ZUM BUCH
»Cato ging in seine Schreibstube und blickte aus dem Fenster. Immer mehr Männer und Wagen trafen ein. Einige wenige Gardisten, die in Rom geblieben waren, empfingen ihre Kameraden mit dem üblichen launigen Geplänkel. Cato fragte sich, ob sich diese Männer tatsächlich in verfeindete politische Gruppierungen aufspalten ließen und notfalls sogar bereit wären, gegeneinander das Schwert zu erheben. Es erschien ihm undenkbar, doch er wusste, dass es in der römischen Geschichte immer wieder blutige Bürgerkriege gegeben hatte. Die Armeen von Sulla und Marius, Pompeius und Caesar, Octavian und Marcus Antonius hatten sich erbitterte Kämpfe geliefert. Sie waren ihren Anführern in die Schlacht gefolgt, die ihnen unter dem Vorwand des Patriotismus ewigen Ruhm und reiche Kriegsbeute versprochen hatten. War es jetzt wieder soweit?«
Am Ende des Buches findet sich ein ausführliches Werkverzeichnis von Simon Scarrow.
ZUM AUTOR
Simon Scarrow wurde in Nigeria geboren und wuchs in England auf. Nach seinem Studium arbeitete er viele Jahre als Dozent für Geschichte an der Universität von Norfolk, eine Tätigkeit, die er aufgrund des großen Erfolgs seiner Romane nur widerwillig und aus Zeitgründen einstellen musste.
Besuchen Sie Simon Scarrow im Internet unter
https://simonscarrow.co.uk
SIMON SCARROW
Imperator
Roman
Aus dem Englischen von
Norbert Jakober
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Für John Carr,
der die Bücherrunde ins Leben gerufen hat,
und für meine anderen langjährigen Lesekameraden:
Ted, Jason, Phil, Andy, Peter, Trevor, John, Nick,
Jeremy und Lawrence.
KAPITEL 1
Rom, 54 n. Chr.
Es begann, wie so oft, mit ein paar Bechern Wein. Streit und Prügeleien waren keine Seltenheit im Subura-Viertel, schon gar nicht in der Schenke Romulus und die Wölfin, die bekannt war für billigen Alkohol, fröhliche Huren und Leute, die Informationen über die Teilnehmer an den Wagenrennen verkauften. Es war eines der größten Wirtshäuser in dem Elendsviertel und nahm das ganze Erdgeschoss des Hauses an der Ecke eines kleinen Platzes ein. Hinter dem langen Tresen führte der Besitzer namens Tribonius eine kleine Gruppe von kräftig geschminkten Frauen an, die den Gästen Getränke und eine bescheidene Auswahl an Speisen servierten und darüber hinaus für all jene mit speziellen fleischlichen Gelüsten auch andere Dienste anboten. Zwei bullige Männer bei den Eingängen sorgten dafür, dass niemand mit einer Waffe hereinkam. Manche Wirte verzichteten auf diese Vorsichtsmaßnahme, aus Angst, Kundschaft zu verlieren. Doch Tribonius war seit über zwanzig Jahren in dem Geschäft und hatte genügend Stammgäste, die diese Einschränkung in Kauf nahmen, um die Freuden zu genießen, die seine Schenke bot.
An diesem Abend, einen knappen Monat nach dem Tod von Kaiser Claudius, regnete es, und die Straßen von Rom glänzten, während die Regentropfen stetig niederprasselten. Die Nachricht von Claudius’ Ableben war im einfachen Volk mit Sorge aufgenommen worden, was für das Geschäft im Romulus und die Wölfin nicht gerade günstig war. Die Menschen blieben nach Möglichkeit zu Hause, aus Angst vor Auseinandersetzungen zwischen den Unterstützern von Nero und Britannicus. Der alte Kaiser mochte ein wenig zerstreut und ungeschickt gewesen sein, doch er hatte dafür gesorgt, dass das Volk genug zu essen hatte und seine Vergnügungen bekam. Noch wichtiger war, dass unter seiner Regentschaft Ruhe und Ordnung geherrscht hatten, während die Herrschaft seiner beiden Vorgänger von Grausamkeit und Skrupellosigkeit geprägt gewesen war. Wenn jedoch der mächtigste Herrscher der Welt zwei potenzielle Nachfolger hatte, so musste es zwangsläufig zu Spannungen kommen.
Mit seinen sechzehn Jahren war Nero drei Jahre älter als Britannicus. Nero war nicht Claudius’ leiblicher Sohn, sondern das Kind seiner Gemahlin Agrippina, die ihrerseits die Tochter von Claudius’ Bruder war. Die Heirat zwischen Onkel und Nichte hatte eine Gesetzesänderung notwendig gemacht, doch die Senatoren waren gerne bereit, über eine Kleinigkeit wie Inzest hinwegzusehen, wenn sie sich damit die Gunst des Kaisers sicherten. Es hatte nicht lange gedauert, bis Claudius Nero adoptierte. Sein leiblicher Sohn Britannicus war jedoch weniger erfreut über den Stiefbruder, der zunehmend in die Favoritenrolle gelangte, da seine Mutter den Kaiser geschickt zu beeinflussen verstand. Und so hatte Claudius in den letzten Jahren seiner Regentschaft unbeabsichtigt eine Rivalität heraufbeschworen, die den Frieden in Rom bedrohte. Die Kaiserin hatte nach Claudius’ Tod sofort verkündet, dass ihr Sohn der neue Kaiser sei, doch es war allgemein bekannt, dass Britannicus und seine Verbündeten die Situation nicht akzeptierten. Entsprechend besorgt verfolgte das einfache Volk den Ausgang des Konflikts.
Einige Prätorianer mit schweren Umhängen überquerten den Platz und schritten zielstrebig auf das Wirtshaus zu. Die Männer scherzten und lachten. Sie hatten allen Grund dazu, da sie die besondere Gunst eines jeden Kaisers genossen und für ihre treuen Dienste stets reich belohnt wurden. Der neue Kaiser hielt sich an diese Tradition. Jeder einzelne Prätorianer in Rom war mit einem kleinen Vermögen bedacht worden, sodass ihre Geldbeutel prall gefüllt waren. Tribonius blickte mit einem breiten Lächeln auf, als die Soldaten hereinkamen, ihre durchnässten Umhänge abnahmen und an einen Haken hängten. Dann traten sie an den Tresen und bestellten die erste Runde. Frisch geprägte Münzen wurden auf das fleckige, zerschrammte Holz geknallt, worauf aus dem Hinterzimmer eilig Becher und Weinkrüge gebracht und den durstigen Soldaten gereicht wurden.
