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Das Buch

Der Traum von der Unsterblichkeit. Diesen Traum verfolgen in der tristen schottischen Provinz vier Jugendliche. Und es kommt einem Wunder gleich, als sie 1984 mit ihrer Band plötzlich einen Smash-Hit landen. Eine internationale Karriere scheint möglich. Doch in Kilmarnock gehen die Uhren anders. Weitab vom Großstadtdschungel gerät die Band zwischen die Fronten der sich bekämpfenden Familienclans und Kleinstadtgangster. Und plötzlich taucht auch noch Boy George auf …

Schottenrock ist bei aller Skurrilität letztlich doch eine zutiefst menschliche Geschichte über Kleinstadtrivalität, Musik, Erwachsenwerden und die Hoffnung auf ein besseres Leben.

Der Autor

David F. Ross wurde 1964 in Glasgow geboren. Nach diversen Gelegenheitsjobs ist er heute Design Director bei einem der größten Architekturbüros Schottlands und hält weltweit Vorträge. Schottendisco war sein Romandebüt, Schottenrock ist die Fortsetzung. Mit Frau und zwei Kindern lebt er in Kilmarnock.

DAVID F. ROSS

SCHOTTEN ROCK

Aufstieg und Fall der Miraculous Vespas

Roman

Aus dem schottischen Englisch

von Daniel Müller

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE RISE AND FALL OF THE MIRACULOUS VESPAS bei Orenda Books, London

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Copyright (c) 2016 by David F. Ross

Copyright (c) 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Thomas Brill

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Motiven von Shutterstuck/dpaint

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-20645-1
V001

www.heyne-hardcore.de

Für Bobby, der den Samen pflanzte, ohne es zu wissen.

VORBEMERKUNG DES AUTORS

Schottenrock ist eine Parallelgeschichte zu Schottendisco. Obwohl beide nicht direkt miteinander verbunden sind, gibt es gemeinsame Figuren und Schauplätze. Die Geschichte, die Sie gleich lesen werden, mag unglaublich klingen. Ich würde sie wohl selbst nicht für wahr halten, wenn ich nicht das meiste davon mit eigenen Augen gesehen hätte. Deshalb möchte ich Sie bitten, Ihren natürlichen Zynismus und die berechtigte Skepsis beiseitezuschieben und anzuerkennen, dass selbst in der kulturellen Einöde des vom Thatcherismus gebeutelten Ayrshire der 1980er-Jahre die Träume von Jugendlichen wahr werden konnten. Teenage dreams, so hard to beat …

Die erste Person, der Sie nach diesem Prolog begegnen werden, ist Max Mojo, der am Anfang dieser bemerkenswerten Odyssee noch Dale Wishart heißt. Zu Beginn unserer Geschichte liegt er im Krankenhaus, dem Anschein nach Opfer eines wieder aufflackernden Bandenkrieges zwischen drei Gangstersyndikaten in Ayrshire.

Im Laufe der Erzählung werden viele schillernde Charaktere auftauchen und sich mit jeder Buchseite tiefer in Ihre Fantasie vorarbeiten. Mir, Ihrem Erzähler und Fremdenführer, obliegt es, sie Ihnen vorzustellen. Damit Sie, geneigter Leser, dieser weit verzweigten Fabel mit der nötigen gedanklichen Klarheit folgen können, werde ich kurz die Beziehungen der Figuren untereinander sowie ihren Rang auf der von Polizeichef Don McAllister geführten Liste der »Most Wanted Troublemakers in Ayrshire« erläutern. Im Jahr 1982 – das Jahr, in dem unsere Geschichte beginnt – gibt es drei dominierende »Familien« in Ayrshire, die alle sehr schwer für ihren unehrlichen Lebensunterhalt arbeiten.

In Crosshouse, im Westen von Kilmarnock, herrschen die Wisharts. Als Geldwäscher widmen sich die Wisharts einem Zweig der organisierten Wirtschaftskriminalität, der sie auf der Abschussliste der örtlichen Polizei unterhalb ihrer unmittelbaren Konkurrenten landen lässt. Angeführt werden sie von James Wishart, allgemein als »Washer« bekannt. Washer ist der Vater von Dale Wishart, der allerdings als Frontmann einer jungen Nachwuchsband namens The Vespas nicht aktiv in das Familienunternehmen eingebunden ist. Washers Neffe Gerry Ghee ist gleichzeitig seine rechte Hand. Der Dritte in der Hierarchie ist offiziell Benny Donald, dessen jüngste Ausflüge in die berüchtigte Drogenszene von Glasgow dem Familienoberhaupt allerdings reichlich Sorgen bereiten. Washers bester Freund ist Frankie Fusi – bekannt als Flatpack Frankie. Die beiden sind wie Brüder, was auf ihre gemeinsame Armeezeit in Malaysia zurückgeht. Frankie Fusi arbeitet exklusiv als Washers Mann für besondere Aufträge, ist jedoch kein Vollmitglied der »Familie«.

In Galston, im Osten von Kilmarnock, kontrollieren die Quinns den Laden, eine aus Birmingham zugezogene Roma-Familie, die vor allem im Security- und Schutzgeld-Business aktiv ist und die Geschäfte in Galston gewaltsam von ihren Vorgängern, den im Glasgower East End ansässigen McLartys, übernommen hat. Als Obermacker der Familie fungiert Nobby Quinn, der eigentliche Kopf des Unternehmens ist jedoch Magdalena, seine allseits gefürchtete Ehefrau. Die erforderliche Muskelkraft liefern ihre Söhne, von denen es aber zu viele gibt, um sie hier alle aufzuzählen. Im Endeffekt müssen Sie sich nur mit einem beschäftigen: Rocco.

Damit kommen wir zu Fat Franny Duncan, von dem Sie vielleicht schon gehört haben. Fat Frannys Terrain ist Onthank im Nordwesten von Kilmarnock. Seine Truppe ist in einer Vielzahl von Geschäftsbereichen aktiv, von Wucherkrediten bis zur Eventgestaltung ist alles dabei. Die vormals unangefochtene Position des Fatman als Don McAllisters Public Enemy Number One ist aber möglicherweise gefährdet. Fat Frannys oberster Handlanger Robert »Hobnail« Dale zweifelt nämlich mit jedem Tag mehr an seinem Chef, was sich nicht gerade positiv auf seine Loyalität auswirkt. Des Brick, Fat Frannys Berater und Hobnails Schwager, ist mit den Gedanken ständig woanders, und Wullie Blair – auch bekannt als Wullie der Maler – arbeitet nebenbei schwarz für Mickey »Doc« Martin, einen Einzelgänger unter Fat Frannys Konkurrenten. Um den Verlust seiner Macht aufzuhalten, hat Fat Franny einen Mann namens Terry Connolly an Bord geholt, der die Eiscremewagen managen soll. Wie Sie bald erfahren werden, ist Terry allerdings eine weitere Figur mit Verbindungen zu den McLartys.

