Wagemut und Wissbegier, ein feines Beobachtungs- und Differenzierungsvermögen und vor allem die unbändige Lust an immer neuen Begegnungen machten Alexander von Humboldt vor 200 Jahren zu einem epochalen Weltentdecker. Im «Buch der Begegnungen» kann man ihn nun von einer ganz neuen, sehr persönlichen Seite kennenlernen: in seiner durch und durch humanen Gesinnung, seinem tiefen Respekt vor allem Fremden. Hier schreibt kein nüchterner Naturforscher, sondern ein warmherziger, mitfühlender Mensch. Als einer der ersten Europäer überhaupt kritisierte Alexander von Humboldt Kolonialismus, Sklaverei und christlichen Bekehrungseifer. In der Überzeugung, dass es keine unterlegenen oder gar minderwertigen Ethnien gebe, war er seinen Zeitgenossen weit voraus. Und auch im 21. Jahrhundert kommt dieser Anwalt einer universellen Humanität wie gerufen.
Alexander
von Humboldt
DAS BUCH DER
BEGEGNUNGEN
Menschen – Kulturen – Geschichten
aus den Amerikanischen Reisetagebüchern
Herausgegeben,
aus dem Französischen übersetzt und kommentiert
von Ottmar Ette
Mit Originalzeichnungen Humboldts sowie
historischen Landkarten und Zeittafeln
MANESSE VERLAG
«Baron de Humboldt 1807»,
Zeichnung von Frédéric Christophe d’Houdetot (1778–1859), Berlin 1807, Bleistift auf Papier, laviert, 8 x 10,5 cm
(Bibliothèque du Conseil d’État, Album Houdetot, n° 116).
Vorwort
Reisen im «Buch der Begegnungen»
Begegnungen aus der Bewegung
1799, als Neunundzwanzigjähriger, brach Alexander von Humboldt zu seiner Reise in die amerikanische «Palmenwelt» auf, 1804, als Vierunddreißigjähriger, kam er nach Europa zurück. Dass aus dem, der sich da erfahrungshungrig auf den Weg in die Tropen gemacht hatte, fünf Jahre später ein erfahrungsgesättigter Heimkehrer und damit ein von Grund auf anderer geworden war, liegt nicht zuletzt an den Tausenden und Abertausenden Begegnungen – Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen, Milieus, Weltgegenden und Lebenssphären. Die eindrucksvollsten und denkwürdigsten dieser Begegnungen hat Alexander von Humboldt seinen Amerikanischen Reisetagebüchern anvertraut, wo sie auf mehr als viertausendfünfhundert Seiten verteilt sind.
In der nun erstmals vorgelegten Zusammenschau eröffnet sich ein reichhaltiges anthropologisches und lebensweltliches Panoptikum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert und – nicht minder faszinierend – ein überaus facettenreiches Bild des «Baron de Humboldt» selbst, den wir damit von einer ganz neuen, von einer sehr persönlichen Seite kennenlernen können: in seiner durch und durch humanen Gesinnung, seiner vorbehaltlosen Empathie, seinem tiefen Respekt vor allem ihm Fremden. Im Buch der Begegnungen erleben wir nicht den kühl beobachtenden, analysierenden und reflektierenden Naturforscher, sondern einen warmherzigen, mitfühlenden Menschen, durchdrungen von einem universellen philanthropischen Ethos.
Nahezu sieben Jahrzehnte lang, seit seiner Reise mit Georg Forster 1790, hat Alexander von Humboldt mit seinen Reisetagebüchern gelebt, in ihnen Eindrücke festgehalten, in ihnen gelesen und Neues hinzugefügt: Die Amerikanischen Reisetagebücher sind das Werk seines Lebens. Die Humboldtsche Wissenschaft ist nicht allein eine Wissenschaft aus der Bewegung, sondern in grundlegend unabschließbarer Bewegung. Für eine derartige Wissenschaft dynamischer Vielverbundenheit benötigte Humboldt besondere Formen des Schreibens.
Die Amerikanischen Reisetagebücher reihen Porträt an Porträt und bilden von Beginn an ein Buch der Begegnungen. Begegnungen gewiss nicht allein mit Menschen – und doch zeigen die Porträts im weiteren Verlauf der Reise, wie intensiv sich Alexander von Humboldt gerade auf Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen einzulassen pflegte. In der Aufzeichnung dieser Begegnungen entsteht ein lebendiges, da auf dem eigenen Erleben basierendes Bild der bereisten Gebiete. Auf der Überfahrt, auf den Kanarischen Inseln und vor allem in den amerikanischen Tropen hält Humboldt die vielen Gesichter, die sich ihm aus der Bewegung zeigten, nicht selten mit spitzer Feder fest.