Sie waren nicht die ersten Gardisten, die an diesem Abend das Wirtshaus besuchten. Kurz davor war eine kleinere Gruppe gekommen, die auf den Bänken zu beiden Seiten eines Ecktisches saß. Ihre Stimmung war weitaus weniger ausgelassen, obwohl sie ebenfalls in den Genuss der kaiserlichen Großzügigkeit gekommen waren. Ihr Anführer blickte zu den Prätorianern am Tresen und zog die Stirn in Falten.
»Verdammte Narren«, brummte er. »Glauben, sie hätten was zu feiern.«
»Na ja, ein Jahressold extra ist nicht zu verachten«, meinte der Mann neben ihm mit einem schmalen Lächeln und hob seinen Becher. »Auf den neuen Kaiser.«
Seine Kameraden nahmen den Trinkspruch mit mürrischem Schweigen auf. »Was ist los, Jungs?«, fuhr der Mann voller Sarkasmus fort. »Trinkt niemand mit mir auf unseren geliebten Nero? Die sind alle so miesepetrig wie du, Priscus.«
Der Anführer wandte den Blick von den Männern am Tresen ab. »Ja, Piso, wir haben auch keinen Grund zum Jubel, mit diesem aalglatten Wunderknaben auf dem Thron. Du dienst schon genauso lange im Palast wie ich, also hast du Nero aus nächster Nähe gesehen. Du weißt, wie er ist. Er schlägt sich den Wanst mit den raffiniertesten Leckereien voll und umgibt sich am liebsten mit seinen Dichtern und Schauspielern. Und er kann verdammt fies sein. Erinnerst du dich, wie wir ihn einmal zu einem anonymen Ausflug in die Stadt begleiten mussten? Er fing einen Streit mit einem alten Kerl an und befahl uns, den Alten festzuhalten, damit er ihn niederstechen konnte.«
Piso schüttelte den Kopf, als er sich an den Vorfall erinnerte. »Du hast recht, das war nicht unbedingt unser stolzester Tag.«
»Nein«, brummte Priscus mit zusammengebissenen Zähnen. »Sicher nicht. Und als Kaiser wird er noch schlimmer. Du wirst schon sehen.«
»Wenigstens hat er uns anständig bezahlt.«
»Ja, einige von uns«, erwiderte Priscus. »Die Kameraden, die in Hispanien gekämpft haben, werden nicht erfreut sein, wenn sie nach Rom zurückkommen und leer ausgehen.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen. Aber glaubst du, Neros kleiner Bruder wäre als Kaiser viel besser?«
Priscus überlegte einen Moment und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nicht viel. Aber Britannicus ist kein Dummkopf, und er wurde von klein auf darauf vorbereitet, das Reich zu regieren. Außerdem ist er Claudius’ Fleisch und Blut und damit sein rechtmäßiger Erbe. Und nun wird der arme Bursche von der hinterhältigen Agrippina und diesem schleimigen Mistkerl Pallas abserviert.«
Als der Name des engsten Beraters des neuen Kaisers fiel, sah sich Piso besorgt um. Die Schenke war der ideale Ort für die Spitzel des Kaisers, um Gespräche zu belauschen und Unruhestifter ihren Auftraggebern im Palast zu melden. Pallas kannte ebenso wenig Nachsicht mit Leuten, die ihn kritisierten, wie mit jenen, die es wagten, den Kaiser selbst zu beleidigen. Doch im Moment schien niemand zu lauschen, und Piso nahm einen Schluck Wein, bevor er seinem Freund einen warnenden Blick zuwarf. »Hüte deine Zunge, Priscus, sonst bringst du dich und uns alle in Schwierigkeiten. Ich hätte auch lieber Britannicus auf dem Thron gesehen, aber jetzt ist nun einmal Nero Kaiser geworden, das können wir nicht ändern.«
Priscus lächelte. »Du vielleicht nicht. Aber es gibt Leute, die etwas unternehmen werden.«
»Was soll das heißen?«
Bevor Priscus antworten konnte, wurden sie von lautem Gelächter direkt hinter ihnen unterbrochen.
»Burschen, da ist unser Freund Priscus und sein trauriger Haufen!«
Priscus erkannte die Stimme sofort, drehte sich jedoch nicht um. Er stellte seinen Becher ab und sagte laut und deutlich: »Biblius, warum scherst du dich nicht zum Teufel und lässt mich in Ruhe meinen Wein trinken?«
»Ich soll mich zum Teufel scheren?« Der Mann ging um den Tisch herum und sah auf Priscus und seine Kameraden hinunter. »Begrüßt man so einen alten Freund, der Wein mitbringt?«
Er zog den Korken aus dem Krug unter seinem Arm und füllte Priscus’ Becher randvoll, bevor dieser reagieren konnte. Dann erhob er seinen Becher.
»Also, Jungs. Wer trinkt mit mir auf unseren Wohltäter? Auf Kaiser Nero – mögen die Götter ihn schützen!« Er leerte seinen Becher in einem Zug, warf ihn mit lautem Klirren auf den Boden und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ein guter Tropfen.«
Kein Einziger hatte in seinen Trinkspruch eingestimmt, und er schaute in die Runde und hob eine Augenbraue. »Was soll das? Ihr trinkt nicht auf unseren Kaiser? Irgendwie habe ich den Verdacht, euch fehlt es an der nötigen Loyalität.« Er wandte sich seinen Freunden zu, die ein paar Schritte entfernt am Tresen standen. »Was meint ihr, Burschen? Ich glaube, diese Bande hält nicht viel von Nero. Manche würden darin mehr als nur mangelnde Loyalität sehen, nämlich Verrat. Vielleicht haben sie ja gehofft, dass dieser kleine Wicht Britannicus auf den Thron kommt. Aber unser Mann hat nun mal gesiegt, und eurer verloren. Die Entscheidung ist gefallen, und ihr solltet schnell aufhören zu jammern und euch damit abfinden.«
Priscus stand langsam auf, erhob seinen Becher und wandte sich Biblius zu. »Verzeih, Bruder. Wo habe ich nur meine Manieren?«
Er neigte den Becher, und ein dünner Strahl dunkelroten Weins ergoss sich über Biblius’ Hand und seinen Arm bis hinauf zum Kopf. Priscus schüttelte den Becher leicht, um das Gefäß bis zum letzten Tropfen zu leeren. Dann zog er seine Hand zurück und sah Biblius schweigend an. Dessen Miene verfinsterte sich.
