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Zum Buch

»Ein Sommer auf Capri. Persönliche Assistentin für Recherche- und Schreibarbeiten gesucht«.

Isa ist an einem Tiefpunkt angekommen, als sie diese Anzeige liest. Also packt sie ihre Koffer, fliegt nach Italien und trifft die glamouröse Schriftstellerin Mitzi, die mit 75 Jahren ihre Memoiren aufschreiben will. Im Schatten der Zitronenbäume findet Isa langsam ihre Leichtigkeit wieder. Mitzi dagegen wird immer aufgewühlter. Denn in ihrer Erinnerung wird ein Sommer vor sechzig Jahren lebendig. Und eine große Liebe, die immer unerfüllt blieb.

Zum Autor

Emma Sternberg wurde 1979 in Hamburg geboren. Nach acht Semestern Medienwissenschaft hat sie einen Job beim Radio bekommen und ihre Magisterarbeit nie zu Ende geschrieben, was sie bis heute bereut – wenn auch nur ein bisschen.

E M M A S T E R N B E R G

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Originalausgabe 06/2018

Copyright © 2018 by Emma Sternberg

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Steffi Korda

Umschlaggestaltung: © Eisele Grafikdesign, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-21104-2
V002

www.heyne.de

1

HEUTE IST DER dreißigste April 2017, draußen blühen die Bäume, und vor ganz genau einem Jahr endete mein Leben. Nicht dass ich gestorben wäre, im Gegenteil – angesichts dessen, wie ich mich innerlich fühle, bin ich geradezu erschreckend lebendig: Ich höre nach wie vor jeden Morgen Radio, bekomme immer noch schwitzige Hände, wenn ein Kontrolleur meine Fahrkarte sehen will, und gerate jeden Abend außer Atem, wenn ich die Treppe zurück in den vierten Stock hinaufsteige, wo meine kleine Altbauwohnung liegt. Ich wechsle täglich meine Unterwäsche, putze morgens und abends Zähne, nehme Multivitamintabletten, koche zu große Portionen Pasta, atme, verdaue, menstruiere. Sogar meine Haare wachsen immer weiter, zumindest muss ich spätestens alle drei Monate zum Friseur.

Aber mein Leben, wie ich es kannte? Das ist vorüber.

Bis vor einem Jahr wäre ich zum Beispiel nie, nie, niemals an einem Sonntagmorgen ins Café Brel geflüchtet, bloß um nicht allein zu Hause sein zu müssen. Noch vor einem Jahr wäre ich sonntags entweder ins Fitnessstudio gegangen, um meine vierzig Minuten auf dem Crosstrainer zu absolvieren, oder Alex und ich hätten Freunde zum Frühstück eingeladen – Anni und Peter oder Evelyn und Jo oder alle gemeinsam. Bei gutem Wetter hätten wir vielleicht einen Ausflug gemacht, aber wahrscheinlich wären wir einfach zu zweit im Bett geblieben und hätten das wohlige Gefühl genossen, dass nichts da draußen so wichtig war, als dass wir dafür hätten die warmen Federn verlassen müssen. Wir hätten gekuschelt und Zeitung gelesen, über Alex’ iPad gebeugt den nächsten Urlaub geplant oder zärtlich darüber gestritten, wie wir unseren Sohn oder unsere Tochter nennen würden, wenn es eines Tages – möglichst bald – so weit wäre. Irgendwann wäre Alex vielleicht aufgestanden, um uns Cappuccino zu machen und etwas Leckeres aus dem Kühlschrank zu holen, der mit allen Köstlichkeiten der Welt gefüllt war: frisch gepresster Orangensaft und Schokopudding, Käse und gesalzene Butter aus dem kleinen französischen Käseladen in der Vorbergstraße, Parmaschinken und Mortadella, halbe Ananas, kleine Kressebeete und knackiges Gemüse. Später hätte er sein Fahrrad aus dem Keller geholt, um bis an die Stadtgrenze und wieder zurück zu fahren, und ich wäre mit ein paar neuen Büchern aus dem Laden vom Bett aufs Sofa umgezogen, um den Nachmittag über nach Lektüreschätzen zu suchen, die ich meinen Stammkunden in der nächsten Woche empfehlen würde.

So sah mein Leben einmal aus: Ich hatte einen Mann, den ich liebte. Einen Job, auf den ich mich am Morgen freute. Und Pläne für die Zukunft. Ich machte Sport, traf mich so oft es ging mit meinen besten Freundinnen und hatte Rohmilch-Camembert im Kühlschrank.

Und jetzt? Habe ich nichts mehr von alledem. In unserer einst gemeinsamen Wohnung lebe ich seit einem Jahr allein. Im Fitnessstudio war ich nicht mehr, seit die Buchhandlung, in der ich fast 15 Jahre lang mit Leidenschaft und Herzblut gearbeitet habe, vor acht Monaten plötzlich geschlossen hat. Weil sich Iris, meine Chefin, im zarten Alter von 63 Jahren in einen anderen Buchhändler verliebt hat. Der allerdings seinen Laden nicht in Schöneberg und auch sonst nirgendwo in Berlin hat, sondern in Palma de Mallorca. Wo die beiden seitdem den zahlreichen deutschen Ganzjahres-Mallorquinern Terrassenlektüre verkaufen. Okay, französischen Käse gibt es immer noch in meinem Kühlschrank, aber nur faden Supermarkt-Weichkäse.