Dies also sind die drei Pfeiler des kriminellen Kartells, das seit dem Rückzug der McLartys in den Norden durch die Drohkulisse der gegenseitig zugesicherten Zerstörung einen fragilen Frieden gewahrt hat. Dieser Frieden, lieber Leser, wird zu Ihrer Unterhaltung in Kürze erschüttert, während gleichzeitig der Einfluss der McLartys wieder ans Licht drängt … und eine in einem lokalen Gemeindesaal probende Nachwuchsband die schlafwandelnde Gemeinde mit ihren illusionären Hoffnungen und Träumen vom großen Rock’n’Roll-Erfolg wachrüttelt. Aber zu deren Aufstieg und Fall kommen wir zu gegebener Zeit.

Derweil ist, wie Wullie (der Shakespeare, nicht der Maler) vielleicht sagen würde, alles bisher Geschehene nur ein Vorspiel.

DFR

»Beim Rock’n’Roll geht es nicht unbedingt um eine Band. Oder einen Sänger. Oder einen Song. Es geht um den Versuch, unsterblich zu werden.«

Malcolm McLaren

24. SEPTEMBER 2014

Am ersten Weihnachtstag 1995 traten die Miraculous Vespas in einer Sonderausgabe von Top of the Pops auf. Nach mehr als zehn Jahren in der musikalischen Versenkung schoss ein Remix ihrer ersten Single »It’s a Miracle (Thank You)« wieder in die britischen Top Five, und ihre lange vergessene LP The Rise of the Miraculous Vespas wurde als eines der besten britischen Debütalben aller Zeiten gefeiert. Dennoch war es in erster Linie ihr TV-Auftritt an jenem Weihnachtstag, mit dem sie in die Musikgeschichte eingingen. Schockierend wie das Fernsehinterview der Sex Pistols mit Bill Grundy und legendär wie Nirvanas berühmter Live-Gig in The Word auf Channel 4. Anstatt ihren Hit vor einem Publikum von 26 Millionen Zuschauern live zu präsentieren, stöpselte Leadsänger Grant Delgado seine Gitarre aus, streifte sein Hemd ab und klebte sich mit Gaffa-Tape erst selbst und dann seinen Bandkollegen den Mund zu … eine Aktion, die nicht nur als der ultimative Karrieresuizid, sondern auch als eine der kontroversesten je inszenierten Performances angesehen wurde. Dreißig Jahre nachdem die legendäre Single erstmals auf Platz eins der Charts stand, dokumentiert jetzt ein neuer Film des umstrittenen Managers der Band, Max Mojo, die unglaubliche Geschichte vom Aufstieg und Fall der Miraculous Vespas.

Mr. Mojo, es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen …

Max, Norma … du kannst mich Max nennen, Süße.

Ah, okay. Danke, Max … danke, dass du dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Ich fühle mich sehr geehrt, die Einzige zu sein, der du Rede und Antwort stehst.

Ich mag deine Sachen, Mädchen. Ich kenn dich ja aus The Tube. Die Sendung war zwar der letzte Dreck, aber du warst toll.

Das ist sehr nett. Danke.

Wette, du wusstest nich, dass die Miraculous Vespas sogar mal für diese Kackshow gebucht waren. Dritte Staffel, erste Folge.

Wirklich? Nein, das wusste ich nicht.

Am verfickten 5. Oktober 1984. Das Datum is mir ins Gehirn gebrannt, als hätte es Inkstain Ingram höchstpersönlich dort eintätowiert.

Inkstain wer bitte? Das war ein paar Jahre vor meinem Einstieg bei der Sendung.

Egal. Ingram is sowieso schon Wurmfutter, wie die meisten von damals. Die Absage von The Tube war wahrscheinlich der Moment, an dem ich definitiv wusste, dass ich die Kiste an die Wand gefahren hatte. Rückblickend kann ich nur drüber lachen. Wir wurden in dem Line-up durch Culture Club ersetzt! Wenn das keine Ironie des Schicksals is, was? Die haben da »War Song« gespielt, diese elende Schrottnummer, und hinterher wurde dieser Boy-George-Vogel nach der beschissenen Entführung gefragt. Und der verdammte Wichser hat’s nich mal dementiert. Hat uns nochmal ’ne Menge Ärger extra eingebracht, das Arschloch.

Wegen dem Prozess, meinst du?

Nee, das war’s nich. Die Verhaftungen und der Prozess, das kam alles später, aber an dem Punkt hab ich geschnallt, dass es mit Grant keinen Weg zurück mehr geben würde. Wegen dem ganzen Mist in den Zeitungen waren The Miraculous Vespas ’n verdammter Witz geworden. ’Ne Newcomer-One-Hit-Wonder-Band, finanziert von Gangstern und Flachwichsern. Das Traurige war, die Band hätte magisch sein können … das haben inzwischen ja auch alle kapiert. Beschissenerweise ’n paar Jahre zu spät.

Eins nach dem anderen, Max, wenn du nichts dagegen hast. Können wir ganz zum Anfang der Geschichte zurückkehren? Dein Film beginnt mit einer seltsamen psychedelischen Sequenz. War das eine Vision, die du hattest … oder eine Art Halluzination? Könntest du bitte über Dale Wishart sprechen und uns erklären, wie es zu dieser Transformation kam?

Hmmm … also, ich bin diesen beschissenen Hügel hoch … den Mount in Onthank, weißte? Keine Ahnung übrigens, wie ich in dem Drecksloch gelandet bin, aber egal. Jedenfalls schlepp ich ein paar verwichste Kanthölzer durch die Gegend, zusammengenagelte Bretter, verstehste? Und ich reiß mir einen verfickten Splitter nach dem anderen ein, und es tut höllisch weh. Ich also den Onthank Drive hoch, und am Straßenrand stehen alle möglichen Krawallbrüder und beschmeißen mich mit irgendwelchem Zeug. Meine Birne war am Platzen, sag ich dir … die fiesesten Kopfschmerzen, die ich je hatte.

Jedenfalls teilt sich plötzlich die Menge wie für ’ne Oranier-Parade, und durch die Lücke kommt so ’n alter Knacker auf mich zugaloppiert … und zwar auf dem Rücken von dem größten verfickten Schäferhund, den ich je gesehen hab. Das Viech hatte sogar ’nen Sattel, als wär’s ’n verdammter 3:1-Favorit beim beschissenen Grand National oder irgendwas.

Ich hab echt die Hosen voll, aber ich kann die Kanthölzer nich weglegen, weil irgendein Wichser mir die Teile an die Hände genagelt hat. Keine Ahnung, was der Scheiß sollte, aber egal. Der alte Knacker springt von dem Köter und sagt: »Sitz, Sheba!« Ich hab erst verstanden: »Schlitz Sheba!« Genau das hätt ich mir nämlich gewünscht, dass irgendjemand dieser Fellkugel die beschissene Kehle aufschlitzt, aber Fehlanzeige. Jedenfalls quatscht der mich an … also der olle Methusalem, nich der Köter:

»Du vergeudest dein Talent«, sagt der Alte und erklärt mir, dass er Manny heißt … Manny Wise.