Das auf diese Weise literarisch entfaltete Lebenswissen basiert auf einem Erlebenswissen, das sich für die heutige Leserschaft noch immer auf ein eindrückliches Nacherlebenswissen hin öffnet. Das von Humboldt so oft hervorgehobene und immer wieder auch in Szene gesetzte «Schreiben im Angesicht der Dinge»1 erzeugt Menschen und Gesichter, die wir sinnlich erfahren und die sich uns scharf konturiert einprägen.
Bislang blieb unbeachtet, wie sehr der Schriftsteller Alexander von Humboldt die Kunst des knappen, verdichteten literarischen Porträts beherrschte. So ziehen an den Leserinnen und Lesern der Tagebücher in rascher Folge Hunderte von Menschen vorbei, die nur kurz ins Blickfeld rücken und mit wenigen Pinselstrichen seiner Feder dargestellt, bisweilen auch wie Schmetterlinge aufgespießt und nicht ohne Humor in ihren Charakterzügen porträtiert werden. Doch wie die amerikanische Reise in ihrer Gesamtheit, wie die einzelnen Episoden des Reiseverlaufs mit ihren zahlreichen Flussfahrten und Bergbesteigungen, so sind auch die Begegnungen stets vom Scheitern bedroht und damit auch unterschiedlichsten Missverständnissen und Fehldeutungen ausgesetzt.
Die in diesem Band vorgelegten Teile der Amerikanischen Reisetagebücher belegen, von welchen historischen Kontexten und persönlichen Zufällen das Verlassen Europas und Humboldts Streben nach weit im Raum entfernten Ländern abhing. Humboldt stellt auf diesen Seiten dar, welche zunächst verunsichernden Folgen das Scheitern des ursprünglichen Plans hatte, an Kapitän Baudins Weltumsegelung und damit an einer Entdeckungsreise alten Typs teilzunehmen, die sich noch den «Reisen um die Welt» eines James Cook, eines Louis Antoine de Bougainville oder eines Jean-François de Lapérouse im 18. Jahrhundert orientierte. Immer deutlicher aber kristallisierten sich in dieser Krise die Umrisse einer Forschungsreise neuen Typs heraus. Wie später in Balzacs Comédie humaine, so wurde auch für Humboldt der Zufall (im Zusammenspiel mit dem jeweils Möglichen und Notwendigen)2 zum «größten Romancier der Welt».
Das Humboldtsche Schreiben
Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher sind nicht allein eine Werkstatt des Denkens, sondern auch eine Werkstatt des Schreibens. Sie folgen keiner durchgängigen chronologischen oder itinerarischen, keiner historischen oder historiografischen, keiner geografischen, thematischen oder disziplinären Anordnung. Sie gehen weit über den Gegenstand Amerika hinaus, insofern sie die Reise mit Georg Forster nach England ebenso mitbeinhalten wie die nach der Rückkehr aus Amerika durchgeführte Italienreise des Jahres 1805. Sie folgen nur streckenweise einem Tagebuchschema, insofern dieses ständig durchbrochen und bisweilen gänzlich aufgehoben wird, um andere literarische wie nicht-literarische Gattungen und Textsorten miteinzubeziehen. Diese reichen von der autobiografischen Skizze bis zur wissenschaftlichen Abhandlung, von einer zusammenfassenden Darstellung des Reiseverlaufs bis zur Beschreibung von Experimenten, von der Briefform bis hin zur tableauartigen Darstellung von Messungen,3 von Exzerpt und Auflistung bis hin zur Statistik, von der Geschichtsdarstellung bis hin zu literarischen Geschichten und Erzählungen.
