Philipp Gurt
Schattenkind
Wie ich als Kind überlebt habe
Autobiografie
Wenn eine kindliche Seele zerbricht, dann schwimmt sie in einem von Schmerz getränkten Meer. Oftmals ertrinken diese Kinder im Meer, einige wenige überleben.
Philipp Gurt ist ein Überlebender. Als ich ihn, als sein Psychiater, kennengelernt habe, erschien er mir wie eine rationale Maschine, die ausser Angst keine Gefühle kennt. Sachlich und inhaltlich korrekt, in einem ungeheuren Tempo handelnd, denkend und sprechend, gehetzt in den Fluten seines Lebens. Wenn man Philipp Gurt nicht kennt, scheint er immer auf seinen Vorteil bedacht zu sein, dabei geht es nur darum, für die nächsten Momente überhaupt etwas zu besitzen. Er lebt das oberste Gebot: »Man muss immer einen Schritt voraus sein, sonst geht man unter.« Dabei ist Gefühle zu haben etwas Gefährliches. Mit Gefühlen ist man schwach und verletzlich. Leider ist dies eine der gewichtigsten und destruktivsten Botschaften aus seiner Kindheit. Wenn man die eigenen Gefühle nicht mehr spürt, dann wirkt man unbesiegbar. Der Preis dafür – man kann eben nur überleben. Philipp Gurt suchte nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und in dieser Lebensgeschichte gab es väterlichen Alkohol, Schmerz, eisige Kälte und eine überforderte Gesellschaft.
Immer wieder fing er die Suche nach seinen Gefühlen an und immer wieder endete seine Suche in der enttäuschenden Feststellung, dass er keine Ahnung mehr hat, wo diese Gefühle sind. Er war verloren und ohnmächtig im eigenen Körper gefangen. Immer verzweifelter und nagender war die Suche und immer tiefer wurde dadurch die innere Leere und Zerrissenheit. Wie ein Baum, dessen Stamm im Inneren immer mehr verrottet und zuletzt von innen ausgehöhlt ist. An diesem Punkt kam es zur Entscheidung zugrunde zu gehen oder eben nicht.
Mit solch zerbrochener Seele suchte Philipp Gurt jede mögliche Hilfe. Er wurde und wird sowohl mit psychotherapeutischen, pädagogischen als auch mit religiösen Weisheiten überschüttet. Aber hat man seine Bedürfnisse und sein Wesen wirklich ernst genommen? Alle Helfer, durch ihre persönlichen Dogmen geprägt, versuchten aufzuzeigen, welches der richtige Weg für ihn ist. Wenn es sein musste, auch mit grober oder sensibler, körperlicher und psychischer Gewalt. Es stellt sich die Frage, warum war und ist das so? War es immer nur Unwissenheit und Überforderung der Helfer, die mit ihren guten Taten so viel Zerstörung in das Leben eines Kindes gebracht haben? Oder ist es nur Selbstaufwertung des eigenen Egos der Helfer, wenn man Kindern, wie dem armen Philippli etwas Gutes tun konnte? Natürlich gibt es immer Personen, die selbstlos Mitgefühl zeigen und danach handeln. Waren das aber die offiziellen Helfer gewesen?
Hier Hilfe leisten, heisst hinschauen, zuhören und die verletzten Bedürfnisse erkennen. Es heisst nicht, Helferkonzepte über einen Menschen zu stülpen. Ein Betroffener musste lernen zu überleben. Diesen gezwungenermassen erlernten Fähigkeiten sollte man Raum geben, sie stützen und den Betroffenen vor den selbstzerstörerischen Stolpersteinen warnen. Wenn man unter schlimmsten Bedingungen überlebt hat, ist die Vorstellung, einer solchen Person das Überleben beibringen zu wollen, absurd. Hilfe heisst, gemeinsam ein Stück Lebensweg zu gehen, die lebenswerten Seiten dieses Lebens aufzeigen, helfen, aus dem Modus Ich muss jede Sekunde bereit sein zu überleben auszutreten. Oftmals ist Schweigen, Dasein, Zeit haben und Mitgefühl zeigen viel effektiver als tausend Worte. Dies in der Hoffnung, dass mit dem weiteren Leben eines Betroffenen ein inneres Gleichgewicht und innere wohltuende Ruhe einkehrt. Ein solch schmerzliches Erleben zu vergessen, geht nicht. Aber im Moment leben und nicht überleben, das kann man erreichen!