»Woher willst du das Scheiße nochmal wissen?«, blaff ich ihn an … voll auf Krawall aus, verstehste?

»Ich weiß mehr, als du denkst, Junge. Ich kenn deinen Vater … und ich kann auch in die Zukunft sehen. In deine Zukunft.«

Ich lach mir einen ab, weil jeder Penner in Ayrshire Washer Wishart kennt – obwohl viele von denen ihn wohl lieber nich kennen würden. Und gerade, als ich dem Alten das sage, pinkelt mir seine beschissene Riesentöle ans Bein.

»Verdammte Scheiße!«, brüll ich, und das Viech knurrt mich so fies an, dass ich mir wünsche, ich hätt die Fresse gehalten. »Hör zu, alter Mann …«, sag ich zu ihm, »… ich soll das Holz hier den Berg hochschleppen. Da oben wartet ’n Haufen Leute drauf … außerdem fängt’s gleich an zu pissen. Also wenn du nich mit anpacken willst, zieh Leine und lass mich meine Arbeit machen, klar?«

Und dann sagt er was, das mich trifft wie ’n Blitz und am ganzen Körper zittern lässt.

»Du bist zu was Großem geboren, mein Sohn. Erinnerste dich noch an den Aufsatz, den du in der Siebten geschrieben hast? Wo du ein Superheld warst … Max Mojo? Und für den du ’nen Preis gewonnen hast?«

»Woher verdammt nochmal weißte das?« Und ich bin voll durch’n Wind – All Shook Up, verstehste? Wie Elvis. Ich guck ihn mir genauer an, direkt ins Gesicht, und zerbrech mir die Rübe, wo ich ihn schon mal gesehen hab. Und dann dämmert’s mir … es is der beschissene Opa von diesem Dale Wishart, also Washers Vater. Ich kenn ihn bloß von Fotos, weil, pass auf … der Opa is nämlich im selben Jahr gestorben, in dem Dale geboren wurde. Irgendwann in den beschissenen Sechzigern!

Jedenfalls kriech ich mittlerweile voll aufm Zahnfleisch, und meine Hände tun scheiße weh von den Nägeln. Aber was dann kommt, haut mich um …

»Du bist ’n Anführer, Junge. Also führe. Mach’s richtig. Befrei dich von deinem alten Ich. Dale Wishart? Was fürn Arschlochname is das denn bitte schön, Junge? Klingt wie ’ne beschissene Teppichfabrik. Übernimm die Kontrolle. Schluss mit dem Rumgehampel vorne auf der Bühne, wo du eh nur aussiehst wie ’n verdammtes Mädchen. Kein Wunder, dass der Rest der Band dir die Fresse poliert hat. Führe, du kleiner Scheißer, führe … dann warten unermessliche Reichtümer auf dich.«

Und plötzlich macht alles Sinn. Ich bin Max. Ich muss diesen Wichser von Dale aufwecken. Die Kontrolle übernehmen, genau wie der Alte es mir erklärt hat. Ich hab schon viel zu lange gepennt. Ich muss alles umkrempeln! Führen … wie der Alte gesagt hat. Wenn ich das hinbekomme … also dann … wird’s …

TEIL 1

I HOPE TO GOD YOU’RE NOT AS DUMB AS YOU MAKE OUT

KAPITEL 1

7. Juni 1982

»Miraculous.«

»Hä? Was meinst du?« Das unerwartete Flüstern der bandagierten Gestalt in dem Bett vor ihm war so leise, dass Bobby Cassidy sich nicht sicher war, ob er überhaupt etwas gehört hatte. Er beugte sich vor, sorgfältig darauf bedacht, keinen der zahlreichen Schläuche herauszureißen, da Dale Wishart andernfalls vielleicht nie wieder sprechen würde. »Dale. Was hast du gesagt, Mann?« Keine Reaktion. Bobby saß seit einer guten Viertelstunde am Bett des bewusstlosen jungen Mannes und nahm nun an, dass seine gelangweilte Fantasie ihm einen Streich gespielt hatte und er im sonderbaren Rhythmus der Piepstöne und Atemgeräusche etwas gehört hatte, was gar nicht da war.

Bobby war in die Intensivstation des Crosshouse Hospital am westlichen Stadtrand von Kilmarnock gekommen, um Dale Wishart zu besuchen. Zuerst hatte er sich vergewissert, dass keiner von Dales durchgedrehten und größtenteils gemeingefährlichen Angehörigen anwesend war. Seine Befürchtungen erwiesen sich jedoch als überflüssig, es war niemand da. Dales Zustand schien nicht mehr kritisch zu sein. Am Vormittag war er von der Intensivstation verlegt worden, da Tests ergeben hatten, dass er keine bleibenden Hirnschäden davontragen würde. Die Liste seiner Verletzungen las sich trotzdem beeindruckend: gebrochene Rippen, zertrümmerte Augenhöhle, Fraktur des Schlüsselbeins und ein verdrehter Hoden, was so schmerzhaft klang, dass es einem die Tränen in die Augen trieb. Zwei Abende zuvor hatte man die örtliche Nachwuchsband, deren Frontmann Dale war, in einem Hagel von Bierflaschen von der Bühne getrieben. Es war der Auftakt zu einer Massenschlägerei gewesen, bei der der Auftrittsort, die Henderson Church Hall, praktisch komplett demoliert wurde. Bobby war kein enger Freund von Dale, doch die beiden Achtzehnjährigen teilten ein paar gemeinsame Erfahrungen und die Liebe für dieselben musikalischen Einflüsse.

Dale setzte diese Leidenschaft mit den Vespas um, seiner Mod-beeinflussten Band, Bobby mittels einer mobilen Disco namens Heatwave, mit der er die Vespas schon mehrfach bei deren Konzerten unterstützt hatte. Auch vorgestern war es wieder so weit gewesen, doch Bobby hatte die DJ-Pflichten – zum Glück, wie sich später herausstellte – seinem besten Freund und Disco-Partner Joey Miller überlassen. Aber nun war er hier im Krankenhaus, denn er fühlte sich verpflichtet, nach dem übel zugerichteten Sänger zu sehen. Dale Wishart hatte Bobby im Vorfeld des Gigs in der Henderson Church Hall – der offensichtlich nur ein Vorwand war, um Geld für Dales Gangstervater Washer Wishart zu machen – mit der Bitte angerufen, die Band an diesem Abend als DJ zu supporten. Der Gig selbst war als Wohltätigkeitsveranstaltung deklariert worden, weshalb Bobby auch keine Gage kassieren sollte.