So zeichnen sich die insgesamt rund viertausendfünfhundert Seiten umfassenden Manuskripte, die Humboldt erst 1858 (und damit kurz vor seinem Tode) in Schweinsleder hatte binden lassen und in neun bis heute durch ihre Schönheit beeindruckenden Bänden anordnete, durch eine hochgradig diskontinuierliche und vielfach unterbrochene Schreibweise aus. Diese Diskontinuität betrifft zum einen die von Humboldt verwendeten Sprachen. In einer vorwiegend spanischsprachigen Umgebung sprach Alexander von Humboldt mit seinem Reisegefährten Aimé Bonpland auf Französisch und schrieb zunächst überwiegend in deutscher Sprache. Daneben bediente er sich im Tagebuch des Französischen und des Lateinischen, baute Passagen oder Redewendungen auf Spanisch ein und griff immer wieder auch auf indigene Ausdrücke oder Redeformen zurück. Er war wie sein Bruder mit Blick auf die Sprachen der Welt davon überzeugt, dass sich die Komplexität der Welt nicht aus der Perspektive einer einzigen Sprache adäquat darstellen lasse. Seit dem Jahre 1802 macht sich gleichsam zur Halbzeit der Reise bemerkbar, dass das Französische immer stärker an die Stelle des Deutschen rückt, ohne dass das Deutsche ganz aus den Reisetagebüchern verschwände. Es tritt gleichsam eine umgekehrte Gewichtung ein, welche die vielsprachige und vielperspektivische Anlage der gesamten Aufzeichnungen noch erhöht. Hinzu kommen häufige Sprachwechsel zwischen dem Französischen, Deutschen und Lateinischen oft auf kleinstem Raum, sodass sich der Eindruck eines vielsprachigen Schreibens weiter verstärkt.
Die Diskontinuität des Humboldtschen Schreibens zeigt sich aber auch auf der Ebene der Schreibformen selbst. Denn Alexander von Humboldt schreibt bevorzugt in Text-Inseln. Diese besitzen jeweils ihre Eigenlogik, sind von den sie umgebenden Textteilen mehr oder minder deutlich getrennt, verfügen bisweilen über eigene Überschriften, fügen sich in jedem Falle aber diskontinuierlich in die Abfolge der Amerikanischen Reisetagebücher ein. Ihre Überschriften können sich dabei zu ganzen Serien oder Archipelen anordnen, wie dies beispielsweise mit den Titeln «Sklaven»/«Esclaves» oder «Missionen»/«Missions», aber auch bei vielen anderen Thematiken wie etwa den Kariben, den Chaymas oder anderen indigenen Völkern der Fall ist, die aus verschiedenen Blickwinkeln und geradezu ethnografisch beschrieben werden.
Diese Serien oder Text-Archipele führen vor, dass es Humboldt hier nicht um eine nur lineare Anordnung und Lesbarkeit, sondern weit mehr um die Relationalität zwischen den einzelnen Text-Inseln zu tun war, stehen sie doch über die Grenzen der Sprachen, die Differenz zwischen den Zeiten ihrer Niederschrift und nicht zuletzt ihre räumliche Entfernung in den Tagebüchern hinweg miteinander in enger Verbindung. Zwischen den einzelnen Text-Inseln liegen oft Dutzende, Hunderte, bisweilen auch Tausende von Seiten. Sie werden von Humboldt nicht zusammengeschrieben, sondern in Wechselwirkungen zusammengedacht.
Mithilfe der jeweils eigenständigen Text-Inseln gelingt es Humboldt, Themen wie Sklaverei oder Kolonialismus, christliche Missionen oder indigene Kulturen aus unterschiedlichsten Kontexten und Perspektiven zu beleuchten. So können in einzelnen Inseln naturräumliche oder kulturgeschichtliche, anthropologische oder politische, landwirtschaftliche oder weltwirtschaftliche, kultur- oder sprachtheoretische Dimensionen in den Vordergrund gerückt werden. Jede Insel besitzt jeweils andere Kotexte, mithin Texte, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Folglich entfaltet jede einzelne dieser Text-Inseln ihre eigene Logik, ist durch ihre vielfältigen Verbindungen aber ganz im Sinne der Humboldtschen Wissenschaft ebenso multiperspektivisch wie polyvalent mit allen anderen Inseln verbunden.
Quer durch die viereinhalbtausend Manuskriptseiten lassen sich dergestalt immer neue Bezüge und Verbindungen herstellen. Gerade das, was anfangs als unzusammengehörig erschien, wird nun in seinen Zusammenhängen und mehr noch in seinen Wechselwirkungen erkennbar und verständlich.