Man mag kritisieren, dass unter solchen therapeutischen Vorstellungen die Objektivität verloren geht. Es ist meine Überzeugung, dass es massiv überfordernde Momente und Geschichten im Leben gibt, in denen der Therapeut, neben seinem Fachwissen, nur als mitfühlendes Wesen Hilfe zur Selbsthilfe leisten kann. Oftmals dient objektiv zu sein nur dazu, sich nicht wirklich einzulassen, sich selbst zu schützen vor der Brutalität, die dieses Leben mit sich bringen kann. In diesem Fall sollte man die Finger davonlassen. In Anlehnung an den hippokratischen Eid heisst heilen vor allem auch: nicht schaden!
2015 wurden in der Schweiz 1400 Kinder körperlich, psychisch oder sexuell missbraucht, neun Prozent mehr als im Vorjahr. Wer schaut hin? Wer unternimmt etwas? Warum schauen wir weg?
Philipp Gurt ist so stark geworden, dass er nicht nur seine Kindheit darstellt, sondern auch aktiv geworden ist. Er ist heute eine Stimme für all jene, die noch sprachlos geblieben sind. Er wird nicht müde, mit seiner Geschichte und seiner ganzen Person, uns immer wieder vorzuführen, wie viel noch passiert. Er lebt nicht mit der Illusion, dass Kindern nie mehr ein Leid widerfährt. Er lebt und kämpft ohne Hass oder Rachegedanken dafür, dass Kinder im Leid offizielle und menschliche Unterstützung erhalten. Es sind oft die kurzen, schönen Momente – wie herzhaft lachen zu können – die einem leidgeplagten Kind die Hölle erträglicher machen.
Damit erwachsen gewordene Betroffene ein gesundes Selbstwertgefühl und mehr Lebensqualität erreichen können, ist die Konfrontation mit den eigenen Gefühlen und Erinnerungen ein zentraler Prozess. Der Zeitpunkt und das Tempo, wenn eigene schmerzhafte Gefühle wieder zugelassen werden können, sind bei jeder betroffenen Person anders. In diesen Konfrontationen muss man als Therapeut Geduld haben und darf nicht therapeutische Zeitvorstellungen forcieren oder gar durchsetzen wollen. Dies gegen eine Gesellschaft, die sehr oft unter der Devise »Zeit ist Geld« funktioniert. Man hofft, dass soziale Institutionen und Versicherungen Verständnis zeigen – oftmals weit gefehlt! Meist regieren die Zahlen und das Geld. Manchmal hat man das Glück, dass man auf mitfühlende, menschliche und nicht überforderte Verantwortliche trifft. Diesen Personen ein Danke, dass sie trotz dem wirtschaftlichen Druck die Chance zur Bewältigung ermöglichen.
Die Konfrontation mit den eigenen Gefühlen ist mit den Fragen verbunden, woher komme ich und wie war meine Vergangenheit wirklich? Will ich als Betroffener meinen Missbrauch wirklich sehen, obwohl dieser mir heute noch ungeheuerlich Angst macht? Stimmt es überhaupt, was ich noch selbst über mich in der Erinnerung weiss? Bin ich das wirklich? Häufig werden Beweise und Bestätigungen über Geschehenes gesucht. Dies bedeutet, die eigene Identität zu ergründen, es heisst auch, ich bin wirklich jemand und ich bin etwas wert.
Philipp Gurt hat mir gezeigt, dass es essentiell ist, nicht nur auf einem einzigen Weg die verschollenen, meist schmerzhaften Gefühle und Erinnerungen früheren Erlebens zu ergründen. Als er sich mit den Tableaus in Glibber-Kunsttechnik konfrontiert hat, ist eine Türe zu seiner Person und zu seiner Vergangenheit aufgegangen.