Und meine besten Freundinnen? Tja. Die habe ich natürlich auch noch. Und ich habe sie auch immer noch so gern wie niemanden sonst auf der Welt – wir kennen uns schließlich schon ewig! Es ist nur so, dass Anni und Evelyn vor Kurzem Kinder bekommen haben und dann aus unserem Kiez weggezogen sind. Erst Anni: Als sie schwanger wurde, haben Peter und sie verzweifelt eine größere Wohnung gesucht, aber die Mieten sind in den letzten Jahren so stark gestiegen, dass sie sich nicht mal mehr eine neue Zweizimmerbude hätten leisten können. Sie haben hin und her überlegt und sind schließlich allen Ernstes in Lichterfelde-West gelandet, einem Stadtteil, den ich nur kenne, weil dort eine alte Schulfreundin meiner Oma lebte, die ich ein- oder zweimal mit besuchte. Gut, schon klar: Dort haben sie Kinderzimmer, Wohnküche und Gartenanteil, es gibt immer einen Parkplatz vor der Tür, und die S-Bahn-Anbindung ist auch nicht so übel. Aber für mich bedeutet das, dass ich, wenn ich mal einen Kaffee mit ihr trinken will, eine halbe Weltreise unternehmen muss. Und ich kann nicht mal mehr auf Evelyn ausweichen, denn die hat kurz darauf nachgezogen, und zwar in wirklich jeder Hinsicht: Schwangerschaft, Wohnungssuche, nach Lichterfelde-West. Seither streune ich durch meinen Kiez wie eine ausgesetzte Hündin, während die beiden gemeinsam ihre Hightech-Kinderwagen durch den Schlosspark schieben und über Babyphone-Apps, Schlafprobleme und die horrenden Honorarvorstellungen mäßig mobiler Granny-Nannys diskutieren.

Natürlich bemühe ich mich nach Kräften, weiterhin Anteil an Annis und Evelyns Leben zu nehmen: Ich rufe regelmäßig an, erkundige mich nach dem aktuellen Stand von Kita-Suche, Durchschlafproblemen und Windeldermatitis, interessiere mich für Beikost und erste Trotzattacken und diskutiere leidenschaftlich mit, wenn sich die Frage stellt, wie man einem unwilligen Baby Antibiotika einflößt. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt, fahre ich sogar raus zu ihnen, schiebe Kinderwagen, halte Decaf-Cappuccino-Becher, positioniere Sonnensegel. Aber irgendwie … bin ich halt nur eine gute Freundin ohne Kinder und keine Vollblutmami wie sie. Ich kann ein Baby zwar halten, es schaukeln, ihm sogar Fläschchen geben, und natürlich sind sie nach wie vor meine alten Mädels, und sie fangen auch so langsam wieder an, sich neben den Kindern für ihre Jobs, den Weltfrieden und die Frauenquote zu interessieren – trotzdem ist es so, als hätten die beiden einen anderen Raum betreten, während ich immer noch diesseits der Türschwelle stehe und nur ahnen kann, wie es sich auf der anderen Seite anfühlt.

Dabei würde ich es so gerne wissen. Schließlich war ich die von uns dreien, die schon zu Uni-Zeiten so oft über Babys sprechen wollte, dass ich den anderen fast schon peinlich war, wenn wir nachts in irgendwelchen Kneipen saßen und Männer in der Nähe waren.

Und deshalb ist das ganze Kinderthema, so sehr ich die süßen Kleinen von Anni und Evelyn ins Herz geschlossen habe, nicht ganz, na ja – unbelastet.

Ich bin die Frau, die immer Kinder wollte, und Alex, der wollte es genauso. Mindestens zwei, wenn nicht drei Kinder hatten wir uns ausgemalt, für den Anfang. Aber dann … tja. Wir haben es lange probiert, auch mit medizinischer Hilfe, und als irgendwann klar war, dass ich nicht schwanger werden konnte, na ja. Wir haben uns natürlich versichert, dass sich nichts ändern würde, nicht an unserem Leben, nicht an unserer Liebe. Aber natürlich änderte sich etwas: und zwar alles. Und das Wissen darum nahm so viel Raum zwischen uns ein, dass wir nicht mehr zueinanderfanden, so sehr wir auch versuchten, uns am anderen festzuklammern.

Und so sitze ich jetzt, ein Jahr später, alleine im Café und nippe an einem Cappuccino, der nicht halb so gut schmeckt wie der, den Alex mit seiner Maschine zaubern konnte. Aber gut, wegen des Kaffees bin ich ja auch nicht hier. Um mich abzulenken, gehe ich vor zum Tresen, wo fein säuberlich aufgereiht Lesezirkelhefte und Magazine ausliegen. Ich ziehe die Sonntagszeitung hervor, nehme sie mit an den Tisch und versuche, ein interessiertes und aufgeräumtes Gesicht zu machen, das Gesicht eines zufriedenen Großstadt-Singles in seinem Stammcafé – und nicht das einer einsamen und mutlosen Frau, die ihre stille Wohnung nicht erträgt.

