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Buch

Vor zwanzig Jahren wurde die kleine Tatia von einem wohlhabenden Ehepaar adoptiert. Sie schien sich bei ihnen wohlzufühlen, fügte sich gut ein. Doch dann kam der jüngste Sohn der Familie bei einem tragischen Unfall ums Leben – und Tatia wurde beschuldigt, für seinen Tod verantwortlich zu sein. Die Eltern verstießen sie, trennten sie von ihren Adoptivgeschwistern Joel und Poppy.

Nach nichts sehnt Tatia sich mehr als nach einem eigenen Zuhause. Wenn sie also mitbekommt, dass Familien in den Urlaub fahren und ihre Häuser unbeaufsichtigt lassen, dann zieht sie selbst dort ein. Schließlich tut sie niemandem damit weh, in Abwesenheit der eigentlichen Bewohner für kurze Zeit deren Leben zu leben. Warum aber kommt es immer wieder dazu, dass Menschen sterben?

Als sich in gehobenen, vermeintlich sicheren Wohngegenden mehrere gewaltsame Todesfälle ereignen, setzen Detective Ray Drake und seine Partnerin Flick Crowley alles daran, eine Verbindung zwischen den Opfern zu finden und den Täter aufzuspüren. Doch Ray Drakes eigene dunkle Vergangenheit droht erneut alles zu zerstören.

Autor

Mark Hill ist Journalist und Drehbuchautor und arbeitet außerdem als Producer beim Radio. Er lebt mit seiner Familie im Norden Londons. Nach seinem Debüt Ich vergebe nicht ist Ich räche dich sein zweiter Roman um den Ermittler Ray Drake.

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MARK HILL

ICH

RÄCHE

DICH

Thriller

Deutsch
von Sabine Schilasky

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »It Was Her« bei Sphere, London.

Das Zitat von Emily Dickinson stammt aus: Emily Dickinson, Sämtliche Gedichte 1850 – 1886, übersetzt von Gunhild Kübler, Carl Hanser Verlag, München 2015.

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1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Mark Hill 2018

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Nikel

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

(Marcin Mierzejewski; ShutterStork; Helen Hotson; photolinc)

AF · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-18343-1
V001

www.blanvalet.de

Für
Pete und Doreen

War Jahre nicht Daheim

Stand vor der Tür, wagt nicht

Hineinzugehen aus Angst mich starrt

Ein unbekannt Gesicht

Nichtssagend an und fragt

Was mich hierher geführt

»Ich such nur mein verlassnes Leben

Ob so was hier wohl blieb?«

Emily Dickinson

1

Nach Will

Eben war Will noch da, und im nächsten Moment war er fort.

Grasbüschel zitterten am Rand der Kreideklippe. Eine Wolkenarmada jagte über den Horizont weit hinten, wo der Himmel aufs Meer traf.

Aber alles, was von Will blieb, war die Ahnung einer Bewegung. Ein Schemen im leeren Raum, dort wo er gerade noch gewesen war, über dem bebenden Gras und dem weißen Felsen, und wo nun, einen Lidschlag später, nichts mehr von ihm zu sehen war.

Joels Eltern rannten den Hang hinunter. Ihre Schreie und Rufe wurden vom heulenden Wind in seinen Ohren erstickt. Die Augen seiner Mutter weiteten sich vor Entsetzen, als sie über den unebenen Boden stolperte. Sein Vater brüllte, sie sollten zurückbleiben, weg von der Kante, um Gottes willen, zurück! Joel sah Poppy angelaufen kommen. Tränen strömten ihr übers Gesicht.

Sarah hingegen beugte sich über den Klippenrand und blickte nach unten, wo Hunderte Fuß unter ihnen die Wellen wütend gegen das zerklüftete Kreidegestein peitschten. Sie hatte die Hände fest auf die Knie gestemmt, damit sie nicht umkippte, und die Böen rissen und zerrten an ihrem Haar, wehten es ihr in das hübsche Gesicht.

Die Stimme seines Dads war heiser. »Weg da! Geht zurück!«

»Will! Will!«, kreischte seine Mum.

Sarah drehte sich um zu dem Geschrei hinter ihr, und ihr Blick traf auf Joel.

Sie lächelte. Es war ein breites Grinsen, das ihr Gesicht überzog.

Eben war Will noch da, und im nächsten Moment …

2

Heute

Dies, entschied sie, war ihr das liebste Zimmer von allen. Hier gab es so viele schöne Dinge.

Sie saß an der antiken Frisierkommode und berührte die Fläschchen und Tiegel, die dort in allen erdenklichen Formen und Größen standen: Magenta, Türkis, Jade, alle Farben des Regenbogens, die im sanften Schein der Spiegelbeleuchtung glitzerten. Das Bett war das größte, das sie je gesehen hatte, und auf ihm türmten sich Kissen und Überwürfe. Und es war ein Genuss, die Zehen in den zart gewebten, weichen Teppich zu graben.

Die Frau ging zum Kleiderschrank, der so in die Wand eingelassen war, dass man ihn kaum bemerkte. Und als die Tür mit einem leisen Wispern aufglitt, enthüllte sie ordentliche Reihen von Kleidern, Röcken und Blusen sowie säuberlich sortierte hübsche Schuhe: High Heels, Ballerinas, Stiefel, Sandalen.

Bügel klackerten aneinander, als sie ein Sommerkleid mit blassblauem Blumenmuster herausnahm, es sich vor den Körper hielt und sich vor dem Spiegel betrachtete. Das gescheckte Holzpferd mit der silbernen Mähne, die ihm über ein Ohr fiel, schaute ihr von seinem Platz im Erker aus zu. Polierte Steigbügel und Schnallen blitzten am Ledersattel. Die Frau erkannte Zustimmung in den aufgemalten Augen.

Ja, das.

Diesen Raum mit seinen schimmernden Wänden und dem Silber und Gold, das aus dem Schmuckkästchen auf der Frisierkommode quoll, dem funkelnden Kronleuchter und dem wuchtigen antiken Wandspiegel, dessen Oberfläche einige blinde Stellen vom Alter aufwies, fand sie noch bezaubernder als die anderen.

Zuvor hatte sie ein Bad in der ovalen Wanne genommen, sich bei flackerndem Kerzenlicht entspannt, dabei den Duft der Badesalze, Seifen und Cremes genossen, die nach Granatapfel, Blaubeere und Wintergewürzen rochen, und sich von der dampfenden Hitze alle Sorgen und Nöte aus den Muskeln und Knochen treiben lassen.

Plötzlich aber hatte sie wieder das schreckliche Bild des armen Mannes vor sich gesehen. Es war aus dem Nichts gekommen, hatte ihr mit einem Mal vor Augen gestanden und bewirkte, dass sie mit einem stummen Schrei aufschrak. Wasser war über den Wannenrand geschwappt und mit einem lauten Platschen auf den Fliesen mit dem Karomuster gelandet.

