LUCINDE HUTZENLAUB wurde in Stuttgart geboren und lebte bis vor ein paar Jahren in Tokio. Sie ist verheiratet, hat vier Kinder und arbeitet als Kolumnistin und Autorin. Älter werden war für sie bisher überhaupt kein Thema – aber da betraf es ja auch immer nur die anderen.
HEIKE ABIDI lebt mit Mann, Sohn und Hund in der Pfalz, wo sie als freiberufliche Werbetexterin und Autorin arbeitet. Bis jetzt hat sie in ihrem Leben fünfmal genullt, und weder bei dreißig noch bei vierzig oder fünfzig hatte sie eine Krise …
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Lucinde Hutzenlaub
Heike Abidi
ICH DACHTE,
ÄLTER WERDEN DAUERT
LÄNGER
Ein Überlebenstraining für alle ab 50
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1. Auflage 2018
Copyright © 2018 Penguin Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv:
www.buerosued.de, München
Redaktion: Anne Nordmann
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-641-22262-8
V002
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»Ich trinke Champagner, wenn ich froh bin und wenn ich
traurig bin. Manchmal trinke ich davon, wenn ich allein bin;
und wenn ich Gesellschaft habe, dann darf er nicht fehlen.
Wenn ich keinen Hunger habe, mache ich mir mit ihm Appetit,
und wenn ich hungrig bin, lasse ich ihn mir schmecken.
Sonst aber rühre ich ihn nicht an, außer wenn ich Durst habe.«
(Emily Law de Lauriston Bourbers,
besser bekannt als Lily Bollinger, leitete die gleichnamige
Champagner-Dynastie von 1941 bis 1971)
Inhalt
Lucinde: Plötzlich fünfzig: Die, die nicht aus der Torte springt,
oder wie alles begann
Heike: Als mir klar wurde, dass ich nicht mehr die Jüngste bin
Teil 1: Wie es sich anfühlt
Bestandsaufnahme: Was bin ich und wenn ja, warum?
Lucinde: Alt!
Heike: Und plötzlich heule ich bei Pampers-Werbung
Lucinde: It’s my party and I’ll cry if I want to!
Heike: Auf einmal werde ich überall gesiezt …
Lucinde: Hilfe, meine Tochter hat mich
beim Rauchen/Tanzen/Trinken erwischt
Heike: Was ich früher übers Altwerden dachte
Lucinde: Warum sind graue Schläfen nur bei Männern heiß?
Boris Becker oder: Ich will den gleichen Spiegel
wie mein Mann!
Heike: Apropos … Was haben wir denn für Vorbilder?
Lucinde: Filme – die besten Stimmungsaufheller
Heike: Nicht Fisch, nicht Fleisch – Pubertät 2.0
Teil 2: Die Sache mit der Optik
Wer schön sein will, muss reiben: Beauty im Selbstversuch
Lucinde: Wasser, Sport und gute Gene:
Die Wahrheit über Botox
Heike: Zeit ist Geld ist Schönheit, Teil 1: Alles für den
perfekten Augenaufschlag
Lucinde: Dekorative Kosmetik und ich
Heike: Zeit ist Geld ist Schönheit, Teil 2: Der Trick funktioniert
von Kopf bis Fuß!
Lucinde: Vom Haarefärben, ›AU!‹ zu ›WOW!‹ – und was man sonst
noch so gegen Falten tun kann
Heike: Irgendwann sind wir alle dran: Gleitsichtdingens
Lucinde: Ich sehe was, was du nicht siehst. Brillen, Tattoos und
überhaupt: Was ist schon cool?
Heike: Aber ich mach doch gar keine Diät!
Lucinde: Ein fröhlicher Geist in einem gesunden Körper
Heike: Was du nicht isst, macht dich noch schöner
Lucinde: Christopher Lee und seine Kinder – mit Blutsaugern
gegen Krampfadern
Heike: Schwierige Füße. Wenn Schuh-Shopping zum
Abenteuer wird
Lucinde: Trends, Fashionistas und überhaupt: Was soll ich anziehen?
Heike: Gibt’s das auch in größer? Sieben goldene Tipps gegen
XXL-Shopping-Frust!
Teil 3: Und was machen wir nun?
Spaß mit Sachen: Einfach mal was Neues probieren
Lucinde: Schwerkraft – nein, danke!
Heike:Und sie bewegt sich doch: Sport für Spätberufene
Lucinde: Kleine Abkotzrunde und Gesichtsgymnastik –
Sport, wie ich ihn mag
Heike: Nicht so mein Ding – ungeliebte Sportarten
Lucinde: Puckiii, die Thaimassage und Instrumentalunterricht
Heike: Schnarchend schlafen, ächzend aufstehen
Lucinde: Nicht ohne mein Kopfkissen!
Heike: Ein gemeinsames Hobby? Puh. Schwierige Frage
Lucinde: Hilfe, mein Mann hat einen Foodtruck!
Flirten für Wiedereinsteiger – was man von anderen
nicht wissen will
Heike: Aus Versehen beim Guru: Wir sind ein Paar,
holt uns hier raus!
