Das Buch
England, 1922. Zunächst stellt die Ankunft einer Fremden die Idylle und Ordnung des kleinen Dorfes Slaughterford in Wiltshire auf eine harte Probe. Kurz darauf geschieht ein Mord. Verdächtigt wird ein Kriegsheimkehrer, doch zwei Frauen glauben an seine Unschuld. Eine Spurensuche führt das ungleiche Paar in die Tiefen der angrenzenden Wälder und zu einer Liebe, die nicht sein sollte und mehrere Bewohner des Dorfes voller Schuld zurückließ.
Auf dem Höhepunkt ihrer Erzählkunst entführt Katherine Webb ihre Leser in das England nach dem Ersten Weltkrieg und tief hinein in die Verstrickungen eines ungesühnten Verbrechens.
Die Autorin
Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im ländlichen Hampshire auf. Nach ihrem großen internationalen Erfolgsdebüt Das geheime Vermächtnis folgten die Romane Das Haus der vergessenen Träume, Das verborgene Lied, Das fremde Mädchen und Italienische Nächte, die allesamt SPIEGEL-Bestseller wurden. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt die Autorin heute in der Nähe von Bath, England.
KATHERINE
WEBB
Die
Frauen
am Fluss
ROMAN
Aus dem Englischen
von Babette Schröder

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Copyright © 2017 by Katherine Webb
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel The Hiding Places bei Orion Books, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Covergestaltung: t.mutzenbach design, München
Covermotive: © urbanbuzz/Targn Pleiades/Andrii Muzyka/SFIO CRACHO/Jon Bilous/Marbury/Mongkol Rujitham/Natalia Bratslavsky/thelifeofstevestanton/Shutterstock
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-22205-5
V002
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PROLOG
An jenem Tag, an dem der Mord geschah, hing der Himmel tief über Slaughterford, so tief, dass er fast die Baumkronen berührte, und es regnete in Strömen. Ein satter Sommerregen, der erste seit Wochen. Die Dorfbewohner behaupteten später, als sie morgens bei diesem Wetter erwacht seien, hätten sie sofort gewusst, dass irgendetwas nicht in Ordnung sei. Es waren abergläubische Menschen, die dazu neigten, in allem ein Zeichen zu sehen, es als schlechtes Omen zu deuten und dann stets das Schlimmste zu befürchten. Das Wasser des By Brook habe sich rot gefärbt, schwor Sid Hancock von der Honeybrook-Farm. Obwohl der Mord sich nicht so nah am Flussufer ereignet hatte, dass das Blut des Opfers sich mit dem Flusswasser hätte mischen können, nickten alle zustimmend mit betroffener Miene. Woll-Tom, der oben auf dem Kamm eine kleine Schafherde hütete, gab an, seit ein Mutterschaf im Frühjahr ein zweiköpfiges Lamm zur Welt gebracht habe, habe er gewusst, dass bald jemand sterben werde. Seither trage er stets eine getrocknete Hasenpfote bei sich, für den Fall, dass es ihn treffe. Der Tod hatte in Slaughterford seinen Platz im Leben. Allerdings nicht diese Art von Tod.
Dass das Opfer völlig unbescholten war, machte den Menschen am meisten zu schaffen. Keiner hatte das Geringste auszusetzen, niemand erinnerte sich auch nur einer einzigen grausamen oder schändlichen Tat. Es war etwas durch und durch Falsches an diesem Geschehen, und dieser Umstand erschütterte sie alle zutiefst. Eine schwere Krankheit oder ein Unfall mit tödlichem Ausgang konnte einen jederzeit niederstrecken. Im letzten Jahr erst war die sechsjährige Ann Gibbs oben an der Straße nach Ford über die dort zur Schutzmauer aufgeschichteten Steine geklettert und in den Brunnen gestürzt. Dabei hätte die Mauer genau das verhindern sollen. Sie war ertrunken, weil ihr der Bruder erzählt hatte, in dem Brunnenschacht lebten Feen. Grippe, Koliken oder Fieberkrämpfe forderten jährlich ihren Zehnten unter Freunden und Verwandten. Doch wenn die Zeit gekommen war, hatte es keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen. Tragödien und Unheil gab es zuhauf, aber dass einer der Ihren so grausam hingerichtet wurde, so ganz und gar ohne Grund … Das war einfach nicht natürlich. Und als Menschen vom Land widerstrebte ihnen alles, was nicht natürlich war. Wie Blitzableiter versuchten sie, die Erschütterung über den Mord in die Steine unter ihren Füßen abzuleiten. Und sie alle fragten sich, ob ein derart brutales Verbrechen nicht unweigerlich weitere nach sich ziehen werde.
