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»Was später eine lange Reise in den Osten werden sollte, von der Krim über Moskau durch Sibirien und bis an den Pazifik, begann auf einem Sofa im Ruhrgebiet. Dort leben meine Eltern: Margherita und Sergej.« 1993 übersiedelt der damals zehnjährige Nikita Afanasjew mit seinen Eltern aus der russischen Industriemetropole Tscheljabinsk nach Deutschland. Er und sein Vater geraten immer wieder in Streit über die politische Situation in Russland: der Sohn ist liberal eingestellt, der Vater ist von westlichen Idealen enttäuscht. Afanasjew nimmt den Zwist zum Anlass, sich auf Spurensuche zu begeben: nach dem Russland seines Vaters und in seiner Heimatstadt. Dabei begegnet er Freunden des Vaters, Verwandten, Funktionären und Schurken, und manchmal beidem in einer Person. So präsentiert er ein sehr persönliches und zugleich hochaktuelles Bild von dem Land, das er als Kind verließ.

Zum Autor

NIKITA AFANASJEW wurde 1982 in Tscheljabinsk geboren. Aus der grauen Industriestadt am Ural folgte 1993 der Umzug ins deutsche Ebenbild, das Ruhrgebiet. Als Journalist machte er zahlreiche Reisen in den postsowjetischen Raum und schrieb für Tagesspiegel, taz, Zeit online, 11 Freunde u.a. 2015 wurde er mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.

Nikita Afanasjew

KÖNIG, KRIM
& KASATSCHOK

Auf der Suche nach dem Russland
meines Vaters

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Er zog hinaus in die deutsche Steppe und Kriegsgeheimnis: © Sergej Afanasjew

Mit freundlicher Genehmigung

Die Übersetzung der Erzählungen von Sergej Afanasjew besorgte Sabine Baumann.

1. Auflage

Copyright © 2018 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Shutterstock/Oleg Troino

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21599-6
V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Inhalt

1. Auf dem Sofa im Ruhrgebiet

2. Agenten, Sonne, Tod: Krim

3. Meine Anfänge im Westen

4. Alle Wege führen nach Moskau

5. Der Westen: Die Fortsetzung

6. Auferstanden aus Ruinen

7. Von Äpfeln und Birken: Im Zug, zum Ersten

8. Hallo, Mr. Stalin

9. Peruaner in Kasan

10. Mein wilder Osten

11. Ein netter Küchenchef: Im Zug, zum Zweiten

12. Deutsche in der Sowjetunion

13. Mein Tscheljabinsk

14. Die Geister von Arkaim

15. Aljoschas langer Weg

16. Wenn ich geblieben wäre

17. Baukran-Ballett

18. An den inneren Rändern Russlands

19. New Age in Sibirien

20. Im Angesicht der Unendlichkeit

21. Ein Spion auf Abwegen:
Im Zug, zum Dritten

22. Für immer und er

23. Der Weltraum hat heute geschlossen

24. Russische Freiheit

25. Zurück auf dem Sofa

1. Auf dem Sofa im Ruhrgebiet

Was später eine lange Reise in den Osten werden sollte, von der Krim über Moskau in meine Heimatstadt Tscheljabinsk, durch Sibirien und bis an den Pazifik, begann auf einem Sofa im Ruhrgebiet. Dort leben meine Eltern: Margherita und Sergej.

Der Fernseher läuft. Der russische Nachrichtensender »Rossija 24« sendet Bilder aus dem ostukrainischen Krisengebiet Donbass. Da ist ein bewaffneter Glatzkopf. Er schreit einen russischen Gefangenen an, schlägt ihm die Mütze vom Kopf. Irgendwelche Nazis, die den Hitler-Gruß zeigen. Einfache Menschen, die berichten, dass der Beschuss ihrer Wohngebiete durch Kiews Regierungstruppen seit Tagen nicht aufhöre. Das Wasser werde knapp.