Lucinde: Paarweise
Heike: Und dann sind wir einfach abgehauen!
Lucinde: Hormonalarm
Heike: Sie haben Post! Oder: Hilfsmittel – nein, danke!
Lucinde: Die Boutique Erotique, Monique und ique
Heike: Ich war noch niemals in New York …
Oder: Die Anti-Bucket-Liste
Lucinde: Wir feiern die Feste, wie sie fallen
Danke
Lucinde
Plötzlich fünfzig: Die, die nicht aus der Torte springt, oder wie alles begann
Eine Zahl ist eine Zahl, schon klar. Nehmen wir zum Beispiel die Fünf. Total harmlos. Auf einer Skala von null bis zehn ist sie die Mitte. Man kann mit ihr durchaus schon rechnen (zur Not hat man ja auch ausreichend Finger dafür), und man darf sie sogar gerade sein lassen, wenn man möchte. Prima Zahl also. Und die Null erst – völlig unkritisch, der Inbegriff der Bedeutungslosigkeit quasi. Wo also, fragen Sie, ist dann das Problem mit den beiden Ziffern?
Tja. Einzeln mögen sie wenig bedrohlich wirken, aber in Kombination … O weia! Die Rechnung ist ganz simpel: Fünf plus null gleich Katastrophe! Zumindest was mich selbst angeht.
Fünfzig ist für mich das wortgewordene Geräusch, das Kreide macht, wenn man sie zu heftig über die Tafel zieht. Fünfzig tut weh! In meinen Ohren, in meinem Kopf UND in meinem Spiegel. Nein, ich möchte das nicht! Trotzdem ist es bei mir in zwei Jahren so weit. Und ganz unter uns: Ich befürchte, ich arbeite mich langsam, aber beständig auf die Wechseljahre zu. Verdammt. Dabei bin ich dazu noch gar nicht bereit! Nur: Wer fragt schon danach, was ich will? Mein Spiegel nicht, meine Waage nicht, meine Wahrnehmung nicht, niemand. Sagen Sie es nur: Ich bin die Allerärmste! Ja, ja. Heike ist da schon einen Schritt weiter. Sie hat die Schallmauer der fünfzig durchbrochen, wie man so schön sagt, und behauptet nun, dass es gar nicht schlimm sei. Pfff. Ganz im Gegenteil, sagt sie, das Leben sei entspannt, gut sortiert und eigentlich überhaupt nicht anders als vorher. Nur schöner. Man selbst sei quasi eine bessere, ausgeglichenere, zufriedenere und mindestens genauso attraktive Version seiner selbst. Heike 5.0 sozusagen. Fünfzig, sagt Heike, sei das neue Schwarz. Alles cool.
Ich glaube das nicht. Für mich klingt fünfzig nicht nach Glückseligkeit, sondern nach einer Diagnose. Nach Wärmekissen und Hausschuhen. Nach Stock und Kreuzworträtseln. Nach Rücken, grauen Haaren und seniler Bettflucht. Nach stetigem Bergab. Nein, ich kann das nicht. Ich will das nicht! Und überhaupt: Das ist doch nix, worauf man sich freut!
Aber es kommt näher. Und näher. Und immer näher.
Dundindundindundin … Hören Sie auch die Titelmelodie vom »Weißen Hai«? Gut so. Auf die Achtziger ist halt Verlass. Außerdem war ich da noch jung, deshalb kann ich sie gut leiden.
Dieses Jahr erwischt es erst einmal meinen Mann. Ich habe beschlossen, ihm eine Überraschungsparty zu schmeißen. Mit Torte und Rede und allem Drum und Dran. Problem: Die Freunde und die Torte krieg ich organisiert, aber was um alles in der Welt soll ich sagen? Ich kann doch da nicht stehen und ihn bemitleiden? Heraushüpfen aus der Torte wäre natürlich eine erfrischende Alternative, dann könnte man sicher auf die Rede verzichten, aber ich befürchte, die Rede ist trotz allem die bessere Variante. Wer mich einmal springen gesehen hat, weiß: Elegant ist anders. Nein, ich bin auf keinen Fall die, die aus der Torte hüpft.
Ich stehe diesem runden Geburtstag, wie wir nun alle wissen, sehr kritisch gegenüber. Ja, ich weiß, dass das albern ist und man das Älterwerden nicht verhindern kann, aber deshalb muss man es ja noch lange nicht mögen, oder? Moment: Wer sagt denn, dass man es nicht aufhalten kann? Millionen Hollywoodstars investieren einen Großteil ihrer Gage in den Erhalt des äußerlichen Optimalzustandes. Manche mit mehr, manche mit weniger Erfolg. Ich habe zwar nicht die gleichen finanziellen Mittel, aber in meinem bescheidenen Rahmen kann ich es doch wenigstens versuchen, oder?
Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich kann es stoppen – oder ich kann lernen, es zu mögen. Heike sagt, wenn alle wüssten, wie toll sich Fünfzigwerden anfühlt, könnte es kaum einer erwarten, bis es bei ihm oder ihr selbst so weit ist. Wirklich, das behauptet sie. Ich glaube kein Wort. Sie sagt sogar, dass sie mir das beweisen kann, indem sie mir die großen neuen Freiheiten zeigt, die das halbe Jahrhundert bringt, dass sie tolle Persönlichkeiten ausgegraben hat und Dinge mit ihrem Mann vorhat, die …
Ich will es ja gern glauben. Aber bis dahin werde ich alles ausprobieren, um dem Verfall Einhalt zu gebieten, meinen Körper in Schuss zu halten, die Schwerkraft auszuhebeln, mein Sexleben anzukurbeln und meine Optik zu optimieren. Und Sie dürfen dabei sein. Juhu! Äh, selbst in meinen Ohren hört sich das eher nach einem Ingenieursstudium an als nach dem Weg zur großen Zufriedenheit. Sei’s drum. Ich werde herausfinden, was alles möglich ist. Und ich freue mich darauf. Ob etwas Verwertbares für die Rede dabei ist, werden wir sehen. Zur Not bleibt mir schließlich immer noch der beherzte Sprung aus der Torte.
Heike wollte übrigens unbedingt wetten, dass sie Recht hat. Um eine Flasche Champagner an meinem fünfzigsten Geburtstag. Ha! Also, wenn das stimmt, was sie da beteuert, dann spendiere ich gerne eine Flasche. Und wenn nicht, habe ich wenigstens was Anständiges zu trinken.
Heike
Als mir klar wurde, dass ich nicht
mehr die Jüngste bin
Na so was. Die Lucinde aber auch. Wirkt immer so fröhlich und souverän. Dabei hat sie Panik vor der Null. Wer hätte das gedacht? Aber das mit der Rede kriegen wir schon hin. Und beruhigen werde ich sie auch irgendwie. Zumal ich sie ja verstehe. Ich bin ja selbst nicht mehr die Jüngste. Genau genommen ist Lucinde von uns beiden die deutlich Jüngere. Aber ich komme damit klar.
Allerdings kommt vor dem Frieden-mit-dem-Alter-Schließen das Akzeptieren der Tatsachen …
Niemand wird eines Tages mit dem Gedanken wach: Jetzt bin ich alt. Mich jedenfalls überkam diese Erkenntnis nicht einmal an meinem Fünfzigsten. Sondern eher schleichend. Wenn man darauf achtet, gibt es allerdings untrügliche Anzeichen, die diesen Prozess signalisieren. Manchmal gelingt es, sie zu ignorieren. Ich bin sogar ziemlich gut darin. Die ersten sechs kenne ich daher nur vom Hörensagen. Das siebte war es schließlich, das mir die Augen öffnete …
1. Das unbestechliche Spiegelbild
Je schöner man in der Jugend war und je genauer man den eigenen Verfall im Spiegel beäugt, desto schlimmer muss einem das Älterwerden wohl erscheinen. Ganze Industriezweige leben von diesem Phänomen. Zum Glück bin ich nicht besonders eitel. Außerdem hatte ich als junge Frau eine ganz fürchterliche Akne, sodass mir die ersten Fältchen vergleichsweise bezaubernd erscheinen. Und wenn ich mir im Spiegel einmal gar nicht gefalle, sehe ich mir stattdessen meine Autorinnenfotos an. Professionell gestylt, ausgeleuchtet und bildbearbeitet sehe ich keinen Tag älter als 49 aus. Allerhöchstens!
2. Die sprichwörtlichen Kinder
»An den Kindern merkt man, dass man alt wird«, so lautet eine oft gehörte Volksweisheit. Irgendwie scheine ich nicht weise genug zu sein, um zu kapieren, was damit gemeint ist. Ich jedenfalls kam mir, als ich einen kleinen Schreihals mit Dreimonatskoliken hatte und nicht genug Schlaf bekam, uralt vor. Mit einem zwanzigjährigen Sohn dagegen sieht das Leben doch gleich ganz anders aus. Vor allem, wenn wir miteinander chatten, lustige Links hin- und herschicken oder via Sprachnachricht kommunizieren. Irgendwie cool.
3. Das ewige Hamsterrad
Es soll ja Leute in meinem Alter geben, die jetzt schon die Jahre bis zur Rente zählen. Grundgütiger! Wer glaubt denn noch an Rente? Ich mag mir gar nicht vorstellen, eines Tages zum Nichtstun verdonnert zu sein. Nun ja, das wird auch nicht passieren, denn wer sollte mich verdonnern? Als Freiberuflerin müsste ich das schon selbst tun. Und solange mir das Schreiben noch so viel Spaß macht, werde ich damit weitermachen. Ich wäre nicht die erste Greisin, die noch Bücher veröffentlicht …
4. Die dahinfliegende Zeit
Schon wieder Ostern, Sommer, Halloween, Geburtstag, Weihnachten, das Jahr vorbei? Allenthalben wird geklagt, wie schnell die Zeit doch rast und dass das mit den Jahren immer schlimmer wird. Hm. Irgendwas ist wohl mit meinem Zeitempfinden nicht in Ordnung (oder es funktioniert einfach nicht altersgerecht), denn mir geht es gar nicht so. Liegt vielleicht an den vielen Dingen, die zwischen diesen Fixpunkten wichtig sind: Abgabetermine. Deadlines. Messen. Lesungen. Buchveröffentlichungen. Leserunden … Himmel, schon so viel abgehakt – und erst Ende Januar?