1
DREI MÄDCHEN
Am Morgen des Tages, mit dem alles begann, hielt Pudding kurz am oberen Treppenabsatz inne und erblickte durch das kleine Fenster ihre Mutter. Louise Cartwright stand hinter dem Haus auf dem Rasen, schaute auf die durchweichte Koppel, die zum Tal hin abfiel, und nestelte mit den Händen an etwas, das Pudding nicht sehen konnte. Es war früh am Morgen, die Sonne noch nicht ganz über den Horizont gestiegen und der Himmel von wolkenloser, blasser Klarheit. Es versprach ein weiterer heißer Tag zu werden. Pudding spürte dieses leise, unheilvolle Gefühl in sich aufsteigen, das sie mittlerweile schon so gut kannte. Sie verharrte einen Moment, doch als sich ihre Mutter weder umdrehte noch von der Stelle rührte, setzte Pudding ihren Weg die Stufen hinab fort, langsamer jetzt. Aus dem dunklen Elternschlafzimmer drang das leise Schnarchen ihres Vaters. Früher war er jeden Morgen als Erster aufgestanden. Er hatte den Ofen in Gang gebracht, den Kessel aufgesetzt, sich rasiert und seine Weste zugeknöpft, bevor Pudding und Donald in die Küche hinuntertapsten und sich den Schlaf aus den Augen wischten. Jetzt musste Pudding für gewöhnlich ins Schlafzimmer gehen und ihn wecken, wobei sie jedes Mal ein schlechtes Gewissen hatte. Er schlief wie ein Stein.
Die Küche im Spring Cottage hatte schon bessere Tage gesehen und war auch nicht mehr so aufgeräumt wie früher – die Schüsseln im Regal standen nicht mehr der Größe nach geordnet. Der Hopfenkranz machte einen verstaubten Eindruck. Vollgekrümelte Ritzen und Fettspritzer verbreiteten einen abgestandenen Essensgeruch. Donald wartete bereits am Küchentisch. Weder las er, noch reparierte er etwas, noch schrieb er eine Liste. Er saß einfach nur da und wartete. Wenn ihn niemand aufscheuchte und losschickte, würde er den ganzen Tag dort sitzen. Pudding drückte im Vorübergehen seine Schulter und sah, wie er langsam aus den unergründlichen Tiefen seines Inneren auftauchte und sie anlächelte. Sie liebte dieses Lächeln – es war noch genauso wie früher. Im Geiste führte sie zwei Listen: über das, was an Donald gleich geblieben war, und über das, was sich für immer verändert hatte. Mit diesem für immer haderte sie. Insgeheim wartete sie darauf, dass er irgendwann einfach alles abschüttelte, wie früher plötzlich voller Tatendrang vom Tisch aufsprang und etwas fragte wie: »Willst du nicht einen Toast zu deiner Marmelade, Pudding?« Die ersten zwei Jahre nach seiner Rückkehr hatten sie ihn einfach nur beobachtet und darauf gewartet, dass er wieder der Alte wurde. Im ersten Jahr kehrte auch einiges zurück: seine Liebe zur Musik, die Liebe zu Aoife Moore, die Faszination für Maschinen und der Appetit – obwohl ihm das Schlucken manchmal Schwierigkeiten bereitete und es dann in einem Hustenanfall endete. Doch im letzten Jahr war sein Zustand unverändert geblieben. Sein dunkles Haar war noch dasselbe – weich, glänzend und schwer zu bändigen. Ganz und gar liebenswert. Ebenso wie der leicht spöttische Zug um seinen Mund, obwohl auch die Ironie zu den Dingen gehörte, die er verloren hatte.
»Morgen, Donny«, sagte Pudding. »Ich schaue nur kurz, was Mum vorhat, dann frühstücken wir, ja?« Sie klopfte ihm auf die Schulter und war bereits an der Hintertür, als er endlich eine Antwort zustande brachte.
»Guten Morgen, Puddy.« Er klang so normal, so ganz nach großem Bruder, dass Pudding sehr tief, bis in den Bauch hinein, einatmen musste, um nicht die Fassung zu verlieren.
Sie zog die Tür hinter sich zu und hielt voller Zuversicht nach Louise Ausschau. Ihr Optimismus war von einer derartigen Hartnäckigkeit, dass sie ihn einfach nicht abstellen konnte. So hoffte sie, dass ihre Mutter inzwischen ihren Standort verlassen und einfach nur Petersilie fürs Rührei gepflückt hatte. Oder dass sie auf dem Rückweg vom Abort für einen kurzen Moment stehen geblieben war, um den Hasen zuzusehen, die sich auf den Feldern boxten. Doch ihre Mutter hatte sich nicht vom Fleck bewegt, weshalb Pudding zur Ablenkung ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge richtete. Zum Beispiel darauf, dass ihre Reithosen schon wieder zu klein wurden; der Hosenbund zog beim Bücken nach unten, sodass ihr die Hosenträger in die Schultern schnitten. Darauf, dass eine Socke verrutscht war und jetzt unangenehm unter ihrer Fußsohle drückte. Dass ihre Bluse unter den Armen kniff, weil ihre Brüste mit jedem Tag größer zu werden schienen, egal wie sehr sie sich innerlich dagegen sträubte. Pudding kam es vor, als hätte sich ihre Kleidung gegen sie verschworen, um sie überflüssigerweise ständig daran zu erinnern, dass sie sich gegen ihren Willen ausdehnte – in die Länge und in die Breite.
Die Luft war klar, kühl und frisch. Louises Füße hatten dunkelgrüne Abdrücke im silbrigen Tau hinterlassen, und Pudding verkürzte ihre Schritte, um mit den Füßen genau in Louises Fußstapfen zu treffen.
»Mum?«, fragte sie. Eigentlich wollte sie eine muntere Bemerkung machen, um die seltsame Situation zu überspielen, doch ihr fiel nichts ein. Erschrocken riss Louise den Kopf herum. Im ersten Moment zeigte sich in ihrem Gesicht keinerlei Erkennen. Diesen leeren Ausdruck, in den sich ein Anflug von Angst mischte, fürchtete Pudding allmählich mehr als alles andere. Sie bekam kaum noch Luft. Doch dann lächelte Louise, und ihr Lächeln war nur eine Spur brüchig, nur ein klein wenig diffus.