Von jetzt auf gleich war ihre Fassung dahin gewesen.

Völlig verkrampft war sie aus der Wanne gestiegen, hatte nach dem dicken Badehandtuch aus ägyptischer Baumwolle gegriffen, das auf dem beheizten Gestell vorgewärmt worden war, und es vermieden, sich dabei nackt im Spiegel zu betrachten – die hängenden Brüste und dicken Schenkel, den schlaffen Bauch, das grobe Narbengewebe an ihren Schultern und auf dem Rücken, das musste sie nicht sehen.

Stattdessen hatte sie das Laken um sich geschlungen, den Badezimmerschrank geöffnet, um die Auswahl an Lotionen zu betrachten, eine kühlende Gesichtscreme auf ihre erhitzten Wangen aufgetragen und anschließend den großen Wandschrank inspiziert.

Das Kleid, das sie ausgewählt hatte, lag bereits ausgebreitet auf dem Bett, damit es keine hässlichen Falten bekam. Bevor sie es anzog, trug sie erst mal Make-up aus goldenen Tuben und kleinen schwarzen Dosen auf, das ein Kaleidoskop von Farben auf ihrem blassen und vom Kummer gezeichneten Gesicht explodieren ließ. Schließlich musste ein Lippenstift ausgewählt werden. Ihre Finger verharrten eine Weile über den unterschiedlichen Farbtönen, ehe sie sich für ein leuchtendes Rot mit einem matten Glanz entschied und sich vom Schaukelpferd bewundern ließ.

Ja, sagte es. Genau der.

Die Frau nahm eine Haarbürste mit Elfenbeingriff und Perlmuttintarsien, die ein hübsches Muster aus Schnörkeln und Kringeln bildeten, und zog sie durch ihr Haar. Die Borsten knisterten auf ihrer Kopfhaut, und die Reibungselektrizität bauschte ihre ohnehin wirren Locken noch mehr auf.

»Alles fertig!«, rief eine Stimme.

Wieder zuckte sie bei dem Gedanken an jenen Mann zusammen, den sie einfach dort zurückgelassen hatten. Es nützte nichts; der ganze Abend wäre ruiniert, wenn sie nichts unternahm, um ihr Gewissen zu beruhigen.

Also holte sie aus ihren Cargoshorts, die zusammengeknüllt auf dem Boden lag, ein Handy heraus und schaltete es ein. Die Frau zögerte. Was sie vorhatte, war riskant. Doch als die Tastatur erschien, begriff sie, dass sie ohnehin nicht telefonieren konnte, weil sie die PIN-Nummer nicht kannte.

»Komm schon nach unten!«

Die Stimme machte sie nervös. Versuchsweise tippte sie willkürlich Zahlen ein. Ein kurzes Summen, sonst nichts. Es war sinnlos. Die Frau schaltete das Handy wieder aus und steckte es zurück in die Tasche ihrer Shorts, ging an dem Pferd auf seinen Schaukelkufen vorbei ans Fenster und zog den Vorhang ein wenig zur Seite.

Im Laternenschein der frühen Morgenstunden wirkte die Straße verlassen. Und dennoch wusste sie, dass in all diesen großen, schönen Häusern Menschen sicher in ihren Betten lagen, ein tröstlicher Gedanke. In der Ferne verklang das Röhren eines Automotors. Die Frau wünschte dem Fahrer alles Gute und hoffte, er möge bald wieder mit seiner Familie vereint sein, mit den Menschen, die er liebte.

»Es wird alles kalt«, rief die Stimme.

Das Kleid, das sie ausgesucht hatte, war zu eng, den Reißverschluss würde sie niemals zubekommen, aber da keine Zeit blieb, ein anderes zu probieren, ließ sie es einfach so und begab sich nach unten.

Die Küche, die im rückwärtigen Teil des Hauses lag, war riesig. Ein Oberlicht zog sich über die gesamte Länge, sodass der Raum bei Tageslicht bestimmt hell und freundlich war – jetzt machte ihn die indirekte Beleuchtung anheimelnd. Ein Edelstahlherd war in einen umgebauten Kamin eingelassen, die Schränke hatten Türen, die aufschwangen, sobald man sie antippte, und die lange Kücheninsel hatte eine Abdeckplatte aus glänzendem Granit. In der Spüle allerdings stapelten sich lauter Töpfe und Pfannen – ein Chaos, das der lange, elegante Wasserhahn, der an einen Schwanenhals erinnerte, missbilligend von oben herab betrachtete.

Ihr Begleiter saß gebeugt am Tisch und schaufelte sich Essen in den Mund, unterbrach die Nahrungsaufnahme kurz, als sie sich hinsetzte, drückte ihre Hand und sah sie bewundernd an.

Es war spät, sie waren beide müde und hungrig.

»Iss«, sagte sie zu ihm.

Die Zinken seiner Gabel klapperten auf dem Porzellan, als er eine Muschelnudel von seinem Teller aufspießte. Die Frau hingegen stocherte in dem Essen – es war verbrannt und gummiartig. Schließlich nahm sie einen Bissen, konzentrierte sich ganz auf die gemütliche Atmosphäre der Küche und versuchte das widerliche Schmatzen ihres Gefährten zu ignorieren. Dabei dachte sie an die seltsamen Wege, die sie zu diesem Mann und in dieses Haus geführt hatten.

Ein Geräusch ließ sie beide erschrocken aufblicken.

Die Haustür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Sie hörten besorgte Stimmen in der Diele, Fetzen einer hastigen Unterhaltung. Räder, die über den Holzboden rollten.

Sekunden später schwang die Küchentür auf, und eine sonnengebräunte Frau in heller Kleidung stand auf der Schwelle. Als sie aufschrie, drängte sich ein Mann an ihr vorbei und ließ den Griff seines Koffers los. Sein Gesicht unter dem stahlgrauen Haar war von einem schönen Bronzeton, auf Armen und Hals indes hatte er einen üblen Sonnenbrand.

Für einen Moment sahen die beiden ungleichen Paare einander sprachlos an, dann fragte der Mann an der Tür erbost: »Was bitte machen Sie in unserem Haus?«

Die Frau am Tisch überfiel eine furchtbare Traurigkeit. Sie erhob sich, schob ihren Stuhl so heftig zurück, dass die Stuhlbeine laut kreischend über die Fliesen schabten. Der Mann ließ seine Gabel klappernd auf den Teller fallen, und als er aufsprang, kippte sein Stuhl nach hinten. Die Sehnen an seinen Handgelenken zuckten angespannt.

Währenddessen dachte die Frau an dieses Haus, das der erlesene Geschmack, die Sorgfalt und die Liebe des Paares vor ihnen zu einem wunderschönen Heim gemacht hatte.

Tatia wünschte, es müsste nicht wieder so enden.