Montag, 01. August 2016
Dipl. med. Hans-Jörg Hahn
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Master of Psychotraumatology UZH
meiner Frau Judith
Elisabeth und Andri Ventura und Familie Riget
meinen Freunden Sina Signorell, Ruedi Helfenstein, Fredy Kesseli,
Chrigu, Matteaccis, Säm, Flavio
Hansjörg und Christa
Barbara Miller, der Juristin und Filmemacherin, die benachteiligten
Menschen ein Gesicht gibt
Ehepaar Tscholl
Monica und Olivia
Selina Gasparin für ihre Biografie
Karin und Undine für Lektorat/Korrektorat
Christina Grund für die Schlusskorrektur
Giuditta Poli, die seit Jahren meine Lesungen plant und organisiert
Wanda Brogi, Heilpädagogin
Flavia Schlittler, Journalistin
Lukas Heim, Weltbildverlag
Thomas Uhlig für das Cover
Bibi Vaplan für den Song zu Schattenkind und dem Churer Jugendensemble der Singschule Chur, geleitet von Lilian Köhli
MyrkART, meiner Lieblingsmalerin
Folgende Institutionen haben mich bei den Recherchen zu diesem Buch tatkräftig unterstützt:
Gemeinde Maladers
Jugendheime Albisbrunn und Platanenhof
Kinderheim St. Josef Chur
Psychiatrische Dienste Graubünden
Staatsarchiv Graubünden
Bürgergemeinde Chur
Waisenhaus Chur
Wichtig! All diese Institutionen sind heute nicht mehr mit den damaligen zu vergleichen.
Als dreizehn Monate nach mir meine jüngste Schwester Maja zur Welt kam, lebten wir zu zehnt in den zwei kleinen Räumen im beengenden Holzhaus. Wir schliefen in vier Betten. Sanitäre Anlagen hatte es keine, dafür vor dem kleinen Stall ein Holzkabäuschen mit einem eingegrabenen Loch. Im unteren der beiden Stockwerke wohnte meine Nana3 väterlicherseits, Antonietta Rizzi, eine gebürtige Engadinerin aus La Punt-Chamues-ch. Ihr Mann, mein Neni4 Stefan Gurt, war bereits 1960 gestorben.
Zu unserer Familie zitiere ich5 aus den Akten der Vormundschaftsbehörde Arosa/Schanfigg und der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur vom 26.03.1973:
Am 09.01.1968 wurde Philipp als zweitjüngstes von acht Kindern (alle debil, teilweise imbezill6) in Maladers bei Chur in eine sozial sehr benachteiligte bis verwahrloste Familie jenischer7 Abstammung geboren … sie bewohnten in Sax-Maladers eine miserable, baufällige Hütte …
Mutter Maria heiratete mit 18 Jahren gegen den Willen der Behörden Konrad Gurt, Jg. 1930, von Maladers. Sie ist eine debile, triebhafte, verstimmbare Psychopathin mit pseudologischen, hysterischen Zügen: Vagantentemperament. Ist schon wiederholt mit anderen Männern durchgebrannt, seit 12. Juli 1972 verschwunden, liess alle Kinder im Stich, wahrscheinlich nun im Ausland. Durchgebrannt mit einem gewissen Sepp Sablonier.
Der Vater von Maria Gurt: Karl Mehli, 1909, von Arvigo (Familie Mehli zwangseingebürgert 1887 in Arvigo, andere Zweige zwangseingebürgert in Maladers) lebt in Sax-Maladers, trinkt landesüblich, sozial untüchtig, Fabrikarbeiter, Biertrinker, klein und fest, wohl etwas untüchtig und debil.
