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Zum Buch

Vor 15 Jahren wurde Casey Carters Verlobter ermordet – der steinreiche, berühmte Philantrop Hunter Raleigh III. Die Beweislast gegen Casey war erdrückend, auch wenn sie stets ihre Unschuld beteuerte und behauptete, während der Tatzeit tief geschlafen zu haben. Als Dornröschen-Killerin verspottet, wurde sie zu langjähriger Haft verurteilt. Nun ist sie wieder frei und wendet sich hilfesuchend an Laurie Moran, die Fernsehjournalistin, die in ihrer Sendung »Unter Verdacht« ungeklärte Verbrechensfälle behandelt. Denn selbst nach ihrer Entlassung ist Caseys Martyrium nicht vorüber: Keiner glaubt an ihre Unschuld, nicht einmal ihre eigene Mutter; in den Medien wird sie erneut als eiskalte Mörderin bezeichnet. Auch Laurie Moran weiß nicht recht, wie sie den Fall einordnen soll. Dennoch nimmt sie ihn an, weil Caseys Verzweiflung sie berührt. Da ihr Freund Alex aus der Sendung ausgestiegen ist, muss Laurie nun mit einem neuen Kollegen zusammenarbeiten, was für ständige Konflikte sorgt. Vor allem aber erweist sich der Fall als viel verzwickter und gefährlicher als geahnt …

Zu den Autorinnen

Mary Higgins Clark zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautoren weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an und hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den begehrten Edgar Award.

Alafair Burke war lange als Deputy District Attorney tätig. Ihr Beruf inspirierte sie dazu, Kriminalromane zu schreiben, u.a. die New-York-Times-Bestsellerserie um Ellie Hatcher. Sie ist die Tochter von James Lee Burke und lebt in New York.

MARY

HIGGINS

CLARK

ALAFAIR BURKE

SCHLAFE FÜR IMMER

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
THE SLEEPING BEAUTY KILLER bei Simon & Schuster, New York
Zitat von Oscar Wilde: aus »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«, übersetzt von Albrecht Schaeffer, Insel Verlag, Leipzig, 1917.
Copyright © 2016 by Nora Durkin Enterprises Inc.
All rights reserved. Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster Inc.
Copyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design/Margi Memminger, München, nach einem Konzept von Martina Eisele, unter Verwendung von Motiven von shutterstock (Boule, Gilmanshin)
Redaktion: Claudia Alt
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-20478-5
V002
www.heyne-verlag.de
www.penguinrandomhouse.de

Für Agnes Partel Newton,

in Liebe

M A R Y

Für Chris Mascal und Carrie Blank,

auf weitere 20 + 20 Jahre Freundschaft

A L A F A I R

Doch jeder tötet, was er liebt,

Das hört nur allzumal!

Der tuts mit einem giftigen Blick,

Und der mit dem Schmeichelwort schmal.

Der Feigling tut es mit dem Kuss,

Der Tapfre mit dem Stahl.

O S C A R  W I L D E,

Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading

PROLOG

Die Angeklagte möge sich erheben.

Mit wackeligen Knien richtete sich Casey auf. Ihre Haltung war tadellos – die Schultern waren gerade, den Blick hielt sie nach vorn gerichtet –, aber ihre Beine fühlten sich an, als könnten sie jeden Moment unter ihr nachgeben.

Die Angeklagte. Drei Wochen lang war sie im Gerichtssaal so angesprochen worden. Keiner hatte sie Casey genannt, keiner hatte sie mit ihrem richtigen Namen Katherine Carter angesprochen und schon gar nicht als Mrs. Hunter Raleigh III., mit dem Namen, den sie jetzt tragen würde, wenn alles anders gekommen wäre.

Man hatte sie behandelt, als wäre sie ein juristischer Sachverhalt, nicht ein Mensch oder die Frau, die Hunter mehr geliebt hatte, als sie jemals für möglich gehalten hatte.

Der Richter sah von seiner Bank aus zu ihr hinunter, und plötzlich kam sie sich unendlich klein vor, jedenfalls viel kleiner als die ein Meter siebzig, die sie in Wirklichkeit maß. Nein, sie war ein verängstigtes Kind in einem Albtraum, das zu einem übermächtigen Zauberer aufsah.

Bei den nächsten Worten des Richters lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Vorsitzende der Jury, sind Sie zu einem einstimmigen Urteil gelangt?

»Ja, Euer Ehren«, antwortete die Angesprochene.

Der große Augenblick war gekommen. Drei Wochen zuvor waren zwölf Bewohner des Fairfield County ausgewählt worden, um darüber zu entscheiden, ob Casey freigesprochen werden sollte oder ihr restliches Leben hinter Gittern verbringen musste. So oder so, ihre Zukunft jedenfalls hatte sie sich völlig anders vorgestellt. Sie würde Hunter nicht mehr heiraten. Hunter war nicht mehr am Leben. Wenn sie nachts die Augen schloss, konnte sie immer noch das Blut vor sich sehen.

Caseys Anwältin Janice Marwood hatte sie davor gewarnt, in die Mienen der Geschworenen irgendetwas hineinzuinterpretieren, aber natürlich konnte sie der Versuchung nicht widerstehen. Verstohlen sah sie zur Jury-Vorsitzenden, einer kleinen, pummeligen Person mit weichen, sanften Gesichtszügen – sie sah aus wie die Frauen, neben denen sich Caseys Mutter bei einem Kirchenpicknick gern niedergelassen hätte. Bei der Anhörung zur Auswahl der Geschworenen, erinnerte sich Casey, war sie als Mutter zweier Töchter und eines Sohnes vorgestellt worden. Und sie war erst vor Kurzem Großmutter geworden.

Eine Mutter und Großmutter musste in ihr doch einen Menschen sehen und nicht bloß eine Angeklagte, oder?

Casey musterte ihr Gesicht und versuchte Anzeichen zu entdecken, die Anlass zur Hoffnung gaben, blickte aber nur in eine reglose Miene.

Wieder war der Richter zu hören. Vorsitzende, bitte verkünden Sie das Urteil.

