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Buch

In der Mitte ihres Lebens, scheinbar angekommen im trostlosen Alltag zwischen Job, Ehe und Muttersein, entdeckt die Journalistin und Bestsellerautorin Claire Dederer, dass das wilde Mädchen von damals noch immer in ihr steckt. Die Orientierungslosigkeit und die sexuelle Abenteuerlust ihrer Jugend überrollen sie förmlich. Claire Dederer begibt sich auf Spurensuche in ihrem eigenen, mehr als aufregenden Leben und erzählt von den wilden Eskapaden der zügellosen »crazy bitch«, die sie einst war – und zum Teil auch wieder werden möchte.

Autorin

Claire Dederer ist freie Autorin. Ihre Essays, Rezensionen und Reportagen sind in Vogue, The New York Times, Slate, Yoga Journal und The Nation erschienen. Sie lebt auf einer Insel nahe Seattle.

Von Claire Dederer außerdem erschienen:

Auch noch Yoga, oder was! Eine junge Mutter entspannt sich

Claire Dederer

Love & Trouble

Lebensmitte Ich zieh dann mal Bilanz

Aus dem Amerikanischen von Christiane Burkhardt

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe September 2018

Copyright © 2018 Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2017 der Originalausgabe by Claire Dederer

All rights reserved.

Originalverlag: Published in the United States by Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LLC, New York, and distributed in Canada by Random House of Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto.

Originaltitel: Love and Trouble. A Mid-Life Reckoning

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagillustration: FinePic®, München

Redaktion: Leena Flegler

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

CH ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-18554-1
V001

www.goldmann-verlag.de

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Ich habe mich nie daran gewöhnen können, dass die Königin erwachsen war. Immer wenn ich ihren abgeschnittenen Kopf auf den Münzen sehe, stelle ich sie mir als Vierzehnjährige vor (…). Inzwischen hat die Königin Enkelkinder bekommen, Tausende von Hüten abgelegt, einen Busen und (ketzerischer Gedanke!) den Ansatz eines Doppelkinns. Doch mir kann man nichts vormachen. Sie ist immer noch irgendwo da drinnen, diese andere.

Margaret Atwood, Katzenauge

Inhalt

1 Mein Leben heute

2 Eine Geografie des Weinens

3 Sex mit dem Mann, mit dem man bereits seit fünfzehn Jahren verheiratet ist

4 Ein Kuss kann ein ganzes Leben zerstören

5 Granatäpfel

6 Kennen Sie diese alles verschlingende Dunkelheit?

7 Lieber Roman Polanski, Teil I

8 Das Liebesviereck – eine Warnung

9 Josephine in Laurelhurst

10 Hinter der Punkfassade verbirgt sich ein Hippiemädchen

11 Rezidive Schlampentendenzen der adoleszenten Frau in der Prä-AIDS-Ära: eine Fallstudie

12 Szenenwechsel

13 A wie Acid: ein Oberlin-ABC

14 Ekel!

15 Curriculum

16 Seattle in den Neunzigern: eine Gebrauchsanweisung

17 Dante und Vergil in L. A.

18 Drei Küsse im Passiv

19 Nicht weitersagen

20 Uchronie

21 Opfer sein

22 Lieber Roman Polanski, Teil II

23 Getröstet und untröstlich zugleich

1

Mein Leben heute

Du hast alles richtig gemacht.

Du hast Freunde, auf die du dich verlassen kannst, Arbeit und einen wirklich netten Partner. Du hast ein Haus gekauft und Kinder bekommen. Du hast gar nicht groß darüber nachgedacht, sondern es einfach getan. Hast dafür all die Jahre schwer geschuftet. Du warst deinem Mann treu, bist eine überdurchschnittlich gute Mutter – und ja, das darf man laut sagen. Du hast dich immer gut angezogen, es aber nie übertrieben. Du hast ein bisschen Angst gehabt. Du hast brutal Angst gehabt. Du hast deine chaotische Vergangenheit hinter dir gelassen. Gleichzeitig saß dir jenes Mädchen, das du mal gewesen bist, diese katastrophale, kleine rebellische Schlampe, immer im Nacken. Du wolltest nichts mehr mit ihr zu tun haben. Trotzdem hast du manchmal spätabends, wenn deine Kinder und dein Mann längst im Bett waren, im Wohnzimmer Whisky getrunken, obwohl du noch gestillt hast. Du hast im Dunkeln Musik gehört. In solchen Momenten ist dir das Mädchen immer energischer auf die Pelle gerückt, bis du die Musik ausgemacht hast, ins Ehebett zurückgekehrt und in einen traumlosen, trunkenen Schlaf gesunken bist. Du bist mit dem Gefühl aufgewacht, du hättest dir die Zähne zu Stummeln geknirscht. Du hattest Kopfschmerzen davon.

Dieses Leben hat sich über ein, zwei Jahrzehnte angesammelt – wie ein Misthaufen, das Nest eines Laubenvogels oder eine gruselige Sammlung von Fingernagelresten. Es hat sich jedenfalls angehäuft, angereichert, weil du es nicht anders wolltest. Du gehörst zu den Leuten, die bekommen, was sie wollen. Du wolltest dieses wunderschöne Leben – ein Leben, das bei aller Schönheit die Person vollkommen ignoriert, die du einmal gewesen bist. Du hast dir buchstäblich den Arsch aufgerissen, um das zu schaffen.