5. Das schwächelnde Oberstübchen
Okay. Es kommt vor, dass mir mal ein Name nicht einfällt (Carreras, Pavarotti … und wie hieß noch gleich der dritte der großen Tenöre?) – aber das ging mir auch schon mit zwanzig so. Und wie damals muss ich auch heute einfach nur in Gedanken das Alphabet durchgehen, schon fällt es mir ein (A, B, C … Domingo, genau!). Meistens jedenfalls. Und wenn nicht? Auch egal, wozu gibt’s Tante Google? Nobody is perfect.
6. Die müden Knochen
Wer als Teenager Leistungssport betreibt, in den Zwanzigern Aerobic turnt, in den Dreißigern Marathon läuft und in den Vierzigern mit dem Rennrad die Straßen unsicher macht, hat spätestens mit fünfzig kaputte Knie. Kann mir nicht passieren – ich habe, sportlich gesehen, meinen Körper das erste halbe Jahrhundert meines Lebens geschont und fange erst jetzt an, mich fit zu halten. Warum Ausdauer und Beweglichkeit trainieren, wenn man sowieso noch ausdauernd und beweglich ist? Das wäre ja geradezu Verschwendung …
7. Die jungen Menschen!
Ich selbst kam mir also kein bisschen alt vor. Bis ich merkte, wie blutjung die anderen sind! Die Lehrer an der Schule meines Sohnes – fast alle jünger als ich.
Der Arzt, der mich operiert hat – noch grün hinter den Ohren. Die Fußballer bei der WM – halbe Kinder.
Die Frauen im Park mit den Kinderwagen – selbst fast noch Babys! Dann hörte ich, dass die Fußballer, die mir so knabenhaft vorgekommen waren, ihr Karriereende verkünden – aus Altersgründen. Und mir wurde klar, dass die Frauen mit den Kinderwagen keineswegs minderjährige Frühgebärende waren, sondern gestandene Mütter um die dreißig. Da ging es mir dann auf. Tja. Wenn junge Leute einer anderen Generation angehören, bin ich wohl alt. Oder jedenfalls älter. Aber letztendlich haben dreißig, vierzig, fünfzig und hundert eines gemeinsam: Es sind alles nur Zahlen.
Doch taugt diese Erkenntnis für Lucindes Rede? Kann sein. Ich werde meine Gedanken einfach mal notieren und ihr mailen. Vielleicht kann sie was damit anfangen. Oder wenigstens ihre Panik vor der großen Fünf vor der Null bewältigen. Ich glaube nämlich, viel mehr als die Rede, die sie halten soll, beschäftigt sie ihr eigener bevorstehender Fünfzigster. Vielleicht sollte ich sie damit ein bisschen aufziehen. Mit Humor geht schließlich alles leichter, auch das Älterwerden!
Teil 1:
WIE ES SICH ANFÜHLT
Bestandsaufnahme:
Was bin ich und wenn ja, warum?
Lucinde
Alt!
Ich kann über vieles lachen, sogar über mich selbst, aber beim Alter, da bin ich eine totale Spaßbremse. Mist! Nur warum eigentlich? Warum fällt es mir von Jahr zu Jahr schwerer, meinen Geburtstag zu feiern, geschweige denn, an diesem Tag freudig und aufgeregt noch eine Kerze mehr auszupusten? Zumal die ja sowieso schon kaum noch auf den Kuchen passen? Und ist das nur bei mir so?
Um ehrlich zu sein, kenne ich den Grund natürlich genau: Es geht mir einfach alles viel zu schnell! Ja, es fühlt sich so an, als hätte ich mich bis gestern noch von meinem vierzigsten Geburtstag erholt. Ich kann quasi noch fühlen, wie der Prosecco durch meine Adern perlt. Ich habe noch Blasen an den Füßen vom Auf-dem-Tisch-Tanzen. Und gleichzeitig weiß ich, wie schnell ich mich damals (O mein Gott! Ich habe das schlimme »Damals!«-Wort benutzt! Das hört sich an wie »vor dem Krieg«!) von meinem Kater erholt habe. Das ging innerhalb von einer Nacht! Am nächsten Tag war ich wieder fit! Heute brauche ich dafür mindestens 48 Stunden, wenn nicht länger, und vor allem: bekomme ich einen Kater schon von einer einzigen, winzigen Weißweinschorle! Es ist ein Skandal! Ähnlich dem, dass dieser Geburtstag schon beinahe ein weiteres Jahrzehnt her ist! Wo sind die letzten Jahre hin? Wer hat sie geklaut?
