Cover

Der Roman

Berlin, Sommer 1949: Die Redakteurin Vera Lessing hat während des Zweiten Weltkrieges ihre Eltern und ihren Mann verloren. Sie will vor allem eines – die traumatischen Erlebnisse für immer hinter sich lassen. Doch als ihr Jugendfreund und Kollege Jonathan auf mysteriöse Weise ums Leben kommt, wird sie unweigerlich in seine Arbeit hineingezogen. Jonathan hat Recherchen über ehemalige Kriegsverbrecher betrieben. Gleichzeitig hielt er Kontakt zu einer jungen Frau namens Marie Weißenburg, einer Sekretärin im Stab Konrad Adenauers. Vera geht den Spuren nach, die sie bis in die mächtigen Kreise der Geheimdienste führen.

Die Autorin

Claire Winter studierte Literaturwissenschaften und arbeitete als Journalistin, bevor sie entschied, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie liebt es, in fremde Welten einzutauchen, historische Fakten genau zu recherchieren, um sie mit ihren Geschichten zu verweben und ihrer Fantasie dann freien Lauf zu lassen. Nach »Die Schwestern von Sherwood« folgte der Spiegel-Bestseller »Die verbotene Zeit«. »Die geliehene Schuld« ist Claire Winters dritter Roman im Diana Verlag. Die Autorin lebt in Berlin.

CLAIRE WINTER

Die

geliehene

Schuld

ROMAN

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Copyright © 2018 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Redaktion: Carola Fischer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München

Umschlagmotive: © akg-images, Stephen Mulcahey/Trevillion Images und fotogestoeber, Lekky/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-20922-3
V002

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Für M.,

ohne den dieses Buch

nicht entstanden wäre …

PROLOG

Allgäu, April 1945 …

Dichte Wolken schoben sich immer wieder vor den Mond, der für kurze Augenblicke gerade genug Licht spendete, um die schroffen Felsen der Berggipfel sichtbar werden zu lassen, bevor sie auch schon wieder von der nächtlichen Schwärze verschluckt wurden. Die Männer, die sich im Schutz der Dunkelheit die Berge hinaufkämpften, kannten ihren Weg. Gelegentlich hielten sie inne, verlangsamten ihren Schritt, bis sie sicher waren, ausreichend Halt auf dem manchmal unebenen und oft gefährlich rutschigen Grund zu haben; dann stiegen sie mit ihrer wertvollen Last eilig weiter. Wie geisterhafte Schatten bewegten sie sich vorwärts. Keiner von ihnen sprach ein Wort oder wagte, ein Licht anzuzünden.

Über Wochen hatten sie alles vorbereitet und die Plätze sorgfältig ausgesucht – einsam und weit voneinander entfernt gelegen.

Als die Männer die Stelle, die sie in dem hiesigen Gebirge ausgewählt hatten, schließlich erreichten, machten sie sich stumm und schnell an die Arbeit. Der Stahl der abgedichteten Kisten blitzte kurz im Dunkeln auf, ehe sie sie in die Tiefe der Gruben hinabließen, die sie schon Tage zuvor ausgehoben und zur Tarnung abgedeckt hatten. Anschließend schütteten sie alles wieder mit Erde zu und verteilten Moos und Steine auf den Stellen.

Es war der letzte Teil ihrer Beute, den sie heute vergruben. Ein kalter Regen, der ihre Spuren verwischen würde, schnitt ihnen scharf ins Gesicht, ohne dass sie es wirklich spürten. Einen kurzen Moment lang standen die Männer einfach nur still da. Vielleicht zum ersten Mal wurde ihnen bewusst, dass ihre Welt für immer untergegangen war und ihre Augen trafen sich. Sie streckten ein jeder die Hand aus und schlugen ein, um den Pakt, den sie geschlossen hatten, erneut zu besiegeln.