Griff Humboldt in seiner Werkstatt auf Lektüren anderer Texte explizit zurück oder fasste er beispielsweise ein ihm zur Kenntnis gebrachtes Reisejournal des Präsidenten der Missionen am Orinoco als Gedächtnisstütze zusammen (62)4, dann wird bisweilen erst Hunderte von Textseiten später nachvollziehbar, in welchem Maße diese Lesefrüchte Veränderungen in Humboldts eigener Sichtweise auslösten. Dies gilt, um nur wenige weitere Beispiele zu nennen, auch für die Lektüren von Clavijero oder Garcilaso de la Vega el Inca, auf die Humboldt des Öfteren verwies: Seine Einschätzung der aktuellen indigenen wie der altamerikanischen Kulturen veränderte sich unter dem Einfluss vieler Leseeindrücke, intensiver Feldforschungen und zahlreicher Begegnungen mit Gelehrten vor Ort in fundamentaler Weise. Alexander von Humboldt war nicht nur wissbegierig, sondern auch höchst lernfähig.
Die einzelnen Text-Inseln müssen keineswegs durchgängig oder homogen aufgebaut sein. In den Bericht vom Besuch der «Knochenhöhle» von Atures oder auch jenen vom Besteigungsversuch am Chimborazo sind gänzlich andere Textteile integriert, die sich ihrerseits wieder in verschiedene Textbausteine untergliedern. Man könnte hier vom Konstruktionsprinzip der russischen Puppen sprechen. Humboldts Wissenschaftsstil, aber auch sein Schreibstil fokussiert nicht die Kontinuitäten, auf die er gleichwohl immer wieder aufmerksam macht, sondern die Relationalitäten, die alles mit allem verbinden. Nichts bei Humboldt steht für sich allein: Alles ist Wechselwirkung.
Wenn einzelne größere Text-Inseln in sich ganze Archipele bilden, wird der Zusammenhang des nur scheinbar Unzusammenhängenden besonders deutlich. Denn auch innerhalb der umfangreicheren Text-Inseln können sehr wohl die Sprachen, Perspektiven, ja die Gegenstände und Erklärungsmuster gewechselt und verändert werden. Die Vielzahl an ikonotextuellen, also zwischen den Bildern und Texten hergestellten Beziehungen intensiviert diese Schule der Komplexität.5
Wie die unregelmäßigen Inseln inmitten des Stroms des Orinoco in den Katarakten von Atures und Maipures, die Humboldt stets als Archipele bezeichnet, entstehen textuelle Archipele inmitten des Flusses, des vielfach unterbrochenen, beständigen, aber unsteten Fließens des Humboldtschen Schreibens. All diese Text-Inseln stehen miteinander in enger Verbindung und öffnen sich von den Tagebüchern aus auf ein wissenschaftlich-künstlerisches Gesamtwerk, das in einem grundlegenden Sinne unabschließbar sein sollte und wohl auch sein wollte. Anders als Wilhelm von Humboldt, der die Unabschließbarkeit seiner Werke mit der Tatsache bezeugte, dass er den größten Teil seines Schaffens nicht zu Lebzeiten publizierte, veröffentlichte Alexander von Humboldt ein gewaltiges Œuvre, das in seinen einzelnen Bestandteilen wie in seiner Gesamtheit fundamental unabgeschlossen blieb. Seine Relation historique, der eigentliche Reisebericht über die Jahre 1799 bis 1804, blieb ebenso nach mehreren Bänden stecken wie das Examen critique, die Kritische Untersuchung über die historische Expansion Europas, die nach drei Jahrzehnten der Arbeit unabgeschlossen den «Schlusspunkt» des amerikanischen Reisewerkes bildete.6 Für die Bände seiner Asie centrale, die auf die 1829 durchgeführte russisch-sibirische Forschungsreise zurückverweisen, galt dies ebenso wie für die Bände seines Kosmos, über dessen fünftem Band der fast Neunzigjährige am 6. Mai 1859 verstarb.
Das Humboldtsche Schreiben ist keines, das einen Schlusspunkt zu setzen versucht: Es bricht vielmehr immer aufs Neue zu neuen Bewegungen, zu neuen Begegnungen auf. In seinem Fokus steht die beständige Erweiterung des Wissens im Medium seiner kritischen Reflexion: des Schreibens selbst. Ein Ankommen, das es im Grunde in der Wissenschaft nicht gibt, meint bestenfalls den Tod; der Aufbruch aber zeigt in eine Zukunft, die ein Weiterleben verspricht.