Von der Intensivstation schickte man Bobby zur allgemeinmedizinischen Station im dritten Stock und führte ihn dort in ein Sechs-Bett-Zimmer. Dales Anblick war ein Schock für ihn. Zahlreiche Infusionsschläuche und Kabel waren an den Körper des immer noch bewusstlosen Sängers der Vespas angeschlossen, der dadurch aussah wie der Sechs-Millionen-Dollar-Mann in seiner Aufladestation. Vor dem Besuch bei Dale hatte Bobby im Zimmer seines Kollegen Hamish May vorbeigeschaut, der wegen Unterkühlung ein Stockwerk höher lag. Hamish war ebenfalls Opfer von Gewalt im Zusammenhang mit Heatwave geworden, erklärte die Angelegenheit später allerdings mit einer zerfahrenen Geschichte, die ziemlich wahnhaft klang: Schmuggler hätten ihn entführt, gefesselt und in einem Ruderboot aufs offene Meer geschickt, damit russische Seeleute ihn dort auflesen konnten. Ungeachtet des tatsächlichen Ablaufs eine ganz und gar unschöne Begebenheit, ohne Frage, wobei sich Hamish inzwischen zumindest wieder auf dem Weg zu körperlicher, wenn auch nicht geistiger Genesung befand.

Dale hingegen sah aus, als wäre er von einem dieser bescheuerten amerikanischen Monstertrucks, mit Reifen so groß wie ein Fertighaus in Altonhill, überrollt worden. Seine Brust war nackt, und beim Anblick der Landkarte aus Platzwunden, Striemen und momentan noch gelblichen Blutergüssen, die man mit brutaler Gewalt auf die Leinwand seiner Haut gezeichnet hatte, verzog Bobby das Gesicht. Aber immerhin, bis auf die beiden perfekt geformten Veilchen, die sich bereits dunkelviolett verfärbten, schien Dales blasses Gesicht unverletzt. Bobby kicherte leise bei dem Gedanken, dass Dale mit dem beigefarbenen Kopfverband, der sein Haar komplett verdeckte, ein wenig wie Telly Savalas als Kojak aussah. Fehlte eigentlich nur noch die FBI-Sonnenbrille und der Kojak-Standardspruch »Who loves ya, Baby?«.

Dale Wishart war ein anständiger Kerl, einer der ewigen Optimisten des Lebens. Manchmal sogar zu nett, dachte Bobby. Nichts von dem bescheuerten »Weißt du denn nicht, wer ich bin?«-Gehabe, das man vom Sohn eines Unterweltbosses normalerweise erwartete. Vielmehr schienen Dale die Geschäfte seiner Familie regelrecht peinlich zu sein, und auch wenn es viele einleuchtende Gründe gab, die dagegensprachen, mochte ihn fast jeder. Außer, wie deutlich geworden war, seine Bandkollegen bei den Vespas. Die Vespas waren ohne Frage Dales Band, doch in letzter Zeit hatte Steven Dent – Dales Sandkastenkumpel – Führungsansprüche angemeldet. Das führte zu einem Riss in der Combo, was die zwei verbleibenden Mitglieder zwang, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Jamie und Andy Ferguson waren allerdings Brüder und stimmten im Streitfall unweigerlich blockweise ab. Zuvor hatte Dale es immer tunlichst vermieden, Geschwister in der Band zu haben. Das hatte weder bei den Kinks noch bei den Everly Brothers funktioniert, so seine Begründung, und für die Vespas funktionierte es eigentlich auch nicht. Der Abend in der Henderson Church war im Grunde eine Art Abschiedsgig gewesen, als Konsequenz zahlreicher Streitereien hatte man sich vor dem Auftritt verbittert auf eine Trennung geeinigt. Die Ferguson-Brüder waren von Natur aus schüchtern und mieden in der Regel jede Konfrontation, sodass die jüngsten Banddiskussionen immer auf die Frage hinausliefen, mit welcher der beiden dominanteren Persönlichkeiten sie es halten wollten. Am Abend in der Henderson Church war für Joey Miller deutlich geworden, auf wessen Seite die Fergusons tatsächlich standen. Joey hatte es zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, aber Malky MacKay – Heatwaves Security-Mann für den Abend – hatte Joey glaubwürdig berichtet, dass Dale nicht wegen eines Gewaltausbruchs des verstimmten Publikums im Krankenhaus lag, sondern weil ihn seine drei Bandkollegen dorthin geprügelt hatten. Nachdem Dale von Steven Dents geschwungenem Bass gefällt worden war, hatten die drei ihrem Frontmann die Scheiße aus dem Leib geprügelt und seinen Synthesizer in Brand gesetzt. Danach waren sie von der Bühne und durch den hinteren Notausgang des Kirchensaals geflüchtet und entkamen so knapp der Polizei, die bei ihrem Eintreffen alle verbliebenen Anwesenden einkassierte.

»Musikalische Differenzen«, meinte der mundfaule Malky ohne erkennbare Ironie zu dem Zerwürfnis.

»Wenn Washer mit den Typen durch is, werden ihre beschissenen Arme und Beine so krumm und schief von ihren Körpern abstehen wie ’n paar durchgebrochene Zahnstocher«, lautete Joeys prosaisches Resümee.

* * *

»Hast’n da, mein Junge?« Bobby drehte den Kopf und sah im Nebenbett einen zahnlosen alten Mann, der grotesk grinsend mit zitterndem Finger auf Bobbys Safeway-Tüte zeigte.

»Lucozade«, sagte Bobby. »Koffeinhaltiges Erfrischungsgetränk. Hilft ja angeblich bei der Genesung … aber da bräuchte der Kollege hier wahrscheinlich ’ne ganze Kiste von dem Zeug.«

»Dann gib’s mir.« Bobby sah den Alten an. Seine gelbliche Haut war praktisch durchsichtig, seine Visage von spinnennetzartigen roten Äderchen überzogen, die einen Kranz um seine rote Knollennase bildeten. An beiden Seiten seines Gesichts hingen Schläuche, deren Enden in seinen Nasenlöchern steckten. Ein weiterer, dickerer Schlauch führte unter die blassblaue Decke. Bobby beobachtete, wie die trübe goldgelbe Flüssigkeit darin in einen Beutel sickerte, der an den Metallrahmen des Bettes geklebt war. Der Beutel sah aus, als würde er ein Pint Newcastle Brown Ale enthalten. Bei dem Alten hingegen schien es eher so, als hätte er regelmäßig zehn Pints Newcastle Brown Ale intus. Bobby schätzte den Mann auf etwa fünfzig, auch wenn er gute zwanzig Jahre älter aussah.

»Is aber kein Fusel«, sagte Bobby.

»Weiß ich doch, Junge, bin ja kein Vollidiot«, flüsterte der Alte. Bobby stand auf und ging zum Fußende des Bettes. Er warf einen Blick auf das Klemmbrett, als würde er dort nach einer ärztlichen Diagnose suchen, und blickte dann auf den Namen ganz oben.

»Manny, richtig?«, fragte er.