Die nachfolgende Pause fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Casey wandte den Kopf und ließ den Blick über die versammelte Zuschauermenge schweifen. Unmittelbar hinter dem Tisch der Anklage saßen Hunters Vater und Bruder. Vor kaum einem Jahr wäre sie beinahe Mitglied ihrer Familie geworden. Jetzt starrten sie sie wie ihre Erzfeindin an.

Schnell sah sie weiter zu »ihrer« Reihe, wo sie sofort an einem Augenpaar hängen blieb – Augen, die ebenso hellblau waren wie ihre und fast ebenso ängstlich wirkten. Natürlich war ihre Cousine Angela gekommen. Seit dem ersten Verhandlungstag stand Angela ihr bei.

Gleich daneben saß Caseys Mutter Paula, die Angelas Hand hielt. Sie war blass und fünf Kilo leichter als zum Zeitpunkt von Caseys Verhaftung. Und eigentlich erwartete Casey, dass ihre Mutter auch der Person auf der anderen Seite die Hand hielt, aber dort saß jetzt ein Fremder mit Notizblock und Stift. Ein weiterer Reporter. Wo war Caseys Vater? Hektisch sah sie sich im Gerichtssaal um und hoffte, ihn irgendwie übersehen zu haben.

Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Ihr Vater war tatsächlich nicht erschienen. Wie konnte er nur, ausgerechnet heute?

Er hat mich gewarnt, dachte Casey. »Nimm das Angebot an«, hatte er gesagt. »Dann bleibt dir noch genügend Zeit, um dir ein neues Leben aufzubauen. Und ich kann dich immer noch vor den Traualtar führen und irgendwann meine Enkel kennenlernen.«

Als ihr klar wurde, dass ihr Vater nicht im Gerichtssaal war, glaubte sie zu wissen, was geschehen würde. Die Geschworenen würden sie verurteilen. Keiner hielt sie für unschuldig, noch nicht einmal ihr eigener Vater.

Die Frau mit dem sanften Gesicht, die das Blatt mit dem Urteilsspruch in der Hand hielt, ergriff endlich das Wort. »Im Anklagepunkt eins, der Anklage wegen Mordes, befinden die Geschworenen die Angeklagte …« In diesem Moment musste die Vorsitzende husten. Von den Zuschauerrängen war ein Stöhnen zu hören.

»… für nicht schuldig.«

Casey verbarg das Gesicht in den Händen. Es war vorbei. Acht Monate, nachdem sie von Hunter Abschied genommen hatte, konnte sie sich wieder ein Morgen vorstellen. Sie konnte nach Hause. Die Zukunft, die sie mit Hunter geplant hatte, war verloren, aber sie würde wieder in ihrem eigenen Bett schlafen können. Sie würde allein duschen können und essen dürfen, was sie wollte. Sie wäre frei. Morgen würde eine neue Zukunft beginnen. Vielleicht legte sie sich einen Welpen zu, jemanden, für den sie sorgen konnte und der sie lieben würde, trotz allem, was über sie berichtet worden war. Und nächstes Jahr könnte sie vielleicht wieder an die Uni und ihre Promotion abschließen. Sie wischte sich Tränen der Erleichterung aus den Augen.

Aber dann fiel ihr ein, dass es eben noch nicht vorbei war.

Die Vorsitzende räusperte sich und fuhr fort. »Im Anklagepunkt des Totschlags befinden die Geschworenen die Angeklagte für schuldig.«

Kurz glaubte Casey, sie hätte sich verhört. Als sie sich aber zur Geschworenenbank hinwandte, strahlte die Miene der Vorsitzende nichts Unergründliches mehr aus, ihr Gesicht hatte nichts Sanftes mehr an sich. Genau wie die Familie Raleigh starrte sie Casey voller Verachtung an. Crazy Casey, wie die Zeitungen sie genannt hatten.

Hinter sich hörte sie ein Schluchzen. Als sie sich umdrehte, sah sie ihre Mutter sich bekreuzigen. Und Angela hatte vor Verzweiflung die Hände vors Gesicht geschlagen.

Wenigstens ein Mensch glaubt mir, dachte Casey. Wenigstens Angela glaubt, dass ich unschuldig bin. Trotzdem werde ich für lange Zeit ins Gefängnis kommen, genau wie es die Staatsanwaltschaft angekündigt hatte. Mit meinem Leben ist es aus und vorbei.

1

Fünfzehn Jahre später

Casey Carter trat vor, als sie das Klacken hörte, gleich darauf ertönte hinter ihr das vertraute laute und dumpfe Knallen. Das war das Geräusch der Zellentür, wenn sie zugeworfen wurde. Das hörte sie jeden Morgen, wenn sie sich zum Frühstück aufmachte, und jeden Abend nach dem Essen und in der Zeit dazwischen meistens noch zweimal. Viermal am Tag, seit fünfzehn Jahren. Machte etwa 21 900 Mal, Schaltjahre nicht mit eingerechnet.

Aber dieses Geräusch war jetzt anders. Und statt der üblichen orangefarbenen Gefängniskleidung trug sie eine schwarze Hose und die steife, weiße Baumwollbluse, die ihre Mutter am Vortag bei den Wärterinnen abgegeben hatte – beide waren ihr eine Nummer zu groß. Wenn sie heute ihre Zelle verließ, würde sie ihre Bücher und Fotos mitnehmen.

Es war, so Gott wollte, das letzte Mal, dass sie den metallischen Widerhall hörte. Dann hätte sie es geschafft. Keine Bewährungsauflagen, keine Einschränkungen. Wenn sie dieses Gebäude verließ, war sie frei.

Bei dem fraglichen Gebäude handelte es sich um die Strafvollzugsanstalt York. In der Anfangszeit nach ihrer Einweisung war sie zunächst in Selbstmitleid versunken. Crazy Casey, so hatten die Zeitungen sie genannt. Doch eher wohl die verdammte Casey. Mit der Zeit hatte sie sich aber gezwungen, dankbar zu sein für die kleinen Wohltaten, in deren Genuss sie hin und wieder kam. Brathühnchen am Mittwoch. Eine Zellengenossin mit einer wunderbaren Stimme und einer Vorliebe für Songs von Joni Mitchell. Neue Bücher in der Bibliothek. Irgendwann hatte man ihr das Privileg gewährt, einer kleinen Gruppe von Insassen Kunstunterricht zu erteilen.