3

Über die Leiche zu steigen kam nicht infrage. Sie lag ausgestreckt im Flur, einen Arm über das Gesicht geworfen, den anderen zur Treppe ausgestreckt, wo die Fingerspitzen sich an die untere Stufe pressten wie die eines Schwimmers an den Beckenrand.

Simon Harrows rosa Hemd war über dem Bauch nach oben gerutscht, sein blutverkrusteter grauer Haarschopf klebte am Fliesenboden fest, während eines seiner Beine, offenbar gebrochen, mit der Ferse nach oben an der Wand lehnte. Zähne lagen verstreut wie Würfel herum.

Die Leiche verursachte einen Stau. Wenn die Polizei oder die Tatortermittler ins Esszimmer wollten, wo Melinda Harrow zusammengekrümmt unter dem Stutzflügel lag, mussten sie hinten herum durchs Wohnzimmer gehen.

»Ich will der Autopsie nicht vorgreifen«, sagte Detective Constable Millie Steiner. Die junge schwarze Beamtin trat zurück, um den Schürhaken zu betrachten, der voller Haare und Knorpelfragmente und überdies blutverschmiert zu Füßen des Opfers lag. »Aber ich tippe, dass sie damit erschlagen wurden.«

Eddie Upson zwinkerte. »Erstklassige Polizeiarbeit, Millie«, sagte er spöttisch und bekam postwendend ihren knochigen Ellbogen in die Rippen gerammt.

Währenddessen beugte sich Detective Inspector Ray Drake über die Leiche.

Die Haut an Harrows Bein war eingerissen, aufgeplatzt unter der Wucht des Schürhakens wie ein reifer, vom Baum gefallener Pfirsich. Muskeln und Sehnen quollen aus der Wunde, und ein leicht gebogener weißer Knochen war zu erkennen. Hämatome, verursacht von brutalen Tritten, verliefen im Zickzack am Wundrand.

»Der Mörder hat offenbar zunächst so heftig gegen das Schienbein getreten, dass er zu Boden geworfen wurde, und dann wie entfesselt mit dem Schürhaken zugeschlagen.«

Drake zog die Beine seines weißen Schutzanzugs hoch und hockte sich hin, um sich die gekrümmten Finger des Opfers und die Risswunden und Abschürfungen an den Armen und Schultern genauer anzusehen. Wahrscheinlich waren es Abwehrverletzungen, die Harrows sich zugezogen hatte, als er am Boden lag und sich zu schützen versuchte.

Millie beobachtete Drake aufmerksam. Sein strenges Gesicht mit den eingefallenen, zerfurchten Wangen, der geraden Nase, dem spitz zulaufenden Kinn und den blassblauen Augen, deren Farbe weiter zu verblassen schien, je länger man hinsah, faszinierte sie. Nicht dass Ray Drake jemals zulassen würde, dass man ihm lange in die Augen blickte.

Millie kam er immer wie ein reservierter Mann vor, der einen gesunden Abstand zu seinem Team wahrte.

»Die Kriminaltechniker sind ganz happy«, sagte sie. »Sie finden reichlich Fingerabdrücke im ganzen Haus, jede Menge forensische Beweise, und sie scheinen bei ihrer Tätigkeit sogar ihren Wortschatz zu erweitern. Total poetisch. Einer von ihnen sprach von einem Füllhorn an Beweisen.«

»Ich war mal in einem Restaurant, das so hieß«, warf Eddie ein. »War ein krass teurer Schuppen.«

»Und sie sagen, es gibt haufenweise Fußspuren«, fügte Millie hinzu, die es nicht wert fand, Eddies Einwurf zu kommentieren.

Ein schwacher Fußabdruck war es dann, der das beste Ergebnis erbrachte. Deutliche Fußspuren waren nämlich oft schwer zu lesen. Insbesondere blutige, denn die Feuchtigkeit lief ins Muster und vernichtete die Signatur, die sich durch Tragen und Abnutzung ergab. Jede Schuhsohle war anders, einzigartig, genauso wie jeder Fingerabdruck oder jeder Waffenlauf.

»Schön, Sie wieder dabeizuhaben, Boss«, sagte Millie.

»Danke.« Drake lächelte, ohne von Simon Harrows grausamen Verletzungen aufzublicken. »Das hier … ist nicht die klassische Vorgehensweise.«

»Nein«, stimmte die junge Beamtin ihm zu. »Nicht die klassische.«

Drake betrachtete das Baumwollhemd des Opfers, die Dreiviertelhose und die Segelschuhe, die jemand einfach in den Flur geworfen hatte. Er ging hinüber zu Melinda Harrows Leiche, die im Nebenzimmer nicht mal einen halben Meter vom Telefon entfernt lag. Wie ihr Mann war auch sie mit fast absoluter Sicherheit mit dem Schürhaken erschlagen worden, hatte mehrere tödliche Hiebe auf Kopf und Körper bekommen.

Melinda trug eine elegante Bluse und einen Seidenrock. Ein einzelner Espadrille hing von einem sonnengebräunten Fuß mit den himmelblau metallic lackierten Zehennägeln, die das Licht reflektierten, der andere war gegen ein Bein des Flügels gekickt worden.

In der Küchentür lag umgekippt ein Rollkoffer, an dessen Griff ein Gepäckanhänger hing. Ein weiterer, größerer Koffer aus demselben Set stand innen vor der Haustür zusammen mit Mrs. Harrows Hermès-Handtasche. In einem Seitenfach befanden sich zwei Reisepässe und zwei Boardingkarten.

Jeder von ihnen kannte das Gefühl der Erleichterung, aus einem Urlaub zurückzukehren. Verreisen war schön, doch nach Hause zu kommen barg eine besondere Freude. Wasser im eigenen Wasserkocher zu erhitzen, sich die Zähne am eigenen Waschbecken zu putzen. Sich unter eine frische Bettdecke zu legen, umgeben von geliebten Dingen, die man ein Leben lang angesammelt hatte. Stattdessen kamen die Harrows nach Hause, um sich unvermittelt einem Kampf auf Leben und Tod stellen zu müssen.

Einem Kampf, der katastrophal verlaufen war.

Auf dem Küchentisch standen zwei Teller mit Resten einer angebrannten Pasta. Oben brannte Licht. Ein Kleid war auf den Schlafzimmerfußboden geworfen worden. Ein Schmutzrand in der Badewanne und ein feuchtes Badelaken ließen vermuten, dass jemand das Bad benutzt hatte.

Jemand war hier gewesen, war eingedrungen ins gemütliche Heim der Harrows. Vielleicht jemand, den sie kannten, der auf das Haus aufpasste: Freunde, Nachbarn oder Bekannte von außerhalb, denen sie ihre Wohnung für die Dauer ihres Urlaubs überlassen hatten. Was allerdings nicht das aufgebrochene Fenster erklärte.