Dann kommt Werbung. Und nach der Werbung das Gleiche wie vor der Werbung. Die Krise als Dauerschleife, unterbrochen nur von schnellen Schnitten und mit bebender Stimme vorgetragenen Appellen: »Die neuesten Entwicklungen gleich bei uns! Bleiben Sie dran!«

Mein Vater schüttelt missmutig seinen Kopf. »Da sieht Europa mal, was für nette Neuzugänge aus der Ukraine kommen.«

Ich hatte mir vorgenommen, diese Diskussion nicht mehr zu führen, aber … »Papa, du weißt doch, dass die absichtlich nur die Idioten zeigen.«

»Ich weiß«, sagt mein Vater, »dass die Russen in der Ukraine einfach Russen sein wollen und dafür umgebracht werden. Als Allererstes haben die nach ihrer Revolution ein Gesetz verabschieden wollen, das die russische Sprache herabstuft, damit …«

»Aber das Gesetz wurde nicht verabschiedet«, unterbreche ich ihn.

Meine Mutter kommt aus der Küche, bleibt an der Türschwelle stehen und sagt: »Die haben zuletzt in einer Reportage junge Ukrainer gezeigt, die gesagt haben, dass sie nur nach Europa wollen, um Sozialhilfe zu kassieren.«

»Mama, nur weil ein paar Typen …«

»Oh, es brennt an!«, ruft meine Mutter, schon mit dem Rücken zu mir, unterwegs in die Küche.

Mein Vater rutscht auf dem Sofa etwas nach vorne und schaut aus dem Fenster. Auch er kann die Dauerkrisenschleife manchmal nicht mehr sehen, denke ich. »Natürlich ist das ein Informationskrieg. Die russischen Sender versuchen, ihre Sicht zu zeigen. Aber im Westen läuft das nicht anders.« Dann schaut er ernst zu mir. »Du bist voll von westlicher Propaganda.«

Ich drehe mich zu meinem Vater, will gerade ansetzen …

»Schluss jetzt!«, sagt meine Mutter, die plötzlich wieder im Zimmer steht. »Bitte, nicht schon wieder! Nicht diese Debatte, bitte, bitte. Der Borscht ist sowieso fertig. Setzt euch an den Tisch.«

So wie an diesem Tag lief es meistens, wenn ich meine Eltern besuchte, seit der neue Ost-West-Konflikt begonnen hatte. Manchmal stritten mein Vater und ich stundenlang, bis ich uns selbst in einer Rossija-24-Dauerschleife glaubte, unterbrochen nicht von Werbung, sondern von den Bitten meiner Mutter, endlich die Sendung einzustellen. Wir kriegten uns meistens irgendwie wieder ein, ohne je etwas zu lösen. Viele Familien aus der ehemaligen Sowjetunion sind an dem neuen Kalten Krieg kaputtgegangen. Lautes Propaganda-Geschrei führt manchmal zu vollständiger Stille. Das wollte ich unbedingt vermeiden.

Ich bin 1982 in Tscheljabinsk geboren, einer Industriestadt mit etwa 1,2 Millionen Einwohnern. Sie liegt anderthalb Tage Zugfahrt östlich von Moskau, an der Grenze zwischen Europa und Asien. Die vielen Industrierohre und authentisch rauen Menschen machen Tscheljabinsk zu einer Art russischem Ruhrgebiet. Von daher war es irgendwie konsequent, dass die ganze Familie Afanasjew 1993 dorthin zog. Dorthin, ins Ruhrgebiet, aber irgendwie auch dorthin: auf die Couch. Denn meinem Vater ist es nicht gut ergangen in Deutschland. Er hat sich nicht integriert.

»Ich wohne hier nicht. Ich halte mich hier auf«, hat er mir einmal gesagt. Da waren wir schon über zwanzig Jahre da.

Mein Vater war einmal regimekritisch gewesen, ein halber Dissident, der in seinem Job Panzer entwickelte und in seiner Freizeit verbotene Bücher las, der noch zu Sowjetzeiten der Rüstungsindustrie den Rücken kehrte, um die im Land so viel dringender benötigten medizinischen Geräte zu entwickeln. Erst in den vergangenen Jahren hat er sich die neue Härte der russischen Außenpolitik voll auf die Fahne geschrieben.

