Buch:
»Ein furioser Thriller, den man geradezu verschlingt.«
JOHN GRISHAM
NIEMAND kennt die ganze Wahrheit.
NIEMAND weiß von der Gefahr.
NIEMAND ahnt, dass alles auf dem Spiel steht.
Vivian Miller ist Spionageabwehr-Analystin bei der CIA. Mit ihrem Mann Matt, einem IT-Spezialisten, und ihren Kindern lebt sie in einem Vorort von Washington, D.C. Auf diesen Tag hat sie seit zwei Jahren hingearbeitet: Mithilfe eines speziellen Algorithmus will Vivian ein Netzwerk russischer Spione in den USA enttarnen. Endlich gelingt ihr der Zugriff auf den Computer eines russischen Agentenbetreuers. Auf eine Datei mit fünf Fotos – allesamt »Schläfer«, die auf amerikanischem Boden operieren. Nur einen Klick weiter, und alles, was ihr wichtig ist – ihre Familie, ihre Ehe, ihr Job –, ist plötzlich in Gefahr …
Vivian hat geschworen, ihr Land gegen alle inneren und äußeren Feinde zu schützen. Was aber, wenn es den Russen gelungen ist, sie an ihrer einzigen Schwachstelle zu treffen? Ist sie bereit, das letzte Opfer zu bringen?
Autorin:
Karen Cleveland war acht Jahre als Analystin für die CIA tätig, davon sechs Jahre in der Abteilung Russland. Mit »Wahrheit gegen Wahrheit« gelang ihr sofort der Sprung auf die New York Times-Bestsellerliste. Der Thriller erscheint in 30 Ländern und wird von Universal Pictures mit Charlize Theron in der Hauptrolle verfilmt. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt Karen Cleveland in Virginia.
KAREN CLEVELAND
WAHRHEIT
GEGEN
WAHRHEIT
THRILLER
Aus dem Amerikanischen
von Stefanie Retterbush

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Die Originalausgabe erschien im Januar 2018 unter dem Titel »Need to Know« bei Ballantine Books, New York.
Das vorangestellte Zitat von Oscar Wilde entstammt folgender Ausgabe:
Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Grey.
Aus dem Englischen von Angelika Beck. © 1999 by Manesse Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2018
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Karen Cleveland
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Carlos Beltrán
Covermotiv: Katya Evdokimova/Millenium Images, UK
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Klü · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-22109-6
V002
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für B. J. W.
»Wenn man liebt, täuscht man immer erst sich selbst und dann andere. Das nennt alle Welt dann eine Romanze.«
Oscar Wilde
Ich stehe in der Tür zum Zimmer der Zwillinge und sehe ihnen beim Schlafen zu. Friedlich und unschuldig liegen sie da und schlummern. Wie sie da hinter den Gitterstäben ihrer Bettchen liegen, erinnert mich das irgendwie an eine Gefängniszelle.
Ein Nachtlicht taucht das ganze Zimmer in einen warmen orangeroten Schein. Der kleine Raum ist vollgestellt mit Möbeln. Viel mehr, als eigentlich hineinpassen. Zwei Babybetten. Ein altes, ein neues. Ein Wickeltisch, darauf ein Stapel Windeln, noch in der Plastikverpackung. Das Bücherregal, das Matt und ich damals zusammengebaut haben. Jahre ist das inzwischen her. Die Regalbretter biegen sich unter all den Kinderbüchern, die ich längst auswendig kann, so oft habe ich sie meinen beiden Großen schon vorgelesen. Und eigentlich habe ich mir vorgenommen, sie auch den Zwillingen noch öfter vorzulesen. Aber dazu fehlt mir einfach die Zeit.
Hinter mir Schritte auf der Treppe. Matt, der nach oben kommt. Meine Hand schließt sich um den USB-Stick. So fest, als würde er, wenn ich nur lange genug zudrücke, einfach verschwinden. Sich in Luft auflösen. Als wäre dann wieder alles wie vorher. Die vergangenen Tage wären ausgelöscht. Nichts als ein böser Traum. Aber er ist immer noch da: hart, unkaputtbar, echt.