Du bist aufs sogenannte »Land« gezogen. Aber nur weil man eine Fähre nehmen muss und Bauern in der Nähe wohnen, ist es noch kein richtiges Land, sondern einfach nur ein sehr, sehr malerischer Vorort. Dieses Pseudoland bot dir jene Natur, nach der du dich gesehnt hattest – einen Wald hinter deinem neuen Haus, eine Wiese zum Federballspielen und einen verwahrlosten Garten, den du »verwildert« nanntest und dir schöngeredet hast. Auch die Schulen waren fantastisch und das Haus, das du gekauft hast, größer als das alte, sodass deine Tochter und dein Sohn sich kein Zimmer mehr teilen mussten, obwohl es toll ist für Kinder, sich ein Zimmer zu teilen – höchstens etwas unpraktisch, wenn sie älter werden. Du hast dir ein schönes neues Sofa gekauft, weil die Kinder das vorherige im Kleinkindalter mit Kacke, Kotze und Blut vollgesaut haben, als wäre es der Rücksitz von Travis Bickle aus Taxi Driver. Du hast deinen Kindern Zahnspangen spendiert. Und dann sind die Kinder viel zu schnell erstaunlich groß geworden. In deinem sicheren, schönen Haus am Wasser auf dem sogenannten Land gegenüber der Stadt, in der du aufgewachsen bist, hast du das bemitleidenswerte Mädchen, das du einmal gewesen bist, mehr oder weniger vergessen. Es war aber auch ein dermaßen dämliches Aas, dass du es ohnehin lieber vergessen willst. Vielleicht hast du es mal auf einer Party zum Leben wiedererweckt, vor neuen Freunden, Eltern von Klassenkameraden deiner Kinder, die höflich über deine schrägen Anekdoten gelacht haben. Am nächsten Morgen war es dir einfach nur peinlich.

Und dann ist es auf einmal so, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Und zwar im April 2011. Du bist vierundvierzig, und du weißt das natürlich noch nicht, aber da beginnt dein Abstieg in die Hölle. Du wachst benommen auf. Dein Mann, ein Journalist, muss eine längere Geschäftsreise antreten, aber bevor er geht, bringt er dir noch Kaffee ans Bett und ruft den Kindern etwas zu. Du stehst auf, gehst in die Küche, lehnst dich verschlafen an die Arbeitsfläche und siehst, wie die Horde hereinpoltert. Na ja, zwei Kinder, aber frühmorgens wirken sie wie eine ganze Horde.

Deine Tochter, ein ernstes, großäugiges Mädchen mit schrägem Humor, ist zwölf. Ungefähr so alt, wie du warst, als du völlig aus der Bahn geworfen wurdest. Macht dir ihr Alter Angst? Wenn ja, gestehst du es dir nicht ein. Sie wird von Tag zu Tag schöner, während du immer unansehnlicher wirst, egal wie oft du die Chaturanga Dandasana einnimmst, die Brett-Haltung. Eine Freundin hat im Reformhaus deiner Insel eine Substanz namens Emu-Öl entdeckt. Soweit du es anhand des Kleingedruckten auf der ohnehin nicht gerade großen Flasche entziffern kannst, scheint es sich dabei um das Drüsensekret von Emus zu handeln. Welche Drüsen bitte? Keine Ahnung. Egal, es lässt dich und alle anderen Frauen in deiner Nachbarschaft einfach toll aussehen und bringt euch zum Strahlen. Einen Monat lang sind alle ganz verrückt danach, aber irgendwann wird es doch ein bisschen eklig. Währenddessen scheint deine Tochter kraft ihres kleinen inneren Mondes förmlich zu leuchten. Sorgt ihr Leuchten im Umkehrschluss dafür, dass dir deine Vergänglichkeit, deine schwindende Jugend umso bewusster wird? Nein, auch das magst du dir auf gar keinen Fall eingestehen.

Dein Sohn machte es dir deutlich leichter: Er ist neun Jahre alt, pausbäckig und auf eine herrlich unkomplizierte Art ebenso liebevoll wie laut. Da sind sie also, Morgen für Morgen, mit ihrem zerzausten Haar und ausdruckslosen Blicken, zwei schlafwarme Ungeheuer, deren wilde Träume erst noch mit Streicheleinheiten, Frühstück und Ermahnungen verscheucht werden müssen.

Dein Mann greift zu seinem Koffer und geht zur Tür, während beide Kinder nach ihren Schuhen suchen. Denn von der Geburt bis zur Volljährigkeit wird sie eines begleiten: unauffindbare Schuhe.

Dein Leben ist von A bis Z fremdgesteuert. Du wirst gebraucht, in jeder Hinsicht. Genau das hast du gewollt.

Dann bist du endlich allein und setzt dich an den Computer, um einen längst fälligen Artikel zu schreiben. Deine Konzentration lässt zu wünschen übrig. Durchs offene Fenster weht der Ruf einer Grundammer, der so klingt wie die Austin-Powers-Titelmelodie. Die Frühlingsluft stimmt dich wehmütig, sie ruft eine Erinnerung an Klassenzimmer wach, erinnert dich daran, dass du vom Schreibtisch fliehen willst – ja an die Entfesselungskünstlerin, die du mal warst. Während du da sitzt, kannst du plötzlich gar nicht mehr aufhören, an sie zu denken … an das Mädchen, das du mal gewesen bist.

Es ist nur so, dass du dich nicht mehr allzu gut an sie erinnern kannst, weil du sie bereits so lange verdrängt hast. Plötzlich brauchst du Beweise, dass es sie überhaupt gegeben hat. Du gehst wie in Trance in den Keller und wühlst in alten Umzugskartons. Wie eine Büßerin kniest du auf dem kalten Zementboden und suchst nach ihr.

Die Briefe sind schnell gefunden – ganze Kisten davon. Sie quellen aus Plastiktüten und flattern aus Büchern wie platt gedrückte Jungvögel. Als du noch jung warst, waren Briefe das Kommunikationsmedium: Damals hast du dein ganzes kleines Ich in einen Umschlag gequetscht, ihn in den Briefkasten geworfen und gewartet. Auf diese Weise wurden jahrelang Freundschaften aufrechterhalten. Briefe waren keine kostbare Seltenheit, sondern Papier gewordenes Leben, Gefühlsleben, und das war das einzige Leben, das dich damals interessiert hat.

Du sortierst die Briefe zu einem ordentlichen Stapel und suchst weiter, wühlst darin wie ein Trüffelschwein. Fotos aus dieser Zeit gibt es deutlich weniger, denn damals war es noch nicht üblich, einander in einem fort zu fotografieren. Als du noch jung warst, war es etwas ganz Besonderes, ein Foto von sich zu betrachten. Meine Güte, denkst du, bin ich altmodisch! Damals hast du nur dein Spiegelbild zu Gesicht bekommen, und das hat notorisch gelogen.