Ich selbst wurde Journalist und ging nach Berlin. Auch dort verbrachte ich viel Zeit mit Diskussionen über den neuen alten Konflikt Ost gegen West – nur unter umgekehrten Vorzeichen. In den Debatten mit vielen deutschen Freunden und befreundeten Journalisten verteidige ich oft Russland, weil mir das westliche Dominanzstreben als zu ausgeprägt erscheint, die russische Position als zu wenig verstanden. Irgendwann war ich an dem Punkt angelangt, wo ich gegen Russland und gegen den Westen war und sowieso in jeder Diskussion auf der anderen Seite.

Es gibt Russland mehrfach, einmal das Russland meiner Wahrnehmung und der meines Vaters – wobei das Russland meines Vaters natürlich auch aus vielen Schichten besteht. Da ist zunächst seine Erinnerung an die früher oft verfluchte und nun ebenso oft glorifizierte sowjetische Vergangenheit. Dann ist da das ambivalente Russland, wie er es bei seinen regelmäßigen Besuchen selbst erlebt – und dieses Land aus dem Staatsfernsehen, das sich heldenhaft gegen moralisch völlig verkommene westliche Aggressoren zur Wehr setzt.

Die Besuche meines Vaters in Russland aber hatten in den vergangenen Jahren eine traurige Note, was nicht an der großen Weltpolitik lag.

Mein Cousin Alexej, genannt Aljoscha, versteckte sich zweieinhalb Jahre vor der Polizei. Dabei ist Aljoscha selbst Polizist. Er und seine Mutter – die Schwester meines Vaters – sind die engsten Verwandten, die wir noch in Russland haben. Bei seiner Schwester wohnt mein Vater auch, wenn er in Tscheljabinsk ist.

Aljoscha hatte gegen Autodiebe ermittelt, die von korrupten Polizisten und Geheimdienstlern gedeckt wurden. Statt der Diebe wanderten ehrliche Polizisten ins Gefängnis. Aljoscha aber tauchte unter. Der Fall wurde in Russland groß verhandelt, sogar in der Administration von Präsident Wladimir Putin sprachen die Unterstützer der Polizisten vor. Ein Polizeichef ist gegangen worden, ein russischer Ministerpräsident wurde durch den Vorfall geschwächt. Mein Cousin Aljoscha war bei all diesen Vorfällen mittendrin.

Mein Vater hatte Aljoscha in dieser Zeit unter höchst konspirativen Umständen einmal getroffen – und mich danach damit überrascht, nicht einmal in einer solchen Situation an Russland zu verzweifeln.

Es gibt aber nicht nur Aljoscha, sondern weitere Verwandte, die ich kaum kannte. Es gibt Freunde meines Vaters. Es gibt dieses Russland, ein ganzes Universum, über das ich ständig diskutierte, ohne es einmal wirklich gesehen zu haben. Ich war zwar auch nach meinem Wegzug dort, aber zumeist ging es nach Moskau und selten tief ins Gewebe.

Es gibt da dieses riesige Land, in dem ich geboren wurde und aus dem meine Eltern mich wegbrachten, was ich als Zehnjähriger natürlich nicht wollte. Später war ich glücklich darüber, in Deutschland zu leben, dafür begannen meine Eltern zu bereuen, mit mir fortgegangen zu sein. Es ist dieses Land, in dem sich scheinbar alles irgendwann in sein Gegenteil verkehrt, in dem Zukunftsutopien vergehen, ohne je Gegenwart zu werden, in dem so viel in Beton gegossen wird, aber nie etwas gewiss zu sein scheint, noch nicht einmal das Vergangene.

Es ist das Land, welches meine Eltern und ich vor mehr als zwanzig Jahren hinter uns gelassen hatten, das mich aber nie ganz losgelassen hat. Im Sommer 2016 beschloss ich, Russland zu erkunden.