Die Mutter: Barbara geb. Buschauer, 1913, von Molinis, aufgewachsen in Maladers, lebt in Sax-Maladers, früher kleine Landwirtschaft; kleine feste, schimpferische Frau, früher Serviertochter, debil, am Telephon geschwätzig. Der Grossvater Johann Buschauer, 1889–1964, lebte in Molinis, Malans und Landquart, Hilfsarbeiter, Trinker, in 2. Ehe verheiratet mit Anna Führer, verwitwet. Der Urgrossvater Josef Buschauer, 1864–1950, starb in Realta, war 3 x verheiratet. Die Grossmutter: Barbara Gurt, 1890–1932, Schneiderin, aufgeregte Frau, lebte früher in Sax-Maladers; verstarb an Pneumonie. Deren Vater Josef Gurt 1851–1936, verheiratet mit Barbara Hossmann, 1857–1930, 11 Kinder. Diese Grossmutter Barbara Gurt hatte also 10 Geschwister, davon sind viele in der Nervenheilanstalt Waldhaus bekannt: z. B. Therese Schocher-Crurt, 1896–1966, Nr. 12’924 … siehe vor allem die Nachkommen Cazin, Moser und Gurt. Der Vater der Urgrossmutter Barbara Gurt-Hossmann hiess Philipp Jakob Hossmann, verheiratet mit Maria Barbara Vanconi …
Der Grossvater Johann Mehli, Waldarbeiter und Bauhandlanger, Sax-Maladers, 1879 – ca. 1936. Die Grossmutter Barbara geb. Scherrer, von Selma, Vagantin, ca. 1875–1941. Ein Bruder des Grossvaters, Josef Mehli, 1864–1947, war verheiratet mit Marie Scherrer, 1882–1955 (verstorben in der Psychiatrischen Klinik Beverin). Nachkommen dieses Johann Mehli in der Nervenheilanstalt Waldhaus bekannt. Besonders schwer belastet ist aber die Grossmutter Scherrer: Bekanntes Vagantengeschlecht aus Selma. Der Urgrossvater Scherrer, vermutlich: Ferdinand Scherrer (verheiratet mit Carolina Gruber, von Surcuolm, zahlreiche Nachkommen im Waldhaus bekannt. Weitere Geschwister der Grossmutter, Anna Stoffel Scherrer, 1876–1942, Trinkerin, Vagantin, in der Klinik Beverin verstorben. Meinrad Scherrer-Moser, 1875–1958, debiler Trinker, in der Strafanstalt Realta verstorben (verschiedene Nachkommen im Waldhaus bekannt). Von den Nachkommen der erwähnten Maria Mehli-Scherrer, 1879–1955, ist Josef Mehli-Holzer zu erwähnen, 1906 (KG der Frau: Nr. 11670) und ein Enkel Karl Mehli). Ein Muttersbruder Johann, 1916, erethischer Imbeziller war im Waldhaus, Nr. 6’123, seither dauernd in der Psychiatrischen Klinik Beverin. Der Muttersbruder Peter Buschauer, 151U, war im Waldhaus: Chron. Alkoholismus, arbeitsscheu, bevormundet, Nr. 14’951. Seine erste Frau war Hedwig Gruber, 1923, von Sta. Domaniga, eine Dirne, aus dieser Ehe gingen 5 Kinder hervor, die aber z. T. nicht von Buschauer stammen. z. B. so Peter Buschauer, 1941, Nr. 10811, Josef Andreas Buschauer, 1943, Nr. 11 ’734 und Rene Buschauer, 1945, debil im Beverin. Die zweite Frau des Peters Buschauers, Rosa Lutz 1919, lebte in Reichenau, Peter trinkte weiter, schafft nichts. Der Muttersbruder: Christian Buschauer, 1926, imbezill, schibieren, war im im Waldhaus, Nr. 8567, habe Epianfälle, dauernd im Beverin untergebracht.
