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Buch

Marin Bishop hat sich immer an alle Regeln gehalten. Und es hat sich ausgezahlt: Sie hat einen lukrativen Job, einen attraktiven Verlobten und die Anerkennung ihres Vaters, der seine Karriere stets über die Familie gestellt hatte. Doch über Nacht ist der Traum vorbei – Verlobung geplatzt, Traumjob dahin. Dann taucht auch noch eine junge Frau namens Rachel auf, die behauptet, Marins Halbschwester zu sein. Für Marin bricht eine Welt zusammen. Rachel hingegen freut sich, eine Schwester zu haben, und ist entschlossen, noch weitere Familienmitglieder kennenzulernen – allen voran ihre Großmutter Amelia, die sie ebenfalls aufgespürt hat. Als Rachel aufbricht, um Amelia in Provincetown aufzusuchen, einem malerischen Ort an der Spitze von Cape Cod, beschließt Marin, sich ihr anzuschließen – gefolgt von ihrer Mutter, die gerade eine Ehekrise meistern muss. Amelia ist für ihre fünfundsiebzig Jahre zwar noch rüstig, hatte aber eigentlich beschlossen, ihr Bed & Breakfast »The Beach Rose Inn« in diesem Jahr nicht zu öffnen. Doch als plötzlich Rachel, Marin und Marins Mutter Blythe bei ihr auftauchen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die drei bei sich aufzunehmen. Im Lauf eines langen Sommers enthüllen sich langsam die Geheimnisse der Vergangenheit, die Beziehungen der Frauen untereinander und ihre Wege in die Zukunft.

Autorin

Jamie Brenner wuchs in Philadelphia auf und entdeckte schon als Kind ihre Liebe zu Büchern. Jeden Samstag besuchte sie gemeinsam mit ihrem Vater die örtliche Buchhandlung und begab sich auf Entdeckungsreise nach interessanter Lektüre. Später studierte sie Literaturwissenschaften an der George Washington University und ging dann nach New York, um in der Verlagsbranche zu arbeiten. Heute ist sie selbst Autorin und kann sich keinen schöneren Beruf vorstellen. Mit ihren Kindern stöbert sie in Buchhandlungen, sooft sich die Gelegenheit bietet. Jamie Brenner lebt mit ihrer Familie in New York.

Jamie Brenner

Der Sommer der
Dünenrosen

Roman

Aus dem Englischen
von Martina Tichy

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Forever Summer«

bei Little, Brown and Company, New York,

a division of Hachette Book Group, Inc.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2018

Copyright © der Originalausgabe

2017 by Jamie Brenner

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: plainpicture/ Folio Images/ Clive Tompsett

Redaktion: Regina Carstensen

AB · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-21054-0
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine Großmutter Frances Rubin Carver.
Du fehlst mir.

Provincetown, Massachusetts

Frühling

Wenn das Beach Rose Inn wieder offen hatte, markierte dies Jahr für Jahr den inoffiziellen Sommeranfang. Es gehörte zum Lebensrhythmus von Provincetown, ebenso wie der Fährverkehr von und nach Boston, der Fahrplan für die Walbeobachtungstouren und der Verlauf der Parade am Unabhängigkeitstag. Amelia wusste das und hatte es neben anderem wohl erwogen, bevor sie sich entschied, das alte Haus in diesem Jahr geschlossen zu lassen.

Es war seit fünf Generationen im Besitz ihrer Familie, und jeden Frühling standen Vorbereitungen auf die Strandsaison an, die Amelia lange Zeit mit der Präzision eines Uhrwerks erledigt hatte. Neue Schindeln, neuer Anstrich, Blumenbeet auf Vordermann bringen, Upgrades für Kabelanschluss und Internet, und dann natürlich noch jede Menge unvorhersehbare Reparaturen – je nachdem wie hart in diesem Teil New Englands der Winter gewesen war, den sie nun überstanden hatten. Wenn der Sommer richtig in Schwung kam, fing die eigentliche Arbeit erst an. Volle fünfzehn Wochen, von Mai bis Anfang September, war das Haus voller Menschen. Manche kamen zum ersten, manche zum wiederholten Mal (und waren mittlerweile eher Freunde als Gäste), doch die einen wie die anderen hielten Amelia und ihre Partnerin Kelly die gesamte Saison über auf Trab.

Und es gefiel ihr. Sie war mittlerweile fünfundsiebzig und führte die Pension schon so lange, dass sie sich einen Sommer ohne diesen Betrieb nicht vorstellen konnte. Doch die Dinge wandelten sich, und es wurde Zeit, sie langsamer anzugehen.

Eines Tages kam der Anruf. Aus heiterem Himmel.

Als das Telefon klingelte, stand Amelia vor der Küchenspüle. Sie hatte aus dem Fenster auf den Holztisch geblickt, der sich durch den Garten bis zu den Sandausläufern der Cape Cod Bay erstreckte. Dort nahmen ihre Gäste das Frühstück ein, fanden zusammen und schlossen Freundschaften, die offenbar häufig die eine Ferienwoche überdauerten.

»Könnte ich mit Amelia Cabral sprechen?« Die Stimme einer jungen Frau, zittrig.

»Am Apparat«, sagte Amelia und wollte schon anfügen, dass die Pension in dieser Saison – und vielleicht auf unbestimmte Zeit – geschlossen sein würde. Wie viele Gespräche dieser Art sie in den letzten Monaten auch geführt hatte, sie fielen ihr um keinen Deut leichter.

»Hallo, äh – tut mir leid, wenn ich Sie belästige.« Langes Schweigen.

»Ja, Liebes. Was kann ich für Sie tun?«, fragte Amelia mit sanftem Nachdruck.

»Mrs Cabral, ich heiße Rachel. Und nach allem, was ich weiß, sind Sie meine … Großmutter.«

Das Wort hing zwischen ihnen im Äther, gewichtig und schwerelos zugleich.

Amelia hatte gedacht, in ihrem Alter lägen die Zeiten der – schönen wie bösen – Überraschungen lange hinter ihr. Exakt an dieser Stelle hatte sie dreißig Jahre zuvor gestanden, als ein Anruf erfolgte, mit so verheerenden Nachrichten, dass sie sich nur noch an der Kante der Arbeitsfläche festklammern konnte, als sei sie das Einzige, das sie noch mit der Welt verband. Und genau das tat sie auch jetzt, während die junge Frau ihre Geschichte erzählte.