Dabei habe ich mal regelmäßig Zeitungen gelesen. Die Buchhandlung war ja immer voll von Leuten, die oft nur auf eine Tasse Earl-Grey-Tee und einen Plausch vorbeikamen und für die der Laden so etwas wie ein zweites Wohnzimmer war. Und da empfand ich es quasi als Selbstverständlichkeit, mich jeden Morgen zumindest grob darüber zu informieren, welche politischen Themen gerade das Land bewegen, wie die wirtschaftliche Stimmung im Allgemeinen ist und vor allem, welche Bücher empfohlen oder verrissen werden. Ich mochte das Gefühl, Bescheid zu wissen, die Sprache meiner Kunden zu sprechen und ihr Vertrauen zu gewinnen – Beraterin zu sein und nicht nur Verkäuferin. Und nichts genoss ich mehr als den Moment, wenn in der ZEIT oder der FAZ ein Buch emporgejubelt wurde, das ich meinen Stammkunden schon vor Wochen ans Herz gelegt hatte.

Doch seit der Buchladen zugemacht hat, ist es nicht mehr dasselbe. Irgendwie macht es keinen Spaß, sich über Politik und Literatur informiert zu halten, wenn man niemanden hat, der mit einem darüber diskutiert.

In dem Laden, in dem ich jetzt arbeite, brauchen die Kunden keine Beratung. Sie wollen nicht einmal, dass irgendjemand überhaupt mit ihnen spricht. Das Presse-Paradies ist ein fensterloser, aber grell beleuchteter kleiner Zeitungsladen in den Untiefen des Bahnhofs Zoo, in dem sich niemand länger aufhält als unbedingt nötig. Die meisten Kunden kommen bloß schnell rein, schnappen sich die Zeitung, die sie wollen, ihre Pfefferminzbonbons oder den Softdrink dazu, lassen das abgezählte Kleingeld in die Wechselgeldschale rasseln und beeilen sich dann, ihre S-Bahn zu erwischen. Nur wer die verpasst hat, nimmt sich die Zeit, sich ein wenig in die Auslage mit den Magazinen zu vertiefen. Aber selbst dann würde er sich nie, nie, niemals für den Menschen hinter dem winzigen Kassentresen interessieren – geschweige denn dafür, welche neue Wochenzeitschrift er empfiehlt. Er würde wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn man sich direkt vor seinen Augen in eine Yuccapalme verwandelte.

Natürlich, klar: Einerseits bin ich froh, überhaupt so schnell wieder einen Job gefunden zu haben. Aber andererseits: Die Buchhandlung war mehr als nur eine Buchhandlung – sie war so etwas wie Heimat. Ich liebte den Laden, den Duft nach Earl Grey und Papier, liebte die Plaudereien mit Stammkunden und natürlich mit Iris. Nach wie vor finde ich, dass es keine schöneren Gespräche als Gespräche über Bücher gibt, denn wer übers Lesen redet, redet immer auch über Gefühle – er redet über sich, auch wenn er vermeintlich nur über die Figuren im Buch spricht. Man kann Menschen irrsinnig nahekommen, wenn man sich mit ihnen dar-über unterhält, was sie warum gerne lesen, darüber, was sie lachen oder weinen lässt, was sie abstößt, erschreckt oder berührt.

Und so lebe ich zwar noch dort, wo ich seit vielen Jahren jeden Winkel kenne, fühle mich aber weniger zu Hause als je zuvor. Ohne die Arbeit, die mir am Herzen lag, ohne Anni und Evelyn, ohne Alex. Zumal sich der Kiez auch sonst verändert hat. Eine ganze Reihe alteingesessener Läden musste Kinderboutiquen und Gourmet-Eisdielen weichen. Seit letztem Monat ist sogar der Spätkauf in der Grunewaldstraße geschlossen, zu dem man immer schnell laufen konnte, notfalls im Bademantel und ohne sich die Haare zu machen. Von den Geschäften aus der Zeit, als meine Oma hier noch lebte, ist kaum mehr eines übrig. Und nach dem zu urteilen, wie Bettina aus dem Blumenladen über die regelmäßig erhöhte Ladenmiete stöhnt, wird es wohl so weitergehen. Eine ganze Weile lang sah es ja so aus, als bliebe Schöneberg verschont von der Gentrifizierung – anders als in Mitte oder in Kreuzberg kann man hier immer noch einen einfachen Kaffee trinken gehen und muss nicht mit Vollbartträgern aus Brooklyn über die beste Röstung diskutieren. Doch nun hat der Hipster auch das ehemalige Westberlin entdeckt, und die Immobilienspekulanten folgen ihm. Das fast dörfliche Kiezleben kehrt jedenfalls nicht mehr zurück.