Vater von Philipp Gurt: Konrad Gurt von Maladers: Hilfsarbeiter, debiler Psychopath, Lese-Schreibschwäche, chronischer Alkoholismus, seit 1953 zwei Mal in der Nervenheilanstalt Waldhaus, zuletzt im November 1971. Akten-Nr. 15’983, Der Mann ist Sohn des Stefan Gurt, 1891–1960, Trinker, Hilfsarbeiter, lebte in Sax-Maladers, zwei Mal im Waldhaus. Akten Nr. 7611, dann in der Strafanstalt Realta, bevormundet. Die Mutter von Konrad Gurt war Antonietta Rizzi, 1893–1972, aus Italien stammend. Debile, vagantenhafte Frau, zeitweise depressiv, im Alter dement geworden. Konrad Gurt und seine Frau Maria sind blutsverwand: Sein Urgrossvater Josef Johann Gurt-Hossmann, 1824–1899 (er war im Waldhaus, Aktennummer 936) ist gleichzeitig der Ur-Urgrossvater seiner Ehefrau.
Aus der Ehe von Konrad Gurt und Maria Mehli gingen acht Kinder hervor:
Wäre es nach den Behörden von damals gegangen, gäbe es überhaupt keine Familie Gurt-Mehli. Aufgrund der Erbanlagen meiner Eltern, sprich des Stammbaumes, wollten sie keine Genträger von ihnen in dieser Welt haben. Deshalb drängten die Behörden im November 1955 meinen damals erst 25-jährigen Papa zur Sterilisation. Aus eugenischen Gründen, wie es hiess!
Als zusätzliches Druckmittel blockierten sie ihm die Heirat mit meiner Mutter, obschon beide damals noch nicht bevormundet waren. Gleichzeitig versuchten sie, die Bevormundung mit allen Mitteln durchzudrücken. Sieben Jahre später (1962) gelang es ihnen mit perfiden und manipulierten Zwangsgutachten.
Am 18.02.1956 wurde mein Papa von der Polizei in die psychiatrische Klinik Waldhaus zwangseingeliefert. Die Gemeindebehörden Maladers hatten dies angeordnet. Die Vormundschaftsbehörde Arosa/Schanfigg erliess daraufhin folgende Präsidialverfügung:
Auszug aus dem achtseitigen, erniedrigenden Gutachten über meinen Papa.
Ich zitiere Teile:
In der Jugend soll der Expl.10 einen Starrkrampf durchgemacht haben, sonst war er angeblich immer gesund und habe sich körperlich und geistig unauffällig entwickelt. Er habe auch frühzeitig gehen und sprechen gelernt, Bettnässen und Anfallskrankheiten werden negiert.
Seit seiner Schulentlassung im Jahre 1946 arbeitet Herr Gurt z. T. als Hirte und in der übrigen Zeit als Bauhandlanger oder Waldarbeiter. Nach den eigenen Angaben und den Berichten der Angehörigen soll er immer als fleissiger und zuverlässiger Arbeiter geschätzt gewesen sein. Unsere Erkundigungen am heutigen Arbeitsplatz (Baugeschäft Manzoni Chur) lassen diese Angaben als glaubwürdig erscheinen …
Expl. hat schon frühzeitig mit dem Trinken begonnen und trieb sich häufig in einer Gruppe haltloser Jugendlicher herum. Seine Trunksucht besteht seit 6 Jahren …
Seit seiner Verlobung mit Frl. Mehli will der Expl. auch kaum mehr trinken, am Feierabend und an den Sonntagen bleibe er jetzt immer zu Hause.