Reisen im «Buch der Begegnungen»
Im Zentrum dieses Bandes stehen die menschlichen Begegnungen Alexander von Humboldts. Der Mensch ist für Humboldt indes Teil der Natur, die Natur ist Teil des Menschen. Gerade im Menschen überschneiden sich in der Humboldtschen Wissenschaft voneinander untrennbar Natur und Kultur. So ist auch das Ich des Forschers niemals von seinen Gegenständen getrennt, sondern wird als ausdauernder oder leidender Körper, als Messinstrument oder denkender Geist in jene Begegnungen auf der Reise miteinbezogen, für die seine Bildung und Ausbildung, seine Erfahrungen wie sein Erleben, aber auch seine Sehnsüchte, etwa nach fernen Ländern, selbst die Grundbedingung darstellen. Natur und Kultur sind in der Humboldtschen Wissenschaft nicht voneinander ablösbar und im Erkenntnisprozess zugleich mit gesellschaftlicher Verantwortung verbunden. Jede naturräumliche Ausstattung zeitigt gesellschaftliche Folgen, die Humboldt nicht aus dem Fokus seiner Wissenschaft ausblendet. So führt die Begegnung mit den unter unmenschlichen Bedingungen in den neuspanischen Bergwerken arbeitenden Menschen zu grundsätzlichen Reflexionen über den auf Unmoral gegründeten Kolonialismus und die verschiedenen Dimensionen einer weltweiten wirtschaftlichen Verflechtung; die Begegnung mit einem Jaguar zur zoologischen Darstellung des Lebensrhythmus ganzer Tierpopulationen im tropischen Urwald; die Begegnung mit einem aztekischen Kalenderstein zu Recherchen über die Verschiedenartigkeit, aber auch die Wechselbeziehungen zwischen den Zeitvorstellungen bei Völkern und Kulturen unterschiedlichster Kontinente; die Begegnung mit der Vulkanwelt im heutigen Ecuador zur Einsicht in die unterirdischen Verbindungen nicht nur regionaler, sondern transkontinentaler Art. Alles ist von unmittelbarer Bedeutung für die jeweils vor Ort lebenden Menschen und verlangt nach Lösungen. Alles steht für Humboldt in weltumspannender Wechselwirkung. Die für diesen Band ausgewählten einhundertzwanzig Text-Inseln zeigen uns einen Schriftsteller und Gelehrten, Forscher und Philosophen, der auf seiner amerikanischen Reise aus seinen Begegnungen mit Menschen und Tieren, mit Pflanzen und Gesteinen, mit dem Meer – das für ihn eine «essbare Flüssigkeit» (4) und das mobile Element par excellence ist – und dem Erdinnern immer neue Bedeutungen und Zusammenhänge entfaltet.
Die Text-Inseln sind so gewählt, dass sie die wesentlichen Phasen und Episoden seiner Reise, die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche und Disziplinen (von der Alt-Amerikanistik über Geografie, Geschichte oder Geologie, über Klimatologie, Kulturgeschichte oder Kunst bis hin zur Zoologie) in gut lesbarer Form versammeln. Daneben sollten Entwicklung und Herausbildung der Humboldtschen Wissenschaft ebenso gut erkennbar sein wie die so verschiedenartigen Schreibweisen, derer sich Alexander von Humboldt in seinen Amerikanischen Reisetagebüchern bediente.
Hautnah sollen uns die ausgewählten Text-Inseln an Alexander von Humboldt, an sein Denken, sein Wissen, seine Wissenschaft, sein Schreiben, kurzum: an sein ganzes Leben – denn für ihn konzentrierte sich das Leben eines Homme de Lettres auf dessen Schriften – heranführen. Dieses Buch der Begegnungen soll nicht zuletzt viele intensive Begegnungen der Leserinnen und Leser mit Alexander von Humboldt erlauben. Es ermöglicht ein aktives Reisen mit dem Weltreisenden. Auf dieser Reise durch das Buch der Begegnungen können wir unsere Route selbst wählen. Wir können dem Text linear folgen, aber auch im dichten Flussnetz seines Schreibens wie am Orinoco von Insel zu Insel hüpfen oder wie in der Vulkanwelt der Anden von Bergspitze zu Bergspitze springen. Verschiedenste Leseparcours, die sich auf seine autobiografischen Texte oder seine Landschaften, auf die verschiedenen indigenen Kulturen oder deren Sprachen, auf die Sklaverei oder deren weltwirtschaftliche Verbindungen, auf Zivilisation oder Barbarei, auf Religion und Mythos oder Wissen und Wissenschaft konzentrieren, laden uns zur Reise ein: in einer vielverbundenen Welt, in der alles Wechselwirkung ist. Alle Wege sind zugleich offen und verbinden, verknüpfen sich mit uns.