Deine Tagebücher – mehrbändige Schriften – sind nicht ganz so leicht zu finden. Du hast sie nicht zusammenhängend aufbewahrt. Bei jedem Umzug sind sie in unterschiedlichen Kartons gelandet, als hättest du dich vor dir selbst verstecken wollen. Du reißt die Kartons auf. Findest ein Tagebuch in einer Kiste mit alten Konzertshirts, die sich ihrerseits wie ein Tagebuch lesen: die Tattoo-You-Tour der Rolling Stones, Beat Happening, Died Pretty, The Melvins, The Presidents of the United States of America. Du findest noch ein Tagebuch, eingekeilt zwischen Stapeln mit Babywäsche, die du aus sentimentalen Gründen aufbewahrst. Drei unter College-Büchern von Autoren wie Clifford Geertz und Michel Foucault. Sobald du eines der Tagebücher berührst, erfasst dich eine Glückswelle: Dies ist das Buch, das du am dringendsten lesen willst.

Du schleppst das ganze Zeug in dein Arbeitszimmer im Garten, ein winziges Häuschen, das nur wenige, aber entscheidende Meter vom Haupthaus entfernt ist. Hierhin ziehst du dich zurück, um allein zu sein, deiner Familie aus dem Weg zu gehen wie diese emotional gestörten britischen Ehemänner, die Tage in ihren Schuppen verbringen, um irgendwelchen seltsamen Hobbys nachzugehen: Pornos? Philatelie? Du hingegen kommst zum Schreiben und zum Weinen her. Es ist ein Luxus, ein eigenes kleines Häuschen zu haben, in das man sich zum Weinen zurückziehen kann, auch wenn es äußerst schlicht ist: Fenster vom Sperrmüll, Sperrholzfußboden, Flohmarktmöbel. Du schnupperst kurz und nimmst einen Geruch wahr, der eindeutig tierischen Ursprungs ist. Unter dem Schuppen leben Waschbären.

Du verbringst viel zu viel Zeit hier, es ist einer deiner Rückzugsorte, eine Art Ventil. Ohne es dir einzugestehen, hast du dir in den letzten Monaten immer mehr davon zugelegt – etwa seit du vierundvierzig bist. Womöglich verselbstständigt sich das gerade ein wenig. Du hattest immer schon ein inniges Verhältnis zu deiner besten Freundin Victoria, aber seit einiger Zeit hängt ihr tagtäglich am Telefon wie frisch Verliebte: »Bei mir gab’s Thunfisch zum Mittagessen.« – »Ich hab geheult, statt was zu Mittag zu essen.« Ihr seid beide mit intelligenten, liebevollen, großgewachsenen, humorvollen Männern verheiratet. Trotzdem verreist ihr wie ein altes Ehepaar. Warum lasst ihr diese tollen Männer zu Hause? So genau kannst du es gar nicht sagen. Es hat etwas mit Dampfablassen zu tun. Auf jeden Fall begleitet sie dich auf Lesereisen und du sie auf Vernissagen (sie ist Künstlerin), und bei derlei Gelegenheiten trinkt ihr regelmäßig zu viel. Apropos tolle Männer: Du hast jede Menge unangemessene E-Mail-Freundschaften mit Männern. Sie sind nicht sehr romantisch, aber das sollte sich von selbst verstehen. Allerdings ist inzwischen sogar Sex mit deinem Mann – was immer mit Verbundenheit und Loslassenkönnen einherging – zu einem bloßen Ventil geworden, zu einem weiteren Rückzugsort, an dem sich in deiner Fantasie auf einmal Außenstehende drängen. Du stellst sie dir nicht direkt vor, während du es mit deinem Mann treibst … oder vielleicht doch? Der Sex ändert sich, wird wieder schmutzig – ausgerechnet jetzt, da du eindeutig alt wirst und Teile von dir schwabbelig, die eigentlich straff sein sollten. Du ertappst dich dabei, über seinen Knien zu liegen oder Teile von ihm im Mund zu haben, willst dir die Augen reiben und sagen: »Wie konnte es nur so weit kommen?« Du weißt, dass das nicht bei allen Frauen so ist. Auf jede wie dich, mit diesem verrückten Leuchten in den Augen, kommen drei andere, die sich damit zufriedengeben, es einmal im Monat zu tun oder noch seltener, die schon mit Kuscheln zufrieden sind. Du kannst sie gut verstehen, weil du das kennst. Aber jetzt ist alles anders. Jetzt denkst du nur noch: Meine Güte, wir werden alle sterben! Habt Sex, solange ihr noch könnt, ihr Idioten!

Was dich als Frau, die viele Jahre lang einwandfrei funktioniert hat, am meisten erstaunt, ist deine nachlassende psychische Ausgeglichenheit, deine schwindende Energie und Kompetenz. Eine nie gekannte Trägheit hat von dir Besitz ergriffen. Früher bist du hinaus in dein Arbeitszimmer gegangen, hast geschuftet, über einem aktuellen Artikel gebrütet. Doch seit du dein erstes Buch veröffentlicht hast, fällt dir die Arbeit zusehends schwer. Du weißt nicht recht, warum. Damals haben viele Leute nette Dinge gesagt und geschrieben, aber wie jeder Autor siehst du nur die fiesen Dinge, die Demütigungen. Eine frühere Lektorin und Mentorin von dir hat eine wütende E-Mail geschickt, in der stand, dein Buch sei so unlesbar, dass sie die Lektüre habe abbrechen müssen. Das wolle sie dir nur gesagt haben – »mit freundlichen Grüßen oder vielleicht eher Abschiedsgrüßen«, wie sie so schön schrieb. Das hat wehgetan, auch wenn du das nie zugeben würdest. Du bist erschüttert, verunsichert und gleichzeitig genervt.