»Aye, mein Junge, Manfred heiß ich … aber so nennt mich keiner. Is ’n echt bescheuerter Name.« Bobby lachte. »Die geben mir hier drin nix zu trinken … außer beschissenes Wasser. Man könnte denken, ich wär ’ne gottverdammte Topfpflanze.« Manny seufzte so schwer, wie sein flacher Atem es erlaubte. »Und nix durch’n Mund … was nützt einem das als Alki, hä?«

»Tut mir leid«, sagte Bobby.

»Muss es nich … gib mir einfach den Saft.«

»Ja. Klar. Hier. Aber Sie müssen ihn verstecken. Sonst finden ihn die Schwestern.«

»Mach dir darüber mal keinen Kopp, mein Junge«, sagte Manny. »Den hab ich bis heut Abend weggesoffen.« Bobby lachte noch einmal. »Dein Kumpel kommt wieder in Ordnung. Hab die Ärzte reden hören. Irgendjemand hat ihn verprügelt, und so gut wie Montgomery Clift wird er wahrscheinlich nie wieder aussehen …«, Old Manny machte eine Pause und keuchte schwer nach der Anstrengung der wenigen Sätze, »… aber du musst dir keine Sorgen machen.« Bobby brachte es nicht übers Herz, dem Alten zu erklären, dass Dale nicht sein Kumpel war und er sich auch keine besonders großen Sorgen um dessen langfristige Gesundheit machte. »Hab seit heut Morgen mit ihm geredet … um ihn aus seinem Tiefschlaf zu holen, verstehste?«

»Nett von Ihnen. Ich bin sicher, er wird das zu schätzen wissen, wenn er erst mal wieder aufm Damm is«, sagte Bobby und schaute auf die Uhr.

»Vorhin waren drei alte Frauen hier. Haben kein Wort gesagt. Waren sich wahrscheinlich zu fein, mit ’nem Säufer wie mir zu reden. Haben einfach den Vorhang in der Mitte zugezogen, die blöden Kühe.«

»Ich muss jetzt los, Meister«, sagte Bobby. Krankenhäuser waren ihm unheimlich, und in diesem hielt er sich nun schon drei Mal länger auf als geplant. »Hoffentlich sind Sie bald wieder auf den Beinen, Sir.«

»Kannste vergessen, mein Junge. Ich komm hier nich mehr raus«, sagte Manny mit einem trockenen, zahnlosen Lächeln. »Endstation, verstehste? Aber pass du bloß auf, dass dein Kumpel sich aus dem ganzen Ärger raushält … so wie ich’s ihm erklärt hab.«

»Wir sehen uns, Manny«, sagte Bobby und entfernte sich langsam von Dales Bett.

»Nee, tun wir nich«, sagte Manny und hob seine zittrige Hand zu einem Abschiedswinken.

* * *

Bobby brauchte frische Luft. Er konnte nicht verstehen, warum es auf Krankenstationen immer so warm sein musste. Auf diese Weise vermehren sich die scheiß Bakterien doch so massenhaft wie die schottischen Assis, die sich jeden Sommer in Benidorm dumm und dämlich vögeln? Bei diesen Temperaturen schwitzte einfach jeder, ganz besonders Bobby. Er ging den Flur runter. Von den Wänden blätterte die Farbe ab, die Neonlichter über ihm flackerten nervös, und von der abgehängten Decke baumelten aus zahlreichen Löchern Kabel und Drähte herunter. Mein Gott, warum müssen Krankenhäuser immer so scheiß deprimierend sein?, fragte er sich.

* * *

Nee, Norma, an diesem Punkt der Geschichte war ich bloß ’ne Stimme in dem zertrümmerten Schädel von dem Wichser. Ich wusste, er konnt mich hören, aber er war zu fertig, um zu kapieren, was los war. Er liegt also im Koma, und ich brüll in dem kleinen Scheißer vor mich hin.

»Wach auf, du blöder Idiot! Hör zu, ich lieg hier nich länger rum. Ich hab ’ne verdammte Bestimmung zu erfüllen … und dummerweise brauch ich dafür dieses Wrack, das du deinen Körper nennst. Auf mich wartet die Unsterblichkeit, Mann. Ich sag nur Bruce Springsteen, verstehste?

Also los, heb deinen fetten Arsch an, du fauler Sack … sonst setzt’s nochmal Prügel – dieses Mal von innen.«

Hat aber offenbar geklappt. Der kleine Ginger-Wichser is jedenfalls aufgewacht.

KAPITEL 2

20. Juni 1982

Grant Dale drehte das Radio lauter. Das Runterzählen der Charts war nach wie vor ein fester Termin für ihn, und er versuchte, sich sonntags immer die kompletten Top 40 anzuhören, mit dem Höhepunkt der Nummer eins um fünf vor sieben. Es war allerdings schon eine ganze Weile her, dass eine seiner Lieblingsplatten die Spitze der Charts erreicht hatte. Das Jahr hatte vielversprechend begonnen, als Human League die britische Musiklandschaft mit ihrem »Don’t You Want Me« dominierten. Grant hatte regelmäßig Fantasien über einen New-Romantic-Dreier mit den beiden Human-League-Ladys, Joanne und Suzanne, bei dem das andere Bandmitglied, der Wichser mit dem überhängenden Scheitel, allerdings zugucken musste. Der Look der Kerle, die allesamt aussahen wie reiche Londoner Schwuchteln, war die einzige Kehrseite an der New-Romantic-Welle. In Onthank reichte es schon aus, im Boots dabei erwischt zu werden, wie man sich Rimmel-Kosmetika kaufte, um als Typ derbe auf die Fresse zu bekommen.

Auch die Kraftwerk-Nummer »The Model« hatte Grant geliebt. Er besaß die 7-Inch- und die 12-Inch-Version des Songs, fand die £3.99 für die LP allerdings ein bisschen happig. Kraftwerk sahen cool aus, ein bisschen zu cool vielleicht. Ihr Look – diese Mischung aus Schaufensterpuppen und Geheimdienstaufzug – eignete sich ebenfalls bestens, eine amtliche Abreibung zu kassieren, wenngleich aus vollkommen anderen Gründen.

Ein weiterer Favorit von Grant waren Japan – auch wenn er sich gut genug auskannte, um zu wissen, dass die Typen, ähnlich wie viele andere Acts im aktuellen Pop-Business, bloß Möchtegern-Bowie-Imitatoren waren. Immerhin war der Frontmann von Japan ein verdammt gut aussehender Kerl, der auch manchmal Gitarre spielte, anstatt ausschließlich auf Synthie-Sound zu setzen. Grant hatte sich die Haare wachsen lassen, sie gebleicht und nach dem Vorbild des Japan-Sängers David Sylvian zu einem Feather Cut geschnitten. Sein Dad – allgemein unter dem Namen Hobnail bekannt – hasste die neue Frisur natürlich, doch weil der Alte vor Kurzem abgetaucht war, hatte sich zumindest dieser Ärger erledigt.