»Pudding! Da bist du ja, Liebes. Ich habe schon nach dir gesucht«, sagte sie, wobei ihr Blick verriet, dass sie nachgrübelte, ob das stimmte. Pudding stellte fest, dass Louise nichts in den Händen hielt, sondern die ganze Zeit am untersten Knopf ihrer gelben Strickjacke herumgenestelt hatte. Sie fing immer unten an, doch weiter war sie an jenem Morgen nicht gekommen.
»Ach ja?«, erwiderte Pudding und zwang sich, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken.
»Ja. Wo bist du gewesen?«
»Nirgends, nur in meinem Zimmer. Ich habe dich wohl nicht rufen hören. Komm, gehen wir.« Pudding eilte weiter, bevor die kleine Schwindelei ihre Mutter zusätzlich verwirren konnte. »Gehen wir rein und setzen den Kessel auf, ja? Machen wir eine schöne Kanne Tee?«
»Ja. Das wird uns guttun.« Louise seufzte ein wenig, während sie sich umdrehte, um an der Seite ihrer Tochter zum Haus zurückzugehen. Sie verwischten ihre ursprünglichen Fußabdrücke, und Tauspritzer durchnässten die Socken um Puddings Knöchel. Dennoch überkam sie eine überwältigende Heiterkeit, als ein Schwalbengeschwader fröhlich kreischend über ihnen durch den Himmel zog und die Milchkühe der Manor-Farm auf der anderen Seite des Tales begeistert muhten, als sie nach dem Melken auf die Weide durften.
»Hast du die Hasen auf dem Feld gesehen, Mum?«, fragte sie unbesonnen.
»Was? Wann?«, erwiderte Louise, und Pudding beeilte sich, die Frage zurückzunehmen.
»Ach nichts. Vergiss es.« Sie drückte ihrer Mutter den Arm, und Louise tätschelte ihre Hand.
An der Hintertreppe wucherte Löwenzahn, und der Ascheimer musste dringend geleert werden. Die Schwarzen Johannisbeeren verfaulten am Strauch, weil niemand sie pflückte – außer den Amseln, die violette Spuren auf dem Weg und unterm Fenster hinterließen. Doch als sie in die Küche zurückkehrten, zischte schon der Kessel auf der heißen Herdplatte, und Puddings Vater Doktor Cartwright schürte das Feuer. Er war gekämmt und angekleidet, auch wenn er sich noch nicht rasiert hatte und seine Augen noch ein wenig müde wirkten.
»Zwei Rosen, taufrisch aus dem Garten«, begrüßte er sie.
»Morgen, Dad. Hast du gut geschlafen?« Pudding stellte die Butterdose auf den Tisch, zog ruckelnd die Schublade auf, um Messer herauszuholen, und nahm das Brot vom Vortag aus dem Tontopf.
»Viel zu gut! Du hättest mich früher wecken sollen.« Der Arzt streichelte seiner Frau über die Oberarme und lächelte zu ihr hinab. Er strich ihr das ungekämmte Haar zur Seite und küsste sie auf die Stirn, woraufhin Pudding beschämt, aber selig den Blick abwandte.
»Toast, Donny?«, fragte Louise. Wie Pudding feststellte, hatte sie ihre Strickjacke inzwischen zugeknöpft, und jeder Knopf saß im richtigen Loch.
»Ja, bitte, Mum«, sagte Donald. Und bei den Frühstücksvorbereitungen packten alle mit an, vielleicht nicht ganz so wie früher, aber in einer Abfolge alter Gewohnheiten, die wohltuend vertraut anmutete. In der Nacht stob ihre Familie auseinander, dachte Pudding. Wie Distelsamen im Wind wurden sie von Luftströmungen, die sie weder wahrnahm noch begriff, hierhin und dorthin getrieben. Was Pudding jedoch verstand, war, dass es ihr oblag, morgens alle wieder einzusammeln. Und so sang sie beim Brotschneiden ein paar Takte von All things bright and beautiful – so schief sie konnte, um ihre Familie zum Lächeln zu bringen.
Als Irene das Klappern von Keith Glovers Fahrrad hörte, tat ihr Herz einen Sprung und schlug heftig gegen ihre Rippen. Sorgsam achtete sie darauf, weder den Blick zu heben noch sonst irgendeine Reaktion zu zeigen. So sorgsam, dass sie schon fürchtete, sich womöglich gerade dadurch zu verraten. Sie meinte, die Schuld müsse ihr in leuchtenden Lettern auf der Stirn geschrieben stehen. Unübersehbar für Nancy mit ihren Adleraugen, die kein Hehl daraus machte, dass sie allem, was Irene tat oder sagte, mit Argwohn begegnete. Sie saß Irene am Frühstückstisch gegenüber, strich hauchdünn Butter auf ihren Toast und beäugte skeptisch jedes zu große Stück Schale in der Orangenmarmelade. Die Sonne glänzte auf der Tischplatte aus Rosenholz und auf Nancys silbergrauem Haar, das sie wie üblich zu einem Knoten frisiert hatte. Sie war klein, zierlich und hart wie Stahl; die Beine hatte sie an den Fußknöcheln übereinandergeschlagen. Sie blätterte die Zeitungsseite um und strich sie glatt, las einen Moment und gab dann ein verächtliches Schnaufen von sich. Irene hatte bereits die Hoffnung aufgegeben, dass dem Laut eine Erklärung folgte, doch Alistair sah wie immer erwartungsvoll auf. Jedes Mal hob er den Blick, lächelte zurückhaltend und wartete. Irene bewunderte seinen schier unerschöpflichen Optimismus, der seine Augen zum Funkeln brachte und ihn sogar jünger aussehen ließ als sie selbst, dabei war sie erst vierundzwanzig und damit fast fünfzehn Jahre jünger als er. Es kam ihr vor, als wäre sie in den sechs Wochen, die sie nun schon in Slaughterford weilte, um Jahre gealtert.