1 Vgl. Ette, Ottmar: Eine «Gemütsverfassung moralischer Unruhe» – «Humboldtian Writing»: Alexander von Humboldt und das Schreiben in der Moderne. In: Ette, Ottmar/ Hermanns, Ute/Scherer, Bernd M./Suckow, Christian (Hg.): Alexander von Humboldt – Aufbruch in die Moderne. Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 33– 55.
2 Vgl. Köhler, Erich: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München: Wilhelm Fink Verlag 1973.
3 Vgl. Kraft, Tobias: Figuren des Wissens bei Alexander von Humboldt. Essai, Tableau und Atlas im amerikanischen Reisewerk. Berlin–Boston: Walter de Gruyter 2014.
4 Zitate aus den in diesem Band versammelten Amerikanischen Reisetagebüchern erfolgen direkt im Text unter Angabe der Nummer der entsprechenden Passage.
5 Vgl. Ette, Ottmar: Bild-Schrift, Schrift-Bild, Hand-Schrift. Zur Kunst der Sichtbarmachung in Alexander von Humboldts «Amerikanischen Reisetagebüchern». In: Ette, Ottmar/Müller, Gesine (Hg.): Visualisierung, Visibilisierung und Verschriftlichung. Schrift-Bilder und Bild-Schriften im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Berlin: Verlag Walter Frey – edition tranvía 2015, S. 11– 64.
6 Vgl. Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Mit dem geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Mit einem vollständigen Namen- und Sachregister. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. Frankfurt am Main–Leipzig: Insel Verlag 2009.
Leseparcours
Das vorliegende Buch kann auf höchst verschiedenartige Weise gelesen werden. Eine lineare und kontinuierliche Lesart entfaltet die gesamte Reise in die Tropen Amerikas grosso modo so, wie sie sich in den neun Bänden der Amerikanischen Reisetagebücher (ART) darstellt, welche Alexander von Humboldt 1858 in Schweinsleder binden ließ. Alle Texte entstammen diesen von Humboldt verfassten und gesammelten Manuskripten und lassen die frühesten Hoffnungen des Autors, eine große Weltreise fernab von Europa in entfernte Weltregionen durchzuführen, ebenso aufscheinen wie die Befürchtungen des Forschers, am Ausgang seiner so erfolgreichen Expedition doch noch von den Kräften der Natur zu jenem Schiffbruch verurteilt zu werden, der sich in seinen autobiografischen Reflexionen so kontinuierlich (und gleich im ersten Text dieses Bandes) finden lässt.
Weitere LesARTen siedeln sich jenseits linearer Lektüren an. So kann man den nachstehend aufgelisteten Leseparcours folgen, die von Text-Insel zu Text-Insel den Wegbeschreibungen folgend unterschiedlichste Themenbereiche erschließen. Selbstverständlich überschneiden sich diese Leseparcours thematisch, sodass es beispielsweise möglich ist, von den «Amerikanischen Völkern und Kulturen» zum Bereich der «Sklaverei» überzugehen, um danach Humboldts Überlegungen zu «Wirtschaft und Ökonomie» zu verfolgen. Durch diese Bewegungen ergeben sich Vernetzungen, die das vernetzte und vernetzende Denken Alexander von Humboldts buchstäblich simulieren. Alles ist Wechselwirkung. (75)
Es versteht sich von selbst, dass dieses Buch der Begegnungen seine Leserinnen und Leser dazu auffordert, von Insel zu Insel ohne einen vorgegebenen Leseparcours zu hüpfen oder auch den von Humboldt selbst angegebenen Sequenzen (etwa den Überschriften «Sklaverei» oder «Missionen») folgend eigenen Leserichtungen nachzugehen. Es ist ein lohnendes Unterfangen, sich von den jeweiligen Titeln der Text-Inseln zur spontanen Lektüre anregen zu lassen.
Alexander von Humboldts Reiseroute wurde von Beginn an durch immer wieder neue politische Veränderungen, Seuchen, Erkrankungen von Reisegefährten oder den Zufällen bestehender oder unterbrochener Verkehrsmöglichkeiten umgelenkt. «Ein Buch von der Natur», so schrieb Humboldt an einem 27. Oktober 1834 an Varnhagen von Ense, «muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen.»7 Auf den Spuren Alexander von Humboldts zu reisen heißt, immer wieder neuen Herausforderungen zu folgen und lustvoll weite Wege in entfernte Gebiete einzuschlagen: Invitation au voyage!