Ich blättere weiter in der Zeitung und will mich gerade in einen Artikel über das erschreckende Mediennutzungsverhalten von Kindergartenkindern vertiefen, doch dann blicke ich auf, denn ein kühler Windhauch streift meine Schulter. Die Eingangstür hat sich geöffnet und eine unglaublich hübsche Frau mit braunen Locken, vollen Lippen, rosigen Wangen und großen strahlenden Augen kommt in das Café. Sie bleibt in der Tür stehen, scannt das Lokal nach einem freien Tisch ab und sieht sich nach ihrem Begleiter um, der nun ebenfalls den Raum betritt – ein großer dunkelhaariger Mann.

Alex.

Der Mann, den ich seit einem Jahr nicht gesehen, mit dem ich nicht mal mehr telefoniert habe, nachdem ich sieben Jahre lang geglaubt hatte, ich würde mit ihm mein Leben verbringen.

Alex steht in der Tür, neben ihm die schönste Frau, die das Café Brel an diesem Tag und wahrscheinlich noch öfter betreten wird, und schaut mich an.

2

MIT EINEM MAL ist es, als hätte jemand der Welt den Ton abgedreht. Es ist verrückt: Ich weiß, dass um mich herum geredet und gerührt und gegessen wird, dass die Espressomaschine hinterm Tresen keift und leise Musik aus den Boxen in den Ecken dringt, aber alles, was ich höre, sind mein eigener Puls und das Blut, das laut rauschend durch meinen Kopf fließt.

Ich sehe, dass Alex sich wie immer, wenn er unsicher ist, mit einer unbeholfenen Handbewegung über den Kopf streicht – eine Geste, die ich immer wahnsinnig niedlich fand und die mich auch jetzt irgendwie berührt. Dass er kurz zögert, der Frau etwas zuflüstert, sich dann langsam von ihr löst und auf mich zukommt.

»Isa«, sagt er, als wäre es eine unglaubliche Überraschung, mich in dem Café zu treffen, das direkt gegenüber unserer ehemals gemeinsamen Wohnung liegt. Aber immerhin gelingt ihm ein Lächeln, das warme, weiche Alex-Lächeln, in das ich mich damals verliebt habe, ehe ich auch nur ein Wort mit ihm gesprochen hatte.

»Hey«, sage ich und schaffe es irgendwie, mir ebenfalls ein Lächeln abzuringen. »Hast du Heimweh gekriegt?«

»Du wirst es nicht glauben, aber wir haben uns gerade eine Wohnung hier um die Ecke angeschaut. In der Vorbergstraße, direkt über dem Käseladen.«

Sein Lächeln wird breiter, als würde er darauf warten, dass ich ihn beglückwünsche. Und während ich um Fassung ringe, kann ich seinen unschuldig strahlenden dunkelbraunen Augen ablesen, dass seine Worte tatsächlich völlig arglos gemeint sind. Doch mich treffen sie wie ein Kugelhagel. Ich könnte mich noch nicht einmal entscheiden, welchen Teil der Information ich am schlimmsten finde. Dass er von sich und der schönen Frau da vorn als einem »Wir« spricht? Dass dieses »Wir« auf Wohnungssuche ist? Oder dass die Wohnungssuche offenbar direkt unter meinem Fenster, in unserem einst gemeinsamen Kiez stattfindet? Denkt er ernsthaft, ich freue mich schon auf unsere schöne Nachbarschaft?

Ich starre Alex an und bringe schließlich ein »Ah« hervor. Zu mehr bin ich nicht in der Lage.

»Wir müssen aber erst noch gucken, ob wir sie nehmen, sie ist eigentlich ein bisschen zu teuer«, rudert er erschrocken zurück – offenbar kapiert er jetzt doch, dass ihn die Kombination aus »Wir« und »Wohnung« und »Vorbergstraße« auf ganz schön dünnes Eis führt. Stattdessen wechselt er schnell das Thema: »Sag mal, musstet ihr schließen? Wir sind vorhin am Buchladen vorbeigekommen, und plötzlich ist da ein Architekturbüro drin?«

»Na ja, wir mussten nicht«, sage ich und lache kurz auf. Dann erzähle ich Alex die Geschichte von Iris und dem Buchhändler auf Mallorca, woraufhin auch Alex, der die eigentlich gar nicht impulsive Iris ebenfalls gut kannte, lachen muss.

»Sie hat den Laden einfach so dichtgemacht?«

Ich nicke. »Hat sie, ja. Sie hat remittiert, was ging, und was sich nicht remittieren ließ, hat sie in den Container geladen, mit dem sie nach Palma umgezogen ist, um es einfach im Laden ihres Lovers ins Regal zu stellen.«

»Und dann? Hat alles funktioniert? Ist das alte Mädchen glücklich da unten?«, fragt er.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich gehe davon aus, ja. Zumindest lässt sie seit dem Umzug kaum mehr etwas von sich hören.«

»Und du?«, fragt er.

»Und ich?«

»Geht es dir gut?«

Es geht mir beschissen. Aber es reicht mir, dass er sich das denken kann, wenn er mich hier allein vor meinem traurigen Kaffee sitzen sieht. Ganz bestimmt werde ich ihm nicht von meiner Stelle im Presse-Paradies erzählen, denn dann gibt es gar keine Zweifel mehr – wenn einer weiß, wie viel mir meine Arbeit und die Buchhandlung bedeutet haben, dann Alex. Außerdem ist die Stelle nicht einmal eine richtige Stelle, sondern bloß ein Job auf Aushilfsbasis. Die können mich dort rausschmeißen, wann immer ihnen danach ist.