Im Hof waren Stiefelschritte zu hören, und jemand öffnete die quietschende Messingklappe des Briefkastens. Irene starrte auf ihre Finger, die den Henkel der Kaffeetasse umklammerten, und zwang sich, nicht zu zittern. Der Diamant auf ihrem Verlobungsring und der gelbgoldene Ehering starrten zurück. Wie üblich folgte auf ihre Schuldgefühle die Wut – Wut auf sich selbst, auf Fin und auf den unschuldigen Alistair. Eine Welle heißer, schäumender Wut auf die Lage, in der sie sich befand, und auf jene, die sie ihr eingebrockt hatten – doch am meisten auf sich selbst. Sie lehnte ihre neue Rolle von Grund auf ab, spielte sie aber dennoch, so gut sie konnte. Die Wut erlosch so schnell, wie sie aufgeflackert war, und wich einer tiefen Verzweiflung. So tief, dass sie das Gefühl hatte, erbarmungslos darin zu ertrinken, wenn niemand sie rettete und sie sich an nichts festhalten konnte. Ohne einen Rettungsanker in Form eines Wortes, eines Zeichens, irgendeines Beweises, dass sie zumindest nicht alleine litt, auch wenn ihr Leiden niemals enden würde. Was sie täte, wenn sie Fins Handschrift tatsächlich auf einem Umschlag entdeckte, wusste sie nicht. Dann könnte sie nicht stillhalten – wahrscheinlich würde sie sich einfach auflösen. Ihr Magen ballte sich zu einem festen Knoten zusammen. Dennoch rührte sie sich nicht.
»Nun, es sieht so aus, als ob es wieder ein schöner Tag wird«, sagte Alistair unvermittelt. Irene blickte erschrocken auf und bemerkte, dass er sie anlächelte. Sie versuchte, ihm mit einer freundlichen Miene zu antworten, wusste aber nicht, ob es ihr gelang.
»Ja«, sagte sie. Klick, klick, klick machten Nancys Augen – von Alistair zu Irene und wieder zurück zu Alistair.
»Was hast du heute vor, Liebes?«, fragte Alistair an Irene gewandt. Er legte seine Hand auf ihre, und ihre Kaffeetasse klapperte, als sie die steifen Finger vom Henkel löste.
»Ach, ich … Das habe ich mir noch gar nicht überlegt.« Irene hörte Florence’ leichte, zaghafte Schritte auf den Flurdielen vor dem Frühstücksraum. Das Mädchen hatte die Knopfaugen und die spitze Nase einer Maus, was durchaus seinem Wesen entsprach. Jetzt verlor Irene die Kontrolle über ihr Herz, es schlug ihr bis zum Hals.
Florence klopfte leise an die Tür und brachte ein Tablett mit der Post herein, das sie neben Alistairs Ellbogen auf dem Tisch abstellte. Dann nickte sie verlegen und ging wieder hinaus. Irene stockte der Atem. Alistair sah die Briefe durch – vier Umschläge. Er strich sie glatt, steckte sie in seine Jackentasche und stand auf.