»Was wohl so ein Haus wert ist?«, rätselte Millie.

Bestimmt mehr, als sie sich vorzustellen vermochte. Immerhin handelte es sich um ein riesiges, viergeschossiges Gebäude mit sechs Schlafzimmern in einer begehrten Ecke von Tottenham. Und alles hier war vom Feinsten.

Eddie zerrte am Kragen seines Schutzanzugs. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Der Frühlingsmorgen erwärmte sich merklich. Zeit, dass die Leichen weggeschafft wurden.

»Garantiert einen Haufen Kohle«, meinte er, »selbst wenn die Gebote derzeit sekündlich weiter nach unten rauschen.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, Eddie«, mischte sich Drake ein. »Aber Ihre Sprüche haben mir gefehlt.«

Vergnügt zwinkerte Eddie seiner Kollegin zu.

Ein paar Officers standen an der Haustür und unterhielten sich lebhaft mit dem eintreffenden Pathologen über Rugby. Streifenwagen und Kleintransporter von Polizei und Kriminaltechnik parkten an der Straße. Eine kleine Frau drängte sich zwischen den Männern hindurch. Die Kapuze ihres Schutzanzugs erhob sich unnatürlich hoch über dem runden Gesicht, und ihre Schuhhüllen spannten sich straff über hochhackigen Stiefeln. Um ihren Hals baumelte ein Ausweis an einem Band. Sie war ganz auf ihr Handy konzentriert, tippte mit den Daumen darauf ein und bemerkte die Leiche in der Diele kaum, als sie nach oben ging.

»Wer ist das?«, fragte Drake.

An einem Tatort kamen und gingen eine Menge Leute, und wenngleich es nahezu unmöglich war, dass jemand unbemerkt zwei Absperrungen überwand, gefiel Drake die Vorstellung nicht, dass hier jemand herumwanderte, den er nicht einzuordnen wusste.

»Wer ist was?« Eddie blickte auf, doch die Frau war bereits weg.

»Egal.« Drake störte wie immer das laute Reden und das wiehernde Gelächter der Männer an der Tür. »Tun Sie mir einen Gefallen, Eddie, und sagen Sie den Leuten, sie sollen sich draußen unterhalten.«

»Wird gemacht, Chef.«

Der DI richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf und bewegte seine verspannten Schultern. Die Wunde, die er sich vor Monaten zugezogen hatte, war verheilt, aber der Muskel verkrampfte sich nach wie vor sehr schnell.

»Wo ist DS Crowley?«, fragte er Millie.

»Im Garten.«

Tatsächlich. Durchs Küchenfenster sah er Flick Crowley draußen auf dem Rasen, wo sie mit einem Fahndungsberater sprach. Einen Moment lang beobachtete er sie, und seine Nervosität nahm zu. Als er sich wieder der Leiche zuwandte, trat DC Vix Moore neben ihn.

»Ich habe mit dem Taxifahrer gesprochen«, informierte sie ihn.

»Warten Sie, wir gehen woandershin, hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr.«

Seit Eddie sich zu den Constables an der Haustür gesellt hatte, war es noch lauter geworden als zuvor, weshalb Drake es vorzog, sich im Wohnzimmer mit Vix weiter zu unterhalten.

Ein weiterer, ebenso geschmackvoll wie teuer eingerichteter Raum. Abstrakte Gemälde, Originale natürlich, sorgten für Farbtupfer an den strahlend weißen Wänden. Ein anthrazitfarbenes Sofa und passende Sessel standen im rechten Winkel zum Kamin, und eine große Bogenstehlampe ragte weit ins Zimmer.

In der Mitte des Kaminsimses entdeckten sie eine gerahmte Fotografie von Simon und Melinda Harrow an einem weißen Sandstrand vor einem spektakulären Sonnenuntergang. Ein gut aussehendes Paar in den Fünfzigern, das entspannt und glücklich an einem Tisch am Rand der Wellen sitzt, die Füße umspielt von silbrigem Wasser, in den Händen Sektkelche. Simon, sonnengebräunt und durchtrainiert, präsentiert sich in Tenniskluft, Melinda trägt ein weit ausgeschnittenes, von Pailletten gesäumtes Top, die im roten Abendlicht funkeln. Zwischen den leicht geöffneten vollen Lippen blitzen weiße Zähne hervor.

Und jetzt lagen sie übel zugerichtet in ihrem wunderschönen Heim und würden nie mehr weiße Strände und rote Sonnenuntergänge sehen.

Der kostbare Teppich war ein Stück weit aufgerollt, damit die Kriminaltechniker Spuren sichern konnten: Abdrücke, Flüssigkeiten, Flecken. Schließlich lag nicht weit entfernt nebenan im Esszimmer Melinda Harrows Leiche.

»Also, ich habe mit dem Taxifahrer gesprochen«, wiederholte Vix. »Mr. und Mrs. Harrow sind exakt um 0 Uhr 45 in Gatwick in seinen Wagen gestiegen.«

»Waren sie allein?«, fragte Drake.

»Ja, sie haben mit ihm über ihren Urlaub geredet, das Essen und das Wetter.«

»Keiner von beiden hat irgendwo angerufen oder Textnachrichten geschrieben? Und niemanden erwähnt, der bei ihrer Ankunft bei ihnen zu Hause sein würde?«

»Sie waren müde, jedoch guter Dinge«, antwortete Vix. »Mr. Harrow erzählte dem Taxifahrer, dass sie nach Hause kommen mussten, weil es in seiner Firma ein Problem gab.«

»Haben Sie mit irgendwem telefoniert?«, hakte Drake nach und fügte, als Vix blinzelte, hinzu: »Sie haben nicht gefragt.«

Die junge Beamtin wurde rot. »Nein.«

Drake ging zurück in die Küche, wobei er achtgab, auf den durchsichtigen Trittfolien zu bleiben, die auf dem Boden ausgelegt waren. Mit Handschuhen angetan, zog er die Tür des Kühlschranks auf, einem riesigen Designermodell von Smeg im Retrolook. Kühle Luft blies ihm entgegen. Drinnen war so gut wie nichts. Die Harrows mussten alles leicht Verderbliche vor ihrer Reise weggeworfen haben. Im obersten Fach standen Gläser mit Pickles und Oliven, eine Butterdose, irgendwo lag eine einsame Knoblauchknolle. Eine Packung Milch, Eigenmarke Quartley’s Supermarket, war in einem Türfach vergessen worden und inzwischen geronnen, wie Drake feststellte, als er sie schüttelte.

»Ich habe die Kontaktdaten des Fahrers«, sagte Vix, die ihm gefolgt war. »Ich spreche noch mal mit ihm und überprüfe das wegen des Telefonierens.«

»Danke, den Rest gehen wir später durch.«

»Ja.« Die Spitzen ihres strengen blonden Bobs vibrierten wie die Fühler eines ängstlichen Insekts. »Ich bin so froh, dass Sie wieder da sind, Sir. Weil ich so viel von Ihnen lernen kann.«

Vergeblich wartete sie auf anerkennende Worte, denn Drakes Blick kehrte immer wieder zum Garten und zu Flick zurück.