Nachdem sie schließlich aufgelegt hatte, schlang sie die Arme um sich, um das Zittern in den Griff zu bekommen.

Komisch, dachte Amelia, dass wir auf extrem schlechte und extrem gute Neuigkeiten in der gleichen Art reagieren: ungläubig.

Benommen ging sie durch die Hintertür hinaus in den ersten Frühjahrssonnenschein. Ich muss es Kelly erzählen, war ihr erster Gedanke – Kelly, die Unerschütterliche, die ihr so viele Jahre geholfen hatte, die Pension am Laufen zu halten, und die Amelias Entscheidung, in dieser Saison nicht aufzumachen, nur widerwillig mittrug. Was würde Kelly davon halten?

Was hielt Amelia selbst davon? Sie wusste nur eins. Die letzten dreißig Jahre hatte sie das Haus mit Fremden vollgepackt. Doch nun würde sie in ein paar Wochen Verwandte unter ihrem Dach haben.

Nach all der Zeit – ihre Familie.

Kapitel 1

New York City

Das Restaurant war üppig ausgestattet, angesagt und laut. Ihr Verlobter hatte es zur Feier ihres Geburtstags ausgesucht. Ihr Verlobter, der nun nicht mit am Tisch saß.

Marin stand auf und winkte, als sie ihre Eltern eintreten sah. Sie waren von Philadelphia hergefahren, um abends mit ihr zu feiern. Kaum beim Tisch angelangt, schloss Blythe, ihre Mutter, sie in die Arme.

»Alles Gute zum Geburtstag, Schätzchen! Dreißig. Ich kann’s gar nicht glauben«, sagte sie. Sie trug ein klassisch geschnittenes blassblaues Kostüm. Typisch alter Geldadel. Typisch Mum. Marin spürte einen Anflug von Trauer. Noch ahnte ihre Mutter nicht, was ihr bevorstand.

»Gut siehst du aus, Marin«, sagte ihr Vater. »Die vielen Stunden in der Firma bekommen dir offenbar ausgezeichnet.«

Marin strahlte ihn an. Der Stolz ihres Vaters auf ihre Karriere war für sie ein Lebenselixier. Wenigstens einer ihrer beiden Elternteile würde heute Abend mit ihr zufrieden sein.

Ihre Mutter sah sich um. »Wo ist denn Greg? Wird er später noch zu uns stoßen?«

»Nein«, sagte Marin gedehnt. »Er kommt nicht später.«

Die drei nahmen Platz, der Kellner brachte die Speisekarten. Das Restaurant bot nur Menüs, und die Auswahl hielt sich in engen Grenzen. Marin hatte keinen Appetit.

»Was ist los?«, fragte Blythe. »Ist er krank?«

»Ihm fehlt nichts, Mom. Aber wir haben uns getrennt.«

»Was?« Ihre Mutter sah aus, als hätte Marin ihr ins Gesicht geschlagen. »Wieso um alles in der Welt? Habt ihr euch gestritten?«

Ihr Vater winkte dem Kellner und bestellte einen Martini. Marin bat um ein Glas Chardonnay.

»Nein, wir haben uns nicht gestritten. Ich war einfach unzufrieden«, sagte Marin. Nicht die ganze Wahrheit.

»Du arbeitest zu viel, Marin. Beziehungen müssen gepflegt werden. Du kannst nicht auf Autopilot schalten, nur weil du einen Ring am Finger trägst.« Die Stimme ihrer Mutter schnellte eine Oktave höher.

»Blythe, bitte. Sie hat ein Anrecht auf eine Karriere. Mach es nicht daran fest«, sagte Kip. »Und Gregs Arbeitszeiten an der Wall Street sind mit Sicherheit noch länger als ihre.«

»Ist schon gut, Mom. Es ist am besten so. Tut mir leid, wenn du enttäuscht bist, aber …«

Blythe schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht enttäuscht. Ich will nur, dass du glücklich bist. Warum hast du nicht mit mir darüber geredet? Wann ist das alles passiert?«

Marin fühlte sich schuldbewusst, weil sie sich ihrer Mutter nicht anvertraut und sie damit zum ersten Mal aus ihrem Privatleben verbannt hatte. Aber es war nur vorübergehend und notwendig, und eines Tages würde ihre Mutter es verstehen. Das hoffte Marin jedenfalls. Einer Frau, die seit zweiunddreißig Jahren glücklich verheiratet war, ein derartiges Chaos zu erklären, stellte keine leichte Aufgabe dar.

»Gestern Abend. Mir ist einfach klar geworden, dass es nicht das Richtige für mich ist. Ich bin noch nicht bereit für die Ehe. Oder vielleicht will ich nicht ihn zum Ehemann haben. Keine Ahnung. So oder so musste ich ehrlich sein – ihm und mir gegenüber …«

Der Kellner brachte die Drinks, und ihr Vater hob sein Glas. »Es ist schwer zuzugeben, was man will, wenn damit eine unpopuläre Entscheidung verbunden ist. Ich bin stolz auf dich.«

Ihre Mutter funkelte ihn an.

»Danke, Dad.«

»Hast du ihm den Ring zurückgegeben?«, fragte Kip.

»Weiter hast du nichts dazu zu sagen?«, kam es von Blythe.

»In New York State gilt dergleichen als bedingte Schenkung. Man ist vertraglich verpflichtet, den Ring zurückzugeben.«

»Wen kümmert schon der verdammte Ring!«, sagte Blythe.

»Ja, Dad – ich habe ihm den Ring zurückgegeben. Und Mom – Trennungen kommen nun mal vor. Das wird schon wieder.«

Ihre Mutter nickte, wirkte jedoch bekümmert und nicht besonders überzeugt.

»Natürlich wird es das«, sagte ihr Vater und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Jetzt kommt schon – können wir nicht über was anderes reden? Wir sind doch eigentlich aus einem freudigen Anlass hier«, sagte Marin und lächelte, in der Hoffnung, die Stimmung zu lockern.