Die Dielen knarzen, wie sie immer knarzen. Ich drehe mich nicht um. Er tritt hinter mich. So dicht, dass ich die Seife rieche, die er immer benutzt. Das Shampoo. Ihn. Diesen Duft, der sonst so seltsam tröstlich war und ihn mir jetzt kurioserweise noch fremder macht. Ich spüre sein Zögern.
»Können wir reden?«, fragt er. Ganz leise.
Aber es reicht, dass Chase sich rührt. Er seufzt im Schlaf, dann wird er wieder ruhig. Zusammengeringelt wie ein Tausendfüßler liegt er da, als müsse er sich vor der feindlichen Welt schützen. Ich habe immer schon gedacht, dass er seinem Vater sehr ähnlich ist. Mit diesen wachen ernsten Augen, denen nichts entgeht. Jetzt frage ich mich, ob ich ihn je wirklich kennen werde. Ob die Last der Geheimnisse, die er wird tragen müssen, womöglich so schwer wiegt, dass sie jeden, der ihm nahekommt, erdrückt.
»Was gibt es da zu sagen?«
Er kommt noch einen Schritt näher, legt mir eine Hand auf den Arm. Ich rücke von ihm ab. Gerade genug, um ihn abzuschütteln. Seine Hand verharrt einen Moment in der Luft, dann lässt er sie fallen.
»Was willst du jetzt machen?«, fragt er.
Mein Blick geht zu dem anderen Bettchen. Zu Caleb, der in seinem einteiligen Strampler auf dem Rücken liegt. Blonde Engelslöckchen, Arme und Beine ausgebreitet wie ein Seestern. Die Hände offen, die rosaroten Lippen genauso. Er weiß noch nichts von der Grausamkeit der Welt. Davon, wie unbarmherzig sie sein kann. Und wie sie ganz sicher zu ihm sein wird.
Ich habe immer geschworen, ihn zu beschützen. Dafür zu sorgen, dass er alle Chancen bekommt. Dass sein Leben so normal wie möglich verläuft. Aber wie soll ich für ihn sorgen, wenn ich nicht da bin?
Für meine Kinder würde ich alles tun. Einfach alles. Ich öffne die Hand, und mein Blick geht zu dem USB-Stick. Diesem kleinen, unscheinbaren, nichtssagenden rechteckigen Stück Plastik. So klein und doch so gefährlich. Er könnte alles richten oder alles zerstören.
Wie eine Lüge, wenn man so darüber nachdenkt.
Ich schaue meinen Mann an. Diesen Menschen, den ich so gut kenne und der mir so fremd ist. »Du weißt, dass ich keine Wahl habe.«
Zwei Tage zuvor

»Schlechte Nachrichten, Viv.«
Matts Stimme durchs Telefon. Worte, die wohl jeder fürchtet. Doch er klingt unaufgeregt. Unbeschwert fast, und ein wenig entschuldigend. Es muss etwas Unangenehmes, aber nicht allzu Schlimmes sein. Etwas, das wir schon irgendwie hinkriegen. Wäre es etwas wirklich Schlimmes, würde er viel ernster klingen. Er würde in ganzen Sätzen reden, mich mit meinem vollen Namen ansprechen. Ich habe schlechte Nachrichten, Vivian.
Ich klemme mir mit der Schulter den Telefonhörer unters Kinn und drehe mich samt Stuhl zur anderen Seite meines L-förmigen Schreibtischs, wo der Computer steht. Ziehe den Mausanzeiger zum Eulen-Symbol auf dem Bildschirm und doppelklicke darauf. Wenn es das ist, was ich denke, dass es ist – eigentlich weiß ich es –, dann bleibt mir nicht mehr allzu viel Zeit hier am Schreibtisch.
»Ella?«, frage ich. Mein Blick geht zu einem der Wachsmalbilder, die mit Reißzwecken an die hohen Trennwände meines Arbeitsplatzes gepinnt sind. Ein kleiner Farbklecks in einem Meer von Grau.