Im Bericht des Gemeindepräsidenten von Maladers an die V.B. (Vormundschaftsbehörde) Schanfigg ist von der besonderen Streitsüchtigkeit des Expl. die Rede, die wir bisher aber nur an Hand von 2 Vorstrafen im Kantonalen Strafregister etwas objektivieren konnten (einfache Körperverletzung 1954, Beschimpfung 1954) Von anderen Personen wurde uns der Expl. eher als gutmütiger »Tscholi« beschrieben …
Schon 1951 hat sich die V.B. mit dem Expl. befasst, wobei es damals wie heute in erster Linie um die finanzielle Sanierung der Verhältnisse in der Familie Gurt ging.11
Die Behörde möchte die durch die Versorgung des Vaters12 entstehenden Schulden nach Möglichkeit durch die eigene Familie tilgen lassen … eine Lohnverwaltung für den Expl. und dessen Bruder Stefan wurde in die Wege geleitet, die beiden haben sich aber nur wenige Monate in die Abmachung gefügt. Die Familie Stefan Gurt hat seit Jahren Schulden gemacht, indem sie in verschiedenen Läden Waren auf Kredit bezog. Expl. selbst behauptet dagegen, dass er selbst jetzt nur noch ganz geringe Schulden (angeblich 2–300 Fr. für Steuern und Krankenkasse) habe. Als am 5.1.56 der Vater Stefan erneut versorgt werden musste, stand die Behörde erneut vor dem Problem, wie dessen Aufenthalt in der Anstalt Beverin finanziert werden sollte. Eine Bevormundung des geistesschwachen und haltlosen Expl. würde der Behörde eine Handhabe bieten, diesen zur Mithilfe an der Tilgung der Schulden der Familie zu zwingen. Ausserdem besteht auch eine Gefahr, dass Herr Gurt sich mittellos verheiratet und dabei selbst in Schulden geraten könnte. Auf Grund dieser Überlegungen kam die V.B. Schanfigg am 8.2.56 erneut zum Schluss, den Expl. zur Begutachtung ins Waldhaus einzuweisen …
Unsere Diagnosen:
Imbezillität mit Lese-Schreibschwäche bei einem primitiven, verwahrlosten Bauarbeiter: Trunksucht seit 6 Jahren, die sich aber anscheinend in den letzten Jahren nicht verstärkt hat, ungünstige häusliche Verhältnisse. Expl. sieht die Notwendigkeit einer Bevormundung nicht ein und ist auch nicht bereit, die Schulden seines Vaters Stefan – insbesondere jene, die durch die behördliche Versorgung entstehen – zu bezahlen. Er sieht auch nicht ein, dass er mindestens vorläufig nicht heiraten sollte, äusserte sich aber in halb zustimmender Weise zu einer eventuellen Sterilisation (durch Vasoligatur), wodurch einer Heirat mit der ebenfalls belasteten Braut Marie Mehli, eher zugestimmt werden könnte.
… Der erhebliche Schwachsinn des Expl. (Imbezillität mit ausgesprochener Lese- und Schreibschwäche bei primitivem, verwahrlostem Bauarbeiter, der seit mindesten 6 Jahren trinkt) kommt einer Geistesschwäche im Sinne des Gesetzes gleich … vom psychiatrischen Standpunkt aus sind die Voraussetzungen zu einer Bevormundung nach Artikel 369 ZGB in vollem Umfang erfüllt. Besonders im Hinblick auf die schwierigen Verhältnisse zu Hause in Maladers-Sax und nicht zuletzt wegen allfälligen Heiratsabsichten ist eine intensive vormundschaftliche Führung und Aufsicht sehr erwünscht …
… aus eugenischen Gründen erscheint eine Nachkommenschaft des Expl. nicht wünschenswert. Wir möchten ihrer Behörde deshalb empfehlen, die Frage einer allfälligen freiwilligen Sterilisation mit dem Expl. nochmals zu erörtern, uns gegenüber hat er sich zu dieser Frage nicht völlig abgeneigt gezeigt für den Fall, dass er dadurch seine Heirat mit Frl. Mehli eher verwirklichen könne …
Gegen eine Einvernahme des am 2.3.56 nach Hause entlassenen Expl. bestehen ärztlicherseits keine Bedenken. Expl. sieht die Notwendigkeit einer Bevormundung in keiner Weise ein und will sich mit allen Mitteln dagegen zur Wehr setzten.
Mit vorzüglicher Hochachtung!
Kant. Heil- und Pflegeanstalt Waldhaus
Der Direktor:
Pflugfelder
07. April 1956
Das Gefühl steigt in mir auf, dass meine Vorfahren vorwiegend Spinner oder Delinquenten waren – oder beides, würde ich den Protokollen tatsächlich Glauben schenken. Bei vielen Namen ist die Nummer einer Krankengeschichte vermerkt. Viele meiner Verwandten sind in den psychiatrischen Kliniken oder Haftanstalten Graubündens gestorben – warum und unter welchen Umständen auch immer, weiss ich nicht. Die Häufung der Fälle lässt aber einiges vermuten über das System von damals. Wenn ich prüfe, was über meine Eltern, Geschwister und auch mich dokumentiert ist, stimmt bei weitem nicht alles – auch nicht die Diagnosen von wegen Debilität oder gar Imbezillität. Was damals wirklich geschehen ist, darüber berichtet dieses Buch. Es ist nicht nur meine Geschichte – es ist die Geschichte einer Grossfamilie.