»Das wirst du bereuen, Priscus.«
»Wirklich?«
Priscus knallte dem Soldaten den Becher ins Gesicht und zertrümmerte das Gefäß ebenso wie Biblius’ Nase. Der taumelte mit blutüberströmtem Gesicht zurück, und Priscus rief seinen Freunden zu: »Worauf wartet ihr? Denen zeigen wir’s!«
Mit lautem Gebrüll sprangen seine Kameraden auf und warfen den Tisch um, bevor sie auf die anderen Prätorianer losgingen, die ihre Fäuste wie Hämmer erhoben. Priscus konzentrierte sich weiter auf Biblius. Er hatte den Mann schon immer für ein dummes Großmaul gehalten, und jetzt war der Moment gekommen, um ihm eine Lektion zu erteilen. Er sprang vor, versetzte ihm einen Kinnhaken und ließ einen Hieb in die Magengrube und einen Schlag gegen den Kiefer folgen, der Biblius nach hinten taumeln ließ.
Der Gardist funkelte Priscus wütend an. »Du bist tot!«, brüllte er. »Mausetot!«
Doch bevor er seine Drohung wahrmachen konnte, griff Priscus erneut an. Biblius riss den Kopf zurück, um dem Schlag auszuweichen, war jedoch nicht schnell genug, sodass ihn die Faust an der Kehle traf. Priscus spürte, wie der Knorpel nachgab, und Biblius stöhnte auf und fasste sich, nach Luft ringend, an die Kehle. Mit erhobenen Händen und leicht geduckt wartete Priscus auf die Reaktion seines Gegners. Doch Biblius wich ein paar Schritte zurück, sein Mund ging auf und zu, und seine Augen quollen aus den Höhlen hervor. Dann stolperte er gegen einen Hocker, stürzte nach hinten und knallte mit dem Kopf auf die Steinplatten. Er lag da und starrte zur Decke, seine Augenlider flatterten, dann zuckte er noch einmal und rührte sich nicht mehr.
Priscus trat zögernd zu ihm, während beim Tresen der Kampf zwischen den beiden Gruppen in vollem Gange war. Niemand achtete auf ihn, und er stieß Biblius mit der Stiefelspitze an.
»Steh auf!«
Es kam keine Reaktion, deshalb trat er den Mann etwas fester. »Auf mit dir, du Mistkerl, dann zeig ich dir, wie es Neros Anhängern ergeht.«
Biblius nahm den Tritt widerstandslos hin, und Priscus überkam ein erster Anflug von Angst. Er öffnete seine Fäuste und ging neben dem Mann in die Knie.
»Biblius?«
»Er ist tot!«
Priscus hob den Kopf und sah ein Serviermädchen auf ihn herabschauen. Sie hob schockiert die Hand an den Mund.
»Du hast ihn umgebracht!«
»Nein. Ich …«
»Er ist TOT!«, rief sie laut.
Einige Prätorianer unterbrachen die Schlägerei und sahen zu ihm herüber. Priscus blickte kopfschüttelnd auf den Mann hinunter, den er niedergeschlagen hatte. Er wusste, dass das Mädchen recht hatte.
»Aber es war ein Unfall …«
Biblius war tot. So sicher, wie die Sonne morgens aufging. Und es gab nur eine Strafe für einen Soldaten, der einen Waffenbruder tötete. Er richtete sich auf und wich rückwärts zur Tür zurück.
»Du hast ihn umgebracht.« Einer von Biblius’ Männern deutete mit dem Finger auf Priscus.
Priscus drehte sich um und rannte ohne Umhang auf die Straße hinaus in den kalten Regen. Ohne nachzudenken lief er in die entgegengesetzte Richtung des Prätorianerlagers, weg von den aufgeregten Stimmen aus der Schenke.
Er war noch nicht weit gekommen, als er jemanden rufen hörte: »Da rennt er!« Er sprintete, was das Zeug hielt, bis er eine dunkle Gasse vor sich sah. Rasch tauchte er in die Gasse ein, bog wenig später rechts ab, dann nach links, und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Bald verloren sich die Stimmen und Schritte der Verfolger hinter ihm, doch er lief noch eine ganze Weile weiter. Erst in einer Straße beim Forum blieb er stehen und drückte sich, nach Luft ringend, in einen dunklen Hauseingang.
Er hatte einen Mann getötet. Es war ein Unfall gewesen, ein simpler Unfall. Doch die militärischen Regeln waren streng. Wenn er gefasst wurde, war er so gut wie tot. Vor allem, wenn bekannt wurde, wie ablehnend er Kaiser Nero gegenüberstand. Die Führung der Prätorianergarde war ohnehin schon nervös wegen der Spaltung in den eigenen Reihen. Sie würden an ihm ein Exempel statuieren, um einerseits zu demonstrieren, wie es Soldaten erging, die sich gegen Nero stellten, und ihn andererseits für den Mord an einem Waffenbruder zu bestrafen.
Es gab nur einen Ort, an dem er Zuflucht finden konnte. Dort würde er Männer antreffen, die seine Ansichten teilten. Sie würden ihn verstecken, bis sich die Lage beruhigte. Zusammen mit ihnen würde er auf den richtigen Moment warten, um den Thronräuber Nero zu stürzen und seine Unterstützer zu töten. Sie würden nicht erfreut sein über das, was Priscus getan hatte, doch sie waren auf ihn und seine herausragenden Fähigkeiten angewiesen und konnten es sich nicht leisten, ihm Zuflucht zu verweigern.
Als er wieder bei Atem war, hatte es aufgehört zu regnen, und Priscus wusste, wie er vorgehen würde. Er trat aus dem Hauseingang und schritt ruhig die Straße entlang, wie ein Mann mit einem reinen Gewissen. Er wusste genau, wo er hinwollte und wohin ihn die Zukunft führen würde.
KAPITEL 2
Senator Sempronius hatte Freunde zu einem festlichen Mahl geladen, als die ungebetenen Gäste an seine Haustür klopften. Es war ein bescheidenes Haus für einen Aristokraten seines Ranges, doch Sempronius hatte seinen Namen nie benutzt, um eine lukrative Konzession zur Einziehung von Steuern zu erhalten oder sich andere Vorteile zu verschaffen. Er hatte sogar seiner einzigen Tochter erlaubt, unter ihrem Stand zu heiraten und Quintus Licinius Cato, einen jungen, vielversprechenden Offizier, zum Mann zu nehmen. Obwohl Julia nicht lange nach der Hochzeit verstorben war, hatte sie dem Senator einen Enkelsohn geschenkt, der den Namen der Familie weitertragen würde.