Es war Hobnails permanentes Generve gewesen, das Dale bewogen hatte, zu Hause auszuziehen und sich als Handlanger für Fat Franny Duncan zu verdingen, einen örtlichen Kredithai und ausgemachten Spinner, für den auch sein Vater arbeitete. Der Königsweg, um es seinem alten Herrn einmal richtig heimzuzahlen, das wusste Dale, wäre sein fester Einstieg in Fat Frannys Bruderschaft. In Wahrheit jedoch war Grant weder motiviert noch angsteinflößend genug für den Job. Irgendwelchen Rentnern zu drohen, sie mit kochendem Wasser zu verbrühen, nur weil sie dem Halsabschneider des Viertels einen Zehner schuldeten, schien ihm dann doch eine reichlich überspannte Maßnahme, selbst für ein Komplettarschloch wie Fat Franny Duncan. Grant würde nie bei Mastermind gewinnen, doch er war schlau genug, um zu erkennen, wohin der Weg führte, den sein Vater in der Jugend eingeschlagen hatte, und für sich selbst einen anderen zu wählen. Und so war er zur Freude seiner Mutter wieder zu Hause eingezogen. Unterm Strich war er nur zwei Wochen weg gewesen – einen Tag weniger als sein abgetauchter Vater –, aber Senga Dale hatte die Rückkehr des verlorenen Sohns trotzdem wie ein Fest gefeiert, das gute Porzellan ausgepackt und ein Rinderfilet gekauft, während Dale seine sonntägliche Routine wieder aufnahm und in der Badewanne Radio hörte.

»… und jetzt eine neue Nummer eins, die bestverkaufte Single in Großbritannien … es ist Captain Sensible mit ›Happy Talk‹.«

Scheiße, schlimmer hätt’s kaum kommen können, dachte Grant. Captain Sensible war auf Platz eins, und Irene Cara lungerte an der Schwelle der Top 3 herum wie der gottverdammte Kinderfänger aus Tschitti Tschitti Bäng Bäng, um noch mehr Kids per Gehirnwäsche zu ihrem obskuren Kult zu bekehren. Ihr nervender Song, die Nummer aus Fame, war auf Platz vier eingestiegen. Grant Dale war überzeugt, dass er etwas Besseres zustande bringen könnte, wenn man ihm nur eine kleine Chance geben würde.

23. Juni 1982

»Aye, ich versteh schon, was du sagst … klar und deutlich. Bist ja nich zu überhörn!«

»Das hab ich nich gesagt. Das hab ich auch nich gemeint!«

»Scheiße, Mann, hör auf, mir Wörter in den Mund zu legen. Du hast ja keine Ahnung, was du da verlangst. Es is nich so leicht, wie es sich bei dir anhört.«

»Nee … isses verdammt nochmal nich!«

»Na, lass es mich so sagen, im Moment gibt’s keine Band. Es gibt keine Instrumente, weil die alle verschwunden sind. Es gibt keine Songs, kein Geld und ehrlich gesagt auch keine Inspiration. Das braucht man aber alles, wenn man ’ne Band gründen will. Ich sollte es verdammt nochmal wissen, ich hab’s schließlich lange genug versucht.«

»Aye? Wie denn?«

»Max Mojo? Echt jetzt? Das klingt wie der Name von diesem Typen in dem grün-weißen Superheldenkostüm, der den kleinen Kindern über die beschissene Straße hilft!«

»Aber jeder Wichser da draußen wird sich vor Lachen bepissen, Mann.«

»Aye. Aye, hab ich gesagt.«

»Wo? Das kleine Büro in der John Dickie Street? Für das Molly die Grundsteuer zahlt?«

»Gut. Bestens. Ich mach’s später, Mann. Und jetzt gib einfach mal Ruhe, ja? In meinem Kopf dreht sich alles.«

* * *

Molly Wishart hörte ihren Sohn von der Küche aus. Anfangs nahm sie an, er würde mit jemandem telefonieren, doch als sie näher kam, um zu lauschen, merkte sie, dass er nicht im Flur war, wo sich das Telefon befand, sondern im Wohnzimmer. Molly spähte durch einen Spalt zwischen Tür und Rahmen und sah Dale auf und ab laufen. Sie hatte die Haustür nicht zufallen hören und – auch wenn sie nicht das ganze Zimmer einsehen konnte – vermutete deshalb, dass außer ihrem Sohn sonst niemand anwesend war.

»Herrgott, Junge, das ist ja die reinste Festbeleuchtung hier! Mach das große Licht aus … alle können reingucken.«

»Was?! Weil ich ein beschissenes Licht angemacht hab?«

»Hey, pass auf, mit wem du redest!« Die Ärzte hatten Molly Wishart vor Stimmungsschwankungen als häufige Folge von schweren Gehirnerschütterungen gewarnt, doch in den zwei Wochen seit Dales Entlassung aus dem Krankenhaus hatte sie beobachtet, dass seine Ausbrüche an Regelmäßigkeit und Intensität zunahmen. Molly hatte den Spezialisten danach gefragt und für ihren Sohn Termine für weitere neurologische Tests gemacht, doch angesichts seiner offensichtlichen und bemerkenswert raschen körperlichen Genesung hatten die Entscheidungsträger in den Büros des Nationalen Gesundheitsdienstes in puncto Dringlichkeit scheinbar einen Gang runtergeschaltet.

Nachdem durch diverse Untersuchungen drogenbedingte Psychoseformen und andere psychische Erkrankungen ausgeschlossen werden konnten, hatte ein pakistanischer Arzt schließlich eine schizoaffektive Störung diagnostiziert, sich jedoch nicht auf die Prügelei in der Henderson Church als direkte Ursache für selbige festgelegt. Seine Kollegen schlugen beiläufig vor, auf die durch den veränderten Bewusstseinszustand bedingten Fantasien des jungen Mannes einzugehen und den bizarren Forderungen bezüglich seiner neuen Persönlichkeit nachzugeben. Molly und Washer wurde zwar gesagt, dass Wahnvorstellungen und Halluzinationen die klassischen Symptome dieser Art von Psychose seien. Vor dem zusammenhanglosen und mit Flüchen gespickten Redeschwall ihres Sohns hatte sie jedoch niemand gewarnt.

Irgendwann in den folgenden Tagen wurde Dale Wishart per Willenserklärung offiziell zu Max Mojo. Darauf angesprochen, behauptete das nunmehr als Max bekannte Individuum, seine Mutter habe sich lediglich eingebildet, dass er Selbstgespräche führen würde, und deutete schäbigerweise sogar an, dass man diesbezüglich ihre geistigen Fähigkeiten in Zweifel ziehen könnte. Gleichzeitig war sein linkes Auge mittlerweile vollkommen außer Kontrolle geraten und zuckte und flatterte in einem fort, wenn er diese Phasen des inneren Konflikts durchlebte. Molly war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass das vormals unbeschwerte Gemüt ihres Sohnes zu verschwinden drohte und er langsam, aber sicher von einer dunklen und bösen Macht vereinnahmt wurde.