»38,3.«
Ich schließe die Augen und atme tief durch. Eigentlich hatten wir ja schon damit gerechnet. Die halbe Gruppe war krank. Sie fallen um wie die Dominosteine. Einer nach dem anderen. Es war also nur eine Frage der Zeit. Vierjährige sind nun mal nicht unbedingt die Reinlichsten. Aber gerade heute? Musste es ausgerechnet heute sein?
»Sonst noch was?«
»Nur erhöhte Temperatur.« Er unterbricht sich. »Tut mir leid, Viv. Als ich sie hingebracht habe, war noch alles in Ordnung.«
Ich schlucke gegen den Kloß im Hals an und nicke, obwohl er das ja nicht sehen kann. Wäre das an einem anderen Tag passiert, hätte er sie abholen können. Er arbeitet von zu Hause aus, zumindest theoretisch. Das kann ich in meinem Job leider nicht. Und meinen Jahresurlaub habe ich schon bei der Geburt der Zwillinge aufgebraucht. Heute aber ist Matt mit Caleb in der Stadt, zur vorerst letzten einer ganzen Reihe von medizinischen Untersuchungen. Seit Wochen schon habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht dabei sein kann. Und jetzt bin ich nicht dabei und muss trotzdem einen Tag freinehmen. Obwohl ich überhaupt keine Urlaubstage mehr habe.
»Bin in einer Stunde da«, entgegne ich mechanisch. Laut Regeln der Kita haben wir ab dem Zeitpunkt der Benachrichtigung genau eine Stunde Zeit, unser Kind abzuholen. Wenn ich die Fahrt einrechne und den Weg zum Auto – das ganz hinten auf dem weitläufigen Parkplatz hier in Langley steht –, bleibt mir jetzt noch knapp eine Viertelstunde, um alles Wichtige zu erledigen und dann für heute Schluss zu machen. Macht eine Viertelstunde weniger auf meinem Negativkonto.
Ich schaue auf die Uhr in der Ecke meines Bildschirms – sieben nach zehn –, dann wandert mein Blick zu dem Starbucks-Becher neben meinem rechten Ellbogen. Heißer Dampf schlängelt sich durch die kleine Trinköffnung im Plastikdeckel. Den Kaffee habe ich mir heute ausnahmsweise gegönnt. Ein kleines Extra in vorfreudiger Erwartung dieses langersehnten Tages. Nervennahrung für die anstrengende Arbeitszeit. Kostbare Minuten habe ich dafür in der Warteschlange vertrödelt, statt mich bereits durch digitale Dateien zu wühlen. Hätte ich mich doch wie sonst auch an die ewig tropfende Kaffeemaschine im Büro gehalten, bei der Pulverreste oben in der Tasse schwimmen!
»Habe ich der Schule schon gesagt«, erwidert Matt. »Die Schule« ist eigentlich die Kita, die unsere drei jüngsten Kinder ganztags besuchen. Aber wir nennen sie, schon seit wir Luke damals mit drei Monaten zum ersten Mal hingebracht haben, »die Schule«. Ich hatte irgendwo gelesen, das könne bei der Umstellung helfen. Mamas schlechtes Gewissen ein bisschen lindern, wenn sie ihr Kleinkind acht, zehn Stunden am Tag in fremde Hände gibt. Hat es zwar nicht. Aber alte Gewohnheiten lassen sich nun mal schwer ändern.
Dann schweigt er, und ich höre Caleb im Hintergrund brabbeln. Ich lausche angestrengt und weiß, dass auch Matt die Ohren spitzt. Inzwischen sind wir darauf konditioniert. Aber es ist nur eine lange Kette unzusammenhängender Vokale. Noch immer keine Konsonanten.