Der Tod von Kaiser Claudius vor einem knappen Monat hatte Sempronius nicht wirklich überrascht. Der Kaiser war alt und kränklich gewesen und hatte sich kaum noch in der Öffentlichkeit gezeigt. Er sei friedlich entschlafen, hatte es geheißen, im Kreise seiner Familie und seiner engsten Berater. Sein Nachfolger war fast im selben Moment verkündet worden, was manch zynischeren Bewohner der Hauptstadt anmerken ließ, dass die Ernennung eines neuen Kaisers einiger Vorbereitung bedurfte und dass man Claudius’ Leichnam wahrscheinlich in einem Nebenzimmer habe verwesen lassen, während die Gefolgsleute seines Nachfolgers ihrem Kandidaten den Thron sicherten.
Und so war Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus dem römischen Volk als neuer Herrscher präsentiert worden. Es gab jedoch Gerüchte, wonach Claudius von seiner jungen Frau Agrippina ermordet worden sei. Vergiftet. Sie habe ihrem Sohn den Kaiserthron sichern wollen, obwohl es kein Geheimnis war, dass viele einflussreiche Persönlichkeiten entschieden gegen Nero eingestellt waren. Einige von ihnen fanden sich an diesem kalten Dezemberabend im Haus von Senator Sempronius ein.
Die Regenwolken hatten sich verzogen, und der Nachthimmel war klar. An den Rändern des großen Gartens hinter dem Haus waren Tische und Speisesofas aufgestellt worden, und die Gäste des Senators wärmten sich an den Feuerschalen und nahmen sich von dem Gebäck, das auf mehreren Tellern serviert worden war. Der Gastgeber hatte den Ehrenplatz auf einem Podium eingenommen, wo er von besonders angesehenen Gästen umgeben war. Zu seiner Rechten lag Britannicus – ein mürrisch dreinblickender, intelligenter Junge, der die Kruste von einem Stück Wildpastete pickte. Hinter seiner Liege stand sein Leibsklave, ein hünenhafter ehemaliger Gladiator, dem man die Zunge herausgeschnitten hatte, um sicherzustellen, dass er niemals etwas von dem, was er hörte, verraten konnte.
Sempronius saß nach links gebeugt und diskutierte mit einem stämmigen Senator mit kurz geschnittenem Haar und dessen Frau über die jüngsten Nachrichten aus Hispanien, als seine Aufmerksamkeit von Croton, seinem Bediensteten, abgelenkt wurde, der ihm aus dem Korridor zur Eingangstür zuwinkte. Sempronius tupfte sich die Lippen mit den Fingerspitzen ab. »Bitte, entschuldige mich einen Moment, Vespasian. Ich glaube, ich werde gebraucht.«
Sein Gast runzelte die Stirn. »Was gibt’s?«
Sempronius deutete zu seinem Bediensteten, und Vespasians Gemahlin nickte verständnisvoll. »Wenn man Gäste hat, kommt man selbst nie zur Ruhe. Das kenne ich.«
»Ja. Aber lass dich nicht stören, Domitia, und genieße die kleinen Leckereien. Ich glaube, du wirst feststellen, dass meine Köchin in der Kunst des Backens unerreicht ist.«
Mit einem Lächeln erhob sich Sempronius von seiner Liege, wischte sich die Krümel von der Tunika und ging zu Croton, der ihn mit sorgenvoller Miene erwartete.
»Was ist los?«, fragte der Senator. »Geht es um den verdammten Leierspieler? Ist er mit der Bezahlung nicht einverstanden?«
»Das ist es nicht, Herr. Ein Mann vom Palast ist hier. Er sagt, Pallas habe ihn geschickt.«
»Pallas?« Sempronius zog die Stirn in Falten. Was konnte der ehemalige Sklave, der seit Langem als kaiserlicher Sekretär tätig war, zu dieser späten Stunde von ihm wollen? Zweifellos ließ der Mann ein bisschen die Muskeln spielen, nun, da der Bursche, auf dessen Seite er sich geschlagen hatte, auf den Thron gelangt war. Pallas war bereits unter Claudius ein reicher Mann geworden und bestimmt entschlossen, sein Vermögen und seinen Einfluss unter Nero weiter zu vergrößern. Es war eines der unerhörten Merkmale dieser Zeit, dass freigelassene Sklaven – wenn sie nur verschlagen und hinterlistig genug waren – oftmals über mehr Macht und Einfluss verfügten als der Senat. Die Angehörigen dieser ehrwürdigen Institution hatten Rom seit der Zeit regiert, als die letzten Könige abgesetzt worden waren – bis die Kaiser die Herrschaft übernommen hatten. Heute standen die Senatoren ganz im Schatten des Herrschers, wenngleich manche immer noch von einer Rückkehr zu den glorreichen Tagen der Republik träumten. Damals hatte man noch den römischen Idealen gedient, und nicht einer Reihe von Despoten, die sich als Götter aufspielten, und deren Verhalten oft unberechenbar, grausam und dumm war.
»Also gut. Dann wollen wir mal sehen, was er will.«
Der Senator folgte Croton durch das Haus zur Eingangshalle. Ein dünner Mann in der blauen Tunika des kaiserlichen Haushalts wartete bei der mit Ziernägeln beschlagenen Tür. Er verbeugte sich flüchtig, ehe er sprach.
»Senator Sempronius, ich überbringe dir Grüße von Marcus Antonius Pallas, dem Ersten Freigelassenen des Kaisers.«
»Erster Freigelassener?« Diesen Titel hatte Sempronius noch nie gehört. Pallas arbeitete offensichtlich daran, seine Stellung an Neros Seite zu festigen.
»Ja, Herr. Ich soll dir von meinem Herrn mitteilen, dass der Kaiser und sein Gefolge dir die Ehre eines Besuchs in deinem Haus erweisen wollen.«
Sempronius’ Herzschlag beschleunigte sich. »Hat er gesagt, warum?«
»Ich soll dir sagen, es handelt sich um einen Höflichkeitsbesuch, Herr.« Das leise Lächeln des Sklaven verriet, dass er die Besorgnis des Senators über die Nachricht vorhergesehen hatte. »Mein Herr sagt, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung.«
»Ich bin nicht beunruhigt, verdammt!«, versetzte Sempronius gereizt. »Für wen hält sich dieser Emporkömmling von einem Freigelassenen?«
Der Sklave öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, überlegte es sich dann aber anders und verbeugte sich ehrerbietig. Sempronius funkelte den Mann wütend an und zwang sich zur Ruhe. »Also gut, wann kommt der Kaiser? Ich schicke meine Köchin gleich morgen früh zum Markt. Gibt es etwas, das er besonders gerne isst?«
»Herr, er kommt heute Abend.«
»Heute Abend?«
Der Senator wechselte einen kurzen Blick mit Croton. Sie hatten das heutige Festmahl tagelang vorbereitet, und nun mussten sie alles abbrechen und die Gäste wegschicken.