»Genießt den Tag, ihr zwei. Ich bin zum Mittagessen zurück. Wenn es so schön wird wie gestern, sollten wir draußen auf der Terrasse essen.« Er schob sorgsam den Stuhl zurück an den Tisch und lächelte Irene erneut zu. Ebenso wie sein Optimismus schien auch sein Lächeln nie zu versiegen; Irene hingegen war beides abhandengekommen. Alistairs ganzes Gesicht war auf dieses Lächeln abgestimmt – seine sanften Augen und die nach oben gerichteten Mundwinkel. Ohne sein Lächeln wirkte sein Gesicht, als würde etwas darin fehlen. »Du könntest vielleicht Mrs. Cartwright besuchen und nachsehen, wie es ihr geht.«
»Mrs. Cartwright?«
»Ja – die Frau des Doktors. Du weißt schon, die Mutter von Pudding und Donald.«
»Ja, natürlich.« Irene wusste, dass sie sich all diese Namen merken und den dazugehörigen Gesichtern zuordnen sollte: der Frau des Radmachers, der des Schmiedes und der des Pfarrers. Der Ladeninhaberin und ihres Sohnes, der die Post brachte. Ihr war klar, dass es in einem so kleinen Dorf wie Slaughterford unverzeihlich war, nicht zu wissen, wer diese Menschen waren und wie sie hießen. Sie schien in letzter Zeit vieles zu tun, was unverzeihlich war, doch jetzt gerade konnte sie sich nicht vorstellen, der Frau des Doktors einen Besuch abzustatten – einer völlig Fremden, die noch dazu krank war, wie ihr jemand erzählt hatte, wenn sie sich richtig erinnerte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie mit der Frau reden sollte. Doch dann schloss Alistair die Tür hinter sich, und Irene war wieder mit Nancy allein. Der bevorstehende lange Tag dehnte sich wie eine riesige Leere vor ihr aus, die es zu füllen galt. Sie blickte zur Tante ihres Ehemanns. Sie wusste, dass Nancy sie nun, wo Alistair nicht mehr da war, um sie zu mäßigen, wieder beobachten und unverhohlen über sie urteilen würde. Und tatsächlich, da waren der wissende Blick, die hochgezogenen Brauen, das spöttische Lächeln. Nancy schien ein besonders grässlicher Teil von Irenes Strafe zu sein. Sie war zwar schon in den Siebzigern, hatte sich aber sehr gut gehalten. Nur hauchzarte, kaum sichtbare Falten zogen sich durch ihr Gesicht. Als Alistair Irene erzählt hatte, dass seine Tante mit ihnen zusammen auf der Manor-Farm leben würde, hatte sie sich eine etwas schrullige, aber umgängliche alte Dame vorgestellt, die in ihrem eigenen Häuschen wohnen, zum Zeitvertreib in der Kirche Blumen arrangieren und Wohltätigkeitsveranstaltungen ausrichten würde. Mit dieser stets scharfzüngigen Person, die sie auf Schritt und Tritt mit ihren spitzen Bemerkungen verfolgte, hatte Irene nicht gerechnet. Als sie bei Alistair diesbezüglich eine Bemerkung fallen ließ, wirkte er verletzt.
»Meine Mutter starb am Tag meiner Geburt, Irene. Nancy hat mich wie ihr eigenes Kind großgezogen – sie ist wie eine Mutter für mich. Ich weiß nicht, wie mein Vater ohne sie mit allem zurechtgekommen wäre. Nun – wahrscheinlich gar nicht.«
Irene griff erneut nach ihrer Tasse, obwohl sie nicht vorhatte, daraus zu trinken. Der Kaffee war inzwischen kalt und obendrein viel zu dünn. Schließlich faltete Nancy die Zeitung zusammen und erhob sich.
»Also wirklich, meine Liebe, du musst etwas essen«, bemerkte sie tadelnd. »In London mag es ja der letzte Schrei sein, herumzulaufen wie der lebende Tod, aber hier unten machst du dich damit zum Gespött. Die Leute werden denken, du bist nicht glücklich – für eine frischgebackene Ehefrau ist das unmöglich.« Nancy durchbohrte sie mit ihrem Blick, doch Irene wusste, dass sie keine Antwort von ihr erwartete. Unmöglich, undenkbar, unverzeihlich. All diese neuen Wörter, mit denen sich Irene neuerdings in Verbindung brachte und mit denen andere sie beschrieben. »Du bist jetzt eine Hadleigh, junge Dame. Und es sind die Hadleighs, die hier in der Gegend die Maßstäbe setzen.« Nancy wandte sich zum Gehen. Erst, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Irene das Kinn auf die Brust und die Hände schlaff in ihren Schoß sinken. Laut hallte die Stille des Frühstückszimmers in ihren Ohren wider.
Eisvogel, Bachstelze, Kohlmeise, Ammer. Während sie den Hügel erklomm, führte Clemmie im Geiste eine Liste, die im Rhythmus der Schritte und begleitet von ihrem gleichmäßigen Atem wie Musik klang. Eisvogel, Bachstelze, Kohlmeise, Ammer. Die frühe Morgensonne blendete sie mit ihren prächtigen Strahlen, und Schweiß kribbelte unter ihrem Haar. Die krause blonde Mähne, die sich jedem Versuch einer Bändigung widersetzte, hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Clemmie stieg den schmalen Pfad hinauf, der zwischen den Hecken verlief, die die Felder der Weavern-Farm umschlossen, und zum Weg nach Slaughterford führte. Am frühen Morgen war es hier noch auszuhalten. Am Nachmittag staute sich die Hitze zwischen den Hecken, und überall schwirrten Stechmücken und Bremsen. Dann lief sie lieber am Flussufer zurück – der gewundene Weg war zwar länger, aber auch kühler. Zurzeit waren die Hecken von Rosenblüten übersät und von unzähligen Vogeljungen bevölkert. Auf beiden Seiten der Hecken grasten die Rinder ihres Vaters. Sie hörte, wie sie am Gras rupften, und roch ihre frischen grünen Ausdünstungen. Eisvogel, Bachstelze, Kohlmeise, Ammer. Die Körbe an ihrem Tragejoch schwangen hin und her, und die Milchflaschen schlugen neben den Käselaiben klirrend aneinander. Das Joch war fast zu breit für den schmalen Pfad. Wiesenkerbel und wilde Clematis strichen über ihre Arme, ebenso wie der leuchtende Fingerhut, in dessen Blüten die Bienen rumorten.
