Buch
Nikki Grewal weiß, was sie will. Genauer gesagt weiß die junge Londonerin mit indischen Wurzeln, was sie nicht will: ein Leben, gebunden an traditionelle Konventionen. Als Lehrerin eines Creative-Writing-Kurses für Sikh-Frauen will sie ihr Lebensgefühl weitergeben und hofft, dass die Frauen schreibend ihre Fesseln abwerfen. Allerdings entpuppen sich sämtliche Teilnehmerinnen als Analphabetinnen, die nur Lesen und Schreiben lernen wollen. Ein Unterfangen, das sich bald als müßig erweist. Doch als die Frauen sich öffnen und sich gegenseitig ihre geheimsten Geschichten anvertrauen, setzen sie etwas in Gang, das nicht nur ihr Leben für immer verändern wird …
Autorin
Balli Kaur Jaswal wurde in Singapur geboren und hat rund um den Globus gelebt: auf den Philippinen, in Japan, Russland, den USA, in Großbritannien, Australien und der Türkei. Sie hat als Lehrerin an verschiedenen internationalen Schulen gearbeitet, bevor sie mit ihrem Mann wieder nach Singapur gezogen ist, wo sie sich nun ganz dem Schreiben widmet.
Weitere Informationen unter www.ballijaswal.com
Balli Kaur Jaswal
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Geheime Geschichten für Frauen, die Saris tragen
Roman
Deutsch von
Stefanie Retterbush
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Erotic Stories for Punjabi Widows« bei HarperCollinsPublishers, London.
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1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2018
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Balli Kaur Jaswal
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Glossar: Stefanie Retterbush
Redaktion: Ann-Catherine Geuder
An · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-20503-4
V001
www.goldmann-verlag.de
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Für Paul
Erstes Kapitel
Wie konnte Mindi sich bloß eine arrangierte Ehe wünschen?
Fassungslos starrte Nikki auf das Profil, das ihre Schwester an ihre Mail angehängt hatte. Darin eine Liste vermeintlich relevanter Details aus ihrem Lebenslauf: Name, Alter, Größe, Religionszugehörigkeit, Ernährungsweise (vegetarisch, bis auf die gelegentliche Portion Fish ’n Chips). Allgemeine Vorlieben bezüglich des Zukünftigen: intelligent, einfühlsam und liebenswürdig, mit soliden Wertvorstellungen und Prinzipien und einem netten Lächeln. Sowohl rasierte Männer als auch Turbanträger kamen als potenzielle Kandidaten in Frage, solange Bart und Haare penibel gepflegt waren. Der ideale Ehemann sollte einen sicheren Job und bis zu drei Hobbys haben, die ihn geistig wie körperlich auslasteten. In gewisser Weise, schrieb sie, sollte er sein wie ich: anständig (prüde, wenn man Nikki fragte), sparsam (eine nette Umschreibung für knauserig) und familienfreundlich (sprich, sollte augenblicklich Kinder wollen). Und zu allem Überfluss klang die Überschrift dieses abgeschmackten Textes auch noch wie eine billige Gewürzmischung aus dem Supermarkt: Mindi Grewal, Westöstliche Melange.
Der schmale Flur zwischen Nikkis Schlafzimmer und der offenen Singleküche mit den unebenen Bodendielen, die schon bei der leichtesten Belastung in den verschiedensten Tonhöhen quietschten und knarzten, eignete sich nicht unbedingt zum nachdenklichen Im-Kreis-Laufen. Trotzdem tigerte Nikki nun dort auf und ab wie ein Raubtier im Käfig und versuchte, mit jedem ihrer Schritte die widerstrebenden Gedanken zu ordnen. Was dachte sich ihre Schwester bloß dabei? Gut, Mindi war immer schon ziemlich konservativ und traditionsbewusst gewesen – einmal hatte Nikki ihre Schwester tatsächlich dabei erwischt, wie sie sich auf YouTube ein Video mit der Anleitung zum Ausrollen perfekter Rotis* anschaute – aber eine Hochzeitsanzeige aufgeben? Das war doch echt etwas extrem.
Nikki versuchte mehrfach, Mindi anzurufen, aber jedes Mal ging gleich die Mailbox ran. Als ihre Schwester schließlich doch antwortete, verschluckte der dichte graue Abendnebel schon langsam das Tageslicht, und für Nikki war bald Schichtbeginn im O’Reilly’s.
»Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Mindi.
»Kannst du dir das wirklich vorstellen, Mindi?«, fragte Nikki. »Kannst du dir das allen Ernstes vorstellen?«
»Ja.«
»Dann bist du vollkommen verrückt.«
»Das ist meine freie Entscheidung. Ich möchte auf die traditionelle Art einen Ehemann finden.«
»Warum?«
»Weil ich das so möchte.«
»Warum?«
»Ist einfach so.«
»Du musst dir schon einen besseren Grund einfallen lassen, wenn ich dein Profil aufhübschen soll.«
»Das ist gemein. Ich habe dich auch unterstützt, als du ausziehen wolltest.«
»Du hast mich als egoistisches Miststück bezeichnet.«
»Aber du bist trotzdem gegangen. Und als Mum ohne Vorwarnung in deiner neuen Wohnung aufgekreuzt ist und gefordert hat, dass du auf der Stelle wieder mit nach Hause kommst, wer hat sie da überzeugt, es gut sein zu lassen? Hätte ich nicht mit Engelszungen auf sie eingeredet, hätte sie deine Entscheidung nie akzeptiert. Inzwischen hat sie sich widerstrebend damit abgefunden.«
»Sie hat sich beinahe damit abgefunden«, verbesserte Nikki sie. Mit der Zeit war Mums flammender Zorn allmählich abgekühlt und verrauchte nun langsam. Sie wetterte zwar immer noch leidenschaftlich gegen Nikkis lasterhaftes Lotterleben, hatte es aber inzwischen drangegeben, sie ständig vor den Gefahren des Alleinlebens zu warnen. »Meine Mutter hätte nicht mal im Traum daran gedacht, mir so etwas zu erlauben«, murmelte Mum immer mit einer kruden Mischung aus Stolz und Selbstmitleid in der Stimme; wohl um ihre vorgebliche Fortschrittlichkeit zu unterstreichen. Westöstliche Melange.