»Ich weiß, heute sollte eigentlich dein großer Tag sein …«, murmelt Matt schließlich und bricht ab. Ich kenne es, dass er so abbricht. Diese vagen, nichtssagenden Unterhaltungen auf meiner unverschlüsselten Leitung. Weil ich immer fürchte, es könnte jemand mithören. Die Russen. Die Chinesen. Wer weiß. Das ist auch einer der Gründe, warum die Kita immer zuerst Matt anruft, wenn es irgendwas zu besprechen gibt. Mir ist es lieber, einige Details aus dem Leben unserer Kinder herauszufiltern, ehe sie potenziellen Gegenspielern zu Ohren kommen.
Nennen Sie mich ruhig paranoid. Als CIA-Spionageabwehranalystin wird man das.
Wobei das auch schon alles ist, was Matt über meinen Beruf weiß. Nicht, dass ich bisher vergebens versuche, ein Agentennetzwerk russischer Schläfer zu enttarnen. Oder eine Methode entwickelt hätte, um Personen zu identifizieren, die an streng geheimen Regierungsprogrammen beteiligt sind. Nur, dass ich schon seit Monaten auf diesen Tag hinarbeite. Dass ich nun endlich erfahren werde, ob sich zwei Jahre harter Arbeit auszahlen. Und ob sich damit vielleicht die Chance auf die langersehnte Beförderung auftut, die wir dringend brauchen könnten.
»Tja, na ja«, brumme ich, bewege die Maus hin und her und sehe zu, wie der Mausanzeiger sich in eine Eieruhr verwandelt, als Athena anfängt zu laden. »Calebs Termin ist heute das Wichtigste.«
Mein Blick geht wieder zu der Trennwand mit den Wachsmalbildern. Eins ist von Ella, ein Bild unserer ganzen Familie: strichdünne Streichholzarme und -beine, die aus sechs fröhlichen kugelrunden Gesichtern ragen. Und eins ist von Luke. Schon etwas realistischer, nur eine Person, dicke krakelige Striche, die Haaren, Kleidung und Schuhen Farbe geben. Mommy, steht in fetten Druckbuchstaben darunter. Das ist aus seiner Superheldenphase. Das auf dem Bild soll ich sein. Mit Cape, die Hände in die Hüften gestemmt, ein großes »S« auf dem Shirt. Supermami.
Da ist wieder das altbekannte Gefühl in der Brust. Dieser Druck. Dieser überwältigende Drang, einfach in Tränen auszubrechen. Tief durchatmen, Viv. Tief durchatmen.
»Malediven?«, meint Matt, und trotz allem will sich der Anflug eines Lächelns auf meine Lippen stehlen. Immer macht er das. Immer schafft er es, mich zum Lachen zu bringen, auch wenn mir gerade nach Weinen zumute ist. Ich schaue auf das Foto von uns beiden, das seitlich auf dem Schreibtisch steht. Mein Lieblingsbild von unserer Hochzeit. Fast zehn Jahre ist das jetzt her. Wir waren beide so glücklich, so jung. Wir haben uns immer ausgemalt, unseren zehnten Hochzeitstag an einem ganz exotischen Ort zu verbringen. Daran ist längst nicht mehr zu denken. Aber man darf ja wohl ein bisschen träumen. Träume sind schön. Schön und deprimierend.
»Bora Bora«, erwidere ich.
»Damit könnte ich leben.« Er zögert, und im Hintergrund ist Caleb zu hören. Wieder stößt er langgezogene Vokale aus. Aah-aah-aah. Ich überschlage kurz, wie lange Chase jetzt schon Konsonanten kann. Ich weiß, das sollte ich lieber lassen – die Ärzte sagen, man soll das nicht machen –, aber ich mache es trotzdem.
»Bora Bora?«, sagt jemand hinter mir gespielt ungläubig. Ich lege die Hand über die Muschel und drehe mich um. Es ist Omar, mein Kollege vom FBI – mein Gegenstück, sozusagen. Amüsiert schaut er mich an. »Das könnte schwer zu erklären sein, selbst für die CIA.« Er grinst von einem Ohr zum anderen. Ansteckend wie immer. Als ich das sehe, muss ich auch lächeln.
»Was machst du hier?«, frage ich, die Hand noch immer über der Sprechmuschel. Am anderen Ende brabbelt Caleb mir ins Ohr. Diesmal ooh-ooh-ooh.