Ihre Eltern wechselten einen merkwürdigen Blick. Wenn Marin sich nicht täuschte, schüttelte ihre Mutter fast unmerklich den Kopf.

»Was ist los?«, fragte Marin.

»Nichts, gar nichts«, erwiderte ihre Mutter. Zu rasch.

Schweigen senkte sich über den Tisch und wurde nur von dem Kellner gebrochen, der ihre Bestellungen aufnahm. Die Atmosphäre heiterte sich erst auf, als Marins Vater sie nach dem neuesten Mandanten ihrer Anwaltskanzlei fragte, einem sehr bekannten Humangenetik-Unternehmen.

Marin strahlte. »Über die geplante Fusionierung darf ich nicht allzu viel sagen, aber es ist ein großer Schritt für mich, dass ich bei dem Fall mitarbeiten kann. Ich bin zwar noch ziemlich weit unten am Totempfahl angesiedelt, aber trotzdem …«

Kip nickte und schwenkte sein Glas, bis die Eiswürfel klimperten. »Eins nach dem anderen. Halt dich bedeckt, racker dich ab, beachte die Spielregeln, dann kommst du schon dahin.«

Beide wussten, was er mit dahin meinte. Eine Partnerschaft in der prestigeträchtigsten Anwaltskanzlei von New York City. Oder auch die Leitung einer eigenen Kanzlei – wie der, die ihr Vater 1982 in Philadelphia gegründet hatte, wo Kipton Bishop nunmehr als einflussreichster Anwalt der Stadt galt. Mittlerweile war er sechzig und machte keinerlei Anstalten kürzerzutreten. Eigentlich erstaunlich, dass er es zu dem Geburtstagsdinner geschafft hatte. Solange Marin sich erinnern konnte, hatte er Fünfzehnstundentage und Reisen um die Welt absolviert, daher war sie daran gewöhnt, zumeist mit ihrer Mutter allein zu sein. Ehrlich gesagt hatte sie keine Ahnung, wie Blythe das all die Jahre ausgehalten hatte – daheimzubleiben, sich allein ums Haus und den Gemüsegarten zu kümmern und darauf zu warten, dass Marins Vater sich (selten genug) blicken ließ. Marin schauderte. Ihr ganzes Leben lang war ihr immer mehr als bewusst gewesen, dass sie nicht diejenige sein wollte, die zurückblieb.

Während des Essens checkte sie unter dem Tisch ihr Handy. Sie wusste es sehr wohl zu schätzen, dass ihre Eltern nach Manhattan gefahren waren, um mit ihr zu feiern. Aber der Abend zog sich in die Länge.

Schließlich erschien die Nachricht, auf die sie gewartet hatte.

Klar, komm vorbei.

Der Kellner näherte sich mit einer großen Torte, in der eine einzelne brennende Kerze steckte, die kunstvoll mit Raspeln aus weißer Schokolade verziert war.

Bitte nicht singen. Nein, das passte nicht zu dem Lokal. Der Kellner stellte die Torte vor sie hin, ihre Mutter langte über den Tisch und drückte ihre Hand. »Alles Gute zum Geburtstag, Schätzchen.« Sie klang so elend, als wäre ihre eigene Verlobung in die Brüche gegangen.

Marin schloss die Augen, pustete die Kerze aus und dachte an die Person, die am anderen Ende der Stadt auf sie wartete.

»Auf viele weitere«, stimmte ihr Vater ein und leerte sein Glas.

Der Kellner zerteilte die Torte und servierte jedem ein Stück. »Was sagt denn Greg zu der Sache? Hat er es einfach akzeptiert?«, platzte ihre Mutter heraus. Das musste Marin ihr lassen – immerhin hatte sie bis zur Nachspeise an sich gehalten.

»Setz ihr nicht so zu, Blythe«, sagte ihr Vater, ohne dem Teller vor sich Beachtung zu schenken. Marin dagegen verschlang ein halbes Tortenstück in zwei Riesenbissen. Mit vollem Mund sollte man schließlich nicht reden.

»Die Frage drängt sich doch auf, Kip. Ich meine, wenn man zwei Jahre zusammen ist, ein gemeinsames Leben plant … das ist doch nicht plötzlich null und nichtig.« Marins Mutter betastete ihre aschblonde Frisur, als hätte allein der Gedanke an solch einen Schlamassel sie zerwühlt. »Bist du deiner Sache ganz sicher? Ich will nur nicht, dass du etwas tust, was du später bereust.«

Marin nickte. Ja, sie war sich sicher. Mit einem Mann wie Greg Harper machte man nicht aus einer Laune heraus Schluss.

»Tausend Dank für das Essen. Echt. Macht’s gut, ihr zwei«, sagte Marin und checkte unwillkürlich noch einmal ihr Handy.

»Du willst doch nicht schon los?«, fragte ihre Mutter.

»Lass sie doch, Blythe. Wie ich Marin kenne, legt sie vermutlich zu Hause noch eine Nachtschicht ein.« Ihr Vater zwinkerte ihr zu wie ein Verschwörer.

»Also, sie muss aber auch lernen, mal zu entspannen. Ganz im Ernst, Marin: deine Prioritäten …«

»Liegen genau da, wo sie liegen sollten«, sagte ihr Vater.

»Es war einfach eine lange Woche«, sagte Marin. »Und wir treffen uns ja morgen zum Frühstück.«

Wieder wechselten ihre Eltern diesen seltsamen Blick.

Marin gab beiden einen Gutenachtkuss.

Draußen sog sie die warme Frühlingsluft in sich ein, dann winkte sie einem Taxi. Es war, als hätte sie zum ersten Mal an diesem Abend Atem geholt.

Blythe Bishop fröstelte in dem eisigen Foyer des Plaza Hotel.

Trennungen kommen nun mal vor. Mehr hatte ihre Tochter zu dem Thema nicht zu sagen? Ach, was dachte sie da? Blythe schlang die Arme um sich und suchte Trost in dem eleganten Ambiente.

Ja, Trennungen kamen vor. Gestern hatte Marin noch einen Diamanten von drei Karat an ihrem linken Ringfinger getragen, bereits eine Anzahlung für eine Hochzeits-Location geleistet und geplant, in der kommenden Woche mit ihrer Mutter auf Kleidersuche zu gehen. Und jetzt? Mit alldem war es jetzt einfach … vorbei?