»Es geht darum, mich wieder mehr unserer Kultur zuzuwenden«, erklärte Mindi. »Ich sehe doch, wie meine englischen Freundinnen online und in Clubs Männer kennenlernen, und nie ist der Richtige dabei. Was spricht denn dagegen, es mal mit einer arrangierten Verbindung zu versuchen? Bei unseren Eltern hat es doch auch funktioniert.«
»Das waren doch vollkommen andere Zeiten«, widersprach Nikki vehement. »Du hast viel mehr Möglichkeiten als Mum in unserem Alter.«
»Ich habe eine Ausbildung gemacht, ich habe mein Diplom als Krankenschwester, ich habe einen guten Job – da liegt es doch nahe, dass ich den logischen nächsten Schritt machen will.«
»Das ist doch kein ›nächster Schritt‹. Du organisierst dir einen Ehemann.«
»Das stimmt so nicht. Ich wünsche mir bloß ein bisschen Hilfe bei der Suche. Wir werden uns ja nicht erst am Hochzeitstag das erste Mal sehen. Heutzutage dürfen Männer und Frauen sich schon vor der Verlobung ein bisschen besser kennenlernen.«
Bei dem Wort »dürfen« sträubten sich Nikki sämtliche Nackenhaare. Wozu brauchte Mindi bitte schön die Erlaubnis, ihre Partnersuche so zu gestalten, wie sie es wollte? »Leg dich bloß nicht zu früh fest. Geh ein bisschen auf Reisen. Schau dir die Welt an.«
»Ich hab genug gesehen«, erwiderte Mindi schnippisch. Sie musste den Mädelsurlaub auf Teneriffa letztes Jahr meinen, bei dem sie herausgefunden hatte, dass sie eine heftige Allergie gegen Krustentiere hat. »Und Kirti sucht auch einen netten Mann. Es wird langsam Zeit, dass wir beide heiraten und eine Familie gründen.«
»Kirti würde einen netten Mann nicht mal erkennen, wenn er durch ihr offenes Schlafzimmerfenster geflogen käme«, spottete Nikki. »Ernsthafte Konkurrenz ist die jedenfalls nicht.« Nikki hatte die beste Freundin ihrer Schwester noch nie leiden können, und das beruhte auf Gegenseitigkeit. An Mindis fünfundzwanzigstem Geburtstag hatte Kirti – von Berufs wegen Visagistin, oder, wie ihre Visitenkarte stolz proklamierte, Make-up-Künstlerin und Gesichtsbildnerin – Nikkis Aufmachung abschätzig von Kopf bis Fuß gemustert und dann spitz erklärt: »Hübsch sein reicht nicht, man muss sich auch ein bisschen Mühe geben.«
»Mindi, könnte es sein, dass du dich schlicht und ergreifend langweilst?«
»Ist Langeweile etwa kein legitimer Grund, mir einen Partner zu suchen? Du bist ausgezogen, weil du unabhängig sein wolltest. Ich suche einen Mann zum Heiraten, weil ich wohin gehören möchte. Ich möchte eine eigene Familie. Das verstehst du nicht, dafür bist du noch zu jung. Wenn ich nach einem langen Arbeitstag nach Hause komme, sind da nur Mum und ich. Ich möchte zu jemandem nach Hause kommen. Ich möchte darüber reden, wie mein Tag war, und zusammen essen und Pläne für ein gemeinsames Leben schmieden.«
Nikki öffnete die E-Mail-Anhänge. Zwei Nahaufnahmen von Mindi, mit einem strahlenden Lächeln, das wie ein warmes, herzliches Willkommen wirkte. Die dicken glatten Haare fielen ihr weich über die Schultern. Auf einem anderen Bild war die ganze Familie zu sehen: Mum, Dad, Mindi und Nikki bei ihrem letzten gemeinsamen Familienurlaub. Es war nicht das beste Foto: Alle hatten die Augen zusammengekniffen, weil die Sonne sie blendete, und vor der imposanten Landschaft im Hintergrund wirkten sie winzig klein. Das war in dem Jahr gewesen, als Dad starb. Ein Herzinfarkt hatte ihn aus seiner Familie gerissen; im Schlaf war er gekommen, wie ein Dieb in der Nacht. Nikkis Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Beim Gedanken daran bekam sie immer noch ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie schloss das Fenster wieder.
»Bitte nimm kein Familienfoto«, sagte Nikki. »Ich möchte nicht, dass mein Gesicht in irgendwelchen Heiratsvermittlungsanzeigen auftaucht.«
»Dann hilfst du mir also?«
»Das geht völlig gegen meine Prinzipien.« Nikki tippte: »Argumente gegen eine arrangierte Ehe« in die Suchmaschine und klickte auf das erste Ergebnis.
»Aber du hilfst mir?«
»Arrangierte Ehen sind Ausdruck eines überkommenen Wertesystems, das das Recht einer jeden Frau beschneidet, frei über ihr Schicksal zu bestimmen«, las Nikki vor.
»Sorg einfach nur dafür, dass mein Profil sich besser liest. Ich kann so was nicht«, zirpte Mindi unbeeindruckt.
»Hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Wieder irgend so einen radikalen Quatsch. Nach ›Wertesystem‹ habe ich nicht mehr zugehört.«
Nikki klickte wieder auf das Profil, und gleich fiel ihr ein Grammatikfehler auf: Ich suche mein Seelenverwandten. Wo ich ihn wohl finde? Sie seufzte. Mindis Entschluss stand offensichtlich fest – die Frage war nur, ob Nikki sich in die Sache hineinziehen lassen wollte oder nicht.
»Also gut«, brummte sie. »Aber nur, weil du mit diesem Profil riskierst, ausschließlich Vollpfosten anzulocken. Warum bitte schreibst du, du ›hast gerne Spaß‹? Wer hat denn nicht gerne Spaß?«
»Und könntest du es dann auch für mich an das Schwarze Brett mit den Heiratsannoncen heften?«
»Welches Schwarze Brett mit den Heiratsannoncen?«
»Im großen Tempel in Southall. Ich schicke dir die Adresse.«
»Southall? Das soll wohl ein Witz sein.«
»Von dir aus ist es gar nicht so weit. Und ich muss die ganze Woche Doppelschichten im Krankenhaus machen.«
»Ich dachte, dafür gibt es Heiratsvermittlungsseiten im Netz«, protestierte Nikki.
»Ich habe mir SikhMate.com und PunjabPyaar.com angeschaut. Aber da tummeln sich nur massenweise Männer aus Indien, die billig an ein Visum kommen wollen. Wenn ein Mann meine Annonce am Schwarzen Brett im Tempel liest, kann ich zumindest davon ausgehen, dass er schon in London lebt. Southall ist der größte Gurdwara* in Europa. Da stehen die Chancen besser als am Anschlagbrett in Enfield«, erklärte Mindi entschieden.
»Weißt du, ich hab viel zu tun.«
»Ach, ich bitte dich, Nikki. Du hast wesentlich mehr Zeit als wir alle zusammen.«
Diesen fiesen kleinen Seitenhieb überhörte Nikki geflissentlich. Mum und Mindi waren der Ansicht, ihr Job als Barkeeperin bei O’Reilly’s sei keine richtige Arbeit. Und es war einfach die Mühe nicht wert, ihnen zu erklären, dass sie noch immer auf der Suche war nach ihrer wahren Berufung – ihrem Traumjob, der herausfordernd und erfüllend sein sollte, in dem sie etwas verändern könnte und der ihr Bestätigung und Anregung zugleich bieten würde. Solche Jobs waren allerdings, wie sie allmählich einsehen musste, enttäuschend rar gesät. Und die Rezession machte es nicht besser. Selbst von den drei gemeinnützigen Organisationen, bei denen sie sich als ehrenamtliche Mitarbeiterin beworben hatte, hatte Nikki Absagen bekommen. Entschuldigend hatten sie erklärt, sie ertränken geradezu in einer Flut an Bewerbungen. Was konnte man sonst noch machen als Zweiundzwanzigjährige mit einem Beinahe-Jura-Abschluss? Im gegenwärtigen wirtschaftlichen Klima (und womöglich auch in jedem anderen wirtschaftlichen Klima): rein gar nichts.
»Ich bezahl dich auch dafür«, meinte Mindi.
»Ich nehme doch kein Geld von dir«, wehrte Nikki reflexartig ab.
»Warte mal. Mum möchte noch was sagen.« Im Hintergrund hörte man gedämpftes Gemurmel. »Sie sagt, ›denk dran, die Fenster zuzumachen‹. Gestern Abend war was über Wohnungseinbrüche in den Nachrichten.«
»Sag Mum, ich besitze nichts Wertvolles, das geklaut werden könnte«, gab Nikki zurück.
»Sie sagt, du hättest deine Ehre zu verlieren.«
»Zu spät. Die habe ich längst verloren. Auf der Party von Andrew Forrest, nach dem Abschlussball in der Elften.« Worauf Mindi gar nichts mehr sagte. Aber ihr Missfallen knisterte wie statische Entladungen in der Leitung.
Als Nikki sich später für die Arbeit fertigmachte, musste sie über Mindis Angebot nachdenken, sie für ihre Hilfe zu bezahlen. Das war nett gemeint, aber Nikkis größte Sorge war nicht das Geld. Ihre Wohnung lag gleich über dem Pub, und die Miete war spottbillig, weil sie so immer verfügbar war, um spontan einzuspringen und eine Sonderschicht zu übernehmen. Aber der Barkeeper-Job war eigentlich nur zur Überbrückung gedacht gewesen – längst hätte sie etwas aus ihrem Leben machen sollen. Tagtäglich musste sie mit ansehen, wie Freunde und Bekannte in Siebenmeilenstiefeln große Sprünge machten, während ihr eigenes Leben stillzustehen schien. Erst letzte Woche hatte sie an einem überfüllten Bahnsteig eine ehemalige Klassenkameradin stehen sehen. Wie geschäftsmäßig und zielstrebig sie gewirkt hatte, als sie mit der Aktentasche in der einen und dem Kaffeebecher in der anderen Hand zum Ausgang marschiert war. Tagsüber war es am schlimmsten, da war London am präsentesten, und Nikki spürte die Stadt ringsherum ticken und klicken wie ein gigantisches Uhrwerk.