»Jetzt red doch nich so ’nen Scheiß, Mum. Dein Gelaber hört sich an wie die verkackte Handlung von Das Imperium schlägt zurück«, hatte er zu ihr gesagt. Aber das Fluchen allein reichte als Beleg für eine signifikante Persönlichkeitsveränderung. Der vormals als Dale bekannte Teenager hätte nie so mit seiner Mutter – oder mit irgendeiner anderen Frau – gesprochen. Diesen durchaus positiven Charakterzug hatte er von seinem Vater geerbt, der, ungeachtet seiner Fehler in anderen Bereichen, Frauen nie derart respektlos behandelt hatte, wie es unter den männlichen Vertretern der Arbeiterschicht seiner Generation Sitte war.

Max Mojos Auge hörte auf zu zucken. Er setzte sich. Sein ganzer Körper schien sich zu entspannen, als seine Mutter vor ihm stand.

»Und wann ist nochmal das Bewerbungsgespräch?«, fragte sie ihn.

»Freitag.«

»Morgen, meinst du?«

»Aye. Mensch … ich hab die Tage nich so im Blick, Mum.«

»Dann sieh zu, dass du heute Abend früh schlafen gehst und deine Zeugnisse bereitlegst, ja? Das ist ’n guter Job unten im Gartencenter. Reichlich frische Luft … schöne Blumen, um die du dich kümmern kannst. Das wird dich beruhigen, Junge.«

»Aye, Mum. Mach ich. Keine Sorge.« Max für seinen Teil machte sich auch keine Sorgen, was vor allem daran lag, dass er nicht die geringste Absicht hatte, zu diesem Bewerbungsgespräch zu erscheinen.

KAPITEL 3

24. Juni 1982

»Verdammte Drecksscheiße!« Washer Wishart war aus dem Volvo gestiegen und direkt in eine Schlammpfütze getreten. Kein guter Auftakt für eine Zusammenkunft, die mit Sicherheit schwierig und konfliktreich verlaufen würde. »Wie kann man nur so leben, Scheiße nochmal?«, sagte er und ließ den Blick über das Ödland schweifen, das die Quinns, die Gastgeber dieses Gipfeltreffens, ihr Zuhause nannten. Er wischte sich den wässrigen Film brauner Kacke von den Schuhen und nahm kopfschüttelnd das erbärmliche Panorama in Augenschein: umherstreunende, von Räude geplagte Enten, Schweine und Kaninchen; vier klapprige Wohnwagen, drei davon ohne Räder und auf Ziegelsteinen aufgebockt; ein Haufen vor sich hin rostender Waschmaschinen und Kühlschränke – alles überdeckt von einer dicken Schicht schlammiger Gülle. Selbst die Hühner staksten so vorsichtig durch die Gegend, als würden sie über ein Minenfeld laufen. Es sah aus wie eine Szene aus Farm der Tiere, gemalt von Hieronymus Bosch.

»Dreckszigeuner!«, schimpfte Benny Donald in einem arschkriecherischen Versuch, Kapital aus Washers mieser Laune zu schlagen. Washer jedoch reagierte nicht. Benny war nach wie vor eine Persona non grata wegen seiner Rolle bei den Ereignissen, die Washer Wishart überhaupt erst genötigt hatten, in diesem gottverlassenen Dreckloch in Galston zu erscheinen. Washer stapfte zu einem Schuppen mit offenem Tor, in dem sich die anderen bereits versammelt hatten. Benny tappte mit gesenktem Haupt hinterher.

Nobby Quinn, der in Birmingham geborene Roma-Patriarch, fuhr sich mit nikotinfleckigen Fingern durch seinen dünnen, bereits leicht ergrauten Bart. Seine dominante Frau Magdalena stand hinter ihm, als würde sie ihn von dort steuern. Drei ihrer muskelbepackten und tätowierten Söhne saßen auf Heuballen und wirkten dabei wie gelangweilte Versionen von David Essex in Stardust. Das waren die Quinns, die herrschende Familie im östlich von Kilmarnock gelegenen Galston, und das war ihre Scholle.

Genau genommen war es auch ihr Fauxpas gewesen, der dieses Treffen überhaupt erst notwendig gemacht hatte. Zehn Tage zuvor hatte ein wütender Mob mit Vertretern der Quinns als Rädelsführer während eines vorgeblichen Benefizkonzerts der Lokalband The Vespas die Henderson Church Hall in Kilmarnock auseinandergenommen. Der Grund dafür war unklar geblieben, bis Fat Franny Duncan unter sanftem Druck zugegeben hatte, die Quinns für die Aufwiegelung des Publikums und den anschließenden Krawall bezahlt zu haben. Die Fat-Franny-Fraktion – Bob »Hobnail« Dale, Des Brick, Wullie der Maler und der Fatman selbst – saß dem großen Tor am nächsten. Zufällig und ohne Vorsatz, doch für Washer Wishart sah es aus, als hätten sie sich für einen schnellen Abgang gewappnet. Washer grinste bei dem Gedanken, dass ein Hefeteig schneller ging als Fat Franny.

Der dritte Pfeiler der Gangstertroika von Ayrshire, und aktuell das Opfer, war Washer Wisharts Truppe aus Crosshouse. Sie waren zu dritt erschienen. Der alte Washer, wie immer im Anzug und geschäftsmäßig; Frankie Fusi, der legendäre Mann für besondere Aufträge, hager, dunkelhaarig und mit glimmendem Blick; und Benny Donald, augenscheinlich Ersatzmann für Washers Consigliere, seinen dreißigjährigen Neffen Gerry Ghee. Gerry hatte sich am Morgen krankgemeldet. In Anbetracht der Bedeutung des anstehenden Treffens war das Washer zwar ein wenig verdächtig vorgekommen, doch er hatte nicht weiter nachgefragt. Andernfalls hätte Gerry nämlich zugeben müssen, dass er sich einem operativen Eingriff zum Zwecke der Sterilisation unterziehen wollte – und das musste nun wirklich nicht alle Welt wissen.

Einberufen hatten das Treffen die Quinns, auf Drängen von Don McAllister. Weil ein neuer Bandenkrieg das Letzte war, was er gebrauchen konnte, hatte McAllister rasch gehandelt und zudem die regionale Autorität Mickey »Doc« Martin zur Teilnahme beschwatzt, um einen unabhängigen Zeugen vor Ort zu haben.