Also sitzt du in deinem Arbeitszimmer, starrst nach draußen auf die Fuchsie, die aus irgendeinem Grund nicht mehr blüht. Du bist zu genervt, um sie zurückzuschneiden, damit sie wieder neu austreibt. Du bist wie ein Aufziehspielzeug, das nicht mehr aufgezogen werden kann. Du stellst fest, dass du immer öfter in einen katatonischen Zustand gerätst und mit offenem Mund vor dich hin glotzt – etwas, was du seit Jahrzehnten nicht mehr gemacht hast. Berufstätige Mütter mit kleinen Kindern dürfen in keinen katatonischen Zustand geraten, zu diesem Land haben sie keinen Zutritt. Stolzes Katatonien, über dem die Fahne der Trägheit und Melancholie weht! Auf einmal ertappst du dich nicht nur bei dem Wunsch, nichts tun zu müssen, sondern bei einem echten Bedürfnis danach.

Vielleicht gehört es ja zur weiblichen Midlife-Crisis dazu, dass man aufhört, Dinge zu tun?

Nun ist es ja nicht so, als wäre es neu für dich aufzuhören, Dinge zu tun. Du warst viele Jahre deines Lebens mehr oder weniger unproduktiv, etwa zwischen dreizehn und dreiundzwanzig, und bist trotzdem oder vielleicht gerade deswegen geliebt worden. Du hast dich im Nichtstun geübt, und das war mehr als genug. Dann hast du beschlossen, dass du Anerkennung für das willst, was du tust – fürs Schreiben, Muttersein, für das Führen des Haushalts, das Redigieren, Unterrichten, Gärtnern und Kochen. Schließlich hast du hart dafür gearbeitet, dir diese Fähigkeiten anzueignen. Dein Wunsch ist in Erfüllung gegangen, du wirst für deine Unentbehrlichkeit geliebt. Aber ist das nun ein Segen oder ein Fluch? Die Liebe zwischen dir und deinem Mann beruht auf Gegenseitigkeit: Was kannst du für mich tun? Was kann ich für dich tun? So etwas gilt als gesunde Ehe, man kümmert sich um die Bedürfnisse des anderen, deckt alles Wesentliche ab. Er verdient das Geld, und du stellst das Essen auf den Tisch, solche Sachen.

Ihr beide habt viele Hürden genommen. Ihr redet noch miteinander und habt immer noch Sex. Aber manchmal denkst du wehmütig an die Szene in Before Sunset, in der die von Ethan Hawke verkörperte Figur ihre Ehe beschreibt: »Heute hab ich das Gefühl, dass ich mit ’ner Frau ’nen kleinen Kindergarten betreibe, mit der ich früher mal was hatte.« Du hasst die Vorstellung, etwas mit Ethan Hawke gemeinsam zu haben. Ausgerechnet mit ihm! Abgesehen davon, dass es das natürlich alles wert ist: Deine Familie ist weder eine lästige Pflicht noch ein Trostpflaster. Sie ist einfach toll, deine große Liebe. Sie verleiht deinem Leben einen Sinn. Nichtsdestotrotz macht sie jede Menge Arbeit. Und zwar dir. Deshalb wünschst du dir manchmal, einfach nur dafür geliebt zu werden, dass es dich gibt. Du sehnst dich danach, einfach alles hinzuschmeißen. Nichtstun steht plötzlich ganz weit oben auf deiner Liste. Dieses Nichts macht dir so viel Spaß, dass du manchmal einfach den ganzen Tag im Bett bleibst und an dieses Nichts denkst. (Finanziell gesehen ist das suboptimal, und dein schwindendes Einkommen trägt nicht gerade dazu bei, dich bei deinem Mann beliebt zu machen.) Das Nichts, an das du denkst, hört gar nicht mehr auf – zum ersten Mal seit langer Zeit. Du interessierst dich für nichts.

Doch jetzt interessierst du dich für das hier, für dieses Beweismaterial aus dem Keller. Dort, in deinem Arbeitszimmer, breitest du die Fotos, Briefe und Tagebücher aus. Du schaust sie dir an und liest sie. Sie sehen absolut fantastisch aus – Paradebeispiele unnötiger Schönheit. Die Briefe enthalten lauter kleine Zeichnungen, Liebeserklärungen und überflüssige Verzierungen. Die Fotos sind albern, aber auch großartig, und alle sehen darauf viel dünner aus (was die Figur betrifft) und gleichzeitig pummeliger (was das Gesicht betrifft) als heute. Die Tagebücher sind verschlungene Fäden, mäandernde Selbstbespiegelungen – verwickelt wie eine Vulva, schnörkelig wie eine Meeresschnecke, wobei Original und Spiegelungen ein Netz, eine Falle bilden. Und auf einmal ist es wieder da, dieses schreckliche Mädchen.

4. Juni 1979, zwölf Jahre alt

Ich frage mich, ob diese Todessehnsucht jemals aufhört. Ich frage mich, wie sich die Liebe anfühlt.

2

Eine Geografie des Weinens

Ich legte sämtliche Tagebücher nebeneinander auf meinen Schreibtisch, spähte vorsichtig hinein und wurde lächerlich sentimental. Wie Brian Wilson schluchzte und weinte ich, lachte in meinem Zimmer über die Vergangenheit. Und damit war ich nicht allein: Alle Frauen weinten. Unsere Männer, Freunde und Partner hielten es für Selbstmitleid. Vielleicht war es das auch. Sie fanden, wir seien hysterisch und irgendwie zickig – vermutlich mit Recht. Und trotzdem hörten wir nicht auf zu weinen, keine Ahnung, warum. Alle Frauen weinten, wenn auch nicht überall. Wir weinten weder vor den Schulen unserer Kinder noch beim Einkaufen im Supermarkt, wo uns die Kassiererin kannte. Und auch nicht bei der Arbeit, zumindest nicht in Besprechungen. Wir sparten uns die Tränen auf und ließen sie erst hemmungslos fließen, sobald ein geeigneter Ort gefunden war.