Im Jahr vor Nikkis Abschlussprüfungen an der Schule waren ihre Eltern mit ihr nach Indien gereist, um Tempel zu besuchen und weise alte Pandits* aufzusuchen, die Nikki als Ratgeber und Wegweiser helfen sollten, die richtige Richtung einzuschlagen und ihren vorbestimmten Lebensweg zu beschreiten. Einer der Pandits riet ihr, sich ihre berufliche Zukunft, so wie Nikki sie sich wünschte, in den schillerndsten Farben auszumalen und dabei Gebete zu chanten, um ihre Vision wahrwerden zu lassen. Doch in ihrem Kopf hatte bloß gähnende Leere geherrscht, und dieses Nichts, diese nackte unbemalte Leinwand, das musste wohl das Bild gewesen sein, das sie hinauf an die Götter geschickt hatte. Wie immer bei ihren Reisen in die alte Heimat hatte Nikki strikte Anweisungen erhalten, was sie vor Dads älterem Bruder, bei dem sie zu Gast waren, nicht tun oder sagen sollte: Nicht schimpfen, nicht fluchen, mit keinem Wort ihre männlichen Freunde erwähnen, nicht widersprechen und als Zeichen der Dankbarkeit für die unzähligen Unterrichtsstunden während der Sommerferien, die Nikki ihre kulturellen Wurzeln näherbringen sollten, Punjabi sprechen. Als ihr Onkel sich beim Abendessen nach dem Besuch bei den Pandits erkundigte, musste Nikki sich auf die Zunge beißen, um nicht zu antworten: Das sind alles Lügner. Die reinsten Hochstapler. Genauso gut könnte ich mir von meinen Kumpels Mitch und Bazza die Zukunft aus der Hand lesen lassen.
Dad antwortete an ihrer Stelle: »Nikki wird wohl Jura studieren.«
Und damit war ihre berufliche Zukunft besiegelt. Dad wischte alle Zweifel beiseite und argumentierte, damit werde sie mal einen sicheren, respektablen Job haben. Aber die väterlichen Beschwichtigungsversuche wirkten nicht lange. Die flattrige Unruhe, in der völlig falschen Vorlesung zu sitzen, die sie schon am ersten Tag an der Uni erfasst hatte, sollte im Laufe des ersten Jahres nur noch zunehmen. Nachdem sie im zweiten Jahr in einem Seminar beinahe durchgefallen wäre, bestellte der Tutor Nikki zu sich in die Sprechstunde und meinte: »Vielleicht ist das doch nichts für Sie.« Womit er eigentlich das Thema seines Seminars meinte. Aber für Nikki traf seine Bemerkung ins Schwarze. Das ganze Studium war nichts für sie: die öden, endlos langen Vorlesungen und Tutorien, die Klausuren und Gruppenprojekte und Abgabetermine. Noch am selben Nachmittag ließ sie sich exmatrikulieren.
Weil Nikki sich nicht traute, ihren Eltern zu beichten, dass sie ihr Studium geschmissen hatte, verließ sie trotzdem jeden Morgen brav das Haus, unterm Arm ihre Secondhand-Ledertasche vom Camden Market. Ziellos stromerte sie durch London, das mit seinem verrußten Himmel und seinen uralten Gemäuern den perfekten Hintergrund für ihre Dickens’sche Seelenpein abgab. Nicht mehr zur Uni zu gehen war eine große Erleichterung für Nikki. Bis sie eines Tages zu grübeln begann, was sie denn nun stattdessen machen sollte. Nach einigen weiteren ausgedehnten Stadtwanderungen fing Nikki schließlich irgendwann an, nachmittags zu Protestveranstaltungen und Demos zu gehen, die von ihrer besten Freundin Olive organisiert wurden. Die engagierte sich schon lange leidenschaftlich für eine Frauenrechtsorganisation namens UK Fem Fighters. Es gab so vieles, worüber man sich aufregen konnte. Dass die Sun auf Seite drei immer noch Oben-ohne-Models abdruckte. Dass die öffentlichen Gelder für Frauenhäuser und Interventionsstellen im Zuge der neuen Sparmaßnahmen der Regierung halbiert werden sollten. Dass Journalistinnen in Krisengebieten weltweit schutzlos der Gefahr sexueller Nötigung und Gewalt ausgeliefert waren. Dass in Japan sinnlos Wale abgeschlachtet wurden (kein spezifisch feministisches Thema, aber Nikki taten die Wale trotzdem leid, weshalb sie wahllos wildfremde Menschen auf der Straße ansprach, doch bitte die entsprechende Greenpeace-Petition zu unterzeichnen).
Erst als ein Freund ihres Dads Nikki eine Praktikumsstelle anbieten wollte, sah sie sich schließlich gezwungen zuzugeben, dass sie schon längst nicht mehr zur Uni ging. Lautes Gebrüll war nicht Dads Stil. Er zeigte seine Enttäuschung eher in kühler distanzierter Enttäuschung. Nach endlos langen Diskussionen verschanzten er und Nikki sich schließlich in verschiedenen Zimmern, während Mum und Mindi zwischen ihnen hin und her liefen und versuchten, einen Burgfrieden zu vermitteln. Einer lautstarken Auseinandersetzung am nächsten kamen sie, nachdem Dad eine Liste aufgestellt hatte mit all den Eigenschaften, die Nikki als herausragende Anwältin prädestinierten. »Du hast so viel Potenzial, so viele Möglichkeiten, und du wirfst das einfach weg. Und wozu? Du hast doch schon fast die Hälfte geschafft. Was willst du denn jetzt machen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«
»Jura liegt mir einfach nicht.«
»Es liegt dir nicht?«
»Du versuchst ja nicht mal, mich zu verstehen. Du wiederholst einfach nur alles, was sich sage.«
»ICH WIEDERHOLE ALLES, WAS DU SAGST?«
»Dad«, sagte Mindi. »Beruhige dich. Bitte.«
»Ich werde mich nicht …«
»Mohan, denk an dein Herz«, ermahnte Mum ihn.