»Alles wunderbar«, versichere ich.

»Gut«, sagt er. »Das freut mich.«

Wir lächeln uns pflichtschuldig an, und mir fällt auf, dass er zugenommen hat seit unserer Trennung. Nicht dass ihm die paar Pfunde nicht stehen würden, er sieht immer noch gut aus, und jemand, der ihn nicht so gut kennt wie ich, würde wahrscheinlich gar nichts bemerken. Aber für mich ist es unübersehbar: Nachdem er in den letzten Monaten unserer Beziehung ziemlich abgenommen hatte, ist er jetzt wieder ganz schön rund geworden ums Kinn.

Vielleicht sollte mir das Genugtuung verschaffen: den Ex treffen und feststellen, dass er langsam aus dem Leim geht. Stattdessen tut es mir weh, unglaublich weh, weil ich weiß, dass Alex nur dann zunimmt, wenn es ihm richtig, richtig gut geht. Er ist ein klassischer Gesellschaftsesser, der sich nach Herzenslust gehen lassen kann, sobald er sich im Kreise seiner Freunde entspannt – eine Eigenschaft, die ich immer mochte, weil es auch mir am besten geht, wenn ich von Menschen umgeben bin, die ich mag und die mich mögen. Und, na ja, wie soll ich sagen: Während ich in den letzten Monaten meistens allein am Tisch saß, ist ihm das, zumindest seinem Kinn nach zu urteilen, vermutlich ziemlich selten passiert.

»Dir offenbar auch«, sage ich, um es endlich hinter mich zu bringen.

Er errötet. »Ich …«

Plötzlich spüre ich mein Herz wieder klopfen, und ich weiß, dass es Alex genauso geht. Aber wir kommen an dem Thema nicht vorbei: Es gibt eine neue Frau in seinem Leben.

»Wie lange kennt ihr euch schon?«, frage ich.

»Seit ein paar Monaten«, sagt Alex.

»Und?«

»Na ja«, sagt er. »Es ist was Ernstes. Was wirklich Ernstes.«

Er sieht mich mit großen Augen an.

Und plötzlich begreife ich, dass das noch nicht alles ist. Dass er mir noch etwas anderes sagen will. Ich blicke hinüber zu der Frau, die inzwischen ihren Mantel ausgezogen hat und nun neben dem Garderobenständer darauf wartet, dass Alex mit seinem Gespräch fertig ist. Und plötzlich sehe ich, was genau an ihr so rosig und strahlend ist.

Unter dem hübschen Gesicht trägt sie einen noch viel hübscheren kugelrunden Bauch. Sie ist schwanger. Und zwar ziemlich. Keine Ahnung, wie sie das mit dem Mäntelchen vorhin kaschieren konnte.

»Oh«, sage ich, beinahe tonlos.

»Ich wollte es dir sagen. Aber ich wusste nicht, wie«, sagt Alex langsam. »Es ist ziemlich schnell gegangen, ich weiß. Es war ungeplant, mit einem Mal war Sylvie schwanger, und da haben wir uns natürlich nicht dagegen entschieden.«

Natürlich nicht, denke ich.

Natürlich.

»Wann …?«, frage ich und bereue es im gleichen Moment, denn eigentlich will ich es gar nicht wissen. Eigentlich will ich nur verschwinden.

»Im August«, antwortet Alex und fügt erklärend hinzu: »Sylvie sieht viel weiter aus, als sie ist. Sie ist eigentlich erst Anfang des sechsten Monats. Es ist nämlich so, dass wir …« Er räuspert sich. »… Zwillinge kriegen.«

Wieder sieht er mich an, und ich weiß, dass ich jetzt eigentlich etwas sagen müsste. Dass ich ihn beglückwünschen oder zumindest ein bisschen Freude für ihn zeigen müsste. Ich müsste mich zusammenreißen, zu der schönen Frau an der Tür hinübermarschieren, ihr die Hand schütteln, ihr etwas Nettes sagen und ihr gratulieren. Stattdessen springe ich ruckartig auf, reiße meine Jacke an mich, werfe den Stuhl um, stelle ihn umständlich wieder hin und stopfe mit kopfloser Geschäftigkeit die Zeitung in meine Handtasche.

»Isa«, sagt Alex und streckt die Hand nach mir aus, eine Geste aus einer anderen Zeit. Einer Zeit, in der wir uns noch einfach so berühren konnten.

Einer Zeit, in der danach alles gut war, immer.

Ich schüttele den Kopf. Seine Hand greift ins Leere, und ich drängele mich fluchtartig und ohne die glückliche und offenbar fantastisch fruchtbare Sylvie noch einmal anzusehen dem Ausgang entgegen. Dort fällt mir ein, dass ich noch nicht bezahlt habe. Ich drehe mich hastig um, ziehe einen Zehn-Euro-Schein aus der Hosentasche, halte ihn wedelnd in Linas Blickfeld und lege ihn so auf den Tresen, dass sie ihn sich einfach nehmen kann.