»Meeting mit Peter.« Er tritt einen Schritt näher, hockt sich auf die Schreibtischkante. Durch das T-Shirt zeichnet sich das Holster an seiner Hüfte ab. »Das Timing könnte Zufall gewesen sein. Oder auch nicht.« Er wirft einen Blick auf meinen Bildschirm, und sein Lächeln verblasst unmerklich. »Heute ist doch der große Tag, oder? Um zehn?«
Ich schaue ebenfalls auf den Bildschirm, der schwarz ist. Vor dem dunklen Hintergrund dreht sich noch immer die Eieruhr. »Heute ist der große Tag.« Das Brabbeln in meinem Ohr ist verstummt. Ich rolle mit dem Stuhl beiseite, wende mich ein kleines bisschen ab, weg von Omar, und nehme die Hand vom Hörer. »Liebling, ich muss Schluss machen. Omar ist hier.«
»Grüß ihn von mir«, sagt Matt.
»Mache ich.«
»Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.« Damit lege ich den Hörer auf die Gabel und drehe mich wieder zu Omar um, der noch immer in Jeans auf meinem Schreibtisch hockt, die Beine ausgestreckt und an den Knöcheln überkreuzt. »Matt lässt grüßen«, sage ich.
»Ach so, das ist also die ominöse Bora-Bora-Connection. Plant ihr euren nächsten Urlaub?« Er hat das Hundert-Watt-Strahlen wieder angeknipst.
»In unseren Träumen«, antworte ich mit einem halbherzigen Grinsen. Was so bemitleidenswert klingt, dass ich schlagartig erröte.
Er schaut mich noch einen Moment an, dann senkt er zum Glück den Blick auf sein Handgelenk. »Also gut, es ist jetzt zehn nach zehn.« Er streckt die Beine und kreuzt sie dann anders herum. Dann beugt er sich vor. Die Aufregung ist ihm anzusehen. »Was hast du für mich?«
Omar ist schon viel länger dabei als ich. Mindestens zehn Jahre. Er sucht die eigentlichen Schläfer in den USA, während ich daran arbeite, herauszufinden, wer die Zellen leitet. Keiner von uns beiden war bisher besonders erfolgreich. Woher er seine ungebrochene Begeisterungsfähigkeit nimmt, ist mir ein Rätsel.
»Leider noch nichts. Hab noch gar nicht reingeschaut.« Nickend weise ich auf den Bildschirm, wo das Programm noch immer lädt. Dann geht mein Blick zu dem an die Trennwand gepinnten Schwarz-Weiß-Foto. Juri Jakow. Fleischergesicht, harte Züge. Nur noch ein paar Klicks, dann bin ich in seinem Rechner. Kann sehen, was er sieht, kann mich umschauen, seine Dateien durchstöbern. Und bin hoffentlich in der Lage, zu beweisen, dass er ein russischer Spion ist.
»Wer bist du, und was hast du mit meiner Freundin Vivian gemacht?«, fragt Omar grinsend.
Er hat recht. Hätte ich nicht bei Starbucks in der Schlange gestanden, hätte ich mich um Punkt zehn in das Programm einloggen können. »Ich bin da dran.« Dann weise ich mit dem Kinn zum Telefon. »Aber heute muss das noch mal warten. Ella ist krank. Ich muss sie abholen.«
Theatralisch atmet er aus. »Kinder. Keinen Sinn für Timing.«
Eine Bewegung auf dem Bildschirm lässt mich aufschauen, und ich rolle auf dem Stuhl näher heran. Endlich hat Athena fertig geladen. Überall rote Banner, Worte über Worte, jeder aufpoppende Hinweis eine andere Sicherheitswarnung, jede von einer anderen Abteilung. Je länger die Wortgirlanden, desto geheimer die Informationen. Diese hier sind verdammt lang.
Ich klicke die erste Pop-up-Anzeige weg, dann noch eine. Jeder Klick eine Zustimmung. Ja, ich weiß, dass ich auf hochsensible Informationen zugreife. Ja, ich weiß, dass ich nichts davon weitergeben darf oder auf sehr lange Zeit in den Knast wandere. Ja, ja, ja. Jetzt gebt mir endlich diese verdammten Informationen.