»Wieso, was ist mit seinem Herz?«, fragte Nikki. Besorgt sah sie ihren Dad an, aber der wich ihrem Blick aus.
»Sein Herzschlag ist ein bisschen unregelmäßig. Nichts Schlimmes, seine EKGs sind in Ordnung, aber der Blutdruck war 140 zu 90, und das ist dann doch ein bisschen beunruhigend. Außerdem gibt es in seiner Familie etliche Fälle von Beinvenenthrombosen, deshalb machen wir uns ein bisschen Sorgen …«, plapperte Mindi. Auch ein Jahr nach Beginn ihrer Ausbildung zur Krankenschwester schien der medizinische Fachjargon für sie nichts von seiner Faszination verloren zu haben.
»Und was heißt das jetzt konkret?«, unterbrach Nikki sie entnervt.
»Noch gar nichts. Er muss nächste Woche noch mal zu ein paar weiterführenden Tests und Untersuchungen wiederkommen«, sagte Mindi.
»Dad!«, rief Nikki entsetzt und wollte schon zu ihrem Vater stürzen. Doch der hob nur wortlos die Hand und bremste sie so unsanft.
»Du machst alles kaputt«, schalt er sie. Das waren die letzten Worte, die ihr Vater an sie gerichtet hatte. Ein paar Tage später hatten er und Mum spontan die Koffer gepackt und waren nach Indien geflogen. Und das, obwohl sie erst ein paar Monate zuvor dort gewesen waren. Dad wollte zu seiner Familie, hatte Mum erklärt.
Die Zeiten, als ihre Eltern Nikki gedroht hatten, sie nach Indien zu schicken, wenn sie nicht gehorchte, waren längst vorbei. Inzwischen gingen sie selbst dorthin ins freiwillige Exil, wenn ihnen alles zu viel wurde. »Bis wir zurück sind, bist du hoffentlich wieder zur Vernunft gekommen«, meinte Mum. Der Seitenhieb saß, aber Nikki wollte auf keinen Fall wieder einen Streit anfangen. Sie hatte schon heimlich die Koffer gepackt. Ein Pub in Olives Nachbarschaft in Shepherd’s Bush suchte eine Barkeeperin. Bis ihre Eltern zurückkamen, würde Nikki längst fort sein.
Und dann starb Dad ganz plötzlich und unerwartet in Indien. Seine Herzbeschwerden waren wohl gravierender gewesen, als die Ärzte vermutet hatten. In traditionellen indischen Moralgeschichten sind meist missratene Kinder die Wurzel allen Übels, wie Herzprobleme, Krebsgeschwüre, Haarausfall und andere Zipperlein, die die armen gramgebeugten Eltern plagen. Nikki war zwar nicht so naiv zu glauben, Dad hätte ihretwegen einen Herzinfarkt erlitten, dachte aber, die Nachfolgeuntersuchungen in London, die er verschoben hatte, um überstürzt nach Indien zu reisen, hätten ihm womöglich das Leben retten könnten. Die nagenden Schuldgefühle machten es Nikki unmöglich, um ihren Vater zu trauern. Beim Begräbnis versuchte sie, sich ein paar Tränen abzuringen, aber nichts geschah. Die ersehnte Erleichterung blieb aus, sie konnte einfach nicht weinen.
Zwei Jahre später fragte Nikki sich noch immer, ob das damals die richtige Entscheidung gewesen war. Manchmal überlegte sie sogar insgeheim, wieder an die Uni zu gehen und ihren Abschluss nachzuholen. Obwohl sie die Vorstellung unerträglich fand, über irgendwelchen Präzedenzfällen brüten oder an drögen Vorlesungen teilnehmen zu müssen. Aber womöglich waren Begeisterung und Spaß an der Freude im Leben eines Erwachsenen nicht immer das Wichtigste. Wenn arrangierte Ehen funktionieren konnten, vielleicht konnte Nikki sich ja dann auch für etwas begeistern, wofür sie nicht von Anfang an Feuer und Flamme war. Sie musste einfach inständig hoffen, irgendwann doch noch Feuer zu fangen.
Als Nikki am nächsten Morgen das Haus verließ, wurde sie von einem fiesen Sprühregen begrüßt. Missmutig zog sie sich die mit Kunstpelz gesäumte Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und machte sich auf den ungemütlichen fünfzehnminütigen Fußmarsch zur nächstgelegenen Bahnstation. Ihre heißgeliebte Ledertasche schlug ihr baumelnd gegen die Hüfte. Am Zeitungskiosk hielt sie kurz inne, um sich eine Schachtel Zigaretten zu kaufen. Das Handy in ihrer Tasche brummte – eine Nachricht von Olive.
Job in Kinderbuchhandlung. Perfekt für dich!
Gestern in der Zeitung gesehen.
Nikki war gerührt. Seit sie Olive gestanden hatte, dass sie fürchtete, O’Reilly’s könne womöglich bald für immer die Türen schließen, durchforstete ihre Freundin gewissenhaft die Stellenanzeigen in der Zeitung für sie. Mit dem Pub ging es schon eine Weile bergab. Seine Einrichtung war zu schäbig, um als hip durchzugehen, und das typische englische Kneipenessen konnte mit dem trendigen Café, das gleich nebenan eröffnet hatte, auch nicht mehr mithalten. Sam O’Reilly verbrachte inzwischen mehr Zeit in dem kleinen Büro im Hinterzimmer, umgeben von unzähligen Rechnungen und Belegen, als hinter dem Tresen.
Nikki schrieb prompt zurück.
Habe ich auch gesehen. Wollen aber mindestens 5 Jahre Berufserfahrung. Brauche einen Job, um Berufserfahrung zu sammeln, brauche Berufserfahrung, um einen Job zu bekommen – verrückte Welt!