»Sie müssen jeden Moment hier sein, Herr. Das kaiserliche Gefolge war bereits am Fuße des Hügels, als sie mich vorausschickten, um die Ankunft des Kaisers anzukündigen.«
Der Fuß des Viminalhügels war höchstens eine Viertelmeile entfernt, und während Sempronius noch überlegte, wie lange es dauern würde, bis der Kaiser mit seinem Gefolge an seine Tür klopfte, hörte er bereits das Trampeln von genagelten Stiefeln von der Straße und eine Stimme, die die Umstehenden aufforderte, den Weg freizumachen. Er hatte keine Zeit mehr, um sich auf den unerwarteten Besuch vorzubereiten. Der Senator schluckte nervös und nickte Croton zu.
»Öffne die Tür.«
Der Bedienstete schob den Eisenriegel aus der Halterung und zog die schwere Tür mit einem leisen Knarren nach innen auf. Kalte Luft wehte in die Eingangshalle und trug den Gestank von Abwässern und verfaultem Gemüse von der Straße herein. Die niedrigen Flammen in den kleinen Feuerschalen, die zu beiden Seiten der Tür hingen, warfen einen schwachen Lichtschein auf die gepflasterte Straße, die am Haus des Senators vorbeiführte. Zur Linken fiel sie zum Forum ab, und keine dreißig Schritte entfernt erblickte Sempronius einen Prätorianer, der eine Fackel hochhielt, gefolgt vom Helmbusch eines Offiziers und den schimmernden Rüstungen eines kleinen Trupps Soldaten. Dahinter schaukelten zwei Sänften sanft hin und her, deren Träger sich abmühten, mit den Gardisten Schritt zu halten. Zwischen dem Haus und dem kaiserlichen Gefolge standen – vom Licht einer Schenke an der Ecke erhellt – mehrere Jugendliche, die Daumen herausfordernd in die breiten Ledergürtel gehakt. Einige hielten noch ihre Trinkbecher in den Händen.
»He, ihr da! Aus dem Weg!«, rief ihnen der Prätorianeroffizier zu. »Sonst versohle ich euch den Arsch mit meinem Schwert. Los!«
Der Größte der jungen Burschen, dessen pockennarbiges Gesicht von dunklen Locken umrahmt war, trat vor und neigte den Kopf zur Seite.
»Was ist das denn? Kriegen wir etwa Besuch in unserer Straße? Ich kann mich nicht erinnern, dass wir sie eingeladen hätten.«
Die anderen, deren Stimmung von billigem Wein befeuert war, lachten und spotteten über die herannahenden Prätorianer.
»Wer hat euch gesagt, dass ihr in unser Viertel kommen sollt?«
»Der Kaiser! Und jetzt macht, dass ihr verschwindet, wenn ihr nicht den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen werden wollt.«
Einer der Burschen hob die Finger an den Mund und stieß einen spöttischen Pfiff aus. Der Anführer der Bande leerte seinen Becher und schleuderte ihn in Richtung der Soldaten. Das Gefäß traf den Helm des Offiziers und zersplitterte in zahllose Scherben.
»Ihr kleinen Mistkerle!«, brüllte der Offizier. »Euch werde ich’s zeigen!«
Er zückte sein Schwert, schob den Mann mit der Fackel beiseite und stürmte auf die jungen Männer zu. Der Anführer drehte sich zu seinen Freunden um.
»Zeit zu verduften, Leute!«
Mit spöttischen Rufen flitzten sie an Sempronius’ Haus vorbei und bogen in eine schmale Gasse ein, bis ihr Gelächter in der Ferne verklang. Der Offizier schob fluchend sein Schwert in die Scheide und führte den Trupp zum Hauseingang, wo er einen Befehl brüllte. Die Gardisten hielten an, und der befehlshabende Offizier wartete einen Moment, ehe er seine Anweisungen gab. Die Männer trotteten paarweise davon, um zur Bewachung der Straße und der Seitengassen in Position zu gehen. Sobald alle auf ihren Posten waren, winkte der Offizier die Träger mit den Sänften herbei, dann wandte er sich Sempronius zu und salutierte.
»Sextus Afranius Burrus, Präfekt der Prätorianergarde.«
Sempronius hatte den Mann noch nie gesehen, doch der Name war ihm bekannt. Burrus gehörte zu den Offizieren, die in den letzten Monaten von Claudius’ Regentschaft auf den Rat von Pallas und der Kaiserin hin befördert worden waren. Er zählte zu jenen, die Neros Machtübernahme unterstützt hatten.
Der Senator hatte keine Zeit mehr, den Gruß zu erwidern, denn die erste Sänfte hatte bereits den Hauseingang erreicht. Der führende Träger gab eine Anweisung, worauf die Sänfte vorsichtig abgesetzt wurde. Sempronius hörte einen leisen Wortwechsel, dann schob sich eine Hand zwischen den Falten des Stoffs hervor, der die Sänfte umgab, und zog den Vorhang zurück. Einen Moment lang sah man nur leuchtend rote Lederstiefel, ehe sich der Kaiser aus der Sänfte schwang und sich streckte. Er ignorierte Sempronius und reichte seiner Mutter die Hand. Im nächsten Augenblick stand Agrippina an seiner Seite. Ihr kunstvoll arrangiertes Haar war ein wenig in Unordnung geraten, und sie zog ihre Stola etwas enger um die Schultern. Sempronius erblickte einen kleinen roten Fleck, wie eine Bissspur, an ihrem Hals, und blickte rasch zur Seite.
Nero legte seiner Mutter den Arm um die Taille und wandte sich dem Senator zu.