Marin war zu karrierefixiert. Das war das Problem.

Dreißig und Single. Ja, Blythe wusste, dass es altmodisch war, darin etwas Schlechtes zu sehen. Aber von Marins früheren Freundinnen waren die meisten bereits verheiratet, bewohnten große, schöne Häuser in Penn Valley und bekamen die ersten Kinder, hatten Bürostunden und Karrierestress weit hinter sich gelassen. War es so verkehrt, sich das Gleiche für ihre eigene Tochter zu wünschen?

»Du musst Marin mehr vertrauen«, sagte Kip. »Jeder ist seines Glückes Schmied.«

»Wenn sie doch nur mehr davon verlauten ließe, wie das mit Greg passiert ist. Auch wenn sie die Sache beendet hat, kann es nicht leicht für sie sein. Sie haben schließlich schon die Einladungen in Auftrag gegeben.«

»Das ist nicht unsere Angelegenheit«, sagte Kip und ging zügig zum Lift. Sie folgte ihm in die Kabine, wo jeder auf einen anderen Knopf drückte.

»Da wir ihre Eltern sind, ist es sehr wohl unsere Angelegenheit.« Nach zweiunddreißig Jahren verstand sie immer noch nur die Hälfte von dem, was dieser Mann von sich gab.

»Marin hatte den Mumm, Schluss zu machen, weil sie wusste, dass die Beziehung für sie nicht das Richtige war. Sie lässt sich nicht unterkriegen.« So wie ich, las sie seine Gedanken. Und im Gegensatz zu dir.

»Ich mache mir Sorgen, dass sie letztlich allein durchs Leben gehen wird«, sagte Blythe.

»Vielleicht will sie genau das. Es ist ihr Leben.«

Die Tür gab den Weg zur siebten Etage frei. Kips Etage.

»Das ist so komisch«, sagte sie und folgte ihm unaufgefordert aus dem Lift. »Kip, es fühlt sich einfach nicht richtig an.«

Sie stand in dem stillen Flur und zwinkerte, um die Tränen zurückzuhalten.

Kip kratzte sich mit der Schlüsselkarte am Kinn. Er wirkte untypisch müde.

»Schluss mit dem Aufschieben, Blythe. Wir müssen es ihr sagen.«

»Aber gerade jetzt ist nicht der beste Zeitpunkt, um …«

Kip hob die Hand, als wollte er den Straßenverkehr zum Stillstand bringen. »Stopp. Ich will nichts davon hören. Die Trennung von Greg ändert gar nichts. Morgen beim Frühstück sagen wir es ihr.«

Damit drückte er auf den Knopf, die Tür des Lifts öffnete sich wieder. Fall abgeschlossen.

Kapitel 2

Das Taxi hielt an der Ecke 68. Straße und Lexington Avenue. Nach dem langen Winter standen nun, im Mai, die Bäume in voller Blüte. Es war ein herrlicher Frühlingsabend, und Marin hatte die erste Hürde geschafft.

Nur der Gedanke, dass sie ihn heute noch sehen würde, hatte sie das Dinner überstehen lassen. Ihre Eltern meinten es gut, das wusste sie, aber Herrgott – was sollte sie sagen? Ich habe meine Verlobung gelöst, weil ich einen anderen kennengelernt habe und mich noch nie in meinem Leben jemand körperlich so angezogen hat? Sie wusste nicht, was schlimmer war: der Gegenstand ihrer Sorge zu sein oder mit ihrer Enttäuschung fertigzuwerden, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte.

Sie klingelte bei dem schicken Stadthaus an der Ecke. Ihr Blick ruhte auf ihrem nackten Ringfinger. Es war immer noch verstörend, ihn dort nicht mehr zu sehen – den Diamantring von Tiffany, den Greg Harper ihr drei Tage vor Thanksgiving angesteckt hatte, in One if by Land, Two if by Sea, dem ebenso charmanten wie permanent ausgebuchten New Yorker Restaurant, das dank eines Besuchs von Obama und seiner Frau zu Ruhm gelangt war. Marin hatte den Ring fast ein halbes Jahr getragen und nach ihrem Jawort aufrichtig vorgehabt, ihn ein Leben lang nicht mehr abzulegen.

Was würde Julian sagen, wenn sie ihm von der gelösten Verlobung erzählte?

Er trug noch seinen Büroanzug, allerdings ohne Krawatte. Seine Brille, die er zum Lesen aufsetzte, verriet ihr, dass sie ihn bei der Arbeit unterbrochen hatte. Marin bekam Gewissenbisse. Sie hätte ebenfalls arbeiten sollen. Eine Nachtschicht einlegen, wie ihr Vater es ausgedrückt hatte. Stattdessen lenkte sie Julian ab. Und ließ sich von ihm ablenken.

Mit gerade mal zweiunddreißig Jahren war Julian Rowe der jüngste Partner der Kanzlei, von der Marin seit ihrem Studium träumte: Cole, Harding and Worth. Er hatte seine Karriere mithilfe von Firmenfusionen und -übernahmen aufgebaut und war als junger Mitarbeiter bei einigen der bahnbrechendsten Prozesse der jüngeren Vergangenheit beteiligt gewesen. Vor ein paar Monaten, zwei Jahre nach ihrem Einstieg in die Kanzlei, war Marin seinem Team zugewiesen worden, das an der Fusion eines Pharma-Giganten und eines kleinen, aber extrem profitablen Unternehmens arbeitete, das DNA-Tests zur Privatanwendung vertrieb.

Es gab fast zu viel zu arbeiten und zu lernen, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, dass Julian Rowe ein schöner Mann war.

Fast.

Als sie ihn zum ersten Mal sah – hochgewachsen, Haare und Augen tiefdunkel –, schoss ihr das Wort irre durch den Kopf. Seine Nase war perfekt gemeißelt wie die des jungen Clint Eastwood, und er sprach leicht distanziert, als hätte sein brillanter Verstand kaum Zeit, um innezuhalten und die Information zu übermitteln – war er innerlich doch schon beim nächsten Punkt angelangt. Von seinen ersten zwölf Lebensjahren in Nordlondon war ihm ein leichter britischer Akzent geblieben. Er war so durch und durch seriös, dass es fast schon wehtat.