Von Olive kam keine Antwort mehr. Als Lehrerin im Vorbereitungsdienst konnte sie werktags nur sporadisch Nachrichten schreiben. Nikki hatte mit dem Gedanken gespielt, ebenfalls Lehrerin zu werden. Aber immer, wenn Olive von ihren anstrengenden, verzogenen Schülern erzählte und was sie wieder angestellt hatten, war Nikki heilfroh, sich bei O’Reilly’s nur gelegentlich mit dem einen oder anderen schwankenden Säufer herumschlagen zu müssen.
Nikki tippte noch eine Nachricht.
Heute Abend im Pub? Du glaubst nicht, wo ich gerade hinfahre – Southall!
Dann drückte sie die Zigarette aus und ließ sich von dem Pendlerstrom mitreißen, der sie bis in ihre Bahn spülte.
Während der Fahrt schaute Nikki versonnen aus dem Fenster und beobachtete, wie London langsam hinter ihr zurückblieb, je weiter der Zug nach Westen ratterte, und wie die Backsteinhäuser allmählich Schrottplätzen und Gewerbehöfen wichen. Am Bahnhof Southall waren sämtliche Schilder auf Englisch und Punjabi verfasst. Nikkis Blick blieb zuerst an der Punjabi-Beschilderung hängen, und sie staunte, wie vertraut ihr das Geschlängel und Geringel immer noch war. Während der vielen Sommer in Indien hatte sie auch Gurmukhi schreiben und lesen gelernt. Später war es ein profitabler Partytrick gewesen, gegen ein paar Freigetränke die Namen ihrer englischen Freunde auf Punjabi auf eine Cocktailserviette zu kritzeln.
Mit dem Bus ging es weiter zum Tempel. Der Anblick der unzähligen zweisprachigen Schilder an den Läden links und rechts verursachte Nikki Kopfschmerzen, und sie beschlich das vage Gefühl, in zwei Teile zerrissen zu werden. Britisch, Indisch. Als sie noch ein kleines Kind war, hatte ihre Familie oft Tagesausflüge hierher unternommen – zu Hochzeiten im Tempel oder Shoppingtouren auf der unermüdlichen Suche nach frischen indischen Gewürzen. Nikki konnte sich noch gut an die konfusen Streitgespräche bei diesen Ausflügen erinnern, denn Mum und Dad schienen sich stets uneins gewesen zu sein, ob sie es nun mochten, unter Landsleuten zu sein, oder doch eher verabscheuten. Wäre es nicht eigentlich ganz nett, andere Punjabis als Nachbarn zu haben? Aber warum dann überhaupt nach England auswandern? Je heimischer ihre Eltern in Nordlondon wurden, desto seltener wurden die Besuche in Southall, bis sie irgendwann in ebenso weite Ferne gerückt waren wie Indien selbst. Jetzt dröhnte aus dem Auto auf der Spur neben ihnen ein treibender Bhangra-Bass-Beat. Aus dem Schaufenster eines Stoffhändlers lächelten eine Reihe Mannequins in Glitzer-Saris verschämt den vorbeigehenden Passanten zu. Die Auslage der Gemüsehändler schwappte bis hinaus auf die Bürgersteige, und vom Verkaufswagen eines Samosa-Bäckers stieg heißer duftender Dampf in den Himmel. Es hatte sich nichts geändert.
An einer Haltestelle stiegen etliche Schulmädchen aus der Oberstufe ein. Kichernd und plappernd standen sie zusammen, und als der Bus plötzlich einen Satz machte, wurden sie unter kollektivem Kreischen nach vorne geschleudert. »Heilige Scheiße!«, krakelte eins der Mädchen. Worauf die anderen alle losprusteten. Der Lärm verstummte allerdings schlagartig, als die Mädchen die missbilligenden Blicke der beiden turbantragenden Herren sahen, die Nikki gegenübersaßen. Die Mädchen stupsten sich gegenseitig in die Rippen, still zu sein.
»Benehmt euch anständig«, zischte jemand, und als Nikki sich umdrehte, sah sie eine ältere Dame, die die Mädchen verächtlich musterte, als diese mit gesenktem Kopf beschämt an ihr vorbeihuschten. Die meisten Passagiere stiegen mit Nikki am Gurdwara aus. Die goldene Kuppel glänzte in der Sonne vor einem mit steingrauen Wolken verhangenen Himmel, und funkelnde saphirblaue und orangerote Schnörkel zierten die Bleiglasfenster im zweiten Stock. Die viktorianischen Stadthäuschen ringsum wirkten winzig wie Spielzeug im Vergleich zu dem majestätischen, hochaufragenden schneeweißen Gebäude. Wie gerne hätte Nikki eine Zigarette geraucht, aber hier waren überall viel zu viele Augen. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken, als sie ein Grüppchen weißhaariger Frauen passierte, die langsam von der Bushaltestelle zum geschwungenen Eingangstor des Tempels wackelten. Als Kind war ihr die Decke in dem weitläufigen Gebäude himmelhoch erschienen, und auch heute noch schien sie in schwindelerregender Höhe zu sein. Ein verhallendes Echo der gechanteten Gesänge schallte vom Gebetssaal herüber. Nikki nahm ihren Schal aus der Tasche und schlang ihn sich um den Kopf. Seit ihrem letzten Besuch Jahre zuvor war der Eingangsbereich des Tempels renoviert worden, weshalb sie die Aushänge nicht gleich entdeckte. Eine Weile wanderte sie ziellos herum. Fragen wollte sie nicht. Einmal war sie in Islington in eine Kirche gegangen, um nach dem Weg zu fragen, und hatte den Fehler gemacht, dem Pastor zu sagen, sie habe sich verirrt. Das nachfolgende Gespräch zwecks Suche nach ihrer verschütteten Spiritualität hatte eine gute Dreiviertelstunde gedauert, und den Weg zur Victoria-Bahnlinie hatte sie danach trotzdem nicht gewusst.