Es tat gut, zurück bei der Arbeit zu sein und das zu machen, was er am besten konnte. Dies hier war sein Leben. Allerdings konnte ihm das jederzeit genommen werden. Nicht allein seine Karriere, alles. Seine Familie, sein guter Name, womöglich sogar seine Freiheit.

Es lag ganz bei Flick.

Ray Drake holte tief Luft und schickte sich an, nach draußen zu gehen.

4

Er stand neben einem Holztisch samt Stühlen inmitten zahlreicher Terrakottakübel, in denen Grünpflanzen und Blühendes wuchsen und in einem Kräuter. Die Sonne, die über dem Dach stand, warf lange Schatten auf den gepflegten, völlig unkrautfreien Rasen.

Die Harrows hätten heute Morgen hier sitzen und ihr Frühstück genießen sollen, gut erholt von einem sonnigen Urlaub, umgeben von duftenden Edelwicken und Magnolien, von Nelken und Sternblumen, dabei die Bienen beobachtend, die im violetten Lavendel summten. Stattdessen schwärmte ein Team Fahndungsberater der Police Search Advisor, kurz PolSa, im Garten aus und suchte nach Spuren, während die Kriminaltechniker das aufgebrochene Schloss des hohen Gartentors fotografierten.

Neben der Garage und dem Kühler eines silbernen Audi aus der Sechserreihe unterhielt sich DS Felicity Crowley, die jeder nur Flick nannte, mit einem uniformierten Officer.

»Haben wir etwas?«, fragte Drake.

Mit verschränkten Armen, als wäre ihr kalt, kam sie auf ihn zu und nickte zum Ende des Rasens. »Da sind ein paar Teilabdrücke in einem der Beete beim Tor.«

»Drinnen gibt es jede Menge Abdrücke, ich bin sicher, dass wir bald einen Verdächtigen haben. Können wir kurz unter vier Augen sprechen?«, erwiderte Drake und wandte sich dann an den Constable. »Würden Sie uns einen Moment entschuldigen?«

Widerwillig folgte Flick ihm unter eine Magnolie, deren kelchförmige weiße Blüten sich gen Himmel reckten. Drake, der sich sogleich zielstrebig in den Schatten der knorrigen Äste geflüchtet hatte, war bemüht, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.

»Wie fühlen Sie sich heute Morgen?«, erkundigte er sich.

Unwillkürlich wanderte Flicks Hand zu ihrer Taille, wo ihr vor Monaten ein Messer hineingestoßen worden war. Man hatte sie notoperiert, um die inneren Blutungen zu stillen, anschließend musste sie Wochen in der Reha verbringen. Ihre Wunde war verheilt, aber Drake wusste aus eigener Erfahrung, dass die psychischen Folgen des Angriffs noch nachwirkten.

»Gut«, antwortete sie. »Mir geht es gut.«

Während sie zu den PolSa-Beamten hinübersah, betrachtete Drake ihr Profil: das schmale Gesicht mit den auffallend hohen Wangenknochen, das braune Haar, das in letzter Zeit deutlich länger geworden war, der Pony, der ihr in die Mandelaugen fiel, und die breiten Schultern, die in einen hochgewachsenen, schlanken Körper mit schmalen Armen übergingen.

»Flick.« Da mehrere Polizisten in der Nähe waren, sprach Drake leise. »Wir hatten bislang kaum Gelegenheit zu reden, seit …«

»Lassen wir das.« Sie hob abwehrend eine Hand. »Lassen Sie uns einfach … unsere Arbeit machen.«

»Sie haben recht, der Zeitpunkt ist ungünstig«, pflichtete er ihr zögernd bei. »Trotzdem müssen wir bald mal darüber reden.«

»Warum?« Sie drehte sich weg. »Warum müssen wir?«

»Weil ich wissen muss, ob Sie wirklich okay sind.«

Drake ging um sie herum, um ihr ins Gesicht zu schauen, denn noch immer hatte sie sich von ihm abgewandt. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie steckten gemeinsam in der Sache drin, in den Nachwehen jener entsetzlichen Nacht.

Eigentlich wollte er sie vor allem wissen lassen, dass er wusste, welches Risiko sie einging, indem sie seine Version jener gewaltsamen Ereignisse stützte. Sie hatten bei der Untersuchung der polizeiinternen Prüfstelle angegeben, dass der Mörder es auf jene Beamten abgesehen hatte, die gegen ihn wegen seiner Morde an früheren Bewohnern eines längst geschlossenen Kinderheims ermittelten. Immerhin war ein Mann bereits aus Rache getötet und Drakes Mutter attackiert worden, und seine Tochter hatte man als Köder benutzt, um ihn selbst in eine Falle zu locken.

So weit, so gut, doch sollte jemals die ganze Geschichte jenes Abends herauskommen, wäre sein Ruf dahin.

Nicht nur das, Flick kannte zudem die Wahrheit über Ray Drake. Vor einer halben Ewigkeit war er nämlich jemand anders gewesen, ein verstörter Teenager namens Connor Laird, der sich die Identität eines toten Jungen aneignete. Er übernahm Ray Drakes Namen, sein Zuhause, sogar seine Familie.

Lügen waren Gift. Aber Ray Drake lebte schon so lange mit dieser Lüge, dass er kaum noch wusste, was wahr und was gelogen war. Falls Flick, eine einsame, labile und verwundbare junge Frau, allerdings ihre Aussage änderte, konnte das seine auf Täuschung aufgebaute Welt einstürzen lassen – mit allem, was er sich ein Leben lang mühsam aufgebaut hatte. Und um Flick daran zu hindern, diesen Schritt zu tun, wollte er ihr helfen, das erlittene Trauma zu bewältigen. Ihr Befinden, vor allem das seelische, durfte ihm nicht gleichgültig sein. Um ihretwillen und um seines eigenen Überlebens willen. Bloß ließ sie ihn nicht an sich heran.

»Reden wir nicht hier darüber«, wehrte sie erneut ab. »Nicht mit zwei Toten dort drinnen.«

Drake spürte, dass sie wieder an jene grauenhafte Nacht dachte. An die mörderische Konfrontation in Drakes Haus und das einsame Cottage auf dem Land. An das Blut, das aus ihrer Wunde floss, während er inmitten des Gemetzels stand.

Ein Muskel zuckte in ihrer Wange, und in diesem Moment wusste Drake mit Sicherheit, dass sie ihm etwas verschwieg.

»Ist zwischen uns alles klar, Flick?«, fragte er leise.