Ihre Eltern drängten Clemmie nicht mehr, sofort zurückzukommen, nachdem sie ihre Botengänge erledigt hatte. Sie kam, wenn es für sie so weit war. Einmal früher, einmal später, je nachdem, wie lange sie bei Alistair Hadleigh verweilte, den Fluss betrachtete oder einem Tagtraum nachhing. Für gewöhnlich versuchte sie, sich zu beeilen – schließlich gab es immer etwas zu tun. Doch selbst wenn sie zügig den Rückweg antrat, verlangsamte sich ihr Schritt, sobald sie das Wasser oder den Wald erreichte. Manchmal merkte sie gar nicht, dass etwas ihre Aufmerksamkeit fesselte und sie aufhielt. Wie viel Zeit vergangen war, drang erst wieder in ihr Bewusstsein, wenn sie den Stand der Sonne bemerkte oder ihre Schwestern bei ihrer Heimkehr die Augen verdrehten. Die Stärke ihres Grolls hing davon ab, zu welcher Stunde Clemmie eintraf. Entsprechend begrüßten die Schwestern sie mit: »Da ist ja unser hübsches Dummerchen«, wenn man sie nicht gebraucht hatte, oder: »Ach, sieh mal an, kommst du auch schon?«, wenn man eigentlich ihrer Hilfe bedurft hätte. Doch Clemmie musste einfach umherstreifen; sie konnte nicht anders. Darum schickte man sie auch, um die Milch zur Gemeinschaftsküche bei der Mühle zu bringen, obwohl klar war, dass sie dann für Stunden verschwunden bliebe. Wie andere Besitzer größerer Milchviehbestände in der Gegend verkaufte auch die Manor-Farm, zu der die Mühle gehörte, die Milch gallonenweise an die Molkereien und Kondensmilchbetriebe. Die lokalen Lieferungen überließ man der Weavern mit ihrer kleineren Herde.
»Wenigstens erledigt sie diese eine Aufgabe«, sagte ihr Vater betrübt. Zweimal wöchentlich brach er in der Morgendämmerung mit der Kutsche auf, um Milch, Käse, Butter und Eier auf dem Chippenham-Markt zu verkaufen.
Trotz der frühen Stunde kreisten bereits Fliegen im Schatten der Germain’s Lane. Der Knoblauchgestank des Bärlauchs und der modrige Geruch verwelkter Buschwindröschen hingen schwer in der Luft. Die staubige Straße führte an der nordwestlichen Seite des bewaldeten Hanges hinunter, den Clemmie soeben erklommen hatte, und folgte den Flussschleifen des By Brook aus der Talsenke hinaus, in der die Weavern-Farm wie in einer Wiege lag. Clemmie legte den Kopf in den Nacken und betrachtete durch die Äste hindurch die leuchtend blauen Himmelsfetzen. Als sie dort etwas Dunkles kreisen sah, fügte sie ihrer morgendlichen Liste den Bussard hinzu. Und das Eichhörnchen, als eines über ihrem Kopf zwischen den Bäumen umhersprang – ein flinker Blitz mit leuchtend rotem Fell. Buche, Eiche und Ulme bildeten ein dichtes Blätterdach, das die Frühlingsblumen schnell welken ließ. Nur das Geißblatt wand sich kräftig an einer jungen Ulme empor und blühte zwischen den hohen Zweigen. Als Clemmie weiterging, blieben Nachbilder des leuchtenden Himmels auf ihrer Netzhaut zurück und machten sie für einen Moment halb blind.
Unzählige Male war sie diesen Weg schon mit dem Joch auf den schmerzenden Schultern gegangen, doch wenn Slaughterford Mill am Fuß des Hanges erschien, blieb sie jedes Mal stehen und hielt einen Moment inne. Am Fluss kauerte eine Ansammlung aus Gebäuden und Schuppen. Aus dem hohen Schornstein stieg Dampf auf. Das Trommeln der Papiermaschine übertrug sich durch den Boden bis in Clemmies Füße. Als sie den Fluss an der kleinen Fußgängerbrücke überquerte, toste das oberschlächtige Wasserrad, das in der Grube unter der Erde verborgen war. Plötzlich roch es nach Metall, Dampf und Fett, nach Männern, Ziegeln und Arbeit – ein Duft, der mit nichts auf dieser Welt vergleichbar war. Und neuerdings gab es noch einen Grund, weshalb die Mühle ihre Sinne reizte: dieser Junge. Vielleicht würde sie ihn sehen, wenn sie um die Ecke bog, dann würden sich ihre Gedanken zugleich auflösen und konzentrieren. Dann dächte sie nur noch an ihn, und alles andere daneben würde verblassen. Sie konnte nicht vergessen, was er getan hatte, und sie sehnte sich ebenso stark danach, ihn zu sehen, wie sie sich davor fürchtete. In ihrer Verwirrung blieb sie stehen, um einen Moment dem Rad zu lauschen. Sie lehnte sich mit der Stirn an die Mauer und spürte die Kraft des Wassers, in einem gleichmäßigen Rhythmus an ihrem Schädel vibrieren. Der Vorarbeiter, der zufällig vorbeikam, scheuchte sie aus ihren Träumen auf.
»Na los, Mädchen, schaff die Milch aus der Sonne.« Er lächelte freundlich unter seinem dichten Schnurrbart, der rötlicher war als das Haar auf seinem Kopf und so buschig wie ein Fuchsschwanz. Clemmie vertraute diesem Mann. Er kam ihr niemals zu nahe und versuchte auch nie, sie zu berühren.