Casey hätte sich früher nie träumen lassen, an einem Ort wie York zu landen, trotzdem war das Gefängnis für eineinhalb Jahrzehnte zu ihrem Zuhause geworden.

Ihre Mithäftlinge feuerten sie an, als sie durch den gefliesten Korridor ging – eine Wärterin vor ihr, eine Wärterin hinter ihr. »Los, Casey, zeig es ihnen.«, »Vergiss uns nicht.«, »Zeig allen, was du drauf hast.« Sie hörte das Gejohle und das Klatschen. Sie würde dem Gefängnis keine Träne nachweinen, aber sie würde sich an viele Frauen hier erinnern und an das, was diese sie gelehrt hatten.

Sie war aufgeregt und verängstigt, so verängstigt, wie sie es seit ihrer Einweisung nicht mehr gewesen war. 21 900 Mal hatte sie das Knallen der Türen gezählt, bis der Tag ihrer Entlassung gekommen war. Und jetzt, als sie endlich in Freiheit war, hatte sie eine Heidenangst.

Und dann hörte sie etwas ganz Neues – die Gefängnistore, die vor ihr aufgingen –, und sie fragte sich: Wie wird mein Leben morgen aussehen?

Ihre Erleichterung war groß, als sie draußen ihre Mutter und ihre Cousine sah, die auf sie warteten. Die Haare ihrer Mutter waren grau geworden, sie selbst war mindestens zwei Zentimeter kleiner als damals bei Caseys Haftantritt. Aber als ihre Mutter sie in die Arme schloss, fühlte sich Casey wieder wie ein kleines Kind.

Ihre Cousine Angela sah so wunderbar aus wie immer. Auch sie nahm Casey in den Arm. Casey wollte nicht an ihren Vater denken, weder daran, dass er jetzt nicht hier war, noch, dass ihr die Gefängnisleitung drei Jahre zuvor nicht gestattet hatte, an seiner Beerdigung teilzunehmen.

»Danke, dass du den weiten Weg gekommen bist«, sagte Casey zu Angela. Die meisten ihrer Freundinnen hatten mit ihr nach der Verhaftung kein Wort mehr geredet. Und die wenigen, die sich während des Prozesses noch den Anschein der Neutralität gegeben hatten, waren nach der Verurteilung schnell aus ihrem Leben verschwunden. Nur ihre Mutter und Angela hatten sie während der gesamten Haftzeit unterstützt.

»Das hätte ich mir nie nehmen lassen«, sagte Angela. »Aber ich muss mich bei dir entschuldigen: Ich war heute Morgen so aufgeregt, dass ich die Sachen, um die mich deine Mom gebeten hat, einfach vergessen habe. Aber keine Sorge. Wir können auf dem Heimweg an einer Mall anhalten und dort die nötigsten Dinge kaufen.«

»Du suchst doch bloß einen Vorwand zum Shoppen«, zog Casey sie auf. Angela, ein ehemaliges Model, war mittlerweile Marketingchefin von Ladyform, eines Unternehmens von Sportbekleidung für Frauen.

Als sie im Wagen saßen, fragte Casey Angela, wie gut sie die Familie Pierce kannte, die Begründer des Unternehmens Ladyform.

»Ich habe die Eltern nur mal kurz kennengelernt, aber Charlotte, die die Niederlassung in New York leitet, gehört zu meinen besten Freundinnen. Warum fragst du?«

»Das Verschwinden von Amanda Pierce, der jüngeren Schwester deiner Freundin, ist vergangenen Monat in der Sendung Unter Verdacht behandelt worden. Du weißt, in der Sendung werden Altfälle neu aufgerollt. Vielleicht kann Charlotte ja für mich ein Treffen arrangieren. Ich will herausfinden, wer Hunter wirklich umgebracht hat.«

Caseys Mutter seufzte schwer. »Kannst du nicht wenigstens einen Tag Ruhe geben, bevor du alles wieder aufrührst?«

»Bei allem Respekt, Mom, aber ich würde sagen, fünfzehn Jahre sind lang genug, wenn man auf die Wahrheit warten muss.«

2

Am Abend lehnte Paula Carter am Kopfbrett ihres Bettes und hatte ein iPad mini auf dem Schoß. Die gelegentlich von den Lachkonserven im Fernsehen übertönten Stimmen von Casey und Angela aus dem Wohnzimmer spendeten ihr Trost. Sie hatte mehrere Bücher über die soziale Wiedereingliederung von Strafgefangenen gelesen. Ursprünglich hatte Paula befürchtet, dass ihre Tochter, die schon immer sehr umtriebig und offen für alles Neue gewesen war, sich sofort wieder in das geschäftige Leben von New York City stürzen würde. Stattdessen hatte sie erfahren, dass es Menschen in Caseys Lage anfangs eher schwerfiel, sich das Ausmaß ihrer neuen Freiheit überhaupt bewusst zu machen.

Im Moment hielt sich Paula vorwiegend in ihrem Zimmer auf, damit sich Casey im ganzen Haus frei bewegen konnte und nicht das Gefühl haben musste, von ihrer Mutter unablässig umsorgt zu werden. Es tat Paula im Herzen weh, wenn sie nur daran dachte, dass schon der Weg vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer und der uneingeschränkte Gebrauch der Fernbedienung ein Maß an Unabhängigkeit war, das ihre kluge, talentierte, willensstarke Tochter in den letzten fünfzehn Jahren nicht hatte genießen dürfen.

Sie war Angela sehr dankbar, dass sie sich den Tag freigenommen hatte. Die beiden Frauen waren Cousinen, Paula und ihrer Schwester Robin hatten ihre jeweiligen Töchter aber so erzogen, als wären sie Geschwister. Angelas Vater hatte nie eine Rolle gespielt, weshalb Frank für Angela eine Art Ersatzvater geworden war. Und dann, als Robin starb – Angela war gerade fünfzehn gewesen –, hatten Paula und Frank sie bei sich aufgenommen.