»Wir sind ganz nah dran«, murmelt Omar. Erst da fällt mir wieder ein, dass er da ist. Aus den Augenwinkeln sehe ich zu ihm rüber. Er hat sich abgewendet und schaut angestrengt überallhin, nur nicht auf den Bildschirm, damit ich ungestört arbeiten kann. »Das spüre ich.«
»Na, hoffentlich«, brumme ich. Und das tue ich wirklich. Ich bin nervös. Diese neue, unerprobte Methode ist ein Vabanquespiel. Alles oder nichts. Ich habe für mögliche Agentenbetreuer ein Profil erstellt: Bildungseinrichtungen, Studium und Abschlüsse, Bankverbindungen, Reisen innerhalb Russlands und ins Ausland. Habe einen Algorithmus entwickelt und fünf Leute ausfindig gemacht, die am besten in das Raster passen. Sehr wahrscheinliche Kandidaten.
Die ersten vier haben sich allesamt als Fehlschläge erwiesen. Die Spuren führten ins Nichts. Weshalb jetzt das ganze Programm auf der Kippe steht. Alles steht und fällt mit Juri. Unserer Nummer fünf. Sein Computer war am schwersten zu knacken. Bei ihm hatte ich von Anfang an so ein bestimmtes Gefühl.
»Und wenn nicht«, meint Omar, »hast du zumindest etwas geschafft, das sonst noch niemandem gelungen ist. Du warst ganz nah dran.«
Die Agentenbetreuer ins Visier zu nehmen ist ein ganz neuer Ansatz. Jahrelang hat das FBI versucht, die eigentlichen Schläfer zu identifizieren, aber die sind so gut integriert, dass das beinahe unmöglich ist. Die Zellen sind so ausgelegt, dass sie mit niemand anderem in Kontakt stehen als mit ihrem Betreuer. Und selbst dieser Kontakt ist auf ein absolutes Minimum reduziert. Die CIA ihrerseits hat sich auf die Agentenführer konzentriert. Die Männer, die die Betreuer kontrollieren, die in Moskau, mit der direkten Verbindung zum SWR, dem russischen Auslandsnachrichtendienst.
»Knapp daneben ist auch vorbei«, gebe ich leise zurück. »Das müsstest du doch am besten wissen.«
Als ich mit diesem Projekt angefangen habe, war Omar noch ein junger, knochenharter und ehrgeiziger Agent. Auf seine Initiative hin hatte man eine vollkommen neuartige Herangehensweise ausprobiert, und zwar, Schläfer in den USA einzuladen, »aus der Kälte heim ins Warme zu kommen«; denen, die bereit waren, sich zu stellen, wurde eine Amnestie versprochen. Die Idee dahinter? Es musste doch wenigstens ein paar Schläfer geben, die aus ihrer Tarnung eine echte Identität machen wollten. Vielleicht konnten wir durch sie genügend Informationen sammeln, um das ganze Netzwerk aufzudecken.
Der Plan wurde ohne großen Wirbel implementiert, und siehe da, es dauerte keine Woche, da kam der Erste auch schon hereingeschneit: ein Mann namens Dimitri. Er bezeichnete sich als Agentenbetreuer auf der mittleren Ebene, erzählte uns einiges über das Programm, was mit unseren bisherigen Informationen übereinstimmte – die Betreuer seien für jeweils fünf Schläfer zuständig und einem Agentenführer zugeordnet, der seinerseits für fünf Betreuer zuständig sei. Eine vollkommen autarke, hermetisch abgeschlossene Zelle. Damit hatte er uns. Doch dann kamen die unglaubwürdigen Behauptungen. Informationen, die so gar nicht zu dem passten, was wir bis dahin in Erfahrung gebracht hatten. Und dann war er plötzlich verschwunden. Dimitri, die Luftkarotte, so nannten wir ihn danach. Weil er uns wie einen Esel mit einer in der Luft baumelnden Karotte an der Nase herumgeführt hatte.