Es gab Orte, die sich besonders gut für Tränen eigneten, Risse in den emotionalen Grundfesten, die Geysire zuließen, sie zumindest wahrscheinlicher machten. Seattle eignet sich nicht sonderlich gut zum Weinen. Seattle ist sogar berühmt dafür, emotional zugeknöpft zu sein. Es gibt diesbezüglich mehrere Theorien. Manche behaupten, es liege daran, dass wir überwiegend von Norwegern und Japanern abstammen und von deren Mentalität geprägt sind. Aber wie dem auch sei, Seattle ist definitiv ein Ort, an dem man eher keine Gefühle zeigt, sondern sie vielmehr erduldet. In Seattle, wo Regen und Staus miteinander wetteifern, ist Unerschütterlichkeit ein hohes Gut. Wir weinen nicht, wir ziehen einfach noch mehr Goretex-Klamotten an oder nutzen die Fahrzeit, um uns mit Hörbüchern weiterzubilden. Wobei man, wenn man in Seattle ins Auto steigt, von »fahren« wohl kaum sprechen kann.

Doch auf einmal waren da all diese Hotspots zum Weinen, an denen unsere Zugeknöpftheit bröckelte und sich unsere Gefühle Bahn brachen – ob es uns nun gefiel oder nicht.

J und ich tranken gerade Kaffee in einer hübschen kleinen Konditorei in Queen Anne Hill. Wir hatten bislang nichts gegessen und einen Mordshunger. Wir können beide überdurchschnittlich gut kochen. Wenn man in unserem Alter immer noch nicht kochen kann, kommt das einer ernsthaften Charakterschwäche gleich und hat etwas sehr Negatives, Unfreigiebiges. Tut mir echt leid, wenn ich das sage. Aber wie dem auch sei, wir konnten prima kochen, hatten aber irgendwie vergessen, wie man isst. Essen war anstrengend. Wir hatten tagtäglich mit Essen zu tun, planten es, kauften ein, bauten es an und lagerten es, kochten und servierten es seit Jahren, ja Jahrzehnten. Bis wir endlich mit Essen dran waren, konnten wir es nicht mehr sehen. Scheißessen!

Außerhalb unserer eigenen vier Wände sah Essen jedoch deutlich appetitlicher aus. Wir kauften Salate mit Fleisch drin, immerhin brauchten wir ja Proteine – es war, als würden wir uns in unsere eigenen Kleinkinder verwandeln. Soweit ich mich erinnere, ist das Wichtigste bei Kleinkindern: dass sie hinreichend Proteine kriegen.

Kaum dass wir unser Fleisch und unser Gemüse auf dem Teller hatten, suchten wir uns einen kleinen Tisch. Ich schaute nach Osten (in Seattle weiß ich automatisch, in welche Himmelsrichtung ich schaue – sogar in Innenräumen). Ich hatte schon öfter mit J an diesem Tisch gesessen, genau am selben Platz, und immer hatte es Tränen gegeben. Es war wirklich, als brächte dieser Tisch sie zum Weinen – wie ein gemeines Kind auf dem Spielplatz.

J ist genauso alt wie ich und eine Freundin neueren Datums. Sie und ihr Mann hatten sich gerade nach zweiundzwanzig Jahren Ehe mit drei Kindern getrennt. An jenem Vormittag waren sie bei der Eheberatung gewesen.

»Er« – J sprach von ihrem Mann, und die Tränen begannen zu fließen –, »er hat gesagt, dass er eine Pause will. Und Jay« – damit meinte sie den Seelenklempner – »hat es ihm erlaubt. Jay saß einfach nur da und hat erlaubt, dass er alles aufzählt, was ich falsch gemacht habe.«

Man sollte meinen, das sei typisch für eine Therapie – und es entsprach auch ganz meiner Meinung. Trotzdem wusste ich intuitiv, was jetzt meine Aufgabe war, und Realitätssinn war hierbei unerwünscht. Deshalb sagte ich, was man eben so sagt: »Ich weiß.« Und nickte dazu. Sie nickte ebenfalls. Wir spendeten einander Mitgefühl. Warum war es nur so wichtig, »Ich weiß« zu sagen? Denn in Wahrheit wusste ich natürlich überhaupt nichts. Es war schließlich nicht meine Ehe. Ich hatte nicht die geringste Ahnung. Trotzdem sagte ich: »Ich weiß.«

J fühlte sich mit ihrem Schluchzen, ihrer Weinerlichkeit und ihrem Kontrollverlust unverstanden – vermutlich verstand sie sich selbst nicht mehr. Wer ist diese weinende Frau?, fragte sie sich. Wo kommt sie auf einmal her? Als ich »Ich weiß« gesagt hatte, hatte ich eigentlich gemeint: »Ich weiß, wer du bist.« Mit anderen Worten: »Du bist immer noch J. Ich erkenne dich wieder. Du bist immer noch dieselbe wie zuvor – ehe diese Scheißheulerei anfing.«

Laut schniefend drückte J meine Hand. »Danke, Süße.« Sie war immer sehr rücksichtsvoll. Wir machten eine kleine Heul- und »Ich weiß«-Pause, als pausierten wir bei einem extremen (Sex-)Marathon. Im nächsten Moment fiel unser Blick auf ein auffällig pummeliges Baby auf dem Schoß seiner hübschen jungen Mutter. Alt und hässlich, wie wir waren, quietschten wir entzückt auf. (In den meisten Zivilisationen wären wir längst Großmütter.) Die junge Mutter wurde leicht nervös. Würde sie etwa eines Tages auch so enden? Genauso schamlos, naiv und verheult? Vom körperlichen Verfall ganz abgesehen? Ja, würde sie.

Alle Frauen weinten, aber für mich wird die wichtigste Weinende immer Victoria sein. Der Ort, an dem Victoria weinte, war … mein Handy. Und zwar täglich.