Angela und Casey standen sich so nah wie Schwestern, obwohl sie nicht unterschiedlicher hätten sein können. Beide waren sie schön, beide hatten strahlend blaue Augen, nur war Angela blond, während Casey brünette Haare hatte. Angela hatte die Größe und Statur des erfolgreichen Models, das sie früher gewesen war. Casey war schon immer die sportlichere gewesen und hatte an der Tufts-Universität in der Tennismannschaft gespielt. Während Angela das Studium sausen ließ, um in New York ihre Modelkarriere voranzutreiben und in das rege gesellschaftliche Leben einzutauchen, war Casey eine gewissenhafte Studentin gewesen und hatte sich diversen politischen und gesellschaftspolitischen Themen gewidmet. Angela war Republikanerin, Casey überzeugte Demokratin. Die Liste hätte sich beliebig fortsetzen lassen, dennoch standen sich die beiden sehr nah.

Paulas Blick fiel auf die Nachrichten, die sie auf dem iPad las. Nur zehn Stunden nach ihrer Entlassung war Casey schon wieder in den Schlagzeilen. Würde die öffentliche Aufmerksamkeit am Ende noch dazu führen, dass sie sich in ihrem Zimmer verschanzte und nicht mehr herauskam?

Oder, schlimmer noch, sie mitten hinein ins öffentliche Interesse katapultieren? Paula hatte an ihrer Tochter schon immer bewundert, dass sie sich – häufig auch lautstark – für das einsetzte, was sie als richtig empfand. Aber würde es jetzt nach Paula gehen, würde Casey ihren Namen ändern, ein neues Leben anfangen und Hunter Raleigh nie mehr erwähnen.

Wie erleichtert war sie gewesen, als sich Angela ebenfalls gegen Caseys Vorhaben ausgesprochen hatte, die Produzenten von Unter Verdacht zu kontaktieren. Casey hatte das Thema, als sie in der Mall waren, erst mal ruhen lassen, aber Paula kannte ihre Tochter. Das letzte Wort war in dieser Sache noch lange nicht gesprochen.

Erneut ertönte das Konservenlachen aus dem Fernseher. Casey und Angela sahen eine Sitcom, konnten aber jederzeit mit einem Klick über die Nachrichten stolpern. Es überraschte sie, dass die Medien von ihrer Entlassung so schnell Wind bekommen hatten. Verfolgten Journalisten Tag für Tag die Namen der Strafgefangenen, deren Freilassung bevorstand? Vielleicht hatte auch eine der Gefängniswärterinnen irgendwo angerufen. Oder Hunters Familie hatte eine Presseerklärung herausgegeben. Die Familie war weiß Gott der Ansicht, dass Casey für den Rest ihres Lebens hinter Gitter gehörte.

Oder jemand in der Shopping Mall hatte Casey erkannt. Erneut bereute Paula, dass sie Angela damit betraut hatte, die Garderobe für Casey zusammenzustellen. Sie hätte wissen müssen, dass ihre Nichte in der Arbeit viel zu viel um die Ohren hatte.

Paula hatte keine Mühen gescheut und alles besorgt, was Casey eventuell brauchen könnte. Zeitschriften auf dem Nachttisch. Neue Handtücher und einen Bademantel. Einen mit den besten Pflegeprodukten ausgestatteter Badezimmerschrank. Den Einkauf all der Sachen hatte sie übernommen, damit Casey sich nicht so oft in der Öffentlichkeit zeigen musste. Doch dann waren sie in der Mall gelandet.

Wieder warf sie einen Blick auf ihr iPad. CRAZY CASEY IM KAUFRAUSCH! Keine Fotos, trotzdem wusste die sogenannte Reporterin, in welcher Mall sich Casey aufgehalten und welche Läden sie besucht hatte. Der Artikel endete: »Das Gefängnisessen scheint sich vorteilhaft auf die Figur unseres Dornröschens ausgewirkt zu haben. Wie wir erfahren haben, ist Casey schlank und rank – Ergebnis ihres intensiven Workouts im Gefängnishof. Braucht sie, die ja angeblich nur hinter dem Geld der Männer her ist, die neue Garderobe, um sich einen neuen Verehrer zu angeln? Nun, wir werden ja sehen.«

Die Bloggerin hieß Mindy Sampson. Es war lange her, dass Paula über den Namen gestolpert war, aber Sampson schien nichts verlernt zu haben. Casey war in ausgezeichneter körperlicher Form, weil sie nicht eine Sekunde lang stillhalten konnte und immer schon ihre Arbeit, ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten, ihr Engagement in politischen Gruppierungen und die Kunstausstellungen unter einen Hut zu bringen versucht hatte. Und in der Strafanstalt hatte sie nichts anderes zu tun gehabt, als Sport zu treiben und ansonsten ihre ganze Energie darauf zu verwenden, jemanden zu finden, mit dessen Hilfe sie ihren Namen reinwaschen könnte. Aber bei einer Klatschkolumnistin wie Mindy Sampson klang das alles so, als hätte sie sich bloß auf ihren großen Auftritt auf dem roten Teppich vorbereitet.

Ob Paula nun wollte oder nicht, sie musste Casey warnen. Als sie in den Flur kam, war vom Konservengelächter nichts mehr zu hören. Dann bog sie um die Ecke und sah, wie Casey und Angela reglos auf den Fernseher starrten. Die Moderatorin des Kabelsenders gefiel sich in frommer Entrüstung: »Wie soeben bekannt wurde, ist Casey Carter heute aus dem Gefängnis entlassen worden und hat sofort eine Shopping Mall aufgesucht. Genau, Crazy Casey, die Dornröschen-Killerin, ist wieder unter uns, und das Erste, worauf sie es abgesehen hat, ist ein Schrank voll neuer Kleider.«

Casey schaltete den Fernseher stumm. »Versteht ihr jetzt, warum Unter Verdacht für mich so wichtig ist? Bitte, Angela, ich habe Anwälte und Kanzleien im ganzen Land angeschrieben, keiner will mir helfen. Die Fernsehsendung ist das Beste, was ich tun kann, sie ist vielleicht meine einzige Chance. Und deine Freundin Charlotte hat direkten Zugang zu den Produzenten. Bitte, ein einziges Treffen, mehr brauch ich nicht.«

»Casey«, unterbrach Paula sie, »wir haben doch schon darüber gesprochen. Es ist keine gute Idee.«

»Tut mir leid, ich muss Paula zustimmen«, sagte Angela. »Ich sage es ungern, aber es gibt immer noch welche, die meinen, deine Strafe wäre viel zu gering ausgefallen.«

Paula und Frank waren am Boden zerstört gewesen, als ihre Tochter wegen Totschlags verurteilt worden war. Die Medien allerdings werteten das Urteil als eine Niederlage für die Staatsanwaltschaft, die Casey als kaltblütige Mörderin hingestellt hatte.