Sie hörte auf ihn und drang weiter auf das Mühlengelände vor. Aber dieses Ausschauhalten machte sie unruhig. Diese Hoffnung, ihn zu treffen. So etwas hatte sie noch nie zuvor getan. Sie ließ den Blick gerne schweifen, aber ohne nach etwas Bestimmtem auszuspähen. In der Mühle arbeiteten nur wenige Frauen, lediglich in der Gemeinschaftsküche und dort, wo die Verpackungen hergestellt wurden, in einem langen, niedrigen Gebäude dicht am Flussufer. Dort sah alles mustergültig aus, und es blitzte vor Sauberkeit, doch im Winter herrschte hier Eiseskälte. Der Dielenboden aus Ulmenholz war gefegt, die Walnussbänke blank poliert, kein Tropfen Maschinenöl oder Tinte verdarb das fertige Papier, das zu festen Tüten für Zucker, Mehl und Talg zusammengenäht und -geklebt wurde. Im Sommer roch es köstlich nach Bienenwachs, Baumwolle und Holz, doch eigentlich durfte sich Clemmie hier gar nicht aufhalten – nicht mit ihren dreckigen Füßen und ihrem schlammverkrusteten Rocksaum. Als sie an den Arbeiterinnen vorbeiging, waren ein paar von ihnen gerade auf dem Weg zum Einstempeln. Eine von ihnen winkte ihr zu – die dunkelhaarige Delilah Cooper, mit der Clemmie die Erinnerung an lange Stunden in der Vorschule in Slaughterford verband. Sie konnten gerade erst laufen, so klein waren sie damals gewesen. Eine alte Frau mit sauertöpfischem Gesicht hatte gegen Bezahlung in ihrer Hütte auf sie aufgepasst und dafür gesorgt, dass sie tagsüber nicht bei der Arbeit störten. Schließlich versuchte sie noch, ihnen die Grundzüge des Alphabets beizubringen, dazu ein paar Lieder und Gedichte. Delilahs Gesicht beschwor die Erinnerung an den Geruch von zehn kleinen Kindern herauf, die den ganzen Tag in einem Zimmer gehalten wurden, an wässrigen Haferbrei, Dreck und einen kalten Steinfußboden. Die Frau neben Delilah musterte sie argwöhnisch, doch das scherte Clemmie nicht. Sie mochte das Geräusch der Holzpantinen, in denen die Frauen über den Hof klapperten, und das Klackern, mit dem sie sie an der Tür abstreiften, um in ihren Stiefeln oder Schuhen hineinzugehen. Sie schloss die Augen und lauschte.
»Die ist doch nicht ganz richtig im Kopf«, bemerkte die Frau mit dem argwöhnischen Blick.
Clemmie brachte die Milch zur Kantine, dann ging sie zum alten Gehöft hinüber, einem gediegenen Steinhaus, um das sich die Mühle wie wild wuchernde Nesseln ausgebreitet hatte. Nur wenige erinnerten sich an Chapps-Farm vor den Zeiten der Mühle und an das Bauernhaus, in dem Clemmies Großtante Susan zur Welt gekommen war – plötzlich, eines Morgens, auf einer Strohmatte vor dem Herd. Jetzt waren dort die Büros der Mühle untergebracht, in denen die Schreibtische des Vorarbeiters und seines kaufmännischen Gehilfen standen, auch der Alistair Hadleighs von der Manor-Farm, dem alles hier gehörte. Er war ein freundlicher Mensch. Clemmie mochte sein Gesicht, das immer zu einem Lächeln bereit war, und die Art, wie er mit dem Kopf nickte und mit den Männern sprach, wenn er ihre Arbeit überprüfte. Als brächte er ihnen Respekt entgegen, obwohl ihn sein Reichtum in Clemmies Augen in ein Wesen von einem anderen Stern verwandelte. Seine strahlend saubere Haut faszinierte sie. Er schien eine andere Luft zu atmen. Manchmal ging sie einfach weiter über den Hof und auf der anderen Seite wieder hinaus. An jenem Morgen jedoch stieg sie die Stufen des alten Gutshauses hinauf und klopfte an die Tür von Alistairs Büro. Er blickte von seinem Schreibtisch hoch; tiefe Sorgenfalten durchfurchten seine Stirn.
»Ach, Clemmie. Ich habe gar nicht mit dir gerechnet. Waren wir zum Unterricht verabredet?«, fragte er ein wenig geistesabwesend. Sofort wandte sich Clemmie zum Gehen. »Nein, nein – komm rein. Eine Viertelstunde mehr oder weniger macht den Kohl auch nicht fett.« Er stand auf, um die Tür hinter ihr zu schließen. Ein Hauch seines Haaröls streifte ihre Nase und der sehr männliche Geruch, der in seiner Jacke hing. Niemand in Slaughterford hatte so saubere Hände wie er. Die Schreibtischplatte lag unter unzähligen Papierstapeln begraben. Einige Papiermuster stammten aus der Mühle, daneben lagen andere, feinere, die beschriftet waren. Selbst wenn Clemmie sich Mühe gegeben hätte, hätte sie die Worte darauf nicht lesen können. Sie trat an ihren üblichen Platz am Fenster und wandte der Scheibe den Rücken zu. Sie stand gern im Gegenlicht, sodass ihr Gesicht zum Teil im Dunkeln lag. »Nun«, sagte Alistair und ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. »Hast du geübt?« Offenherzig hob Clemmie eine Schulter und verneinte. Alistair verzog keine Miene. »Na, macht nichts. Sollen wir mit den Atemübungen beginnen, die ich dir gezeigt habe?«
Die Stunde verlief nicht sehr gut. Clemmie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und wünschte, sie hätte ihn nicht gestört. Es war der falsche Moment gewesen, sie konnte sich nicht konzentrieren und ermüdete schnell. Alistair klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Mach dir nichts draus«, sagte er. »Wir schaffen das schon, Clemmie. Da bin ich mir sicher.« Als Clemmie die Stufen hinunterstieg, kam ihr auf der Treppe Nancy Hadleigh entgegen. Instinktiv wandte Clemmie sich leicht von ihr ab, presste die Arme seitlich an den Körper und wich ihrem Blick aus. Nancy war schwierig und streng. Sie hatte einen Blick wie Eisennägel und redete stets nur über Clemmie, niemals mit ihr.