Gefühlt räume ich in diesem Moment beinahe noch die Geschenke von meinem Vierziger-Gabentisch. Ich erinnere mich an sehr viele Antifaltencremes und ein Buch mit dem Titel »Vierzig ist das neue Zwanzig« oder so ähnlich und an meinen Schreck darüber, dass ich ja dann nochmal ganz von vorne anfangen müsste: Mann treffen. Mann mögen. Mann heiraten. Kind kriegen. Noch ein Kind kriegen. Noch ein Kind kriegen. Noch ein … Ernsthaft? Ich meine, ich liebe meine Kinder. Und ich habe die meisten schrecklichen Dinge aus diesen ersten Jahren vergessen: die Tatsache, dass ich insgesamt bestimmt zwei Jahre lang meine Füße vor lauter Bauch nicht sehen konnte. Ich erinnere mich außerdem an die Presswehen und die auf Monstermelonen angeschwollenen Brüste. Die durchwachten Nächte, die Verzweiflung, wenn man wieder nicht wusste, warum das Kind seit tausend Stunden brüllt, und an den unförmigen Nachschwangerschaftskörper, von dem ich damals annahm, dass er immer so bleiben würde und der liebe Gott dies als eine Art extended Schwangerschaftsverhütung in die weiblichen Gene eingebaut hat. Oh. Vielleicht habe ich doch nicht alles vergessen. Nur so dahingedacht, überlegte ich damals während des Aufräumens mit meinem Mann Holger, ob wir nicht vielleicht doch noch ein Kind bekommen sollten. Ja, klar war vierzig spät für eine Schwangerschaft, aber na und? Ich fühlte mich schließlich höchstens wie 37! Oder sagen wir 39. Aber keinen Tag älter! Ach ja. Damals. Und jetzt bin ich plötzlich 48! Das ausgedachte Kind wäre maximal acht und die anderen Eltern beim Elternabend vermutlich verwirrt, weil sie nicht wüssten, ob ich nun die Mutter oder die Oma bin. Nein, nein. Gut, dass wir uns dagegen entschieden haben. Ich wollte ja auch kein Kind mehr. Ich wollte nur grundsätzlich noch dazu in der Lage sein. Gut, diese Gedanken muss ich mir nun wohl nicht mehr machen, es sei denn, ich möchte demnächst bei Lanz auf der Couch sitzen und darüber reden, wie gerne ich immer Mutter war. Und wie sehr ich Säuglinge liebe und … Ich liebe Säuglinge wirklich. Aber auch die werden irgendwann zu pubertätsbehafteten Teenagern, von denen man nicht weiß, in welcher Stimmung sie in der nächsten Sekunde aus ihrem Zimmer schießen. Und davon habe ich mittlerweile ein paar. Vor Pubertisten habe ich Respekt. Richtigen. Und um ehrlich zu sein, beschäftigen sie mich heute beinahe genauso sehr wie einst das Schreibaby. Was hat es denn, überlege ich. Warum ist es so garstig zu mir? Warum schläft es nur? Warum schläft es nicht? Warum schläft es nicht allein? Nein, die durchwachten Nächte von damals waren ein Witz gegen heute. Damals konnte ich mir wenigstens sicher sein, dass das Kindelein süß und warm, NÜCHTERN und ALLEIN in seinem Bettlein liegt. Hach, waren das noch Zeiten … Am überraschendsten fand ich, wie schnell sie sich entwickelten. Jetzt finde ich überraschend fremde Unterhosen in meiner Wäsche. Von Jungs. Ganz ehrlich? Ich bin erschöpft davon, mir seit über zwanzig Jahren ständig Gedanken um das Wohlergehen meiner Kinder zu machen. Und dabei sind sie (genau wie alle anderen) oft egoistisch, meistens undankbar, immer unberechenbar, manchmal unglücklich, dann wieder überraschend zauberhaft, mutig, schlau, großartig, kreativ (auch, wenn es um Ausreden geht), unabhängig (ich kann mich nicht entscheiden, ob ich das gut oder nicht so gut finden soll), bewundernswert und toll – und manchmal auch noch ganz klein. Nein, sie brauchen uns nicht mehr so dringend. Das tut manchmal weh. Und manchmal ist es auch sehr schön. Vor allem, weil ich finde, dass ich jetzt mal dran bin. Jetzt ist meine Zeit gekommen. Pubertät? Von mir aus. Solange es meine – zweite – eigene ist. Ich weiß natürlich nicht, was auf mich zukommt in diesem neuen Jahrzehnt. Klar ist fünfzig nur eine Zahl, aber eine wichtige. Doppelt so viel ist hundert, und wer wird schon so alt?
Ich habe also weniger als die Hälfte übrig, und das macht mir Angst. Aber wenn fünfzig ist, was man daraus macht, wie Heike sagt, dann müsste ich ja unbedingt … Ich sollte dringend … außerdem: Wenn nicht jetzt, wann dann? Da haben Sie es: Schon mache ich mir Druck, die besten Jahre zu haben, die man haben kann! Und dabei wollte ich genau das eben nicht mehr. Nicht mehr rennen, nicht ständig zuständig sein. In meinem Rhythmus leben. Und ich frage mich: Wird jetzt alles schlimm? Werde ich gleich morgen so schrumpelig, dass mich keiner mehr anschaut? Oder geschieht mal wieder, womit ich insgeheim am ehesten rechne: nix? Absolutely nothing? Und wäre das nun gut oder schlecht?