Der Morgen graute bereits, als sie sich wenig später in unterschiedliche Richtungen an den Abstieg machten. Keiner von ihnen wusste, wann sie sich wiedersehen würden …

Köln, Mai 1949, vier Jahre später

JONATHAN

1

Der Laden, den man ihm beschrieben hatte, lag am Ende der Straße. Suchend irrten Jonathans Augen über die Häuser. Die Kölner Innenstadt unterschied sich auf den ersten Blick kaum von der in Berlin – Ruinen, zerstörte Fassaden mit ausgebrannten Fenstern, Trümmerhaufen und kaum ein unversehrtes Haus dazwischen. Wegbeschreibungen sind eine eigene Herausforderung geworden, dachte er bei sich und unterdrückte ein Seufzen.

Erleichtert atmete er auf, als er das Geschäft schließlich an der nächsten Ecke entdeckte. Er beschleunigte seinen Schritt. Es war ein kleiner Gemischtwarenhandel, in dem man neben Lebensmitteln auch Seife, Kurzwaren und Papier erstehen konnte. Eine dünne alte Frau in einem Kittel stand hinter der Ladentheke. Sie nickte ihm grüßend zu.

»Kann ich bei Ihnen Packpapier oder einen Pappkarton kaufen? Ich müsste dringend etwas verschicken.« Jonathan griff nach seiner Aktentasche und zog die Unterlagen hervor, um die Größe der Sendung zu veranschaulichen.

Sie musterte erst die Mappe, dann ihn. Neugierde blitzte in ihrem Gesicht auf, und er fragte sich einen Moment lang, ob man ihm die schlaflosen Nächte und das, was hinter ihm lag, so ansah. »Pappkartons haben wir nicht, aber Packpapier«, sagte sie schließlich mit einer überraschend heiseren Stimme. Ihre magere Hand griff hinter sich nach einer braunen Rolle und Schnur.

»Würde es Sie stören, wenn ich das Paket hier fertig mache? Ich müsste es gleich verschicken.«

»Aber nein, junger Mann.« Sie nickte ihm zu. »Hier, die werden Sie bestimmt brauchen.« Sie reichte ihm eine Schere und deutete auf einen kleinen Tisch, der sich am Ende einer engen Reihe mit hohen Regalen befand, an dem er das Paket einpacken und beschriften konnte.

Ein eigenartiger Geruch nach scharfem Putzmittel und Vorräten hing hier hinten in der Luft. Jonathan schnitt ein großzügiges Stück von dem braunen Papier ab.

Dann hielt er plötzlich für einen Augenblick inne. Was, wenn er sich alles nur einbildete? Unwillkürlich sah er wieder sein Zimmer in der Pension vor sich, als er gestern nach seinen Recherchen dorthin zurückgekehrt war. Vielleicht war es wirklich nur ein gewöhnlicher Einbruch gewesen? Diebe, die nach Geld, einer Uhr oder irgendwelchen Sachen gesucht hatten, die sie verkaufen konnten? Die meisten Menschen hatten noch immer kaum genug zum Überleben. Doch die Art, wie die Matratze vom Bett gezogen und die Möbel verrückt worden waren, hatte so gewirkt, als hätte jemand nach etwas ganz Bestimmten gesucht. Nein, er täuschte sich nicht.

Eilig schrieb Jonathan ein paar persönliche Zeilen zur Erklärung, die er dem Paket beilegte. Seine Kehle schnürte sich zu, als er überlegte, zu berichten, was er in Köln noch erfahren hatte. Doch er entschied sich dagegen. Die Zeit war zu knapp.

Als er fertig war, gab er der Frau die Schere zurück und zahlte. Er bedankte sich und ließ sich noch beschreiben, wo sich das nächste Postamt befand, bevor er mit dem Paket unter dem Arm wieder nach draußen trat.

Sein Blick hob sich für einen Moment zum Dom, dessen Silhouette sich majestätisch über der Stadt zeigte. Wie durch ein Wunder hatte das berühmte Wahrzeichen während des Krieges keinen größeren Schaden genommen.

Passanten eilten geschäftig an Jonathan vorbei, und er lief mit dem Strom der Menschen mit, zwischen denen er sich halbwegs sicher fühlte. Dennoch drehte er sich einige Male wie unter einem Zwang um. Seitdem er am Morgen von seinem Besuch im Untersuchungsgefängnis gekommen war, hatte er den Eindruck, dass man ihn beobachtete.