Dann stürze ich hinaus auf die Akazienstraße, wo mich die viel zu kühle Berliner Frühlingsluft umfängt wie ein kalter Lappen. Und obwohl ich hier jeden Baum, jeden Parkautomaten, jeden Pflasterstein kenne, fühle ich mich wie auf einem fremden Kontinent an Land gespült. Ich mache ein paar Schritte, versuche, mich innerlich aufzurappeln, mir eine Richtung zu geben – doch ich habe keine Ahnung, wohin mit mir.

3

IN EINEM FILM würde ich jetzt einfach loslaufen, quer durch die Stadt, über Straßen, durch Parks, vorbei an anderen Menschen, anderen Schicksalen, anderem Unglück, anderem Glück. Aber das hier ist kein Film, sondern mein Leben, und weil mir wie so oft nichts Besseres einfällt, überquere ich einfach die Straße, sperre die Haustür auf und warte im Eingangsbereich ab, bis sie wieder zugefallen ist. Ich setze den Fuß auf die erste Treppenstufe, den anderen auf die zweite, erklimme die erste Etage, die zweite, die dritte und endlich die vierte. Ich schließe die Tür zu meiner Zweizimmerwohnung auf, streife die Schuhe ab und tapse den schmalen Flur entlang in Richtung Sofa.

In Sicherheit, denke ich noch, als ich mich erleichtert in die kuscheligen Polster sinken lasse.

In Sicherheit.

Doch schon im nächsten Moment springt das verhasste Kopfkino an und projiziert Szene um Szene um Szene. Es sind Bilder, die ich nicht sehen will, aber sie kehren so hartnäckig wieder wie Werbebanner im Internet, die sich ums Verrecken nicht wegklicken lassen.

Alex mit der schwangeren Frau, die so viel hübscher ist als ich, denn ich habe zwar auch braune Locken, aber meine sind immer krisselig und störrisch, und ich bin auch nicht groß und dünn, sondern klein und gerade mal so unvoluminös, dass man mich nicht ernsthaft dick nennen würde. Das Einzige, was ich mit dieser Sylvie gemeinsam habe, sind die großen, runden Kulleraugen, die bei mir aber eher drollig aussehen und nicht sexy oder gar schön.

Alex im Kreißsaal, Sylvies leicht verschwitzte, aber immer noch weiche Locken streichelnd.

Alex mit Maxi Cosi.

Alex mit zwei Maxi Cosis.

Alex beim Zwillingskinderwagenschieben im Park.

Alex beim Fläschchengeben, beim Windelwechseln.

Beim morgendlichen Schmusen zu viert.

Alex mit einem winzigen Säugling, der tief und fest auf seiner Brust schläft.

Alex beim Kuscheln auf dem Sofa.

Alex, in jedem Arm ein weiches Würmchen, das nach warmem Brot riecht.

Alex im doppelten Glück.

Alex im Glück.

Die Bilder hören nicht auf, auch nicht, als ich meinen kleinen Röhrenfernseher einschalte und durch die Programme zappe. Sie hören nicht auf, als ich mich vom Sofa erhebe und wie ein Zootier, das an Hospitalismus leidet, Runde um Runde durch meine Wohnung drehe, an den Bücherregalen entlang und den großen, alten Kastenfenstern, über knarrendes Parkett und durchgetretene Teppiche, vorbei an den alten Schwarz-Weiß-Fotos meiner Oma, die ich beim Einzug einfach hängen gelassen habe. Sie hören nicht auf, als ich Wasser in die winzige Badewanne in dem genauso winzigen Bad einlasse, mir irgendeinen Roman schnappe und damit im heißen Nass versinke. Sie hören nicht auf, egal, was ich tue.

Im Gegenteil: Es gesellt sich noch ein dumpf pochender Gedanke dazu. Anfang des sechsten Monats. Während ich noch jeden Tag so viel geweint habe, dass ich es fertiggebracht habe, auch dann noch in Tränen auszubrechen, nachdem ich Evelyn mit ihrem winzigen, vier Tage alten Mädchen das erste Mal besucht hatte – da hat Alex mit seiner schönen neuen Freundin Zwillinge gezeugt. Ungeplant. In den Herbsttagen, als ich mich von Tag zu Tag einsamer gefühlt habe, hat er sein Glück gefunden.

Der Gedanke löst tausend Gefühle auf einmal in mir aus, Eifersucht und Traurigkeit. Sinnlosigkeit. Schmerz. Ich fühle mich gleichzeitig wertlos und leer, verletzt und beleidigt, mangelhaft und unfähig. Alles um mich herum zeugt Kinder, nur ich nicht. Meine Chefin, die immer nur für Romanfiguren geschwärmt hat, findet die Liebe, ich verliere sie. Ich fühle mich so alleingelassen wie schon lange nicht mehr, aber auch bedroht und angegriffen. Ich habe das Gefühl, ich müsste mich gegen irgendetwas verteidigen und wehren, dabei will ich mich eigentlich bloß in meine Höhle verkriechen.

Aber nicht einmal mehr meine Höhle ist sicher, wird mir plötzlich klar. Wenn Alex wirklich in die Nachbarschaft zieht, wird aus meinem guten alten Kiez endgültig vermintes Terrain.