Nach meinem Vierzigsten ist jedenfalls in der Tat nichts Spektakuläres passiert. Also nichts Furchtbares. Ganz im Gegenteil. Ich kriege seither einfach nur weniger Anrufe von anderen Müttern, weil mein Kind ihr Kind in der Pause geschubst hat oder irgendetwas in dieser Art. Und das ist echt ein Gewinn. Trotzdem. Als mir klar wurde, dass mein Mann dieses Jahr fünfzig wird, bin ich schon zusammengezuckt. Denn nein, es gibt nichts zu beschönigen: Wenn er fünfzig wird, bin auch ich nicht mehr vierzig plus, sondern eher fünfzig minus.
In zwei Jahren ist es dann auch bei mir so weit. 730 Tage. Naja, ein paar mehr sind es schon noch, aber … fünfzig. Ich. Bald. Shit. Nein, immer noch nicht lustig.
Das war bisher so weit weg von meinem eigenen Leben wie der Mond von meiner Terrasse in einer lauen Sommernacht. Und eine Rede? Die erste Rede, die ich je gehalten habe, war übrigens auch auf einem fünfzigsten Geburtstag – und zwar auf dem meiner Mutter! Aaah! Moment! Jetzt will ich doch kurz anhalten. Aussteigen. Ich muss nachdenken. Jetzt ist meine Mutter nämlich vor allem die Oma meiner Kinder und wirklich alt. Damals war sie … meine Mutter eben und fünfzig, ein Alter, in dem man zwar noch gut aussehen und fit sein konnte (alles, was ich damals an ihr gelobt habe), aber trotzdem den Zenit schon überschritten hat (was ich nicht erwähnt habe) und das Ende absehbar ist (was ich zwar dachte, aber niemals gesagt hätte). Und jetzt ist mein Ehemann dran! Und noch viel schlimmer: bald ich selbst! O weh. Bin ich also alt? Ist Holger alt? Und vor allem: Was ist »alt« überhaupt?
Wenn alt müde und desinteressiert ist, dann bin ich es (glücklicherweise) nicht. Wenn es gebrechlich bedeutet, bin ich es schon gleich gar nicht (Lesebrille und zähe Kater-Rekonvaleszenz zählen nicht!). Doch wenn alt weise ist, dann bin ich es (leider auch noch) nicht.
Laut Duden definiert man alt als »klassisch, bestehend, vor langer Zeit entstanden und daher bewährt, bekannt, vertraut, gewohnt«. Damit habe ich absolut kein Problem. Aber ob sich das als Inhalt für eine Rede eignet? Man weiß so wenig. Heike, hilf!
PS: Natürlich sind wir alle weise und vernünftig genug, nur so wenig zu trinken, wie wir vertragen. Zum Vorglühen nehmen wir Mineralwasser, um dem Kater vorzubeugen. Aber was, wenn’s doch mal passiert? Nun ja – dann verjagt man ihn am besten mit einem Katerfrühstück bestehend aus Gemüsesaft, Heringen, Bananen und Oliven. Eigentlich ist die Aussicht auf diese Kombination die beste Anti-Kater-Therapie überhaupt, denn um dem zweifelhaften Genuss zu entgehen, trinkt man lieber ein Glas weniger als eins zu viel …
PPS: Wenn Sie sich schon immer gefragt haben, wie die Stars es schaffen, am Morgen nach der Oscarverleihung noch auszusehen wie am Abend zuvor: Hämorrhoidensalbe soll hervorragend gegen Augenringe helfen. Hab ich gehört.
Heike
Und plötzlich heule ich
bei Pampers-Werbung
Ob der Duden mit seiner Definition wirklich weiterhilft? Vielleicht wäre das ein guter Einstieg für Lucindes Rede: »Altern ist ein komplexer Vorgang, und das erste graue Haar ist nur eines von vielen Anzeichen. Die anderen … habe ich vergessen.« Ich muss sie unbedingt mal fragen, ob das den Humor ihres Gatten trifft.
Womöglich käme eine gefühlsduselige Rede ohnehin besser an?
Denn jetzt mal ernsthaft: Wer das Altern auf körperliche Veränderungen reduziert, ignoriert einen wichtigen Bereich des Lebens, von dem ich früher dachte, er wäre eine zuverlässige Konstante. Nämlich die Gefühle. Gerade die ändern sich mit dem Älterwerden ganz extrem. Ich jedenfalls bin, was Rührseligkeit betrifft, mit den Jahren von einer Eiskönigin zu einer wahren Heulsuse mutiert.