Sie beobachtete, wie das Suchteam den Rasen durchkämmte. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Die Therapeutin …«

»Was ist mit ihr?« Er achtete darauf, ruhig zu bleiben, obwohl er innerlich bebte. »Was haben Sie ihr erzählt?«

DS Crowley schüttelte den Kopf und senkte den Blick. »Ich habe ihr nichts erzählt«, antwortete sie leise. »Noch nicht.«

Ihm war bewusst, was das hieß.

Sie wollte sich alles von der Seele reden, wollte loswerden, was sie über Drake wusste – und über Connor Laird sowie dessen tödliche Verbindung zu einer Mordserie. Selbst wenn Flick es lediglich einer einzigen Person anvertraute, würde früher oder später alles rauskommen. Die Therapeutin, die im Auftrag der Metropolitan Police, der für Greater London zuständigen Polizeibehörde, mit Flick arbeitete, war zwar zur Verschwiegenheit verpflichtet, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit Flick freiwillig und ganz offiziell mit der Wahrheit rausrückte. Eine Lüge nach der anderen würde dann in sich zusammenfallen, alles käme heraus.

Und vielleicht würde ebenfalls das gefährlichste Geheimnis von allen ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt.

»Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«

Er wollte ihr versichern, dass die schreckliche Schuld, die sie empfand, ebenso wie die Einsamkeit bestimmt vorübergehend sei. Dass sie sich erholen werde und gemeinsam mit ihm weitermachen könne. Waren sie nicht beide gute Leute, die keine Schuld traf und die durch widrige Umstände in eine Kette von schockierenden Ereignissen verstrickt worden waren, über die sie keine Kontrolle gehabt hatten?

Gerne hätte er das behauptet, doch er konnte es nicht.

Stattdessen zwang er sich zum wiederholten Mal zu überlegen, was Flick eigentlich genau in jener Nacht gesehen haben mochte …

»Es ist vorbei, vergangen, und wir haben einen Job zu machen«, sagte er lahm und nickte zum Haus. »Dieser Fall braucht unsere volle Konzentration. Ich verspreche Ihnen, dass ich alles tun werde, um Ihnen zu helfen …«

»Ich werde es ihr erzählen«, platzte Flick heraus.

Drake fühlte sich, als hätte man ihm einen Schlag versetzt, blieb indes trotzdem ruhig. »Ihr was erzählen?«

Zum ersten Mal sah sie in seine blassen Augen, und ihr Blick war trotzig.

»Chef«, hörte er eine Stimme.

»Flick …«, setzte er an.

»Chef«, kam es erneut von hinten.

Fahrig blickte Drake sich um und sah DC Upson an der Tür stehen.

»Die Frau von der Digitalen Forensik will Sie sprechen.«

Drake versuchte seine Gedanken zu sortieren. »Entschuldigen Sie, Eddie, wer?«

»Die Spezialistin für Digitale Forensik. Sie stöbert auf dem Dachboden herum.«

»Geben Sie mir noch eine Minute.«

»Sicher, kein Problem.« Eddie blieb an der Tür stehen.

»Eine Minute, bitte.«

Sobald der junge Detective Constable verschwunden war, raffte Flick sich zu einer Erklärung auf.

»Jede Woche gehe ich zu meiner Theapiesitzung und sage nichts. Ich rede über alles, ausgenommen über das, was in der Nacht passiert ist, und genau darüber muss ich reden. Ich kann … das nicht länger für mich behalten.«

»Es betrifft nicht Sie allein. Was in der Nacht geschah, ist uns beiden geschehen.«

»Sie verstehen das nicht, Ray«, sagte sie. »Sie sind nicht die Lösung, Sie sind das Problem. Die Leute haben keine Ahnung, wer Sie sind. Ich schon, ich weiß, wer Sie sind.«

»Ja, das wissen Sie«, bestätigte Drake.

»Und ich glaube nicht, dass ich mit dieser Last auf Dauer umgehen kann. Über Sie Bescheid zu wissen und über das, was passiert ist.«

In diesem Moment wurde ihm mit schrecklicher Gewissheit klar: Sie hatte es gesehen.

Sie wusste, was er getan hatte.

Während Flick zu dem Suchteam ging, war Drake darum bemüht, sich zu sammeln, bevor er ins Haus zurückkehrte. Auf keinen Fall durfte er sich seine Angst anmerken lassen.

Bald würde die Welt die Wahrheit über Ray Drake erfahren. Und es gab nichts, was er dagegen tun konnte.

Zunächst aber stand Arbeit an. Ein Tatort musste untersucht, eine Ermittlung eingeleitet werden. Wenigstens für eine Weile würde er noch das machen, wofür er geschaffen war.

5

Als er die Treppe hinaufstieg, versuchte Drake, sich auf den Tatort zu konzentrieren. Er blickte in das geräumige Bad, auf die Wanne, die gestern Abend benutzt worden war und die man wie die Wände mit Luminol abgesprüht hatte, ohne jedoch Blutspuren zu finden. Die Handtücher und der Inhalt des Schranks waren bereits eingetütet und ins Labor gebracht worden.

Im Erkerfenster des großen Schlafzimmers stand ein Schaukelpferd, das Drake blind anstarrte. Die schweren Vorhänge dahinter waren zugezogen. Ein Spurensicherer kniete vor einem Wandschrank und nahm Fingerabdrücke von den Schiebetüren.

Drake ging weiter nach oben zu einem Arbeitszimmer im Dachgeschoss. Das Gespräch mit Flick wollte ihm nicht aus dem Kopf, und er bemühte sich, dessen verheerende Bedeutung zu erfassen.

Er meinte, seinen Namen gehört zu haben, beugte sich über das Geländer: »Hallo?«

Der Spurensicherer kam aus dem Schlafzimmer. »Sir?«

»Haben Sie gerufen?«

»Nein, ich nicht«, antwortete der Mann und verschwand wieder.

An der Tür zum Dachboden stutzte er, bis ihm klar wurde, dass er den breiten Rücken der Frau vor sich hatte, die vor einer Weile ins Haus gekommen war. Immer noch wölbte sich die Kapuze ihres Schutzanzugs komisch um ihren Kopf, und immer noch wischte sie ständig mit den Fingern übers Display ihres Handys.

Im Gegensatz zu den durchgestylten Zimmern in den unteren Etagen wirkte der Raum unterm Dach eher chaotisch-gemütlich. Regale und Glasschränke waren mit Büchern über Kunst, Musik und Reisen gefüllt; ein Poster an der Wand unter einem Rosettenfenster warb für eine Opernaufführung in Berlin, Akten und Papiere stapelten sich auf einem kleinen Sofa oder lagen verstreut auf dem Fußboden. Zwei Schreibtische waren so zusammengeschoben, dass man sich beim Arbeiten gegenübersaß Auf dem einen stand ein MacBook, auf dem anderen ein Laptop.