Endlich entdeckte Nikki die Anschlagbretter gleich in der Nähe des Eingangs zum Langar*-Saal. Zwei lange Pinnwände nahmen beinahe die gesamte Wandbreite ein: HEIRAT und GEMEINDENACHRICHTEN. Während man die Aushänge auf der Gemeindeseite fast an einer Hand abzählen konnte, hingen die Zettel am Heiratsbrett doppelt und dreifach übereinander.
Hey dU, WiE gEHt’s, wIE SteHT’s? NUR 1 ScHErz! ICh bIN 1 ziEMliCh eNtSpannTEr TyP, aBEr iCh kaNN DiR verSiCHeRn, icH MEiNe eS gANz erNSt. 1 SPieLEr BiN iCH niCHt. MeIn ZiEl iSt es, dAs LEbeN ZU genIeSSen, eINen TaG naCH DeM anDEreN zu NeHMeN unD siCH NicHT üBEr nIChtigKeiTEn aUFzurEGeN. UNd daS WiChTiGsTe: mEIne PrinZeSSIn zu FIndEn unD SiE sO zu VeRWöhneN, wIe SIe eS VeRDieNT.
Junger Sikh-Mann aus Jat-Familie, beste Herkunft, sucht Sikh-Mädchen mit ähnlichem Hintergrund. Kompatible Interessen sowie Neigungen und Abneigungen und übereinstimmende Familienwerte sind Voraussetzung. Wir sind in vieler Hinsicht offen und tolerant, Nicht-Vegetarierinnen und Frauen mit kurzen Haaren sind allerdings inakzeptabel.
Braut für Sikh-Akademiker gesucht
Amardeep hat gerade seinen BA in Bilanzbuchhaltung gemacht und sucht das Mädchen seiner Träume; seine bessere Hälfte. Als Bester seines Abschlussjahrgangs wurde ihm kürzlich eine Top-Position in einer Top-Anwaltskanzlei angeboten. Seine Braut sollte ebenfalls studiert haben und einem Beruf nachgehen, vorzugsweise mit einem BA in einem der folgenden Zweige: Wirtschaftslehre, Marketing, Unternehmensverwaltung oder Management. Unsere Familie ist im Textilgeschäft.
Mein Bruder weiß nicht, dass ich das hier poste, aber ich dachte mir, probieren kann man es ja mal! Er ist Single, 27 Jahre alt und ledig. Er ist klug (zwei Master-Abschlüsse!!!), witzig, nett und respektvoll. Und das Allerbeste, er ist echt HEISSSS. Ich weiß, es klingt etwas eigenartig, wenn seine Schwester das sagt, aber es stimmt. Ich schwöre! Wenn ihr ein Foto sehen wollt, schreibt mir.
Name: Sandeep Singh
Alter: 24
Blutgruppe: O positiv
Studium: BA Maschinenbau
Beruf: Maschinenbauer
Hobbys: Ein bisschen Sport und Spiel
Aussehen: heller Teint, 1,72m, offenes Lächeln
Siehe auch Foto
»Gibt’s doch nicht«, murmelte Nikki und wandte sich mit Grausen ab. Mindi mochte vielleicht den traditionellen Weg einschlagen wollen, aber sie war viel zu gut für jede einzelne dieser Witzfiguren. Ihre von Nikki leicht editierte Suchanzeige bewarb eine einfühlsame, selbstbewusste Single-Frau, die genau die richtige Balance gefunden hatte zwischen Tradition und Moderne.
Im Sari fühle ich mich genauso wohl wie in Jeans. Mein Traummann genießt gutes Essen und kann laut über sich selbst lachen. Ich bin ausgebildete Krankenschwester und finde meine Erfüllung in der Sorge um andere Menschen. Dennoch suche ich einen Ehemann, der für sich selber sorgen kann, denn ich schätze meine Unabhängigkeit. Hin und wieder schaue ich auch Bollywood-Filme, lieber mag ich aber romantische Komödien und Actionfilme. Ich bin weit gereist, aber den Rest der Welt sehe ich mir lieber zusammen mit dem Einen an, der mich auch auf der wichtigsten Reise von allen begleitet: dem Leben.
Beim letzten Satz sträubten sich Nikki zwar die Nackenhaare, aber er passte zu ihrer Schwester. Die fand so was nicht kitschig, sondern tiefgründig. Wieder schweifte ihr Blick über das Anschlagbrett. Wenn sie jetzt ging, ohne die Annonce ihrer Schwester irgendwo anzupinnen, würde Mindi ihr keine Ruhe lassen, bis sie noch mal wiederkam und die Sache zu Ende brachte. Aber wenn sie den Zettel jetzt hier anbrachte, entschied Mindi sich am Ende womöglich für einen dieser Vollpfosten. Nur weil sie dachte, sie fände nichts Besseres. Nikki hätte sich am liebsten eine Zigarette angesteckt und kaute stattdessen nervös am Daumennagel. Schließlich rang sie sich dazu durch, den Zettel an das Brett zu heften, wenn auch ganz außen, am Rand der Heiratsgesuche, wo die Anzeige am wenigsten auffiel und teilweise mit den spärlichen Aushängen der Gemeindenachrichten überlappte. Aber immerhin konnte sie behaupten, den Auftrag wunschgemäß ausgeführt zu haben.