»Die sollten alle bloß mal eine Woche in einer Zelle verbringen!«, entgegnete Casey aufgebracht. »Fünfzehn Jahre, das ist eine Ewigkeit.«

Paula legte Casey die Hand auf die Schulter. »Die Raleighs sind eine einflussreiche Familie. Hunters Vater könnte seine Beziehungen spielen lassen, und die Sendung könnte dich in ein äußerst unvorteilhaftes Licht rücken.«

»Unvorteilhaftes Licht?«, höhnte Casey. »Das habe ich doch längst hinter mir, Mom. Meinst du, ich hätte nicht gemerkt, wie mich die Leute beim Einkaufen angestarrt haben? Ich kann noch nicht mal einen Laden betreten, ohne mich wie ein Tier im Zoo zu fühlen. Was ist denn das für ein Leben? Angela, rufst du nun – mir zuliebe – deine Freundin an, oder nicht?«

Paula spürte, wie Angela sich erweichen ließ. Die beiden hatten sich immer sehr nahegestanden, und Casey klang so überzeugend wie zu ihren besten Zeiten. Flehentlich sah Paula zu ihrer Nichte. Bitte, betete sie im Stillen, lass nicht zu, dass sie diesen Fehler begeht.

Erleichtert nahm sie Angelas taktvolle Antwort zur Kenntnis: »Warte doch erst mal ein paar Tage ab, bis du siehst, wie es dir geht.«

Casey schüttelte enttäuscht den Kopf, griff zur Fernbedienung und stellte den Fernseher ganz aus. »Ich bin müde«, sagte sie plötzlich. »Ich gehe ins Bett.«

Als Paula an diesem Abend einschlief, hoffte sie, die Medien würden sich einem anderen Thema zuwenden, damit sich Casey in aller Ruhe an ihr neues Leben gewöhnen konnte. Am nächsten Morgen aber ging ihr beim Aufwachen durch den Kopf, dass ihre Tochter, wenn sie von der Bedeutung einer Sache überzeugt war, auf die Meinung anderer nichts gab.

Caseys Zimmer war leer. Auf dem Esstisch lag ein Zettel. Bin mit dem Zug in die Stadt. Komme abends zurück.

Casey musste die gut eineinhalb Kilometer zum Bahnhof zu Fuß gelaufen sein. Und Paula glaubte auch zu wissen, warum Casey so früh aufgebrochen war. Sie wollte sich mit der Produzentin von Unter Verdacht treffen, koste es, was es wolle.

3

Mit einem höflichen Lächeln lehnte Laurie Moran das Ansinnen des Kellners ab, ihr Kaffee nachzuschenken. Verstohlen sah sie auf ihre Uhr. Zwei Stunden. Geschlagene zwei Stunden saß sie schon an diesem Tisch im 21 Club. Es war eines ihrer Lieblingsrestaurants, aber sie musste zurück ins Büro.

»Hmmm, das Soufflé ist einfach himmlisch. Sie wollen wirklich nicht davon kosten?«

Ihre Begleiterin bei diesem quälend langen Essen war Lydia Harper. Manchen Aussagen zufolge war sie eine tapfere Witwe aus Houston, die ihre beiden Jungen allein großgezogen hatte, nachdem deren Vater, ein renommierter Medizinprofessor in Baylor, von einem geistesgestörten Unbekannten bei einem Autounfall getötet worden war. Andere sahen in ihr eine hochmanipulative Frau, die einen Auftragskiller angeheuert hatte, um ihren Mann umzubringen, weil sie fürchtete, er würde sich scheiden lassen und einen Sorgerechtsprozess anstreben.

Ein Fall, der wie gemacht zu sein schien für Lauries Sendung Unter Verdacht, ein auf nicht aufgeklärte Altfälle spezialisiertes Fernsehformat. Es war zwei Wochen her, dass sich Lydia telefonisch einverstanden erklärt hatte, den Mord an ihrem Mann neu aufzurollen, nur hatte sie bislang nichts unterzeichnet. Mehrmals hatte sie Laurie versichert, dass sie »jetzt aber wirklich mal zur Post müsste«, zwei Tage zuvor hatte sie dann allerdings überraschend erklärt, dass man sich persönlich treffen solle – in New York, inklusive eines Flugs erster Klasse und zwei Übernachtungen im Ritz-Carlton –, bevor sie ihre Unterschrift auf die gestrichelte Linie setzte.

Laurie, die annahm, Lydia gehe es bloß um einen netten Fünfsterneausflug auf Kosten der Produktionsfirma, willigte gern ein, wenn sie dafür die Einverständniserklärung bekommen würde. Aber jedes Mal, wenn Laurie beim Essen darauf zu sprechen kam, wechselte Lydia das Thema und ließ sich über die Broadway-Show aus, die sie am Abend zuvor gesehen hatte, oder über ihre Shoppingtour zu Barneys am Morgen oder das ausgezeichnete Truthahn-Haschee, das sie im 21 bestellt hatte.

Wieder hörte Laurie das Klingeln ihres Handys, das sie im Außenfach ihrer Handtasche verstaut hatte.

»Gehen Sie ruhig ran«, sagte Lydia. »Ich habe vollstes Verständnis dafür. Arbeit, nichts als Arbeit. Es hört nie auf.«

Laurie hatte mehrere Anrufe und SMS ignoriert, fürchtete aber, dass dieser Anruf von ihrem Boss sein könnte.

Ihr zog sich der Magen zusammen, als sie einen Blick auf das Display warf. Vier verpasste Anrufe: zwei von ihrer Assistentin Grace Garcia, zwei von ihrem Produktionsassistenten Jerry Klein. Daneben eine ganze Reihe von Textnachrichten der beiden.

Brett sucht dich. Wann ist mit dir zu rechnen?