»Ah! Mein lieber Senator Sempronius!«, sagte er in einem Ton, als hätte er ihn zufällig auf der Straße getroffen. »Freut mich, dich zu sehen.«
Sempronius verbeugte sich. »Die Freude ist ganz meinerseits, o Caesar.«
»Davon bin ich überzeugt. Aber lassen wir doch die Förmlichkeiten. Wir sind ja jetzt alle Freunde.«
»Das ist mir eine große Ehre.«
Nero machte eine wegwerfende Geste. »Man hat mir gesagt, dass du heute Abend Gäste hast. Ein Fest.«
Sempronius nickte. »Eine bescheidene Zusammenkunft.«
»Gewiss, nach den Maßstäben des Palasts. Wie ich höre, ist auch mein Stiefbruder unter deinen Gästen.«
»Ja, o Caesar.«
Nero trat einen Schritt näher, sodass ihre Gesichter höchstens einen Fuß voneinander entfernt waren. Er musterte den Senator schweigend, dann neigte er den Kopf zur Seite und tippte ihm auf die Brust. »Wie gesagt, wir wollen heute ganz zwanglos sein. Du kannst mich heute Abend einfach nur Nero nennen.«
Aus der zweiten Sänfte war ebenfalls eine Gestalt gestiegen, die nun nach vorne trat. Im Lichtschein der Feuerschalen sah Sempronius, dass es Pallas war. Der kaiserliche Sekretär trug eine Tunika aus purpurner Seide unter einem Umhang aus Wolle. An seinen Fingern glänzten Edelsteine und Gold.
Nero wandte sich ihm zu. »Britannicus ist hier, wie du gesagt hast.«
Pallas lächelte schmallippig. »Natürlich. Die Frage ist: Warum ist er hier?«
Die Frage war an Sempronius gerichtet, doch der Sekretär lächelte weiter den Kaiser an, als wäre der Senator nur irgendein Lakai. Sempronius schluckte schwer und schwieg, bis Pallas seine dunklen Augen auf ihn richtete.
»Nun, Senator?«
»Ich habe eng mit Kaiser Claudius zusammengearbeitet und kenne Britannicus von klein auf. Es war damals meine Pflicht, mich ein bisschen um ihn zu kümmern, und das sehe ich heute noch so. Ich glaube, ich bin es seinem Vater schuldig, der immer sehr gütig zu mir war.«
»Sehr edel von dir«, lächelte Nero. »Ich bin sicher, mein verstorbener Vater wäre dir dankbar für deine fürsorgliche Haltung gegenüber seinem Sohn. Wenn du jetzt so freundlich wärst, uns an deinem Fest teilhaben zu lassen. Wir sind hungrig. Kommt!«
Ohne auf eine Einladung zu warten, traten der Kaiser und seine Mutter ein und schritten durch die kleine Eingangshalle zu dem Korridor, der zum Garten führte. Pallas wies Burrus an, niemanden ohne seine Erlaubnis aus dem Haus oder hinein zu lassen, dann folgte er den beiden ins Haus. Sempronius eilte hinterher und schloss zum kaiserlichen Sekretär auf.
»Ich wäre gerne vorher verständigt worden«, sagte er leise, aber scharf.
»Und ich wäre gerne davon verständigt worden, wo sich Britannicus aufhält. Er hat den Palast verlassen, ohne jemandem Bescheid zu sagen. Er wurde erst vermisst, als sich die kaiserliche Familie zum Essen versammelte. Einer seiner Sklaven hat dann sehr schnell die Wahrheit ausgespuckt. In dieser Situation wirst du verstehen, dass es uns verdächtig erscheint, wenn Britannicus plötzlich aus dem Palast verschwindet.«
Sempronius warf ihm einen Seitenblick zu. Wenn der Prinz unter Verdacht stand, dann galt das wohl genauso für jene, mit denen er sich traf.
»Es ist doch nichts dabei, dass er die Einladung angenommen hat, zu meinem Fest zu kommen. Wie gesagt, wir sind gut befreundet.«
»Befreundet.« Pallas nickte. »Das ist gut. In Zeiten wie diesen sind echte Freunde besonders wertvoll. Man muss wissen, wem man vertrauen kann und wem nicht, und dementsprechend handeln. Das gilt für uns alle, mein lieber Senator Sempronius, vom ärmsten Bewohner eines Elendsviertels bis zum Kaiser persönlich. Verstehst du?«
»Absolut.«
Pallas klopfte ihm auf die Schulter. »Sehr gut. Aber jetzt haben wir Britannicus ja gefunden und müssen uns keine Sorgen mehr machen.«
Sie traten direkt hinter Nero und seiner Mutter aus dem Gang. Von einem Moment auf den anderen verstummte das Stimmengewirr, und es herrschte Stille, bis auf das leise Plätschern des Wassers in einem Brunnen. Sempronius sah zu dem erhöhten Essbereich hinüber und sah Britannicus besorgt aufblicken.
Agrippina klatschte in die Hände. »Was für ein reizendes Fest!«, rief sie aus. »Ihr habt ein bisschen ländliche Atmosphäre in unsere muffige Stadt gezaubert. Und so viele bekannte Gesichter!«
Sie eilte zu den Gästen, die ihr am nächsten saßen, und begrüßte sie mit ihren Namen. Die Angesprochenen erhoben sich respektvoll.
»Bitte, nehmt Platz. Wir wollten nur kurz vorbeischauen und ein bisschen mit euch feiern. Senator Granicus, welche Freude. Und du, meine liebe Cornelia.«
Nero trat an die Seite seiner Mutter und schritt mit ihr zu dem Podium, auf dem sich Sempronius’ Ehrengäste niedergelassen hatten. Der Senator drehte sich um und winkte dem Bediensteten zu. »Schnell, hol noch zwei Liegen für unseren Tisch.«
Nero hörte die Bemerkung und schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, mein Freund. Wir setzen uns gern irgendwohin, wo noch Platz ist. Nur keine Umstände.«
Vespasian und seine Frau hatten sich bereits von ihren Liegen erhoben und gingen beiseite, als Agrippina zu ihnen kam.
»Seid ihr sicher?«
Vespasian verbeugte sich. »Selbstverständlich. Wir finden schon einen Platz.«
»Sehr freundlich von euch.« Agrippina wandte sich mit einem schnippischen Lächeln an Domitia. »Was für einen höflichen Gemahl du hast. So zuvorkommend.«
»Ja«, antwortete Domitia kurz angebunden. »Das ist er.«
Agrippina drehte sich um, legte sich anmutig auf das Speisesofa und klopfte auf das Kissen neben sich. »Komm, Nero. Setz dich zu deiner Mutter.«
Er kam der Aufforderung nach und betrachtete die Teller mit dem frischen Gebäck. Pallas trat – seinem niedrigeren Status entsprechend – zurück und verschränkte die Hände. Agrippina schaute in die Runde der Gäste, unter denen immer noch betretenes Schweigen herrschte.