»Sehen Sie sich das an«, sagte die Frau und blickte endlich auf.

»Ich kann nichts sehen«, erwiderte Drake.

Als sie ihm das Handy hinhielt, fielen Drake der schwarze Nagellack auf sowie ein verschnörkeltes Hennatattoo an ihrem Zeigefinger und die Tatsache, dass sie keine Handschuhe trug.

»Ich hoffe, dieses Telefon ist kein Beweisstück«, meinte er süffisant und deutete vielsagend auf ihre nackten Hände.

»Keine Sorge, das ist meins.« Sie zog das Band mit ihrem Ausweis aus dem Anzug. »Ich bin Grace Beer, Ihre Spezialistin für Digitale Forensik.«

Da die Menschen ihr Leben zunehmend online verbrachten, war es die Aufgabe der Digitalen Forensik, alle relevanten Daten aufzuspüren. Es würde nicht mehr lange dauern, erklärte man Drake ein ums andere Mal, bis alle Haushaltsgeräte und sämtliche Anschlüsse drahtlos miteinander kommunizieren könnten. Kühlschränke mit Toastern, Toaster mit Musikanlagen. Denkbar sogar, dass sich dereinst Wasserleitungen mit Sprinkleranlagen über das Wetter unterhalten würden. Alles ferngesteuert von einer App auf einem Tablet oder einem Smartphone. Und das bedeutete in letzter Konsequenz ebenfalls, dass Fachleute wie Grace Beer, die sich im Wirrwarr unzähliger digitaler Informationen zurechtfanden, bald an jedem Tatort den Vortritt haben könnten.

»Freut mich«, erwiderte Drake. »Und warum sehen wir uns Ihr Handy an?«

»Die Apps.«

Auf dem Display waren reihenweise Icons, und keines von denen ergab irgendwelchen Sinn für ihn.

»Das Ding mit dem kleinen Wikingerhelm?«, fragte er.

»Das ist ein Trash Metal Lyric Generator«, antwortete sie. »Das daneben.«

Drake sah ein Logo, das wie eine Antenne geformt war, umgeben von knisternden Klangwellen. Er erkannte es als das Markenzeichen eines großen Telefonanbieters wieder.

»Das wird Ihnen gefallen.« Sie hielt das Handy an ihre Schulter, stand da wie ein Technikguru vor einer Ansammlung von Jüngern.

»Also im Grunde haben viele öffentliche Orte, Cafés, Restaurants, Flughäfen, Büchereien und so, WLAN-Hotspots. Moment, Sie wissen, was das ist, oder?«

»Ja«, antwortete Drake geduldig. »Ich weiß, was ein WLAN-Hotspot ist.«

Sie zog ihre Kapuze ab und enthüllte ein riesiges Paar Kopfhörer, die über einer komplizierten Flechtfrisur klemmten. Ihre Ohrmuscheln waren mehrfach gepierct, im Nacken ragten tätowierte Engelsflügel bis in den Haaransatz, und ihre Augen waren extrem dunkel geschminkt. Dennoch sah Grace Beer in Drakes Augen nicht älter als zwölf aus.

»Es sind Stellen, an denen man sich ins Internet einloggen kann. Um sich in einen öffentlichen Hotspot zu wählen, muss man sich normalerweise von einer Website aus verbinden. Hat man hingegen eine spezielle App, kann man sich einfach so einloggen.« Sie tippte das Logo an, um es zu öffnen. »Dann passiert es automatisch. Das Telefon kommuniziert mit dem Hotspot und sagt« – hier ließ sie das Handy tanzen, als würde es sprechen –: »Ich bin hier, lassen Sie mich ins Internet, werter Herr. Und der Hotspot antwortet: Willkommen, mein Freund, bitte bedien dich an allem, was ich Schönes biete. Und dann verbinden Sie sich. Können Sie mir folgen?«

»Ja«, bestätigte Drake, der gut und gerne ohne die bizarr verstellte Stimme ausgekommen wäre.

»Nun zum Wesentlichen. Dieses Haus hat zunächst einen ganz normalen privaten WLAN-Account, in den man sich mittels Passwort einloggt. Aber daneben habe ich in dem Router eine versteckte Technik entdeckt, die das Signal des nächsten öffentlichen Hotspots verstärkt.« Sie sah ihn triumphierend an, wartete auf eine Reaktion, doch als keine kam, fuhr sie unbeirrt fort. »Also, der Serviceprovider nutzt ihn als Hotspot für jeden, der sich in dieser Gegend über sein bezahltes WLAN einloggen will. Wahrscheinlich findet man das ebenfalls in vielen Häusern in der Nachbarschaft. Und jetzt raten Sie mal! Als ich ins Haus kam, konnte ich mich mit der App des Serviceproviders auf meinem Android« – sie schwenkte demonstrativ ihr Handy – »automatisch in den öffentlichen Hotspot einloggen.«

Drake runzelte die Stirn und versuchte mitzukommen. »Und inwiefern hilft uns das?«

»Vielleicht gar nicht, vielleicht schon. Wenn der Router mit meinem Telefon kommuniziert, könnte er es genauso mit anderen getan haben, die hier im Haus waren. Falls die diese App hatten, nur unter dieser Voraussetzung. Dann hätte der Handybesitzer eine E-Mail-Adresse gebraucht, um sich für den Service anmelden, und die würde uns zu einer IP-Adresse führen.«

»Wie stehen die Chancen, dass wir die finden?«, fragte Vix Moore, die soeben hinter Drake erschienen war.

Grace zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Schuss ins Blaue. Trotzdem: Wenn ich automatisch eingeloggt wurde, als ich reinkam, laufen hier sicher noch andere herum, bei denen dasselbe passiert.«

»Sofern sie diese App haben«, wiederholte Drake, fasziniert von dem eben Gehörten.

»Ja«, bestätigte Grace. »Und sofern natürlich ihr Handy eingeschaltet und aktiviert wird.«

Vix, deren fester Überzeugung zufolge jede Frau verpflichtet war, eher Grace Kelly nachzueifern und nicht dem finsteren Look von Grace Beer, beäugte kritisch Haar und Make-up der Ermittlerin.

»Und was heißt das alles?«

Drake überlegte kurz. »Wir können beim Serviceprovider anfragen, ob sich letzte Nacht irgendwelche IP-Adressen auf diesem Router eingeloggt haben.«

»Bingo! Falls sie hier waren, kann der Serviceprovider den Besitzer ausfindig machen.« Grace drehte sich zu den Computern um. »Ich schaffe diesen Kram lieber ins Büro, damit ich mich gründlich in ihren sozialen Medien umsehen kann.«

»Wozu sind die?« Vix nickte zu den klobigen Kopfhörern auf dem Kopf der Spezialistin für Digitale Forensik. »Zum Abhören von Telefonnachrichten, Audiodateien oder so?«

»Die? O nein.« Grace zog an einem Kopfhörer, und er schnellte zurück an ihren Hals. »Die sind für meine Musik.«

»Versuchen wir es«, sagte Drake. »Schaden kann es ja nicht.«

6

Rays Erfahrung nach zahlten sich Schüsse ins Blaue manchmal, allerdings wirklich bloß manchmal aus.