Großer Gott! Crazy Casey ist wegen ihres Falls hier. Sie behauptet, Charlotte Pierce zu kennen. Du solltest mit ihr reden. Ruf an!

Wo steckst du? Immer noch beim Essen?

CC ist immer noch da. Und Brett sucht dich.

Was sollen wir Brett erzählen? Ruf an!!! Brett explodiert gleich, wenn du dich nicht bald meldest.

Und dann die letzte Nachricht von Grace, gerade erst abgeschickt: Wenn er noch mal hier in deinem Büro auftaucht, muss auf dem 15. Stock der Notarzt anrücken. Was ist bloß so schwer daran zu verstehen, wenn man sagt: Sie ist nicht da?

Mit einem stillen Seufzer dachte Laurie an Brett, wie er wieder mal durch die Gänge tigerte. Ihr Chef war ein brillanter Produzent, aber auch für seine Ungeduld und Gereiztheit bekannt. Letztes Jahr hatte eine mit Photoshop bearbeitete Porträtaufnahme von ihm, die auf den Körper eines strampelnden Babys mit einer Rassel in der Hand montiert war, bei den Angestellten die Runde gemacht. Laurie hatte immer Jerry als Urheber in Verdacht gehabt, war aber überzeugt, dass er seine elektronischen Spuren – falls er es wirklich gewesen war – sorgfältig verwischt hatte.

Die Wahrheit aber lautete nun mal: Laurie ging Brett aus dem Weg. Mittlerweile war ein Monat vergangen, seitdem die letzte Sendung ausgestrahlt worden war, und er konnte es kaum erwarten, dass sie mit der Produktion der nächsten Folge begann.

Im Grunde aber sollte sie dafür dankbar sein. Es war noch nicht so lange her, dass sie nachts wach gelegen und das Ende ihrer Karriere vor sich gesehen hatte. Nach der Ermordung ihres Mannes Greg hatte sie sich zunächst eine Weile freigenommen. Aber als sie wieder zur Arbeit erschien, ging es erst einmal ziemlich holprig weiter. Hatte »sie den Anschluss verloren«, war sie »in einem Tief« – diese Sätze hörte sie nach jedem Flop aus dem Mund der jungen, ehrgeizigen Produktionsassistenten, die nur darauf warteten, ihren Platz einzunehmen.

Mit Unter Verdacht hatte sich das alles verändert. Laurie hatte sich bereits vor Gregs Tod mit der Idee befasst. Das Publikum stand auf ungelöste Kriminalfälle. Die Geschichte aus Sicht der Verdächtigen zu erzählen war jedoch ein ganz neuer Ansatz im Umgang mit Altfällen. Nach Gregs Ermordung brütete sie jahrelang über der Idee. Im Nachhinein wurde ihr klar, dass sie nicht den Eindruck einer Witwe vermitteln wollte, die völlig besessen war vom ungelösten Mordfall ihres Mannes. Aber Not macht erfinderisch, wie man so schön sagt. Als ihre Karriere auf der Kippe stand, brachte sie schließlich ihr, wie sie meinte, bestes Konzept ein. Und jetzt hatten sie drei erfolgreiche Sendungen hinter sich, deren Quoten und Bewertungen und deren »viraler Trend« von Mal zu Mal besser wurden. Aber wie sagte man auch? Die Belohnung für gute Arbeit ist noch mehr Arbeit.

Einen Monat zuvor war Laurie überzeugt gewesen, ihrem Zeitplan voraus zu sein. Sie hatte einen anscheinend perfekten Fall. Jurastudenten der Universität Brooklyn hatten sie wegen einer jungen Frau kontaktiert, die drei Jahre zuvor wegen des Mords an ihrer Zimmergenossin auf dem College verurteilt worden war. Angeblich konnten sie beweisen, dass einer der Hauptzeugen der Staatsanwaltschaft gelogen hatte. Der Fall passte streng genommen nicht zu den Vorgaben der Sendung – schließlich sollten ungelöste Fälle aus der Perspektive derjenigen aufbereitet werden, die jahrelang ein Leben unter Mordverdacht führen mussten. Aber die Möglichkeit, einer in die Mühlen der Justiz geratenen und zu Unrecht verurteilten Frau wieder zur Freiheit zu verhelfen, gehörte nun mal zu genau den Dingen, wegen derer Laurie ursprünglich Journalistin geworden war.

Sie tat alles, um Brett von der Idee zu überzeugen, und pries ihm die Verurteilung Unschuldiger als ein Thema an, das momentan höchst populär war. Drei Tage, nachdem Brett ihr grünes Licht gegeben hatte, verkündete allerdings die Staatsanwaltschaft auf einer gemeinsam mit den Jurastudenten einberufenen Pressekonferenz, dass sie aufgrund von neu vorgelegten, überzeugenden Indizien die Verurteilte freilassen und von sich aus den Fall neu aufrollen wolle. Damit war der Gerechtigkeit Genüge getan, Lauries Sendung aber hatte sich damit erledigt.

Also wandte sich Laurie ihrer zweiten Wahl zu: dem Mord an Dr. Conrad Harper, dessen Witwe ihr nun gegenüber saß und mit dem Nachtisch fast fertig war. »Lydia, es tut mir schrecklich leid, aber ich muss unbedingt ins Büro zurück. Sie sagten, Sie wollten über die Sendung reden?«

Lydia überraschte Laurie, als sie den Löffel ablegte und nach der Rechnung winkte.

»Laurie, ich wollte es Ihnen unbedingt persönlich sagen. Ich dachte, das wäre nur fair. Ich werde doch nicht teilnehmen.«

»Was …«

Lydia hob abwehrend die Hand. »Ich habe mit zwei Anwälten geredet. Beide sagten mir, ich könnte zu viel verlieren. Lieber ertrage ich weiterhin die vielsagenden Blicke der Nachbarn, bevor ich mich rechtlich in Schwierigkeiten bringe.«

»Aber darüber haben wir doch schon gesprochen, Lydia. Es ist Ihre Chance herauszufinden, wer Conrad getötet hat. Ich kenne Ihre Verdachtsmomente gegen seinen ehemaligen Studenten.« Der Student hatte ihrem Mann eine Zeit lang nachgestellt, nachdem er im Semester zuvor bei ihm durchgefallen war.