»Esst ruhig weiter. Sempronius, bitte, nimm Platz. So ist es besser.«
Ein Gast begann leise zu sprechen, und bald wurden die Stimmen ringsum wieder lauter, während die Gäste sich von dem Gebäck nahmen und es auf ihre Silberteller legten. Agrippina wartete, bis sie und Nero nicht länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen, dann wandte sie sich Britannicus zu. Das Gesicht des Prinzen zeigte keine Regung, doch Sempronius sah, dass seine Hände zitterten. Seine Stiefmutter beugte sich vor und bot ihm ihre Wange dar. »Gib mir einen Kuss, mein Lieber.«
Britannicus bemühte sich, seine Nervosität und seine Abneigung im Zaum zu halten, schluckte schwer, beugte sich vor, berührte mit den Lippen flüchtig ihre gepuderte Wange und wich sofort wieder zurück.
»Also, da wären wir ja alle wieder beisammen.« Agrippina klatschte in die Hände. »Eine glückliche Familie …«
KAPITEL 3
Die Gruppe rund um den Kaiser plauderte eine Weile, bis der erste Gang beendet war und Sempronius dem Bediensteten mit einer Geste bedeutete, die Teller mit dem Gebäck abzuräumen. Der junge Kaiser beherrschte das Gespräch, schwärmte von den Vorzügen der griechischen Kultur und verlieh seinem Wunsch Ausdruck, mehr Poesie und Musik in das Leben des römischen Volkes zu bringen. Es war eines seiner Lieblingsthemen, wie Sempronius schon bei verschiedenen Anlässen hatte feststellen können. Er hatte sich mittlerweile an Neros geschwollenes Gerede gewöhnt und ließ es gelangweilt über sich ergehen.
Der Kaiser wischte sich ein paar Krümel aus dem dünnen Kinnbart, kaute hastig und schluckte den Bissen hinunter, um mit seinen Ausführungen fortfahren zu können. »Das heißt natürlich nicht, dass die feineren Künste auch für den Pöbel geeignet sind. Ganz und gar nicht. Der Pöbel mag vielleicht seinen Spaß an einer deftigen Komödie oder einer einfachen Melodie haben, aber im Großen und Ganzen will er lieber blutige Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen sehen. Gewiss, auch damit kann man sich bisweilen vergnügen, aber was ein Mann wert ist, zeigt sich doch viel eher in seinem Verständnis für die hohe Kunst. Würdest du mir nicht zustimmen, Sempronius?«
»Wie könnte ich einer so bestechenden Argumentation nicht zustimmen?«
»Ganz recht. Und Tatsache ist nun einmal, dass die meisten Menschen gar nicht imstande sind, die Kunst zu schätzen. Dazu benötigt man eine gewisse Sensibilität, ein ästhetisches Gespür, das man entweder hat oder nicht. Man kann es nicht erlernen.«
»Ach, wirklich?«, warf Britannicus ein und beugte sich vor, um seinen Bruder besser sehen zu können, der teilweise von Sempronius verdeckt war. »Dann sag mir, wird ein Mensch etwa mit der Fähigkeit geboren, ein Musikinstrument zu spielen – die Leier beispielsweise? Wenn du recht hast, wie kommt es dann, dass man das Leierspiel erst lernen muss?«
Nero seufzte. »Du nimmst alles, wie immer, zu wörtlich, Bruder. Natürlich muss man ein Instrument erst lernen, aber die Begabung, dem Instrument große Kunst zu entlocken, ist angeboren. So wie die Fähigkeit, zu singen.«
»Ach so, dann hättest du es so ausdrücken müssen.«
Nero runzelte die Stirn. »Manchmal ist dein pedantisches Gehabe schwer zu ertragen.«
»Ich wiederum finde deine unpräzise Ausdrucksweise manchmal schwer zu ertragen, Bruder. Ich hätte mir mehr von dir erwartet, nachdem Seneca dein Mentor und Lehrer geworden ist.«
Nero kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich fürchte, du vergisst dich, Bruder. Du sprichst mit dem Kaiser, also gib acht, was du sagst.«
»Das tue ich immer. Und ich erinnere mich auch daran, wie du in den vergangenen Tagen immer wieder darauf hingewiesen hast, dass du in deiner Regentschaft auf eine freie Meinungsäußerung Wert legen wirst und Schluss machen willst mit der Verfolgung von Personen aufgrund ihrer Ansichten. Das gehört alles zu dem Goldenen Zeitalter, das du ausgerufen hast, stimmt’s?«
Nero schwieg einen Moment lang, ehe er antwortete. »Wenn ich’s nicht besser wüsste, würde ich sagen, du machst dich über mich lustig.«
»Dann kennst du mich schlecht.«
»Ich habe dich gewarnt. Ich habe lange Geduld gehabt mit deinen spitzfindigen Bemerkungen, mein lieber Bruder. Treib es bloß nicht zu weit. Es stimmt, dass ich in einem strengen Haus ohne Bücher aufgewachsen bin, während du immer die besten Lehrer hattest, die dein Vater finden konnte. Es ist auch wahr, dass ich eine lieblose Kindheit hatte, während meine Mutter im Exil ihr Dasein fristen musste. Du hingegen hattest das Privileg, im Palast als Sohn des Kaisers aufzuwachsen. Aber die Dinge haben sich geändert. Dein Vater – unser Vater – ist tot, und ich bin Kaiser. Ich habe die Macht, über Leben und Tod aller zu entscheiden, die in meinem Reich leben.«
Britannicus zuckte mit den Schultern. »So viel zum Goldenen Zeitalter der freien Meinungsäußerung.«
»Du solltest mich nicht provozieren, mein lieber Britannicus. Auch meine Geduld hat Grenzen.«
In dem Bemühen, den Frieden zu wahren, wandte sich Sempronius an den Kaiser. »Du hast vom Singen gesprochen. Singst du noch, so wie als Kind? Du hattest schon damals eine hervorragende Stimme.«
Nero sah ihn stirnrunzelnd an. Es gefiel ihm gar nicht, von der Auseinandersetzung mit seinem Bruder abgelenkt zu werden. »Ich singe noch, ja. Und zufällig sehr gut. Ich habe eine natürliche Begabung dafür.«
Britannicus konnte sich ein verächtliches Schnauben nicht verkneifen, und Nero zuckte zusammen, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen.