Und das war das Ende des gesamten Programms. Öffentlich einzuräumen, dass es in den USA unentdeckte Schläfer gab, und darüber hinaus eingestehen zu müssen, dass wir nicht in der Lage waren, sie aufzuspüren, war für die FBI-Oberen einfach undenkbar. Deshalb und wegen der Gefahr russischer Manipulationen – sie könnten versuchen, Doppelagenten mit falschen Hinweisen bei uns einzuschleusen – geriet der Plan ins Kreuzfeuer der Kritik und wurde schließlich verworfen. Sonst ertrinken wir in Dimitris, hieß es. Und damit war Omars eben noch so vielversprechend steile Karriere ins Stocken geraten. Seine Vorgesetzten hatten ihn vergessen, und seitdem rackerte er sich Tag für Tag an einer undankbaren, frustrierenden, unmöglichen Aufgabe ab.
Die Bildschirmanzeige wechselt, und ein kleines Icon mit Juris Namen erscheint. Es gibt mir immer einen Kick, wenn ich sehe, dass ich drin bin; dass jetzt ein Fenster zum digitalen Leben unserer Zielperson offen ist; dass wir Informationen bekommen, die sie selbst für geschützt hält. Wie aufs Stichwort steht Omar auf. Er weiß von dem Programm, von meinen Bemühungen, Juri festzunageln. Er ist einer von nur einer Handvoll FBI-Agenten, die in dieses Programm eingebunden sind – und einer seiner glühendsten Befürworter. Er glaubt felsenfest an meinen Algorithmus. Und an mich. Mehr als jeder andere. Trotzdem hat er selbst keinen Zugriff darauf.
»Du rufst mich morgen an, ja?«, sagt er.
»Worauf du dich verlassen kannst«, erwidere ich. Er dreht sich um, und sobald er mir den Rücken zugekehrt hat und rausgeht, konzentriere ich mich wieder ganz auf den Bildschirm. Ich doppelklicke auf das Icon, und ein rot gerahmtes Fenster mit dem Inhalt von Juris Laptop poppt auf. Ein Inhaltsverzeichnis, das mir alle Dateien von seinem Rechner anzeigt. Ich habe nur ein paar Minuten, bis ich wieder rausmuss, aber es reicht für einen flüchtigen ersten Blick.
Der Hintergrund ist dunkelblau. Davor etwas, das aussieht wie Luft- oder Seifenblasen in verschiedenen Größen und Blautönen. Ordentlich in vier Reihen angeordnete Symbole, die Hälfte davon Ordner. Dateinamen alle in kyrillischen Buchstaben. Die ich zwar erkenne, aber nicht entziffern kann – oder zumindest nicht flüssig lesen. Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Russischkurs belegt. Aber dann kam Luke. Es blieb bei dem Versuch und einigen rudimentären Kenntnissen. Ich kenne ein paar Alltagsfloskeln, erkenne einige einfache Wörter, aber das war’s auch schon. Für alles andere brauche ich Sprachkundige oder eine Übersetzer-Software.
Ich öffne zuerst ein paar Ordner und dann die Textdokumente darin. Seite um Seite eng geschriebener Texte. Ausschließlich kyrillische Schrift. Was für eine Enttäuschung. Wobei, das ist natürlich Quatsch. Was hatte ich denn erwartet? Dass ein Russe, der in Moskau am Rechner sitzt, Englisch schreibt? Seine Unterlagen auf Englisch führt? »Liste der Undercover-Agenten in den USA.« Ich weiß, dass das, was ich suche, verschlüsselt sein muss. Worauf ich höchstens hoffen kann, ist ein kleiner Hinweis. Irgendeine geschützte Datei, etwas mit offensichtlicher Codierung.