Dann ist nichts mehr von dem übrig, was mein Zuhause ausmacht.

Wie unbeschwert werde ich mich dann durch die Straßen bewegen?

Wie frei werde ich mich noch fühlen?

Ich atme ein und merke, wie eng es mir um die Brust ist.

Alex wird Vater.

Und ich?

4

DIE SACHE MIT Ausnahmezuständen ist ja, dass sie schneller zur Normalität werden als gedacht – man kann sich an extreme Temperaturen gewöhnen, an Krieg und Terror und natürlich auch daran, dass man verzweifelt ist. Der Grund dafür ist wahrscheinlich ganz einfach: Man muss pinkeln, auch wenn an einem anderen Ort gerade Menschen sterben. Man muss essen und trinken, auch wenn man Liebeskummer hat. Und vermutlich putzt man sich selbst dann noch vorm Zubettgehen die Zähne, wenn man weiß, dass am nächsten Morgen die Welt untergegangen sein wird. Man kann seine Atmung nicht einstellen, selbst wenn man es will. Egal, was um einen herum passiert: Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als zu leben.

Und so reiße auch ich mich irgendwann am späten Nachmittag aus meinem Trübsinn, wuchte mich von meiner riesigen Kuschelcouch hoch und schlappe hinüber in die Küche, die immer noch fast genauso aussieht, wie meine Oma sie mir hinterlassen hat: winzige Wandschränke aus den Fünfzigerjahren mit gläsernen Schubfächern für Zucker, Semmelbrösel und Mehl. Ein kleiner wurmstichiger Küchentisch mit Porzellanknopf. Ein etwa zweitausend Jahre alter, niemals richtig heiß werdender Gasherd. Und ein von mir weiß lackiertes, inzwischen aber auch schon wieder ganz schön ramponiertes Küchenbüfett. Ich mache mir eine Käsestulle und eine Tasse Yogi-Tee und ziehe dann die Sonntagszeitung aus der Handtasche, die ich vorhin kopflos eingepackt habe, obwohl gleich vorn auf der Titelseite ein großer blauer Stempel darauf hinweist, dass sie Eigentum des Cafés Brel ist. Kurz ärgere ich mich über meine Gedankenlosigkeit, aber dann beschließe ich, das Blatt einfach wieder zurückzubringen, sobald ich mit meiner kleinen Brotzeit fertig bin. Alex wird dann bestimmt nicht mehr dort sitzen. Im besten Fall ist er bei der nächsten Wohnungsbesichtigung in einem weit entfernten Viertel.

Während ich mein Brot mümmele, schlage ich die Zeitung auf. Den Kulturteil habe ich vorhin schon angelesen, nun blättere ich durch Politik und Wirtschaft, lese hier eine Überschrift, dort einen Vorspann. Ich bin immer noch wahnsinnig traurig, aber irgendwie kann ich spüren, dass so eine altvertraute Ablenkung wie das Zeitunglesen ganz gut funktioniert. Fast kann ich wieder so etwas wie Freude dabei empfinden, den Sportteil zu überblättern und mich dabei zu fragen, warum Menschen freiwillig rennen, springen und schwitzen. Ich fand schon meine wöchentliche Fitnessstudio-Einheit schrecklich, obwohl so ein Crosstrainer vermutlich noch die zivilisierteste Art ist, seinen Körper zu schinden. Als ich schließlich den Lokalteil durch habe, ist immer noch Tee in der Tasse, nur deshalb gucke ich auch in den Stellenmarkt. Für eine gelernte Buchhändlerin ist natürlich nichts dabei, gesucht werden wie immer Ingenieure, IT-Spezialisten und Betriebswirte, gern auch mit Spezialisierung auf Marketing. Sie sollen flexibel, entscheidungsstark, teamfähig, stressresistent und kommunikativ sein. Was bedeutet, dass ich auch dann keinen gut bezahlten Job bekommen würde, wenn ich etwas Gefragtes gelernt hätte.

Ich denke an meine Arbeit im Zeitschriftenladen. Belastbarkeit? Kreativität? Kundenorientierung? Im Presse-Paradies braucht man vor allem stoische Ruhe, schonendes Schuhwerk und idealerweise noch gute Kompressionsstrümpfe. Man sollte einen Preisscanner halten und sich die blöden Sprüche verkneifen können, die einem einfallen, während man Tittenmagazine abkassiert. Ansonsten wird nicht viel von einem verlangt, nicht einmal Fremdsprachenkenntnisse sind nötig. Ich meine, ich kann ziemlich gut Englisch und seit einigen VHS-Kursen auch wirklich passabel Italienisch, aber mehr als mille grazie und have a nice day brauche ich selbst bei den geschwätzigsten Kunden nicht.