Das Treffen der mächtigsten nicht gewählten Männer in East Ayrshire fand also in einem von Dung verdreckten Kuhstall statt. Washer war alles andere als beeindruckt, aber in Roma-Land herrschten nun mal Roma-Sitten …

»Vielen Dank an die Quinns, dass sie als Gastgeber dieses Notfall-Gipfeltreffen ermöglichen.« Die Runde quittierte Doc Martins Eröffnung der Sitzung mit halbherzigem Applaus. Eigentlich war nicht vorgesehen, dass Doc den Vorsitz führte, doch es sah so aus, als müsste er es tun. Die Unergründlichkeit der Wisharts, die Wortkargheit der Quinns und die offensichtliche Entschlossenheit von Fat Frannys Truppe, sich nicht selbst zu belasten, ließen ihm keine andere Wahl. Das Treffen hätte schon vor einer halben Stunde beginnen sollen, doch sämtliche Anwesenden drückten sich um das anstehende Thema und debattierten stattdessen ausführlich über die Sondermeldung der Morgennachrichten. Eigentlich hatte allein Washer Wishart angesichts seiner Auslandseinsätze mit der Armee ein nachvollziehbares Interesse am Falklandkrieg und der Nachricht über dessen Beendigung. Die anderen hätte das Thema einen feuchten Kehricht interessieren können, aber die Hartnäckigkeit, mit der sie ihren gestelzten Smalltalk so lange wie möglich ausdehnten, war ein deutliches Anzeichen dafür, dass die bevorstehende Diskussion möglicherweise nicht so konstruktiv und abschließend verlaufen würde, wie Don McAllister gehofft hatte. Angesichts der Ablenkungs- und Ausweichmanöver der Runde kam Doc Martin direkt zur Sache.

»Notfall deshalb, weil sehr wahrscheinlich niemand von euch einen Rückfall in die McLarty-Ära riskieren will, oder?« Doc wartete auf eine Antwort. Kopfschütteln in der Runde. Das genügte ihm. »Also, Washer is Unrecht widerfahren, da sind wir uns doch einig, richtig?« Keine Reaktion. Doc schrieb das der »komplizierten« Formulierung zu. Die Anwesenden zählten ganz offensichtlich nicht zu den hellsten Leuchten im Lampenladen. »Was ich damit meine, is: Die Wisharts waren die Opfer in diesem bedauerlichen Schlamassel. Stimmen mir da alle zu? Das Ganze is jedoch ohne bösartige Absicht geschehen.« Die versammelten Anführer musterten sich argwöhnisch. »Jetzt hört mal zu, Leute. Wir sind hier doch nich bei Die durch die Hölle gehen oder irgend so einem Scheiß. Niemandem wird in den Kopf geschossen. Gebt einfach den Fehler zu, entschuldigt euch, dann können wir zur Kompensation kommen.« Man hörte Füße scharren und ein theatralisches Husten von Magdalena Quinn. Doc Martin wurde langsam sauer. »Scheiße, Franny, ich würd sagen, jetzt bist du dran.«

»Ähm … ich bin bereit … ähm, zuzugeben, dass ich die beiden Heatwave-Schwuchteln kastrieren lassen wollte.« Fat Franny räusperte sich. »Dafür hab ich Nobby hier um … ähm, Unterstützung gebeten. Aber wie Doc schon gesagt hat, gab’s ’nen bedauerlichen Kommunikationsfehler …« Fat Franny sah Hobnail an. »… und deswegen wurden falsche Anweisungen weitergegeben.« Dann wandte er sich an Washer Wishart. »Und das tut mir leid, Washer. Solange die Strafe gerecht is, geb ich gern den Löwenanteil.« Fat Franny bewahrte in seinem Haustresor ein ordentliches Sümmchen auf, und auch wenn es ihm widerstrebte, Washer Wishart das Geld zu geben, war die Sicherung des gegenwärtigen Friedens diesen Preis wert. Allerdings nur, wenn es im Rahmen blieb, klar. Dafür würde er Hobnails monatlichen Anteil für einige Zeit kürzen.

»Gut«, sagte Doc Martin. »Nobby? Möchtest du dem noch was hinzufügen?« Nobby Quinn schüttelte den Kopf. Aber seine allseits gefürchtete Frau ergriff das Wort.

»Washer, das mit deim Jung tut uns leid, aber das war’n wir nisch. Wir hab’n ihn nisch angerührt.« Magdalenas breiter Birmingham-Akzent schwebte durch den testosteronerfüllten Schuppen und wurde von den anderen wie ein Furz in einem Fahrstuhl aufgenommen. »Aber um den Frieden zu wahr’n, tun wir ’türlisch auch was zahl’n.«

»Vielen Dank, Mrs. Quinn«, sagte Doc. »Also, wenn du einverstanden bist, Washer, arbeite ich eine Gesamtlösung aus und geb dir Bescheid, wenn alle zugestimmt haben.« Washer gab nickend sein Einverständnis. Er hatte dieses kurze Gipfeltreffen hinter sich gebracht, ohne ein Wort zu sagen. Es war klar, dass er die ausgehandelten Wiedergutmachungszahlungen akzeptieren würde. Aber er würde es mit reichlich Zähneknirschen tun, damit die anderen schön nervös blieben und die wahre Geschichte des Abends in der Henderson Church ans Licht kommen konnte. Und die Wahrheit würde herauskommen, dafür würde er sorgen. Derweil, so hoffte er, würde er mit den Zahlungen hoffentlich das Drogenschlamassel in Glasgow regeln können, in das Benny Donald die Familie hineingezogen hatte.

»So, Leute, könntet ihr uns jetzt ’ne Minute allein lassen? Ich würd eure Bosse gern kurz vertraulich sprechen.« Doc Martins Bitte überraschte die Anwesenden. Hatten sie nicht gerade eine Lösung ausgearbeitet?

* * *

Die Chefs schickten ihre Untergebenen zum Warten nach draußen.

»Im Hof gibbet Kanincheneintopf für alle, die woll’n tun.« Und mit dieser kulinarischen Drohung der Roma-Furie Magdalena endete der Hauptteil des Gipfeltreffens der Gangstertroika von East Ayrshire. Ohne Blutvergießen. Des Brick wusste, dass Fat Franny darauf gehofft hatte, mit Doc Martin unter vier Augen über ein Engagement als Haus-DJ in dessen demnächst eröffnendem Nachtclub Metropolis sprechen zu können. Die Andeutung, dass Doc diesen Gig statt an Fat Franny an Bobby Cassidy und dessen Kumpel Joey Miller von Heatwave geben könnte, war der Auslöser für die Strafaktion in der Henderson Church gewesen. Doch es kam nicht zu diesem Vieraugengespräch, denn nach der zwanzigminütigen Privatunterhaltung der Bosse war Doc Martin als Erster gegangen, und zwar zackig. Er hatte weit Besseres zu tun, als seine Pläne für das Metropolis mit irgendwelchen Lakaien zu diskutieren, und in die Nähe des dampfenden Ölfasses mit Magdalenas gehäuteten Kaninchen würde ihn auch nichts und niemand bringen – außer vielleicht ein glühender Feuerhaken in seinem Arsch, hineingeschoben von Satan höchstpersönlich.

»Und worum ging’s da jetzt noch?«, fragte Des erwartungsvoll.

»Ähm … nix Wichtiges. Nur um die … ähm, Zahlungsmethode. Für die Kompensation.« Fat Franny schien mit den Gedanken woanders. Des entschied, nicht weiter nachzufragen. Die Rückfahrt in dem braunen Rover nach Onthank verlief schweigend.