Marin begehrte ihn – sofort und auf der Stelle. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine derart pure körperliche Anziehung erlebt. In der Kanzlei stand sie ständig unter Strom, war vollgepumpt mit Adrenalin, nahm alles intensiver wahr. Sie fühlte sich wie ein einziger bloßliegender Nerv. Wenn Julian mit ihr redete, vermochte sie sich nur mit größter Mühe auf das zu konzentrieren, was er sagte, statt einfach auf seine Lippen zu starren. Am Konferenztisch beugte sie sich zu weit zu ihm vor. Sie konnte kaum noch schlafen, wollte immer nur so bald wie möglich zurück in die Kanzlei.

Und zugleich plante sie ihre Hochzeit.

»Wie geht’s dem Geburtstagsmädchen?«, fragte er, nachdem sie im Haus war, und küsste sie. Dann hängte er ihren leichten Kaschmirumhang in den Garderobenschrank.

»Jetzt schon besser«, hauchte sie, von seinen Armen umschlungen.

»Es hat mich gewundert, dass du dich gemeldet hast. Wie bist du losgekommen? Warst du nicht mit deinen Eltern zum Abendessen und …«

»Lange Geschichte«, sagte sie.

Julian hatte vor Jahren alle drei Etagen des Stadthauses von einer Promi-Witwe gemietet, die nach Palm Beach gezogen war. An ihrem ersten Abend dort hatte Marin zu Julian gesagt, von so einem Haus habe sie immer geträumt.

»Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, gebe ich ein Angebot darauf ab«, sagte er.

»Wieso nimmst du an, dass sie es verkaufen wird?«

»Ich bin Anwalt. Ich weiß, wie man so was sondiert.«

»Ich nicht, und ich bin auch Anwältin.«

Bei seinem eindringlichen Blick blieb ihr wie üblich fast das Herz stehen. »Das kann ich kaum glauben. Du wirkst wie eine Frau, die sich zu dem verhilft, was sie will.«

An jenem Abend hatte sie gedacht, sie würde das Haus nie wieder betreten. Ja, sie hatten miteinander geschlafen. Aber das war bloß eine einmalige Sache – sozusagen, um dem Ganzen ein Ende zu setzen.

Natürlich gab es nach dieser ersten Nacht kein Zurück mehr. Wie naiv anzunehmen es hätte anders sein können.

Beim Gedanken an die Miene ihrer Mutter angesichts der Mitteilung, dass die Hochzeit geplatzt war, zuckte sie zusammen.

»Halt dir die Augen zu«, sagte Julian und nahm sie bei der Hand.

»Wieso? Was hast du vor?« Seine verspielte Seite kannte sie erst seit den letzten ein, zwei Wochen ihrer nunmehr zweimonatigen Beziehung. Was immer er von sich preisgab – eine neue Facette seiner selbst, eine liebenswerte Eigenart, Einzelheiten aus seiner Kindheit und Jugend –, war wie ein kostbares Geschenk für sie. Sie wollte nichts weiter, als ihn in- und auswendig zu kennen, und das Gefühl, dass er ihr allmählich mehr vertraute, sich ihr öffnete, war berauschend.

Er befahl ihr nochmals, sich die Augen zuzuhalten, und führte sie durch die Räume.

»Okay – jetzt kannst du gucken.«

Sie waren im Wohnzimmer. Ein Flackerlicht stach ihr ins Auge – eine Kerze in einem Schokoladen-Cupcake auf einem antiken Beistelltisch.

»Ach, Julian«, sagte sie und küsste ihn.

»Ich wusste ja nicht, dass ich schon heute mit dir feiern würde. Das hatte ich für einen der nächsten Abende eingeplant.«

»Du hättest gar nichts auf die Beine stellen müssen. Wirklich nicht. Ich wollte dich einfach nur sehen.«

Die Kerze verlangte nach Beachtung. Da Marin wusste, dass Julian ihr nicht mit abgeschmackten Klischees wie Wünsch dir was kommen würde, beugte sie sich über den Tisch und blies die Kerze sacht aus. Er goss ihr ein Glas Wein ein, und sie rollte sich auf der edlen Ledercouch zusammen. Von dort aus sah sie zu dem Glastisch hin, auf dem inmitten von Aktenordnern zwei Laptops standen.

»Arbeitest du an der Sache mit Genie?«

Er nickte. »An was wohl sonst. Aber ich habe es bald im Kasten.«

Das DNA-Test-Unternehmen Genie belegte Julian vollständig und Marin weitgehend mit Beschlag. Außerdem hatte es sie beide von der erotischen Spannungszone in die Sexzone geführt.

Dazu kam es während einer schier endlosen Reihe von Abenden, an denen sie bis in die Puppen an der Fusion von Genie arbeiteten. Marins Verlobter, der ihre Überstunden normalerweise gelassen nahm, begann sich zu beschweren. Seine Ungeduld angesichts ihrer kargen Freizeit war nur zu verständlich, ärgerte Marin aber dennoch. Und brachte sie dazu, ihre Zustimmung zu seinem Antrag noch einmal zu überdenken. Genau wegen solcher Dinge war sie nie scharf aufs Heiraten gewesen – von Kindern ganz zu schweigen. Greg wollte ebenfalls keine Kinder – eine Sorge weniger. Man konnte nun mal nicht alles haben. Und sie wusste seit früher Jugend, dass sie auf Erfolg aus war. So wie ihr Vater.

Mochte Greg noch so sehr beteuern, dass er ihr Arbeitsethos unterstützte – sie strapazierte seine Geduld, das war ihr klar. Darum beschloss sie eines Mittwochabends um halb zehn, sich vom Computer loszueisen und es für heute gut sein zu lassen. Vor dem Aufbruch machte sie jedoch noch kurz Halt bei Julians Büro, um einen Karton mit Akten abzuliefern – was sie ebenso gut dem internen Zustelldienst am folgenden Morgen hätte überlassen können. Doch Julians Wirkung auf sie war so stark wie die Erdanziehungskraft.

Ich schaue nur kurz vorbei, und dann gehe ich. Nach Hause zu meinem Verlobten, dachte sie, mit Blick auf ihren Ring.