Gott, wo ich schon mal dabei bin, mich wirklich miserabel zu fühlen: Der Job ist wirklich das blanke Grauen. Jede Minute fühlt sich exakt so an wie die nächste, ein Tag wie der andere. Ich frage mich, wie meine Kollegin Hanne es geschafft hat, dort nun schon seit sechzehn Jahren zu arbeiten und sich nicht umzubringen. Manchmal reicht mir schon die Glutamatwolke, die morgens wie abends vom China-Imbiss gegenüber in den Laden weht, um ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen, hoch zum Bahnsteig zu laufen und mich vor eine der Regionalbahnen zu werfen, die dort alle paar Minuten über die Gleise quietschen. Wittenberge nach Cottbus, Verspätung wegen Personenschaden.

Ich will den Stellenmarkt schon fast beiseitelegen und mich dem Immobilienteil widmen – eines der wenigen Themen, die im letzten Jahr Freude in mein Leben gebracht haben. Denn die Wohnung, in der ich lebe, hat mir meine geliebte Oma vererbt, als sie vor zehn Jahren starb, und jeder weiß, wie sehr die Berliner Immobilienpreise seitdem durch die Decke gegangen sind. Es ist mir jedes Mal eine Freude, die Anzeigen zu lesen und zu überschlagen, wie viel meine Wohnung jetzt wert sein müsste.

Doch dann bleibt mein Blick an einer kleinen Annonce hängen – einfach deshalb, weil darin ein Wort steht, das in einer Stellenanzeige normalerweise nichts verloren hat. Ich ziehe die Zeitung näher heran, und da steht tatsächlich »Capri« mitten im Stellenmarkt der Sonntagszeitung. Ich überfliege die Anzeige, die ein bisschen nach Bauernfängerei klingt, dann blättere ich weiter.

Doch als ich die Zeitung schon zugeschlagen habe, merke ich, dass mein Herz klopft, zum zweiten Mal an diesem Tag.

Ich schlage sie noch einmal auf. Und lese mir die Annonce durch, Wort für Wort.

Ein Sommer auf Capri. Autorin sucht persönliche Assistentin für Recherche- und Lektoratsarbeiten. PC-Kenntnisse und Führerschein Klasse 3 erforderlich, Diskretion erbeten. Bitte schicken Sie Ihre aussagekräftige Bewerbung an: einsommeraufcapri@mailitalia.it

Wer es noch nicht gemerkt hat: Ich bin nicht gerade der Typ, der verrückte Dinge tut. Im Gegenteil, ich mag meinen geregelten Alltag. Ich mag es, jeden Tag zur selben Zeit aufzustehen, dieselben Nachbarn zur selben Zeit im Hof zu treffen und jahrelang dieselben Kollegen zu haben. Ich mag den Tatort, und ich mag die Verlässlichkeit, mit der jeden Tag um zwanzig Uhr die Tagesschau gesendet wird – egal, was passiert ist, egal, wie chaotisch die Zeiten sind. Ich schminke mich immer noch genau so, wie ich es mir als Teenager angewöhnt habe. Ich habe im Großen und Ganzen auch immer noch dieselbe Frisur. Meine besten Freundinnen kenne ich aus der Schulzeit, und auch wenn ich sie zurzeit nicht so oft sehe, wie ich es gerne täte: Die beiden müssten schon sehr weit wegziehen und sehr viele Kinder bekommen, bis ihr Platz in meinem Herzen von jemand anderem besetzt wird.

Ich bin ein treuer Mensch, keiner, der seinem Leben einfach so aus einer Laune heraus eine neue Richtung gibt. Und ein Sommerjob auf Capri, als Assistentin einer Schriftstellerin – geht es noch launenhafter?

Warum also pocht mein Herz wie verrückt?

Andererseits: Bin ich nicht deshalb Buchhändlerin geworden, weil mich die Schriftstellerei fast magisch anzieht? Nicht nur, dass ich gerne lese, am tollsten fände ich es, selbst zu schreiben. Gut, besonders talentiert bin ich darin nicht, und es würde vermutlich nie eine ordentliche Autorin aus mir werden. Aber Spaß macht es mir. Während meiner Ausbildung habe ich ein paarmal an Creative-Writing-Kursen teilgenommen und dabei gemerkt, dass ich kein schlechtes Gespür für Sprache habe und obendrein in der Lage war, auch noch den allerkleinsten Fehler in den Texten der anderen Kursteilnehmer aufzuspüren. Einmal nannten sie mich sogar Special Agent Ritter, wegen meines untrüglichen Blicks. Obendrein habe ich einen Führerschein und bin fit am PC. Und ich kann Italienisch, wenn auch nicht ganz fließend.

Und so hole ich an diesem traurigen Sonntag im April meinen Laptop, um eine Nachricht an eine unbekannte Person zu schreiben, die auf Capri wohnt, sofern es sich nicht um einen schlechten Scherz handelt. Verrückt? Vielleicht, aber irgendwie habe ich nicht so viel zu verlieren, oder? Und meinen Job im Presse-Paradies würde ich, wenn ich ganz ehrlich bin, aller Existenzängste zum Trotz gegen viel weniger eintauschen als einen Sommer auf einer Mittelmeerinsel.

Ich öffne das E-Mail-Programm. Ich tippe die Adresse ab und gebe in die Betreffzeile ein: Ihre Stellenanzeige vom 30. April. Und weil mich nun allem Wagemut zum Trotz erste Zweifel einholen, beeile ich mich – und tippe.