Sie rief an, als ich gerade meinen Nachmittagsspaziergang machte. Oft ertappte ich mich selbst beim Weinen, wenn ich auf dem Waldweg unterwegs war. An diesem einst so heiteren Ort drohten auf einmal Tränenfluten. Wir redeten über ihre bevorstehende Ausstellung im Seattle Art Museum, die sie in große Zweifel stürzte – Zweifel, die ihre gesamte Karriere als etablierte Künstlerin überschatteten, daher auch die Tränen. Vics Gedankenkarussell hielt einfach nicht mehr an, und ihre Ansprüche waren turmhoch. Genau das war das Tolle an ihr; andererseits machte sie sich das Leben damit unnötig schwer.

»Es tut mir leid.« Sie schniefte.

»Ich weiß.«

Ihre Tränen erreichten mich von irgendeinem Satelliten – keine Ahnung, wie iPhones miteinander kommunizieren.

Sogar in der Öffentlichkeit weinten die Frauen laut und hemmungslos. Nicht weil sie kein Benehmen hatten oder emotionale Exhibitionistinnen waren. Sie weinten, weil sie inzwischen bereits so viele Monate geweint hatten, dass es sich ganz natürlich anfühlte. Sie weinten, sobald sie auf ein mitfühlendes Gegenüber trafen oder jemand die tiefschürfende Frage stellte: »Wie geht es dir?«

A weinte exakt auf diese Art. Sie war das reinste Naturschauspiel. Wir umrundeten gerade den Hügel in Queen Anne Hill unweit der Konditoreien, wo J und ich gern Kaffee tranken. Offensichtlich klaffte aber genau dort ein Riesenriss in Seattles emotionalem Fundament. Die Vorfrühlingsluft duftete nach Daphne odora. Wir gehörten zu den Frauen, die so was einfach kennen – noch dazu in Latein. A wohnte in L. A., war auf Durchreise und würde demnächst ein Autorenstipendium antreten.

A weinte in Endlosschleife, während wir wie Sonderlinge durchs Viertel streiften, und As Weinen war wirklich aufsehenerregend. Während J einfach nur Tränen verdrückte, tobte A: Sie fuhr Knie und Ellbogen aus wie bei einem Work-out. Die Leute drehten sich schier nach uns um, auch wegen ihres knabenhaften Glamours.

»Alles Arschlöcher!«, zeterte sie und zählte Verfehlung um Verfehlung ihres kaltherzigen Exlovers auf. Es war die übliche langweilige Soziopathen-Litanei, nur dass A und ich mit so etwas nichts mehr zu tun gehabt hatten, seit wir Mitte zwanzig gewesen waren. Es war unerträglich, und doch ertrug sie es. Allerdings nur, indem sie ausgiebig weinte.

»Ich wusste, dass das passieren würde«, sagte sie. Mir war nicht ganz klar, was sie meinte, aber das war im Grunde egal. Sie fühlte sich generell betrogen. Wir alle taten das, auch wenn wir nicht genau wussten, warum.

Nicht mal in meinem gemütlichen Flur im ersten Stock bei Regengeprassel war ich noch sicher. Ich legte gerade Wäsche zusammen, als das Telefon klingelte. Vic war am Apparat. Ich klemmte mir den Hörer zwischen Ohr und Schulter, weil sie sauer wurde, wenn ich laut stellte. Am liebsten wäre ihr, ich würde stillsitzen, wenn ich mit ihr rede, mich konzentrieren.

»Machst du gerade den Haushalt?«, fragte sie.

»Nein.« Ich faltete Willies Unterhosen zusammen.

Wir redeten erst über meine Kinder und dann über unsere eigene Kindheit. Das war der Moment, als sie anfing, Tränen zu vergießen. Ich konnte sie zwar nicht direkt hören, dafür aber diese ganz spezielle Stille. Sie brachte uns zuverlässig zum Lachen.

Offensichtlich war mein Haus eine Problemzone, vielleicht stand es ja auf einer größeren Verwerfung. Meine Freundin G war mit ihren Kindern zu Besuch. Wir unterhielten uns gerade auf der Veranda, als G eine SMS bekam – irgendwas Berufliches – und ohne Vorwarnung losheulte. Ob sie überwältigt, verzweifelt oder einfach nur verletzt war, wusste ich nicht. Fest stand nur, dass G noch nie zuvor geweint hatte. Sie stammt aus einer handfesten Arbeiterfamilie, und ich kenne niemanden, der so hart schuftet wie sie. Sie ist ein liebevoller Mensch, gibt einem aber auch auf liebevolle Art zu verstehen, dass man sich nicht so anstellen möge. Und das gilt vor allem für sie selbst. Doch jetzt weinte und schluchzte sie – dicke Tränen liefen ihr über die gebräunten Wangen. Dann schüttelte sie den Kopf und lief ins Bad, um wenige Minuten später wieder aufzutauchen. Ihre Augen waren vom vielen Weinen völlig verquollen.

Ich nahm sie in die Arme.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, murmelte ich in ihre Haare hinein.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein.«

»Kennst du denn den Grund?«

Wieder dieses Kopfschütteln. »Nein. Keine Ahnung.«

Die Frau konnte Hochzeitstorten backen, zweihundert Mann zum Abendessen verköstigen, selbst Möbel bauen, eine Autobatterie austauschen, erfolgreich eine Firma leiten, mit einer Kettensäge umgehen, Kleider nähen, Toiletten einbauen, Lampen neu verkabeln und was weiß ich. Aber eines konnte sie nicht mehr: aufhören zu weinen.

»Vielleicht ist es hormonell«, schlug ich vor.

»Egal«, sagte die praktisch veranlagte G. »Aber deswegen tut es nicht weniger weh.« Sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, fand sogar unter Extrembedingungen die eleganteste, effizienteste Geste dafür. Anschließend holte sie tief Luft, wandte sich ab … und begann erneut zu weinen.

»Ich weiß«, sagte ich betont gelassen. Aber insgeheim dachte ich: Meine Scheiße! Wenn G nicht mehr aufhören kann zu weinen, gibt es auch für uns keine Hoffnung mehr. Ich lief ins Haus und machte ihr einen Eiskaffee. Er schmeckte nicht so gut wie ihrer. Nichts schmeckt so gut wie ihre Sachen.