Dies war einer der Momente. Jemand hatte tatsächlich ein Smartphone mit ins Haus gebracht, das benutzt worden war, denn es hatte sich automatisch mit dem öffentlichen Teil des Routers verbunden. Eine offizielle Anfrage beim Serviceprovider ergab eine IP-Adresse und damit einen Namen und eine Adresse in East Finchley.

DI Drake wagte zu hoffen, dass sie schon bald jemanden wegen der Morde an Simon und Melinda Harrow verhaften und anklagen konnten. Das Handy gehörte einem Gareth Walker, dessen Daten in der Polizeidatei auftauchten, weil er vor Jahren wegen Störung der öffentlichen Ordnung bei einer Demonstration aktenkundig geworden war.

Sein Zuhause, in einer ruhigen Straße gelegen, wurde observiert, doch seit vierundzwanzig Stunden war dort niemand ein oder aus gegangen. Und weil rundum alles verrammelt war, ließ sich unmöglich sagen, ob sich in dem Gebäude jemand versteckte. Diskrete Nachfragen in der Straße ergaben, dass niemand viel über Walker zu sagen wusste.

Dafür jammerten die Nachbarn über eine zunehmende Isolierung. Vor wenigen Jahren habe es noch gemeinsame Aktivitäten gegeben: Straßenfeste, einen Buchclub und anderes mehr. Inzwischen sei das alles vorbei, jeder bleibe für sich. Oft würden die Besitzer nicht einmal mehr in den Häusern wohnen, viele Immobilien seien reine Anlageobjekte, die von Agenturen verwaltet würden, oder zu Firmenwohnungen umgewandelt worden. Außerdem gebe es eine Menge Leerstand.

Es blieb also nichts anderes übrig, als beim Amtsrichter eine Hausdurchsuchung zu beantragen – und da niemand abzusehen vermochte, was sie drinnen erwartete, wurde eine C020-Einheit angefordert, ein Sonderkommando der Met, spezialisiert auf potenzielle Gefahrensituationen. Drake und sein Ermittlerteam standen in der Einsatzzentrale hoch über dem Verkehrslärm der Tottenham High Road und beobachteten die Erstürmung des Hauses.

Für gewöhnlich war der Fernseher an der Wand stumm, der Ton wurde lediglich zugeschaltet, wenn es einen größeren Zwischenfall in der Hauptstadt gab. Heute hingegen sollte live von der Bodycam eines Sergeants aus dem Sonderkommando übertragen werden.

Erwartungsvoll rollte Drakes Team Stühle vor den noch schwarzen Bildschirm und wartete, wickelte Sandwiches aus oder trank Kaffee. Andere hockten auf dem Rand ihrer Schreibtische und spielten mit ihren Handys.

Der DI selbst war angespannt, nicht ganz bei der Sache, dachte nach wie vor daran, dass eine seiner engsten Mitarbeiterinnen sein Geheimnis, seine Tarnung auffliegen lassen wollte. Seine Zukunft hing an einem seidenen Faden. Er beobachtete Flick, die am anderen Ende des Raumes mit Millie telefonierte, die vor Ort war. Falls sie merkte, dass Drake zu ihr hinsah, ließ sie es sich nicht anmerken.

Ein Stoß ins Rückgrat riss ihn aus seinen Gedanken. Vix quetschte gerade süßlich lächelnd ihren Stuhl in die enge Lücke neben seinem. Eddie hockte auf seinem Schreibtisch und förderte irgendwas aus seiner Nase zutage.

DS Dudley Kendrick, einer der ältesten Mitarbeiter im Team, krabbelte auf dem Boden unter dem Fernseher herum, richtete eine verwirrende Anzahl von Fernbedienungen auf den Bildschirm und drückte scheinbar willkürlich Tasten. Nachdem er einigen Spott geerntet hatte, gelang es ihm schließlich, ein Bild zu kriegen.

Besser gesagt: eine Art Bild, unscharf und ohne Ton. Diffuse Bewegungen im dunklen, beengten Innern eines Polizeitransporters. Undeutliche Gestalten, die sich im Finstern bewegten, aufgenommen von der Schulterkamera des Mannes aus der Spezialeinheit. Drake sah flüchtig Beine und Taschen mit Ausrüstung sowie ein Daumen-hoch-Zeichen, als die Kamera über eine Reihe von Männern schwenkte.

»Haben wir keinen Ton?«

Dudley strich mit einem Finger über das Touchpad eines Laptops. »Ja, gleich, ich bin noch dabei.«

Vix entfernte den Deckel von einer Tupperdose, unter dem ein Obstsalat zum Vorschein kam. Sie spießte ein Stück Ananas mit einer Plastikgabel auf und bot es Drake an, der höflich ablehnte.

»Geht jeden Moment los«, verkündete DS Kendrick stolz, und tatsächlich setzte ein ohrenbetäubendes Rauschen und Knistern ein.

Dann wurden die Geräusche differenzierter, ließen sich unterscheiden. Man hörte das Ratschen von Klettverschlüssen und das Klicken von Schnallen, als die Männer ihre Schutzwesten anzogen, desgleichen ihre Scherze, als sie ihre Helme aufsetzten. Dieses Team war vertraut miteinander und aufeinander eingespielt. Jeden Tag waren sie gemeinsam in der Stadt unterwegs, allzeit bereit, bei Terror, Krawallen, Banküberfällen, Geiselnahmen und sonstigen Gefahrensituationen einzugreifen.

Von außerhalb des Transporters war jetzt ein Pochen zu vernehmen, und die Kamera schwenkte zur Tür. Ein Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit und erfasste Millie, die auf der Straße telefonierte. Das Team sprang aus dem Wagen nach draußen in den hellen Sonnenschein, und man hörte das Knallen der verstärkten Stiefelspitzen auf den Stahlstufen des Transporters.

»Ja, wir können Sie sehen, Millie«, sagte Flick ins Telefon.

Die Kamera bewegte sich über die Straße, hüpfte mit den Laufschritten des Sergeants auf und ab. Drake erkannte einen von Bäumen gesäumten Gehweg, gepflegte Vorgärten und breite Einfahrten, große Einfamilienhäuser, sauber aufgereihte Recyclingtonnen an Zäunen. Es sah nicht wie die klassische Wohngegend eines mordenden Irren aus, doch angesichts des brutalen Angriffs auf die Harrows ging man kein Risiko ein.

»Sie gehen jetzt rein«, informierte Flick die anderen, sobald sie diese Information von Millie vor Ort bekommen hatte.