»Wirklich, Alistair, was versprichst du dir davon?«, sagte Nancy am Eingang zu seinem Büro.
»Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum dieses Mädchen nicht spricht«, gab Alistair ruhig zurück. »Man muss sie nur unterrichten.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich damit belastest.«
»Weil sich sonst niemand um sie kümmert, Nancy.«
»Nun, dir muss doch klar sein, dass nicht alle Leute glauben, dass du sie unterrichtest, wenn du dich mit ihr in deinem Büro einschließt. Es ist sehr unklug, dich zum Gegenstand solcher Gerüchte zu machen. Gerade jetzt.«
»Wirklich, Nancy. Ich bin mir sicher, dass niemand so etwas annimmt.«
»Ich bezweifle, dass dein Treibhausgewächs besonders erbaut wäre, wenn sie es wüsste.«
»Du tust, als würde ich etwas Schäbiges tun, Nancy, dabei ist es alles andere als das.«
»Na, ich hoffe nur, du setzt dem Mädchen keine Flausen in den Kopf, das ist alles.« Als sie die Tür hinter sich schloss, waren ihre Stimmen kaum noch zu hören, und Clemmie stieg unbekümmert weiter die Stufen hinunter.
Sie ging zum Laden hinüber, um die Post für die Weavern-Farm abzuholen – üblicherweise erhielten sie kaum welche. Weil Clemmie ihrem Sohn den langen Weg hinaus zur Weavern-Farm ersparte, steckte ihr die Ladenbesitzerin immer eine Kleinigkeit zu – etwas Süßes, ein Stück Käse oder einen Apfel. An jenem Tag kaute Clemmie, während sie ihren Weg fortsetzte, ein Karamellbonbon. Doch der Junge. Dieser Junge. Er hieß Eli, und seine Familie, die Tanners, war böse. »Sie sind die schlimmsten Halunken auf Gottes grüner Erde«, hatte ihr Vater, William Matlock, einmal gesagt, als er all seinen Töchtern verbat, sich mit einem der Tanner-Jungen abzugeben. Einmal hatte ihnen ein Tanner bei der Heuernte geholfen und dabei einige Male Clemmies Schwester Josie bedrängt, die damals zwölf gewesen war. Am Ende hatte er ihr eine blutige Lippe geschlagen. Und als man ihn daraufhin fortschickte, ließ er zwei Hühner mitgehen. Jetzt setzte William eine bedrohliche Miene auf, wenn das Gespräch auf einen Tanner kam. Doch Clemmie musste unwillkürlich immer wieder an das denken, was der Junge getan hatte – was er für sie getan hatte. Sie stellte sich sein Gesicht vor, das so voller Widersprüche war, dass sie ihn nicht durchschauen konnte. Normalerweise konnte sie sich auf ihren Instinkt verlassen, doch hier versagte er und war ihr keine Hilfe. Unter seinen Fingernägeln hatte Blut geklebt, und auf seinen Händen waren tiefe Kratzer gewesen. Er roch nach Bier und Schweiß, hart und mineralisch, doch darunter lag noch ein anderer, besserer Geruch. Trotzig nannte er ihr seinen Namen, als hätte sie ihn herausgefordert: »Ich bin Eli.« Und dann kein Wort mehr. Die Stille war schmerzhaft schrill gewesen.
Aber er war nirgends zu sehen. Falls er heute in der Mühle arbeitete, war er schon hineingegangen. Manchmal hatte er in der Lumpenmühle zu tun, der kleineren Mühle, ein Stück den Fluss hinauf, wo die Lumpen für die Papiermühle gestampft wurden. Clemmie erinnerte sich, dass er das zottelige Pony geführt hatte, das den Karren mit dem Papierbrei zur anderen Mühle zog. Als es widerwillig den Hals verdrehte, hatte er mit wütender Miene am Zaumzeug gezerrt. Er war so voller Wut – doch die stand im Widerspruch zu dem, was er für sie getan hatte. Sie blickte zur Lumpenmühle, hatte jedoch keinen Anlass, weiter den Fluss hinaufzugehen. Der Malzgeruch der Brauerei Little & Sons – einer ihrer Lieblingsdüfte – zog zu ihr hinunter, doch sie war beunruhigt, als sie das Mühlengelände verließ. Sie wollte auf der westlichen Flussseite zurückgehen, durch die Bäume. Dort führte zwar kein Pfad entlang, aber sie kannte den Weg. Während sie ging, spürte sie, dass sie beobachtet wurde. Sie kannte das Gefühl und bemerkte es sofort: Ein Blick ruhte auf ihr. Doch diesmal drehte sie sich um; sie wollte unbedingt wissen, ob es vielleicht der Junge war. Eli.