Natürlich ist mir bewusst, dass die Psychiatrie vor 40 Jahren – und in der Zeit davor sowieso – eine ganz andere war, als sie es heute ist. Die Zeiten haben sich geändert – doch was geschehen ist, ist nun mal geschehen. Macht und Machtmissbrauch lagen schon immer sehr nah beieinander. In einem der Protokolle habe ich einen Brief an meine Mutter gefunden, in dem sie aufgefordert wird, sich sofort bei einer Amtsperson in Maladers zu entschuldigen. Falls sie dieser Aufforderung nicht nachkäme, würde sie unverzüglich in die Psychiatrie zwangseingeliefert, sprich in die Kantonale Heil- und Pflegeanstalt Waldhaus. Dass mein Papa 1956 – erst 26-jährig – bevormundet werden sollte, damit man ihm die Schulden seines Vaters aufbrummen konnte, die notabene wegen eines von den Behörden angeordneten Klinikaufenthalts entstanden waren, zeigt, wie berechnend und menschenverachtend Teile des damaligen Systems waren. Papa eine Heirat erst zu verwehren und diese dann doch in Aussicht zu stellen, wenn er sich freiwillig sterilisieren liesse, empfinde ich als grausam.
Das Ganze hatte einen Namen: fürsorgerische Zwangsmassnahmen. Dieser Begriff steht noch heute für tausende von Opfersituationen. Wie die Klinikleitung damals festhielt, war eine Nachkommenschaft nicht erwünscht – somit auch ich und meine Kinder und Kindeskinder ebenfalls nicht. Doch meine Geschwister und ich existieren. Heute nun schreibe ich über die abartigen Zustände von damals und dies, obwohl auch ich als debil und geistesschwach eingeschätzt wurde.Um meiner Familie und mir das Gesicht von damals zu geben, habe ich folgende Bilder eingefügt:13
Papa konnte tatsächlich kaum lesen oder schreiben. Legasthenie ist heute noch verbreitet und manch einer hat deswegen gegen Vorurteile zu kämpfen. Papa musste als Kind viel arbeiten, war oft in den Alpen und fehlte dementsprechend in der Schule. Doch wer ihn kannte, weiss, wie intelligent er gewesen ist, genauso wie auch meine Mutter.
Deshalb schaffte es mein Papa, sich erfolgreich gegen eine Sterilisation zu wehren, wie es diese Zeilen ja beweisen. Sieben Jahre dauerten die Versuche, ihn zu bevormunden, ehe es dann gelang.
Mir ist selbstverständlich bewusst, dass Diagnosen von früher grundsätzlich einen anderen Fokus aufweisen als heutige, ebenso ist die Wortwahl in den Gutachten anders und die Art zu kommunizieren sehr akzentuiert. Doch eines zeigen die ersten Protokolle ganz klar: Die Bedeutung, die der Herkunft einer Familie beigemessen wurde, war enorm, ebenso das, was aus sogenannten Krankengeschichten, sprich der Familienhistorie, in ganze Generationen impliziert wurde. Meine Geschwister und meine Eltern sind nicht schwachsinnig, dennoch wurden wir alle mit diesen Diagnosen abgestempelt und über Jahre entsprechend behandelt. Natürlich lebten wir in Sax in sehr ärmlichen Verhältnissen, die schwer auszuhalten waren, doch etwas zu essen hatten wir immer – und wir hatten vor allem uns!
Doch um die Frage zu beantworten, ob es wichtig ist zu wissen, wie man gezeugt wurde: Ja, denke ich, denn es sagt viel über familiäre, emotionale und bedingt auch wirtschaftliche Verhältnisse aus.