Vielleicht würde sie gar nicht mit Julian reden. Ihm nur zuwinken, den Karton abstellen und kehrtmachen. Doch dann, in seinem Büro im achten Stock, von dem man das lila beleuchtete Empire State Building sah, traf sie ihn bei einer Beschäftigung an, die sie förmlich zu der Frage zwang:

»Warentests?« Sie hätte als Erste eingeräumt, dass ihr Lächeln zu kokett war.

Vor ihm auf dem Schreibtisch stand ein Test-Set von Genie. Das Logo auf der Verpackung, das einen rotgrünen DNA-Strang darstellte, war unverwechselbar. Dutzend weitere stapelten sich andernorts im Büro. Es war üblich, dass Kunden die Kanzlei mit Probepackungen beschenkten. Doch für Marin stellte das DNA-Test-Set eines der weniger verlockenden Angebote dar.

Julian sah das offenbar anders. In einer Hand hielt er das Teströhrchen aus Plastik mit abnehmbarem Deckel, in der anderen die Gebrauchsanweisung. Als er Marin in der Tür stehen sah, hob er das Röhrchen empor, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen.

»Ja. Sie fragen mich immer wieder, ob ich schon selbst einen Test gemacht habe. Ich empfinde wohl so etwas wie eine berufliche Verpflichtung dazu. Und auch ein bisschen Neugier, zugegeben.«

Marin trat zum Schreibtisch und griff nach dem leeren Pappkarton von Genie, dankbar für das Requisit. Sie wusste, dass sie eine gewisse Grenze überschritt, aber sie konnte nicht anders. Es war, als beobachte sie von ferne das Tun und Treiben einer fremden Person.

Lächelnd hielt er ihr den auf Hochglanzpapier gedruckten kleinen Beipackzettel hin. Sie brauchte ihn nicht zu studieren; wie die Sache funktionierte, wusste sie noch von ihrer ersten Besprechung mit Genie: Man musste lediglich eine Speichelprobe einschicken und bekam einige Wochen später per E-Mail die Ergebnisse. Bei so viel Benutzerfreundlichkeit war es kein Wunder, dass das Unternehmen boomte und für einen milliardenschweren Käufer attraktiv geworden war.

Als sie den Zettel nahm, berührten sich ihre Fingerspitzen sacht. Sie schluckte schwer und tat, als läse sie die Packungsbeilage, doch die Worte verschwammen vor ihren Augen. Geh einfach nach Hause.

»Sie sollten es auch mal versuchen«, sagte er.

»Wirklich?«

»Sie gehören schließlich zum Team.« Er lächelte, und aus seinen tiefschwarzen Augen sprach eine Herausforderung, die – kühne Vorstellung – ebenfalls an einen Flirtversuch denken ließ.

Und in ihrem momentanen Zustand, aufgekratzt von der Begegnung, bei der das Berufliche in den Hintergrund getreten war, ließ Marin sich nur zu gern darauf ein.

An diesem Abend geschah nichts weiter, doch seither schien sich etwas verändert zu haben – als teilten sie nunmehr ein Geheimnis. Und so war es auch: Sie fanden einander anziehend. Und das würde ein Geheimnis bleiben müssen, selbst wenn sie nicht mit einem anderen verlobt gewesen wäre, denn Beziehungen jedweder Art zwischen Partnern und Mitarbeitern waren absolut tabu. Da kannte die Kanzlei kein Pardon.

Dies war für Anwaltskanzleien nichts Ungewöhnliches, doch bei Cole, Harding and Worth achtete man besonders empfindlich darauf, und zwar seit dem »Vorfall« vor zwei Jahren anlässlich eines sommerlichen Umtrunks: Ein Seniorpartner hatte einer jungen Frau mitgeteilt, er wolle sie auf sieben verschiedene Arten ficken. Die Frau verschaffte sich öffentliches Gehör. Zum ersten Mal in ihrer fünfzigjährigen Geschichte fand die stolze Kanzlei nicht im Wall Street Journal, sondern auf der Klatschseite der New York Post Erwähnung.

Der Partner hatte seinen siebenstellig dotierten Job gegen eine Dozentenstelle an der City University von New York eingetauscht, und die übrigen Mitarbeiter hatten eine Woche Sensitivity-Training sowie ein Seminar zum Thema sexuelle Belästigung über sich ergehen lassen müssen. Seitdem galt das Null-Toleranz-Prinzip.

Dennoch kamen Julian und sie nicht voneinander los, sosehr sie sich auch bemühten. Keine Woche nach dem Gespräch über Genie lud er sie zu sich nach Hause ein. Beide bekannten sich zu ihrer wechselseitigen körperlichen Anziehung und waren sich einig, dass die Situation »entschärft« werden müsse.

An jenem Abend kamen sie über den Flur nicht hinaus. Der gut aussehende, reservierte, professionelle Julian Rowe fickte ohne Rücksicht auf Verluste. Danach pochte ihr Körper von Kopf bis Fuß. Ineinander verschlungen lagen sie auf dem Boden und unterhielten sich unverbindlich über das fantastische Haus, das er gemietet hatte und gern kaufen wollte. Und dann zwang sie sich zurück in ihre Kleider, zurück zu der Wohnung, in der sie mit ihrem Verlobten lebte.

Es war grundverkehrt, aber sie konnte nicht damit aufhören. Wenn sie alles gegeneinander abwog, fiel ihr die Vorstellung leichter, Greg zu verlassen, als sich von Julian fernzuhalten. Und sobald sie sich das eingestand, war die Entscheidung gefallen.

»Marin«, sagte Julian nun.

Sie fuhr hoch. »Entschuldige. Ich hab bloß nachgedacht …«

»Was denkt denn Greg, wo du gerade bist? Ich will nicht, dass du dir Ärger einhandelst.«

Sie spielte mit dem Papierförmchen des Cupcakes und leckte sich Schokoladenglasur vom Daumen. Ihr Herz hämmerte.

»Ich habe mit Greg Schluss gemacht.« Ihr war bang davor, ihn anzusehen – wie würde er diese Neuigkeit aufnehmen? Als er nichts sagte, musste sie sich wohl oder übel seinem Blick stellen, um seine Reaktion daraus abzulesen.