»Mein Stiefbruder teilt dein Urteil über meinen Gesang offenbar nicht. Vielleicht glaubt er ja, dass er es besser kann als ich. Ist es so?«
Britannicus zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Trinkkelch. Er nahm einen Schluck und leckte sich über die Lippen, ließ Neros Frage jedoch unbeantwortet. Die Luft zwischen den beiden jungen Leuten knisterte vor Anspannung, und Sempronius fühlte sich äußerst unwohl zwischen den beiden Streithähnen. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und unternahm einen Versuch, das peinliche Schweigen zu durchbrechen.
»Ich habe euch beide singen gehört und muss sagen, ihr habt beide ausgezeichnete Stimmen. Das ist eine Begabung, auf die man stolz sein kann.«
»Wie kann man auf etwas stolz sein, das einem von den Göttern gegeben wurde?«, erwiderte Nero. »Ein wahrer Künstler ringt um die Vollendung, die das Ergebnis seiner eigenen Bemühungen ist. Ohne Hilfe seitens der Götter oder der Mitmenschen. Das Leben eines Künstlers ist ein ständiger Kampf. Das ist nur wenigen bewusst. Aber ich kann es keinen Augenblick lang vergessen.«
»Natürlich.« Sempronius nickte verständnisvoll. »Du trägst die Last der Welt auf deinen Schultern, o Caesar. Das ganze Imperium blickt auf dich und erwartet eine starke und gerechte Herrschaft von dir. Die Bewohner dieser wunderbaren Stadt erwarten von dir eine ausreichende Versorgung mit Getreide und die großartigsten Vergnügungen, die man auf dieser Welt finden kann. Das verlangt nach so großer Weisheit, wie ein Mensch sie nur aufbringen kann.«
Britannicus hob mitfühlend die Augenbrauen. »Aber mein Bruder ist ja nicht irgendein Mensch. Er hat die Seele eines Künstlers und empfindet den Tod einer jeden Kreatur als Tragödie. Vielleicht wäre es ein Segen, ihn von den langweiligen Aufgaben eines Herrschers zu entbinden, damit er seiner wahren Bestimmung folgen und das römische Volk mit seiner Musik und Poesie beschenken kann. Seine Stimme soll sich dem Gesang widmen können, und nicht schnöde Verordnungen und Erlässe verkünden.«
»Es reicht!«, schnaubte Nero. »Ich habe genug von deinem beißenden Spott, Bruder. Du hast das Herz einer Schlange. Und wenn du sprichst, höre ich auch das Zischen einer Schlange …« Er hielt einen Moment inne, und sein Gesicht nahm einen verschlagenen Ausdruck an. »Es gibt nur einen Weg, das Talent meines Bruders auf die Probe zu stellen, mein lieber Sempronius. Ein Gesangswettstreit.«
»Ein Wettstreit?« Sempronius zuckte zusammen. »Hier? Jetzt?«
»Warum nicht?« Nero erhob sich, stellte sich auf die Liege und klatschte in die Hände. »Meine Freunde! Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!«
Erneut wurde es still ringsum, und die Gäste wandten sich neugierig dem Kaiser zu.
»Setz dich«, raunte Agrippina ihrem Sohn zu. »Du machst dich zum Narren. Du bist der Kaiser und musst eine gewisse Würde wahren.«
»Ich muss diesem Bengel zeigen, dass er sich mir nicht länger widersetzen kann«, erwiderte Nero. »Ich muss ihm eine Lektion erteilen.«
»Aber …«
Er richtete seinen Finger auf sie. »Schweig, Mutter.«
Agrippina zog die Stirn in Falten und wollte etwas erwidern, hielt sich aber zurück und beugte anmutig den Kopf. »Wie du wünschst, mein Lieber.«
»Genau. Wie ich wünsche. Ich sage jetzt den anderen, was sie zu tun haben.« Nero neigte den Kopf leicht zurück, um seine Autorität zu unterstreichen, dann holte er Atem und wandte sich an die Gäste. »Meine lieben Freunde, es ist gute Tradition, zwischen den Gängen für Unterhaltung zu sorgen. Deshalb habe ich nun beschlossen, für euch zu singen. Wie ihr wisst, sagt man mir nach, eine recht ordentliche Stimme zu besitzen.« Er lächelte, und Pallas, der hinter ihm stand, klatschte laut. Agrippina folgte seinem Beispiel, Sempronius ebenso. Einige andere verstanden den Wink und spendeten ebenfalls Beifall, bis sich auch die Begriffsstutzigeren anschlossen. Der junge Kaiser genoss den Applaus, dann winkte er mit den Händen ab, um sein Publikum zum Schweigen zu bringen.
»Weniger bekannt ist, dass auch mein Bruder Britannicus Ambitionen hat, sich als Sänger zu beweisen.«
Der junge Prinz bemühte sich, gelassen zu bleiben, und zeigte keine Reaktion auf Neros Worte.
»Wie alle Eltern wissen, wetteifern Geschwister gerne miteinander, und heute Abend werden mein Bruder und ich für euch singen. Mit eurer Anerkennung sollt ihr den besseren Sänger küren. Und der Preis …« Nero zögerte einen Moment, dann fiel sein Blick auf seine Mutter, und er grinste schelmisch. »Der Preis wird dieser Ring sein!«
Bevor sie reagieren konnte, beugte er sich zu ihr, nahm ihre Hand und zog ihr einen großen rubinbesetzten Ring vom Finger. Er hielt das kostbare Schmuckstück hoch. »Ein Preis, der eines Prinzen oder eines Kaisers würdig ist.«
Agrippina runzelte kurz die Stirn, dann lachte sie gezwungen.
Pallas klatschte erneut Beifall, und die Gäste, die nun wussten, was von ihnen erwartet wurde, schlossen sich ihm an.
»Prinz Britannicus wird euch ein Lied seiner Wahl vortragen, wenngleich er bei seinem begrenzten Repertoire keine große Auswahl haben wird. Sing, Bruder, sing!«
Britannicus schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun«, sagte er mit fester Stimme.
»Was hast du gesagt?«
»Ich werde nicht singen. Nicht für dich.«
Nero schüttelte den Kopf. »Nicht für mich. Für sie.«
»Ich werde es nicht tun.«
»Doch, du wirst, Bruder. Weil dein Kaiser es dir befiehlt, und das Wort des Kaisers ist Gesetz.«
Britannicus sah ihn spöttisch an. »Dein Wort ist für mich bedeutungslos. Du hattest niemals Anspruch auf den Kaiserthron. Mein Vater war der Kaiser. Dein Vater war ein nichtsnutziger Lump, der seinen frühen Tod verdient hat. Du bist nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem ein Kaiser sein muss. In deinen Adern fließt kein kaiserliches Blut.«