, es mir anzubieten.

»Ich habe gerade den Führerschein gemacht und den Camry von meinem Bruder geerbt«, erklärte Sam. Auf der Highschool schien irgendwie jeder Camrys oder Corollas zu erben. »Darum dachte ich …« Er sah mir kurz in die Augen, dann wandte er den Blick ab. »Dann musst du nicht mit dem Bus fahren, das ist alles.«

Er war so umsichtig. Und dabei kannte er mich doch kaum.

»Klar«, sagte ich, »das wäre toll.«

»Nach der Schule auf dem Parkplatz?«, fragte er.

»Ja, super. Danke. Das ist echt cool von dir.«

»Kein Problem. Bis morgen.«

Auf dem Weg zum Unterricht kam mir der Gedanke, dass es vielleicht an der Zeit war, mich anzufreunden, mit wem ich Lust hatte, und nicht weiterhin unter allen Umständen abzulehnen, was und wen Marie mochte.

Vielleicht war es an der Zeit, einfach … ich selbst zu sein.