Sie wirkte nicht positiv.

»Irritiert dich das?«

»Nein.« Er erhob sich und lief auf und ab. »Aber das mit uns sollte nicht eure Beziehung zerstören, Marin. Es war als etwas Vorübergehendes gedacht, zwei Erwachsene, die aufeinander stehen und Dampf ablassen. Ich meine, wir arbeiten zusammen. Wir können kein Paar sein.«

Vor Enttäuschung wurde ihr flau im Magen. »Na schön«, fuhr sie ihn an. »Trotzdem kann ich niemanden heiraten, den ich nicht liebe. Es hat also nichts mit dir zu tun, falls dich das irgendwie beruhigt.«

»Jetzt sei nicht sauer auf mich. Ich glaube, du hast da was in den falschen Hals gekriegt.« Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Hör zu, ich bin verrückt nach dir. So ist es – und das weißt du auch.« Er küsste sie. »Das eben hat mich nur ein bisschen überrascht. Und wir müssen vorsichtig sein.«

»Das ist mir klar! Ich will nicht, dass die Sache irgendwie eskaliert. Ich kann bloß nicht mit einer Lüge leben.«

»Hut ab, Marin. Hut ab.« Er umarmte sie. »Das war bestimmt nicht leicht.«

Allerdings nicht. Greg hatte es übel aufgenommen und sie in seiner Wut mit allen Schimpfnamen belegt, die sie verdient hatte – und dabei wusste er das Schlimmste noch gar nicht, nämlich dass sie eine Affäre hatte. In seinem ganzen Leben war Greg Harper noch nie gescheitert, hatte sich nie geschlagen geben müssen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie nach dem Grund zu fragen oder nachzuforschen, ob sich die Beziehung nicht doch irgendwie retten ließ. Marin nahm ihm etwas weg. Tat ihm etwas an, über das er keine Kontrolle hatte. Sein Gesicht zu verlieren empörte ihn eindeutig mehr, als Marin zu verlieren. Wer auch immer gesagt hatte, die Hölle selbst könne nicht so wüten wie eine verschmähte Frau – derjenige hatte eindeutig noch nie einen Alpha-Rüden abgefertigt.

Es war hässlich gewesen, aber die Art, wie es sich abspielte, bestätigte sie nur in ihrem Entschluss.

Jetzt war es endgültig. Und Julian hatte die Wahl, darin einen Dämpfer oder etwas Positives für ihre Beziehung zu sehen. So oder so kam es ihr vor, als wäre eine Last von ihr abgefallen.

Marin stand auf. »Ich sollte dann mal los. Danke für das Geburtstagstörtchen.«

Er griff nach ihrer Hand.

»Geh nicht weg. Bleib hier.«

Mit Schrecken spürte sie Tränen in ihren Augen brennen. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie verzweifelt sie genau das hatte hören wollen.

Kapitel 3

Blythe erwachte um kurz vor sechs, zwei Stunden, bevor ihr Wecker losging. Das überraschte sie nicht. Einen Monat nach der Trennung von Kip war es für sie immer noch ungewohnt, allein zu schlafen. Dazu noch ein fremdes Hotelzimmer – die passenden Zutaten für eine zermürbende Nacht mit viel Hin-und her-Wälzen.

Sie blinzelte in der Finsternis und streckte sich in dem Riesenbett ihrer Suite aus. Die Verdunkelungsvorhänge waren zugezogen und ließen kein Fünkchen Licht durch. Obwohl die Sonne gerade erst ihren Aufstieg begann, wusste Blythe, dass Midtown rund um die Uhr wach und munter war; sie brauchte nur auf die Fifth Avenue zu treten und dem Tag ins Auge sehen.

Aber sie wollte dem Tag nicht ins Auge sehen – nicht, wenn das hieß, ihrer Tochter mitzuteilen, dass Kip sie nach mehr als dreißig Ehejahren um die Scheidung gebeten hatte.

Als Kip vor vier Wochen aus dem Haus in der Wynnewood Lane, das sie als Frischvermählte gekauft hatten, ausgezogen war (unter Hinterlassung seiner Kleider, seiner Golfausrüstung und seiner Scotch-Kollektion), hatte sie fest mit seiner Rückkehr gerechnet. Er wohnte zur Untermiete in einem Stadthaus in Oak Hill, aber das würde er bald leid sein. Sie kannte Kip, sie kannte ihn durch und durch. Ja, sie hatten Probleme in ihrer Ehe, aber das war nun wirklich nichts Neues. Warum also plötzlich Scheidung? Warum gerade jetzt?

War es Zufall, dass er im Gefolge von Marins Verlobung erstmals den Wunsch nach einer Trennung ausgesprochen hatte? Hatte er den Drang dazu bis dahin unterdrückt, weil er glaubte, ihre erwachsene Tochter bräuchte sie immer noch als Paar? Hatte ihre bevorstehende Hochzeit, der erste Schritt zur Gründung einer eigenen Familie, ihn irgendwie von dieser Verpflichtung entbunden?

Falls ja, bot die geplatzte Verlobung dann nicht die ideale Gelegenheit, innezuhalten und die Sache noch einmal zu überdenken?

Morgen beim Frühstück sagen wir es ihr. Schluss mit dem Aufschieben.

Sie brachte es nicht über sich. War nicht bereit, die Niederlage einzugestehen.

Ihr Blick schweifte zum Wecker auf dem Nachttisch. Kurz nach sechs. Kip hatte sein Lebtag nie länger als bis sechs geschlafen.

Blythe sparte sich die Mühe, Make-up aufzulegen, auch wenn die dunklen Ringe unter ihren Augen zumindest ein bisschen Concealer hätten vertragen können. Aber da ihr nun die Idee gekommen war, mit Kip zu reden, wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Am Ende war er schon halb auf dem Weg zum Fitnessbereich des Hotels? Sie schlüpfte in ihre herzlich wenig zum Einsatz gelangenden Yogapants, in den Kapuzenpulli mit dem Logo von Yale, den sie seit Marins erstem Jahr am College besaß, und in ihre Uggs.