Vielleicht liegt es daran, dass ich mit zwei jüngeren Brüdern aufgewachsen bin, jedenfalls fand ich es schon immer extrem uncool, bei rührenden Filmszenen in Tränen auszubrechen. Wie peinlich! Man stelle sich nur vor – da sitzt die ganze Familie samstagabends (frisch gebadet und schon im Schlafanzug mit Bademäntelchen drüber) im Wohnzimmer, sieht fern, knabbert Fischlis – und plötzlich bricht die große Schwester in Tränen aus. Nein, das kam ü-ber-haupt nicht infrage!
Und es kostete mich auch keine Selbstüberwindung. Ich musste ohnehin selten weinen. Jedenfalls nicht aus Rührung. Wenn, dann aus Wut. Aber das ist ja ein ganz anderes Thema.
Ich erinnere mich an gerade mal zwei Situationen während meiner Kindheit, in denen mir vor der Glotze die Tränen kamen.
Einmal bei einem Interview mit einem Ehepaar, das seinen kleinen Sohn bei einem Unfall verloren hatte. Der Kleine war verblutet, weil es auf Landstraßen keine Notrufsäulen gab (und damals waren Handys ja noch nicht erfunden). Sie hatten eine Stiftung gegründet, die für die Verbreitung dieser Notrufsäulen sorgen sollte. Benannt nach dem toten Jungen. Ich heulte wie ein Schlosshund, als ich das hörte. Vor allem, weil der Kleine denselben Vornamen hatte wie mein kleiner Bruder und bei seinem Tod ungefähr so alt war wie dieser zu dem Zeitpunkt gerade.
Zum Glück gab es für diese tränenreiche Gefühlsverwirrung keine Zeugen. Das wäre mir extrem peinlich gewesen.
Auch bei meinem zweiten Heulanfall vorm Fernseher war ich allein. Er überkam mich vollkommen unerwartet. Eigentlich war der Film – ein irrsinnig kitschiger Heimatschinken, an dessen Titel ich mich nicht mehr erinnere und der danach wohl aus guten Gründen nie wiederholt worden ist – schon so gut wie vorbei, als es mich kalt erwischte.
Im Grunde war es eine altmodische Version von »Bauer sucht Frau« meets »Der Bachelor«: Die drei jungen, hübschen Töchter eines Bergbauern sind alle in den attraktiven, kernigen Knecht verliebt, und die ganze Zeit fragt man sich, für welche er sich wohl entscheidet. Doch dann – pardauz! – stirbt der kernige Knecht bei einem Unfall, und keine kriegt ihn.
So weit, so tragisch. Und so schlecht geplottet. Aber egal. Das unerwartete Ableben des Knechts hatte zwar die drei Bergbauerntöchter zum Wehklagen gebracht, nicht jedoch mich. Ich war zehn, schaute diesen Mist ohnehin nur aus Langeweile und weinte, wie gesagt, generell nicht vor Rührung. Doch das war noch nicht das Ende des Films. Nein, es gab noch einen weiteren Schnitt. Die Schlussszene zeigte die drei Schwestern am Grab des Angebeteten. Alle in Schwarz. Und uralt! Sie hatten ihr ganzes Leben damit verbracht (um nicht zu sagen: verschwendet), das ehemals kernige Unfallopfer zu betrauern.
Oh, wie ich da weinte! Nicht um den Knecht, nein, sondern um die drei vergeudeten Frauenleben! Man kann doch nicht jahrzehntelang die Vergangenheit beklagen – es gibt ja auch noch die Gegenwart. Und die Zukunft.
Irgendwie hatte ich mit zehn schon ganz schön den Durchblick. Was mir damals natürlich nicht klar war. Ich war nur froh, dass mich niemand bei meinem tränenreichen Zusammenbruch erwischte.
Die nächsten gut fünfzehn Jahre übte ich mich in Selbstbeherrschung. Klassische »Heulfilme« mied ich sowieso, und erst bei der Schlusssequenz von Philadelphia (die den gerade verstorbenen Helden als Kind zeigte) passierte es wieder. Die Tränen kullerten. Das war aber auch ein hochemotionaler Film!
Rückblickend ist es geradezu lächerlich, wie ich damals meine vermeintliche Schwäche vor mir selbst zu rechtfertigen versuchte. Denn Tatsache ist: Philadelphia war erst der Anfang.
Zwischen dreißig und vierzig kam es immer mal wieder vor, dass mich gefühlvolle Filme zu Tränen rührten. Das mussten gar keine ausgesprochenen Heulfilme sein – es reichte, wenn Kinder vorkamen. Ich führte das auf die Tatsache zurück, dass ich selbst gerade Mutter geworden war. Musste an den Hormonen liegen und am legendären Mutterinstinkt.
Inzwischen glaube ich vielmehr, dass die Flennerei rein altersbedingt ist. Die Zähren sind so etwas wie die grauen Haare der Seele – nur dass man sie nicht überfärben kann.