Dadurch, dass es uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, auch in hohe Organisationsebenen einzudringen, wissen wir, dass nur die Agentenbetreuer die Namen der Schläfer kennen und dass die Namen elektronisch gespeichert werden. Vor Ort. Nicht in Moskau. Weil der SWR Maulwürfe innerhalb der eigenen Organisation fürchtet. Diese Angst ist so groß, dass sie es lieber riskieren, Schläfer zu verlieren, als die Namen der Agenten in Russland zu speichern. Und wir wissen auch, sollte dem Betreuer etwas zustoßen, würde der Agentenführer die elektronischen Dateien einsehen und Moskau kontaktieren, um einen Dechiffrierschlüssel zu erhalten. Nur ein Baustein des aufwendigen Entschlüsselungsprotokolls. Den Code aus Moskau haben wir. Wir hatten bloß nie etwas zu decodieren.
Das Programm ist wasserdicht. Wir können da nicht eindringen. Wir kennen nicht einmal den wahren Zweck, wenn es denn einen gibt. Vielleicht geht es um pures Datensammeln, vielleicht steckt Übles dahinter. Da aber, wie wir wissen, der Kopf des Programms an Putin persönlich berichtet, neige ich dazu, Letzteres zu vermuten – und das raubt mir den Schlaf.
Ich überfliege das Inhaltsverzeichnis weiter. Mein Blick huscht über jede einzelne Datei, obwohl ich gar nicht so genau weiß, wonach ich suche. Und dann bleibt mein Blick an einem Wort hängen, das ich erkenne. друЗьЯ. Freunde. Das letzte Icon in der letzten Reihe. Ein großer gelber Briefumschlag. Ich doppelklicke darauf, und der Ordner öffnet sich. Zum Vorschein kommt eine Liste mit fünf JPG-Dateien, weiter nichts. Das Herz schlägt mir plötzlich bis zum Hals. Fünf. Jeder Betreuer ist für fünf Schläfer zuständig, das wissen wir aus diversen verlässlichen Quellen. Und dann dieser Name. Freunde.
Ich klicke auf den ersten Dateinamen. Das Bild öffnet sich. Ein Foto wie ein Passbild. Ein Mann mittleren Alters mit runder Brille. Unscheinbar. Mir wird kribbelig vor Aufregung. Schläfer sind bestens angepasst. Im Grunde fast unsichtbare, vollkommen unauffällige Mitbürger. Das muss einer sein.
Der logische Teil meines Hirns ermahnt mich, nicht gleich völlig auszuflippen. Unsere sämtlichen bisherigen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass alle Informationen über die Schläfer verschlüsselt sein müssten. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, das hier ist etwas ganz Großes.
Ich öffne das zweite Bild. Eine Frau, orangerote Haare, strahlend blaue Augen, breites Lächeln. Wieder ein Passfoto, wieder eine potenzielle Schläferin. Ich starre sie an. In meinem Kopf nistet sich ein Gedanke ein, den ich zu ignorieren versuche. Aber es gelingt mir nicht. Das sind bloß Fotos. Nichts über ihre Identitäten. Nichts, was der Agentenführer verwenden könnte, um Kontakt aufzunehmen.
Aber trotzdem. Freunde. Bilder. Dann ist Juri vielleicht gar nicht der schwer fassbare Agentenbetreuer, den die CIA unbedingt schnappen wollte. Aber womöglich ist er ein Anwerber? Und diese fünf Leute, die müssen irgendwie wichtig sein. Zielpersonen vielleicht?
Ich doppelklicke auf das dritte Foto, und ein Gesicht erscheint auf dem Bildschirm. Wieder wie ein Passfoto, nur diesmal in Großaufnahme. So vertraut, so wenig überraschend – und dann doch wieder. Weil es hier auftaucht, wo es nicht hingehört. Ich blinzele. Einmal. Zweimal. Und mein Gehirn versucht angestrengt, was ich da sehe, in Einklang zu bringen mit dem, was ich sehe und was es zu bedeuten hat. Und dann, ich schwöre es, bleibt die Zeit stehen. Eiskalte Finger legen sich um mein Herz und drücken zu, und ich höre nur noch mein Blut in den Ohren rauschen.
Fassungslos starre ich in das Gesicht meines Ehemanns.