Sie drückte den Knopf für Kips Stockwerk und ging in Gedanken noch einmal alles durch. Es besteht kein Grund zur Eile, wir können es Marin auch erst später sagen. Wir haben ja selbst die Einzelheiten noch gar nicht besprochen. Natürlich wusste sie schon jetzt, was er darauf antworten würde. Da gibt es nichts zu besprechen. Du behältst das Haus. Was immer du sonst brauchst

Ich brauche dich, dachte sie. Doch das hatte sie bisher nicht ausgesprochen – weder laut noch ihm gegenüber. Aber an diesem Morgen würde sie es tun.

Denn es stimmte ja – hatte immer gestimmt, solange sie sich erinnern konnte. Selbst zu den Zeiten, als sie ihn nicht begehrte. Begehren und Bedürfen sind zweierlei. Was hatte irgendein Philosoph noch mal gesagt? Ersetzt das Wort Bedürfen durch Liebe, und ich zeige euch die wahren Ausmaße der Liebe. Irgendwas in der Richtung. Sie hatte nicht Philosophie studiert. War nicht aufs College gegangen. Hatte Kip geheiratet.

Blythe tappte im siebten Stock durch den Flur, vorbei an zwei Geschäftsleuten im Anzug, bog um die Ecke und stand schließlich vor Kips Tür.

Sie wartete kurz, ignorierte dann das »Bitte nicht stören«-Schild am Türknauf und klopfte.

Keine Antwort.

Blythe klopfte erneut, diesmal etwas unsicherer. Eine Hotelangestellte schob einen Wagen mit Laken und Handtüchern an ihr vorbei. Blythe wartete, bis sie halb durch den Flur war, und klopfte dann ein drittes Mal. Vielleicht war er ja schon im Fitnessbereich des Hotels. Traute sie sich, ihn dort aufzuspüren? Doch da hörte sie Metall an Metall schaben, und die Zimmertür wurde aufgesperrt. Zu ihrer Überraschung verspürte Blythe Herzrasen – etwas, das sie für Kip schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.

Ihr Mann öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. Er war noch im Nachthemd – das blassblaue, das sie ihm letztes Weihnachten geschenkt hatte –, und seine Augen waren vom Schlaf verquollen.

»Alles okay mit dir?«, fragte sie, weil Krankheit die einzig mögliche Erklärung dafür war, dass er sich nicht schon munter tummelte.

»Blythe, was zum Teufel tust du hier um diese Zeit?«, fragte er im Flüsterton zurück.

Um diese Zeit? Hatte sie sich etwa vertan? Ihr schoss die Röte ins Gesicht, als sie auf ihre Armbanduhr sah, halb in Erwartung, dort 4:15 statt 6:15 angezeigt zu sehen.

»Es ist doch schon nach sechs«, sagte sie.

»Kip? Wer ist denn da?« Eine weibliche Stimme. Aus dem Hotelzimmer von Blythes Ehemann.

Blythe erstarrte. Kip antwortete auf die Frage, aber was genau er sagte, konnte Blythe im ersten grellen Schock beim besten Willen nicht verstehen. Er trat auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich.

»Tut mir leid«, sagte er und rieb sich die Stirn. »Ich hätte es dir eher sagen sollen. Aber du hast dich ja schon mit der Vorstellung einer Scheidung so schwergetan. Da wollte ich nicht alles auf einmal angehen.«

Die erste Gereiztheit war aus seinem Blick verschwunden.

»Heißt das, du … liebst sie?«, fragte sie.

»Ja.«

Als Marin das Foyer des Plaza betrat, strotzte sie vor Energie, obwohl sie nur ein paar Stunden geschlafen hatte.

Julian freute sich, dass sie frei war. Sie freute sich, dass sie frei war. Jetzt konnte sie die Gesellschaft ihrer Eltern ganz anders genießen als am Abend zuvor.

Sie entdeckte ihren Vater, der graue Hosen und einen leichten Pullover im Argyle-Muster trug. Mit seinen eins fünfundachtzig, dem dichten, grau melierten Schopf und den strahlend blauen Augen war er eine umwerfende Erscheinung. Marin hatte sich immer gewünscht, ihm ein wenig zu ähneln, aber sie schlug nach den Madigans, der mütterlichen Seite. Wobei ihre Mutter sich in puncto Aussehen durchaus nicht verstecken musste: Sie war eine ausgesprochen hübsche Frau mit hohen Wangenknochen, tief liegenden haselnussbraunen Augen und vollen Lippen. Doch Marin waren die feineren, klassischen Gesichtszüge der Bishops immer erstrebenswerter erschienen.

»Wo ist denn Mom?«, fragte sie, als sie vor ihrem Vater stand, und sah sich um. Im Foyer wimmelte es von an- und abreisenden, gut betuchten Gästen sowie von Pagen, die schwer mit Gepäck beladene Messingkarren schoben.

»Sie hat scheußliches Kopfweh«, sagte er.

»Ach herrje! Soll ich schnell rauf zu eurem Zimmer gehen und nach ihr schauen?«

»Nein, nein – sie ruht sich gerade aus«, gab er zurück und wandte den Blick ab.

»Bist du sicher?« Marin packte das schlechte Gewissen. Ihre geplatzte Verlobung machte ihre Mutter buchstäblich krank. Sie, Marin, musste unbedingt mal wieder nach Philadelphia fahren, zu einem Mutter-Tochter-Lunch. Und Blythe in die Geschichte mit Julian einweihen.

»Ja. Sie lässt dich grüßen und fühlt sich ganz mies, aber sie meinte, du solltest dich einfach später bei ihr melden.«

»Na gut – wie ist es, willst du hier frühstücken, oder sollen wir woandershin gehen? Ein paar Straßen weiter gibt es ein nettes …«

»Marin, ich möchte etwas mit dir besprechen.« Er wirkte ernst. Streng.

Marins erster Gedanke war: Woher weiß er, dass ich etwas mit jemandem aus meiner Kanzlei habe? Die Juristenszene war klein, insbesondere innerhalb der drei Eckpunkte New York, Philadelphia und Boston. Bestimmt war er mordsenttäuscht von ihr und ihrem unprofessionellen Verhalten!

Sie wagte ihm nicht in die Augen zu sehen. »Ist alles okay?«

Er nickte, die Arme vor der Brust verschränkt. »Deine Mutter und ich lassen uns scheiden.«