Ein Frösteln ergriff ihn, obwohl es Ende Mai war und die Temperaturen angenehm warm waren. Noch einmal führte er sich vor Augen, was er in den letzten Wochen herausgefunden hatte. Voller Bitterkeit erinnerte er sich an das Gespräch mit dem italienischen Priester, das seine schlimmsten Vermutungen bestätigt hatte. Als Journalist gehörte es zu seinen Aufgaben, Geheimnisse aufzudecken und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber in seiner gesamten journalistischen Laufbahn hatte er nie einen Fall wie diesen erlebt. Etwas, das solche Ausmaße hatte! Es wäre dumm zu glauben, dass er sich nicht in Gefahr befand. Vor allem, wenn er bedachte, was noch geschehen war. Ein angespannter Ausdruck glitt über Jonathans Gesicht.

Dass er trotz allem immer an Gerechtigkeit geglaubt hatte, erschien ihm jetzt wie blanker Hohn. Wenn es alles stimmte … die Öffentlichkeit musste davon erfahren! Bei dem Gedanken fasste er das Päckchen unter seinem Arm fester.

Nur einige Meter weiter wurde bereits das Gebäude sichtbar, in dem sich die Post befand. Jonathan beschleunigte seinen Gang und ignorierte, dass sein Knie dabei ein wenig schmerzte. Er warf noch einmal einen kurzen Blick über seine Schulter, bevor er die Stufen zum Eingang hochstieg.

Zwei Männer, die ihre Hüte ins Gesicht gezogen hatten, waren auf der anderen Straßenseite zu sehen. Standen sie schon länger dort? Einer von ihnen rauchte eine Zigarette und musterte ihn.

Hastig trat Jonathan durch die Tür in den Schalterraum, in dem er sich in der Schlange anstellte. Ein Kunde hinter ihm stieß gegen ihn. Er zuckte zusammen.

»Verzeihung«, murmelte der Unbekannte.

Jonathan nickte knapp. »Keine Ursache«, erwiderte er. Der Mann, der ihm ein entschuldigendes Lächeln schenkte, wirkte harmlos. Doch Jonathan merkte, dass er immer noch nervös war.

Endlich war er an der Reihe. »Einmal nach Berlin, bitte. Per Eilzustellung.« Erleichtert sah er, wie der Postbeamte den Umschlag mit Marken und Stempel und einem Expressvermerk versah und das Päckchen zwischen den anderen Sendungen in einem der großen Körbe verschwand. Es kam ihm vor, als hätte ihm jemand eine schwere Last von den Schultern genommen.

Als er die Post verließ, waren auch die beiden Männer vor dem Gebäude verschwunden. Befreit atmete er durch und spürte, wie er endlich wieder ruhiger wurde.

Er überlegte, was er heute noch tun musste. Bevor er nach Berlin zurückreiste, wollte er unbedingt mit dem Anwalt sprechen. Er bog in eine leere Straße ein, die weiter in das Viertel führte, in dem seine Pension lag. Schritte waren plötzlich hinter ihm zu hören, und Jonathan wollte sich gerade umdrehen, als sich ein lautes Motorengeräusch von vorne näherte. Ein Lieferwagen bog um die Ecke. Er fuhr zu schnell – viel zu schnell. War der Fahrer betrunken? Der Wagen raste in der engen Straße direkt auf ihn zu. Jonathan suchte panisch nach einer Möglichkeit, auszuweichen. Das Fahrzeug kam immer näher.

Für den Bruchteil eines Augenblicks sah er das Gesicht des Mannes hinter dem Steuer – die zusammengekniffenen Augen und die Entschlossenheit in seinen Zügen. Wie aus weiter Ferne hörte Jonathan hinter sich jemanden aufschreien, während im selben Moment Gedanken, Bilder und Erinnerungen in einer aberwitzigen Geschwindigkeit durch seinen Kopf rasten und ihn in einem Strudel mit sich rissen. Er hätte in dem Brief doch schreiben sollen, was er in Köln noch Schreckliches erfahren hatte, durchfuhr es ihn, als ihn der Wagen auch schon erfasste – und er als Letztes ihr Gesicht vor sich sah.

Berlin, Mai 1949, drei Tage später