»Wenn Sie in der Sache ermitteln wollen, nur zu, ich habe bestimmt nichts dagegen. Aber ich selbst werde dazu keine Aussage abgeben.«

Laurie wollte etwas darauf erwidern, aber Lydia unterbrach sie sofort. »Bitte, ich weiß, Sie müssen in Ihr Büro zurück. Sie können mich nicht umstimmen, ich habe meine Entscheidung getroffen.«

In diesem Moment kam der Kellner mit der Rechnung, die Lydia sofort an Laurie weiterreichte. »Es war sehr schön, Sie kennengelernt zu haben, Laurie. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Völlig perplex blieb Laurie sitzen, als Lydia vom Tisch aufstand und sie allein zurückließ. Sie war es, ging es ihr noch durch den Kopf, und keiner wird es ihr jemals nachweisen können.

Während Laurie darauf wartete, dass man ihr die Kreditkarte zurückbrachte, verfasste sie für Grace und Jerry eine SMS: Sagt Brett, ich bin in zehn Minuten da.

Was sollte sie ihm sagen? Dass ihr Fall über den ermordeten Professor gerade den Bach runtergegangen war?

Sie wollte sie schon versenden, als ihr noch Jerrys SMS über Crazy Casey einfiel. War es möglich? Sie korrigierte ihre Nachricht. Will Casey Carter wirklich mit mir reden?

Grace antwortete sofort. JA! Sie wartet im Konferenzraum A. Bei uns sitzt eine verurteilte Mörderin rum. Hätte fast die Polizei gerufen.

Als Journalistin hatte Laurie bereits mehrere Menschen interviewt, die wegen Mordes angeklagt und in einigen Fällen deswegen auch verurteilt worden waren. Grace hingegen zuckte schon bei dem Gedanken daran zusammen. Gleich nach Graces Antwort kam auch die von Jerry. Hab schon befürchtet, sie könnte wieder gehen. Als ich ihr für ihre Geduld dankte, sagte sie aber, wir würden sie erst loswerden, wenn sie mit dir gesprochen hat!

Mit einem Lächeln unterschrieb Laurie die Essensrechnung. Lydia Harpers Absage hatte vielleicht auch sein Gutes. Caseys Haftentlassung war vergangenen Abend die Topnachricht auf allen Sendern gewesen, und jetzt wollte sie sich mit ihr treffen. Im Taxi schrieb sie die nächste SMS. Vertröstet Brett. Sagt ihm, ich bin an einem vielversprechenden neuen Fall dran. Ich möchte erst mit Casey reden.

4

Im fünfzehnten Stock des Rockefeller Center trat Laurie aus dem Fahrstuhl und eilte sofort in den Konferenzraum der Fisher Blake Studios. Von Bretts Sekretärin Dana hatte Grace erfahren, dass er die nächsten fünfzehn, zwanzig Minuten noch mit einer Telefonkonferenz beschäftigt sein würde, danach würde er seine Jagd auf Laurie aber ungehemmt wieder aufnehmen.

Laurie fragte sich, warum Brett so erpicht darauf war, mit ihr zu reden. Klar, er wollte, dass sie den nächsten Fall unter Dach und Fach brachte, aber das war nichts Neues. Hatte er möglicherweise selbst herausgefunden, dass die Professorenwitwe ihr einen Korb geben würde? Sie verwarf den Gedanken. Ihr Boss hätte es zwar gern, wenn die anderen ihn für einen Hellseher hielten, aber das war er beileibe nicht.

Die Frau, die im Konferenzraum wartete, sprang auf, als Laurie die Tür öffnete. Laurie erkannte sie sofort. Katherine »Casey« Carter. Laurie hatte damals gerade ihr Studium abgeschlossen und ihre Journalisten-Karriere begonnen, als der Dornröschen-Fall die Schlagzeilen bestimmte. Wobei der Beginn ihrer »Karriere« vor allem darin bestand, den Redakteuren einer Lokalzeitung in Pennsylvania den Kaffee zu bringen, trotzdem war sich Laurie wie im Himmel vorgekommen und hatte alles begierig aufgesaugt, was sie aufschnappen konnte.

Als engagierte Journalistin hatte sie sich sehr für den Prozess interessiert. Als sie am vergangenen Abend von Caseys Entlassung hörte, konnte sie kaum glauben, dass das alles schon fünfzehn Jahre zurücklag. Die Zeit war so schnell vergangen … nur für Casey wohl nicht.

Zum Zeitpunkt des Prozesses war Casey eine fantastisch aussehende junge Frau gewesen, mit langen, glänzend braunen Haaren, alabasterfarbener Haut und mandelförmigen blauen Augen, die nahezu immer funkelten. Gleich nach dem Studium hatte sie eine heiß begehrte Stelle als Assistentin in der Abteilung für Gegenwartskunst bei Sotheby’s bekommen. Sie hatte noch an ihrer Promotion gearbeitet und von einer eigenen Galerie geträumt, als sie bei einer Auktion Hunter Raleigh III. kennenlernte. Es hatte nicht nur am Bekanntheitsgrad ihres Verlobten gelegen, warum das ganze Land so gebannt den Fall verfolgte. Auch Casey selbst war eine faszinierende Frau.

Sie war immer noch schön, auch nach fünfzehn Jahren. Ihre Haare waren kürzer, etwa schulterlang, so wie sie auch Laurie trug. Sie war dünner, machte aber einen durchtrainierten Eindruck. Und in ihren Augen lag noch immer dieser funkelnde, intelligente Blick. Mit einem festen Händedruck stellte sie sich Laurie vor.