Amerikanische Völker und Kulturen 96 - 17 - 18 - 107 - 92 - 20 - 90 - 22 - 24 - 25 - 26 - 28 - 91 - 38 - 44 - 46 - 47 - 95 - 55 - 56 - 57 - 58 - 59 - 60 - 93 - 62 - 64 - 66 - 79 - 81 - 84 - 87 - 115 - 104 - 89 - 112 - 97 - 118 - 119 - 98.
Autobiografisches 1 - 120 - 94 - 3 - 5 - 10 - 88 - 117.
Bergbesteigungen 37 - 77 - 78 - 113 - 94 - 117 - 81 - 82 - 83.
Europäische Antike/Amerikanische Antike 17 - 109 - 44 - 112 - 62 - 66 - 96 - 74 - 99 - 84 - 85 - 89 - 91.
Justiz und Gerechtigkeit 118 - 13 - 21 - 106 - 33 - 118.
Geschichte und Gesellschaft 98 - 20 - 21 - 100 - 92 - 90 - 23 - 25 - 27 - 29 - 34 - 35 - 36 - 45 - 47 - 52 - 103 - 106 - 108 - 61 - 63 - 111 - 67 - 68 - 109 - 79 - 114 - 99 - 105 - 119.
Landschaft und Natur 7 - 10 - 94 - 24 - 30 - 33 - 37 - 41 - 46 - 47 - 48 - 49 - 50 - 51 - 53 - 63 - 67 - 71 - 78 - 81 - 82 - 83 - 86 - 88 - 89 - 120.
Männer und Frauen 2 - 9 - 35 - 59 - 69 - 70 - 115.
Manuskripte und Reisetagebücher 120 - 53 - 54 - 72 - 83 - 110.
Menschheit 12 - 28 - 69 - 41 - 44 - 48 - 74 - 85.
Missionen und Mönche 8 - 104 - 11 - 16 - 21 - 22 - 25 - 59 - 60 - 38 - 46 - 51 - 57 - 63 - 66 - 87.
Politik 100 - 90 - 13 - 105 - 20 - 111 - 23 - 29 - 34 - 106 - 63 - 68 - 98 - 114 - 102.
Reisegefährten 4 - 6 - 11 - 37 - 54 - 113 - 120 - 73 - 76 - 77 - 78 - 101 - 80 - 81 - 88 - 110.
Reiseverlauf 2 - 99 - 4 - 5 - 94 - 7 - 11 - 30 - 54 - 82 - 86 - 71 - 72 - 76 - 120.
Religion und Mythen 16 - 109 - 96 - 104 - 20 - 21 - 95 - 24 - 106 - 38 - 58 - 107 - 64 - 80 - 87 - 112.
Sklaven und Sklaverei 102 - 14 - 31 - 32 - 92 - 34 - 118 - 98 - 40 - 42 - 43 - 100 - 63 - 103 - 119 - 116.
Sprachen 97 - 20 - 55 - 58 - 61.
Städte 13 - 108 - 36 - 106 - 116.
Tiere 49 - 50 - 24 - 26 - 48 - 52 - 19.
Wirtschaft und Ökonomie 12 - 92 - 15 - 17 - 105 - 21 - 28 - 95 - 32 - 34 - 116 - 42 - 43 - 46 - 52 - 60 - 63 - 65 - 100 - 118.
Wissen und Wissenschaft 75 - 1 - 96 - 2 - 39 - 41 - 94 - 53 - 64 - 114 - 73 - 76 - 77 - 78 - 117 - 80 - 82 - 83 - 85 - 86 - 88 - 110 - 119.
Zivilisation und Barbarei 90 - 12 - 28 - 29 - 91 - 96 - 34 - 40 - 92 - 44 - 45 - 48 - 112 - 55 - 56 - 103 - 59 - 60 - 62 - 64 - 66 - 102 - 93 - 108 - 74 - 79 - 97 - 84 - 85 - 87 - 100.
7 Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagen’s Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt. [Hg. von Ludmilla Assing.] Leipzig: F. A. Brockhaus 1860, S. 23.
Das Buch der Begegnungen