Von irgendwoher waren die Stimmen der Kinder zu hören. G nippte an ihrem Kaffee und tat, was man »sich zusammenreißen« nennt. Aber warum eigentlich? Warum war es so wichtig, dass unsere Kinder uns auf keinen Fall in diesem Zustand sahen?

Als Freelancerin tippte ich gerade irgendeinen blöden Artikel in die Tasten, eine Buchkritik, als das Telefon klingelte. Ich konnte kaum noch klar denken, und es war mir auch egal. An der Nummer auf dem Display sah ich, dass Vic dran war, und hob begeistert ab.

Als Erstes erzählten wir einander, wie extrem zickig wir heute schon zu unseren Männern gewesen seien. Vic hatte ein schlechtes Gewissen. Darüber war ich längst hinaus. Zwischen Bruce und mir hatte sich eine gewisse Distanziertheit entwickelt, die ich allerdings als Erleichterung empfand. Wir waren seit fünfzehn Jahren zusammen, aber da wir beide von zu Hause aus arbeiteten – also ständig zusammen waren –, witzelten wir gern, dass wir als Normalpaar umgerechnet schon seit hundertsechsundsiebzig Jahren verheiratet wären. Nur wie singt Morrissey so schön? »That joke isn’t funny anymore!« Ehrlich gesagt fragte ich mich nicht einmal, wie es ihm damit ging. Ich fand nicht, dass es ein Problem war – dieses mangelnde Interesse an ihm, diese extreme Ich-Bezogenheit. Ich merkte gar nicht, dass ich in den vergangenen Monaten langsam, aber sicher einen Ring um mich gezogen hatte, und das Einzige, was ich darin tun musste, war weinen. Ehrlich gesagt war es ein ziemlich doofer Ring.

Kurz darauf begann Vic zu weinen.

»Ich bin eine Idiotin«, sagte sie.

»Ich weiß. Ich auch.«

Neben meinem Arbeitsschuppen weinte ich noch an einem weiteren Ort, dem peinlichsten überhaupt: Ich weinte im Yogastudio, wo ebenfalls eine ernsthafte Verwerfung zu verlaufen schien. Ich ging am liebsten abends zum Yoga, und das war wie Weinen auf Rezept: Man schwitzt ungefähr eine Stunde lang heftig und legt sich dann im Dunkeln auf den Rücken. Daraufhin wird man von Misty, der Lehrerin, so liebevoll und ernst wie von einer Kindergärtnerin gebeten, die Augen zu schließen. Sie legt Krishna Das auf, dessen allwissende Chants von einem Harmonium begleitet werden – so ziemlich die rührseligste Musik, die es gibt. Und da lag ich nun, in meinem geschwächten Zustand, dehydriert, während Misty begleitet von Krishna Das und seinem Scheißharmonium zwischen ihren Schülern herumstreifte und einfach nur toll war. Das war mehr, als ich ertragen konnte. Hilflos brach ich in Tränen aus. Ich weinte um all das, was mir in meinem schönen Leben fehlte: Freiheit, Unbekümmertheit und irgendeine undefinierbare, perfekte Liebe, die ich nie erlebt hatte und auch nicht mehr erleben würde. Ich weinte um die Menschen in meinem Leben, die ich so sehr enttäuschte. Um meine Kinder und ihre ungewisse Zukunft. Ich weinte wegen meines langsam verfallenden, alternden Körpers. Wegen meines Versagens als Autorin. Ich schluchzte, aber Krishna Das sagte nicht: »Ich weiß.« Sondern: »Hare Krishna, Hare Rama.« Und das ist leider ganz was anderes.

Es war mir völlig unmöglich, das Weinen einzustellen. Trotzdem würde ich aufhören müssen, der Kurs wäre bald zu Ende, und damit würde auch das Weinen enden müssen. Ich konnte schließlich schlecht schniefend aus dem Studio gehen. Ich wohnte in einer kleinen Stadt, wo mich alle kannten. Außerdem war ich die Frau, die dieses Yogabuch geschrieben hatte, und durfte doch wohl nicht dabei erwischt werden, wie ich mich beim Yoga um Kopf und Kragen heulte. Tag für Tag aufs Neue.

Vielleicht war das aber auch der Grund: Das Yogastudio war für mich der Ort, an dem die Membran zwischen der normalen und der Welt der Tränen extrem dünn wurde und ich sie mit meinem ganzen Körper überwand. Trotzdem wusste ich, dass ich mich zusammenreißen musste. Wir drehten uns auf die rechte Seite, und ich wischte mir mit meinem T-Shirt die Tränen ab.

Hin und wieder bekam ich Vic persönlich zu Gesicht, und dann weinten wir unter vier Augen. Dabei hatten wir dafür eigentlich gar keinen Grund. Wir hatten beide ein gutes Jahr hinter uns. Sie hatte mit ihrem Mann ein schönes Leben in Nord-Seattle. Und ich hatte mit meinem Mann und meinen Kindern ein schönes Leben auf meiner Insel, die nur eine kurze Fährüberfahrt entfernt lag. Trotzdem waren wir unerklärlicherweise traurig. Unsere Traurigkeit war grenzenlos, und das beunruhigte uns. Irgendwie waren wir nur glücklich, wenn wir zusammen waren und so traurig sein konnten, wie wir wollten. Normalerweise führten uns unsere Heulspaziergänge durchs Industriegebiet am Lake Union unweit von Vics Atelier, das bald abgerissen werden sollte. Die Gentrifizierung hatte sie in ihrem unablässigen, dem Anschein nach personenbezogenen Bestreben, der ganzen Stadt die Seele zu rauben, bereits aus drei Ateliers verdrängt. Dabei liebten wir die dunklen Ecken in diesem noch nicht »entdeckten«, nach wie vor leicht heruntergekommenen Viertel, wie sie in der aufgehübschten Touristenmetropole Seattle inzwischen selten sind. Wir liefen bei Regen an Flachbauten mit Geschäften vorbei, die Bootsbedarf verkauften oder billiges chinesisches Essen. Früher hätten uns hier Männer ordinäre Bemerkungen nachgerufen oder zumindest versucht, uns anzusprechen. Früher war es ein Event gewesen, aus dem Haus zu gehen, eine Verheißung. Aber das war einmal. Heute war es eher so, als wären wir durchsichtig, unsichtbar wie Regentropfen. Nicht dass uns das groß aufgefallen wäre – wir waren Mitte vierzig, es war insofern schon länger so.