»Ms. Moran, ich danke Ihnen, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Entschuldigen Sie, dass ich keinen Termin vereinbart habe, ich fürchte, Sie können sich vor Anfragen gar nicht retten.«

»Das stimmt.« Laurie gab mit einer Geste zu verstehen, dass sie beide am Konferenztisch Platz nehmen sollten. »Aber nicht von Leuten, deren Name so bekannt ist wie Ihrer.«

Casey lächelte traurig. »Von welchem Namen reden wir? Von Crazy Casey? Oder der Dornröschen-Killerin? Deshalb bin ich hier. Ich bin unschuldig. Ich habe Hunter nicht ermordet, und ich will meinen Namen – meinen richtigen Namen – wieder haben.«

Für alle, die mit Hunter nicht auf vertrautem Fuß gestanden hatten, hatte er ganz offiziell Hunter Raleigh III. geheißen. Sein Großvater, Hunter der Erste, war Senator gewesen. Dessen beiden Söhne, Hunter Junior und James, meldeten sich nach ihrem Abschluss in Harvard zur Armee. Nachdem Hunter Junior früh im Vietnam-Krieg gefallen war, wurde sein jüngerer Bruder James Berufssoldat und nannte seinen erstgeborenen Sohn Hunter den Dritten. James stieg schließlich zum Dreisternegeneral auf und diente selbst im Ruhestand seinem Land noch als Botschafter. Die Raleighs waren eine kleinere Ausgabe der Kennedys, eine Politikerdynastie.

Und dann ermordete Casey den Thronerben.

Sofort wurde Casey von den Zeitungen als Dornröschen bezeichnet. Sie behauptete, tief und fest geschlafen zu haben, als eine unbekannte Person oder mehrere Personen ins Landhaus ihres Verlobten einbrachen und ihn erschossen. Das Paar hatte am Abend in der Stadt an einer Gala der Raleigh’schen Familienstiftung teilgenommen, war aber früh aufgebrochen, weil sich Casey nicht wohl gefühlt hatte. Laut ihrer Aussage war sie noch im Wagen eingeschlafen und konnte sich nicht einmal mehr an die Ankunft im Haus erinnern. Stunden später wachte sie auf dem Sofa im Wohnzimmer auf, schleppte sich ins Schlafzimmer und fand ihren Verlobten blutüberströmt auf dem Bett liegen. Sie war damals ein junges und schönes neues Gesicht in der Kunstwelt, und Hunter das angesehene Mitglied einer amerikanischen Politikerfamilie. Genau die Tragödie, die im ganzen Land für Schlagzeilen sorgte.

Und dann, nur wenige Zeitungsausgaben später, wurde Dornröschen von der Polizei verhaftet. Die Staatsanwaltschaft konnte mit schwerwiegenden Argumenten aufwarten. Die Zeitungen nannten sie von nun an »Dornröschen-Killerin« und schließlich »Crazy Casey«. Nach den gängigen Theorien hatte sie sich, als Hunter ihre Verlobung auflösen wollte, in ein trunkenes Eifersuchtsdrama hineingesteigert.

Jetzt saß sie mit Laurie im Konferenzraum und behauptete, unschuldig zu sein.

Laurie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, bevor sie mit ihrem Boss reden musste. Normalerweise hätte sie sich methodisch durch Caseys Version der Geschichte gearbeitet, jetzt aber musste sie sofort auf den Punkt kommen.

»Verzeihen Sie mir, wenn ich so unverblümt bin, Casey, aber die Beweise gegen Sie lassen sich nur schwer ignorieren.«

Casey hatte geleugnet, jemals die als Mordwaffe identifizierte Pistole abgefeuert zu haben, allerdings hatte man darauf ihre Fingerabdrücke gefunden, außerdem waren an ihren Händen Schmauchspuren festgestellt worden. Laurie fragte, ob sie diese Fakten nach wie vor leugnen wolle.

»Ich gehe davon aus, dass die Forensiker korrekt gearbeitet haben, aber das kann doch auch heißen, dass der Mörder meine Hand an die Waffe gedrückt und damit einen Schuss abgegeben hat. Überlegen Sie doch mal: Warum hätte ich sagen sollen, ich habe die Waffe nie benutzt, wenn ich Hunter damit wirklich erschossen habe? Ich hätte meine Fingerabdrücke doch leicht erklären können, wenn ich behauptet hätte, ich hätte sie auf dem Schießstand abgefeuert. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der wahre Mörder aufgrund der Einschusslöcher im Haus zweimal sein Opfer verfehlt hat. Ich war eine sehr gute Schützin. Wenn ich wirklich jemanden töten wollte – was niemals der Fall sein wird –, dann würde ich nicht danebenschießen, das können Sie mir glauben. Und wenn ich diese Waffe abgefeuert hätte, warum hätte ich mich dann freiwillig auf Schmauchspuren testen lassen sollen?«

»Was ist mit den Medikamenten, die die Polizei in Ihrer Handtasche fand?«

Caseys Unwohlsein in jener Nacht war so gravierend gewesen, dass die Polizei einen Drogentest angeordnet hatte. Laut den Ergebnissen hatte sie Alkohol und ein Sedativum im Blut, und bei der Durchsuchung von Hunters Haus wurden die gleichen Medikamente in ihrer Handtasche gefunden.

»Noch einmal, wenn ich mir diese Medikamente wirklich freiwillig angetan hätte, warum sollte ich dann noch drei weitere Rohypnol-Tabletten in meiner Handtasche aufbewahren? Es ist eine Sache, mich als Mörderin zu verdächtigen, aber ich hätte nie gedacht, dass man mich für so dumm halten könnte.«

Laurie kannte Rohypnol, ein gängiges K.o.-Mittel, das häufig bei Date Rapes verwendet wurde.

Casey wiederholte also lediglich die Argumente, die schon ihre Anwältin beim Prozess vorgebracht hatte. Sie behauptete, jemand habe sie auf der Gala unter Drogen gesetzt, dieser unbekannte Täter sei dann zu Hunters Haus zurückgekehrt, habe ihn erschossen, während sie geschlafen habe, und ihr den Mord angehängt. Die Geschworenen hatten es ihr nicht abgenommen.

»Ich habe Ihren Prozess damals aufmerksam verfolgt«, sagte Laurie. »Eines der Probleme war meiner Meinung nach, dass Ihre Anwältin niemals eine alternative Erklärung anbieten konnte. Sie deutete an, die Polizei hätte Ihnen Beweise untergeschoben, aber sie konnte dafür nie ein plausibles Motiv nennen. Und, was noch wichtiger ist: Sie hat den Geschworenen niemals einen anderen Verdächtigen präsentiert. Also, Casey, sagen Sie mir: Wenn Sie Hunter nicht umgebracht haben, wer war es dann?«