Hinter ihr räusperte sich jemand. Nikki drehte sich um und sah sich plötzlich einem schmächtigen Männlein gegenüber. Der zuckte eigenartig mit den Schultern, als antwortete er auf eine ungestellte Frage. Nikki nickte ihm höflich zu und wendete sich wieder ab. Aber dann sprach er sie doch an.
»Dann suchen Sie also …« Verschämt wies er mit einem Wedeln der Hand auf das Schwarze Brett. »Einen Ehemann?«
»Nein«, widersprach Nikki vehement. »Ich bestimmt nicht.« Sie wollte den Mann nicht auf Mindis Aushang aufmerksam machen. Er hatte Ärmchen wie Zahnstocher.
»Ach«, murmelte er peinlich berührt.
»Ich schaue nur gerade nach den Neuigkeiten aus der Gemeinde«, schwindelte Nikki. »Ehrenamtliches Engagement und so.« Damit drehte sie ihm demonstrativ den Rücken zu und tat, als studierte sie interessiert die Aushänge. Eifrig nickend las sie die einzelnen Zettel. Da waren Autos zu verkaufen und Wohnungen zu vermieten. Auch ein paar Heiratsanzeigen hatten sich hierher verirrt. Aber diese Angebote waren auch nicht besser als die, die Nikki bereits gesehen hatte.
»Dann engagieren Sie sich also ehrenamtlich?«, stellte der Mann fest.
»Ich muss jetzt wirklich los«, murmelte Nikki rasch. Dann kramte sie geschäftig in ihrer Handtasche, um jede weitere Unterhaltung zu unterbinden, und wendete sich entschlossen dem Ausgang zu, um zu gehen. Just in dem Augenblick blieb ihr Blick an einem der Zettel hängen. Abrupt blieb sie stehen und überflog ihn rasch. Nur um ihn dann noch mal sorgfältig durchzulesen. Langsam wanderten ihre Augen über die gedruckten Worte.
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Am Ende des Workshops werden die besten Arbeiten zusammengestellt und als Anthologie herausgegeben.
Darunter stand eine handschriftlich gekritzelte Ergänzung: Schreibwerkstatt nur für Frauen. Werkstattleiterin gesucht. Bezahlte Stelle, zwei Tage die Woche. Bitte melden Sie sich bei Kulwinder Kaur von der Sikh Community Association.
Erfahrung aus vorherigen Workshop-Leitungen wurde nicht verlangt. Das war schon mal ermutigend. Nikki zog das Handy aus der Tasche und tippte die Nummer ein, um sie abzuspeichern. Sie spürte die neugierigen Blicke des Mannes neben ihr, ignorierte ihn aber geflissentlich und reihte sich dann in eine Gruppe Gläubiger ein, die gerade aus dem Langar-Saal strömte.
Ob sie eine Schreibwerkstatt leiten könnte? Sie hatte mal einen Artikel für den Blog der UK Fem Fighters geschrieben, in dem sie über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung auf offener Straße in Delhi und London berichtete. Drei Tage hatte der Post sich auf der Liste der meistgelesenen Artikel gehalten. Bestimmt könnte sie irgendwelchen Tempelfrauen ein paar Schreibtipps geben, oder? Und am Schluss vielleicht eine Anthologie der besten Arbeiten herausgeben. Eine Beschäftigung als Lektorin und Herausgeberin würde sich in ihrem Lebenslauf jedenfalls gut machen. Ein kleiner Hoffnungsfunken glimmte in ihrer Brust. Vielleicht war das ja endlich ein Job, der ihr Spaß machen und auf den sie stolz sein könnte.
Durch die Seitenfenster schien Licht in den Tempel und warf warme Farbkleckse auf den Fliesenboden, ehe ein Wolkenhaufen heranzog und sich vor die Sonne schob. Gerade, als Nikki aus dem Gebäude trat, kam endlich eine Antwort von Olive auf ihre letzte Nachricht.
Wo bitte ist denn Southall?
Die Frage wunderte Nikki. So lange, wie sie jetzt schon befreundet waren, musste Nikki Olive gegenüber doch irgendwann mal den Namen Southall erwähnt haben. Aber andererseits hatten sie und Olive sich erst in der Oberstufe kennengelernt, als Nikkis Eltern die Punjabi-Ausflüge schon längst viel zu anstrengend geworden waren. Weshalb Olive sich auch nie Nikkis Lamento anhören musste, wieder einen glorreichen Sonntag darauf verschwendet zu haben, auf der Suche nach Koriandersaat und Senfsamen sämtliche Gewürzhändler in Southall abzuklappern.
Nikki blieb stehen und schaute sich um. Rings um sie herum sah sie Frauen mit Kopftüchern – Frauen, die Kleinkindern hinterherliefen, Frauen, die sich gegenseitig aus den Augenwinkeln musterten, Frauen, die über Rollatoren gebeugt nur langsam und beschwerlich vorankamen. Jede von ihnen hatte eine Geschichte zu erzählen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sie in einem Raum voller Punjabi-Frauen stand und den Workshop leitete. Sie sah alles schon ganz genau vor sich: Die knallbunten farbenfrohen Kamize*, das Rascheln des Stoffs und das nachdenkliche Klopfen von Bleistiften. Der Duft nach Parfum und Kurkuma. Mit einem Mal sah sie ihre Aufgabe glasklar vor sich. »Es gibt Menschen, die nicht einmal wissen, dass es diesen Ort hier überhaupt gibt«, würde sie sagen. »Lasst uns das gemeinsam ändern!« Und dann würden sie mit glühender Leidenschaft und rechtschaffener Empörung ihre Geschichten aufschreiben, damit die ganze Welt sie lesen konnte.
* Eine Erklärung der mit * gekennzeichneten Begriffe finden Sie am Ende des Buches.