»Wann bist du gleich wieder nach London gezogen?«, fragte ich.

»1984. Meine Güte, war ich damals naiv!« Ich wusste sofort, was sie meinte, doch sie war noch nicht fertig: »Als ich meine Tagebücher und Briefe aus der Zeit gelesen habe, ist mir klar geworden, wie dumm ich damals war. Es ging ständig bloß um Jungs, Drogen und Alk. Ich wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mich dazu zwingen, all das sein zu lassen. Als wäre ich damals blind für alles andere gewesen …«

Das kam mir bekannt vor. Meine eigenen Tagebücher hatten sich als abstoßend erwiesen, als Ansammlung von sich gegenseitig überbietenden Blödheiten.

»Irgendwie vermisse ich es, dumm zu sein«, sagte ich.

»Oh, du bist immer noch dumm«, versicherte mir Vic.

»Aber nicht auf dieselbe Art!«

Unsere Sneakers waren inzwischen vollkommen durchweicht. Wir liefen an der Safe-N-Sound-Schwimmschule vorbei, und der Wind blies uns ins Gesicht. Es roch nach Chlor.

»Wenigstens haben wir damals noch etwas gefühlt«, stellte sie fest.

»Puh, ich war meinen Gefühlen völlig ausgeliefert.«

»Aber zumindest hatten wir Gefühle!«, beharrte Vic.

»Glaubst du etwa, wir haben jetzt keine mehr? Ich hab den Eindruck, als könnte ich sie gar nicht mehr abschalten. Sie fesseln mich mehr oder weniger ans Bett!«

»Ach, Scheiße, ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß auch nicht, was mit mir nicht stimmt«, rief sie. Eine einzelne perfekte Träne lief ihr über die Wange, als spielte Vic in einer Telenovela mit. Fehlte nur noch, dass sie eine Rose in der Hand hielt und ein Abendkleid trug. Wir liefen weiter, unter der Fremont Bridge hindurch und dann am Kanal entlang. Mineralisch riechendes Seewasser schlug gegen das Betonbett. Geografisch gesehen hatten wir die Mitte unseres Lebens erreicht, und dort, an dieser regnerischen Küste, sah sie offen gestanden nicht besonders verlockend aus.

30. Oktober 1989, 22 Jahre alt

Ich will ficken, egal wen. Ich will auf der Spüle gefickt werden. Ich will von einer Hand berührt werden, die meine Welt stabilisiert, indem sie mir einen Finger in die Vagina steckt. Ich will, dass mir jemand an den Busen fasst und mir übers Gesicht streicht. Ich will spüren, dass es einfach genügt stillzuhalten. Ich möchte jemand sein, ohne irgendetwas tun zu müssen. Ich will unverzichtbar sein und dementsprechend rangenommen werden.

3

Sex mit dem Mann, mit dem man bereits seit fünfzehn Jahren verheiratet ist

Hilfsmittel sind verzichtbar, auch wenn sie manchmal ganz nett sein können. Verwendet man sie in Gegenwart des Mannes, mit dem man seit fünfzehn Jahren verheiratet ist, heißen sie »Ehehygieneartikel«. Aber sie sind kein Muss. Ein Muss sind andere Dinge, wenn man mit dem Mann Sex haben will, mit dem man seit fünfzehn Jahren verheiratet ist: Komplimente, hübsche Dessous, Restaurantbesuche, Romantik und sehr viel Zeit.

Was man vor allen Dingen braucht, ist ein Bett. Der Mann, mit dem man schon seit fünfzehn Jahren verheiratet ist, schlägt vielleicht das Sofa, den Fußboden oder den Küchentisch vor. Kommt aber gar nicht infrage. Familienräume sind irgendwie … zu familienmäßig. Und von den Folgen von Sex geprägt, nämlich Kindern.

Der Startschuss

Du spürst einen Anflug von sexuellem Verlangen. Es muss gar nicht durch deinen Mann hervorgerufen werden. Vielleicht sorgt ja der Gedanke an einen Wildfremden dafür, eine versaute Passage in einem Roman oder das Bild eines braun glänzenden Huhns in der Essensbeilage der New York Times. Vielleicht auch eine verirrte Brise. Es ist völlig egal, woher der Anflug von sexuellem Verlangen stammt. Sei einfach dankbar, dass es ihn gibt. Sexuelles Verlangen ist wie ein alter Freund aus Jugendtagen, der kurz auf Besuch kommt. Du hast ihn aus den Augen verloren, als du Mutter geworden bist – für längere Zeit. Und in dieser Zeit war es dein Mann (mit dem du damals erst seit Kurzem verheiratet warst), der alles am Laufen gehalten hat. Das Interesse deines Mannes an Sex war ein Grund, warum du dich damals für ihn interessiert hast. Als du ihn kennenlerntest, war seine Schüchternheit abtörnend und antörnend zugleich. Da musstest du dich einfach fragen, wie es wohl wäre, wenn er dich wahrnähme, dich berührte. Als er das erste Mal fest (dominant?) deine Hand nahm, warst du sexuell wie elektrisiert und dachtest spontan: »Den heirate ich!«

Willen

Dein Mann wird aufspringen, um dir ein Handtuch oder T-Shirt zu holen, und es dir zuwerfen. Wisch dich perplex und leicht geistesabwesend ab. Und noch während dein Mann duscht, starr einfach aus dem Fenster auf die große Zeder, und denk darüber nach, dass du den Garten düngen musst.

Hör die Katze vor der Tür miauen. Schließ wieder auf und lass sie rein.