Noch jahrelang habe ich mir Mühe gegeben, meine Tränen zu verbergen. Hust- und Niesanfälle zu simulieren, um einen Vorwand zu haben, verstohlen zum Taschentuch zu greifen. Oder so zu tun, als müsste ich superdringend auf Toilette, wenn es brenzlig wurde. Aber inzwischen weiß ich, dass diese Strategie auf Dauer ungefähr so zielführend ist, wie sich einzelne graue Strähnen auszureißen …
Längst habe ich meinen inneren Widerstand aufgegeben. Und gebe hiermit öffentlich zu, sämtliche Folgen der Hebammenserie »Call the Midwife« gesehen zu haben und bei jeder einzelnen Geburt (und das waren viele!) hemmungslos geschluchzt zu haben.
Ich bin nun mal mitfühlender geworden mit den Jahren (die Formulierung »weinerliches altes Weib« weise ich jedoch entschieden von mir!). Gefühlsduselig bis zum Gehtnichtmehr. Und »Call the Midwife« ist noch nicht einmal der Gipfel meiner Larmoyanz. Alles ist steigerbar. Denn Tatsache ist: Ich habe sogar schon bei Werbespots geweint. Nicht weil sie so schlecht sind (wobei man auch unter diesem Aspekt allerhand Grund zum Heulen hätte), sondern weil sie mich aus irgendeinem Grund berührt haben.
Sie wollen ein Beispiel? Ich sage nur: Pampers.
Lachen Sie nicht!
Irgendwann treffen wir uns – im Club der anonymen (oder besser: der bekennenden) Ü50-Heulsusen …
Und das ist auch gut so. Denn was ist befreiender, als zu seinen Gefühlen stehen zu dürfen? Ohne cool sein zu müssen? Kleine Kinder tun das schließlich auch nicht. Hey, wie wär’s, Lucinde: Wollen wir ’ne Runde gemeinsam schluchzen?
Nutzloses Wissen:
Nicht alle Tränen sind gleich salzig
Tränen bestehen aus Wasser, Elektrolyten und Proteinen – allerdings variiert das Mischungsverhältnis. Dieses wiederum ist situationsbedingt:
Wie häufig und wie lange geweint wird, ist übrigens unter anderem kulturell unterschiedlich. Und es gibt auch einen Geschlechterunterschied. Aber der ist rein mechanisch begründet: Die Tränengänge sind bei Männern länger. Sie können ihre Tränen also einfacher zurückhalten, während bei Frauen der Kanal schneller überläuft.
Wie gut, dass es Tränenforscher gibt!
Lucinde
It’s my party and I cry if I’ll want to!
Im Gegensatz zu Heike heule ich schon immer und ständig. Filme, Musik und Geschichten berühren mich mit großer Zuverlässigkeit. Beim Vorlesen von Bilderbüchern fange ich spätestens auf Seite fünf an, mich zu räuspern und heimlich nach einem Taschentuch zu tasten, und Gedichte, oh, hör mir auf mit Gedichten, kann ich gar nicht vorlesen. Alles, was meine Kinder, Freunde oder sogar Menschen erleben, von denen ich nicht mehr weiß, als dass sie, wie ich, gerade mit der Bahn von A nach B reisen und ihrem Nebensitzer erzählen, wie Tante Inge, Gott hab sie selig, oder James aus Übersee … All das treibt mir die Tränen in die Augen. Das ist genetisch. Mein Vater ist auch so, und ich werde nie vergessen, wie wir beide gemeinsam LoveStory mit Ali MacGraw und Ryan O’Neal angeschaut haben (da war ich ungefähr zwölf) und irgendwann auf Klopapier umsteigen mussten, weil es kein Taschentuch mehr gab. Schön war das. Und ja: Es wird von Jahr zu Jahr intensiver. Na und? Gefühle sind was Tolles. Sie zeigen zu können erfordert manchmal Mut und eine gewisse Großzügigkeit sich selbst gegenüber. Je älter ich werde, umso mehr mag ich mich gerade dafür, dass ich empathisch bin.
Ich habe das Heul-Gen übrigens nur bedingt weitervererbt. Meine Kinder sitzen gerne im Kino neben mir und schauen in mein Gesicht statt auf die Leinwand. »Heulst du, Mama? Du heulst doch! Haha! Mama heult wieder!« Gelächter. Mit Popcornbechern anstoßen. Sehr witzig.
Ich habe mich daran gewöhnt, ja finde es manchmal richtig schön, in einen »Heulfilm« zu gehen. Klassische Heulfilme sind romantisch, überraschend, emotional, schön und spannend, oder die Bilder sind so gewaltig, dass sie mich mitreißen. Und das ist doch der Sinn der Sache, oder?
Es gefällt mir, mich auf eine Gefühlsreise mitnehmen zu lassen und mitzufühlen. Ich lasse mich regelrecht fallen und verschwinde komplett in der Story.
Es muss dafür übrigens kein tragischer Film sein. Nein, es darf kein tragischer Film sein, denn auch wenn das Heulen selbst nicht das Problem ist, so brauche ich doch sehr lange, um aus solchen Filmen wieder aufzutauchen. Sie begleiten mich stundenlang und hin und wieder so intensiv, dass ich kaum herausfinde. Das ist manchmal schön und manchmal … ein bisschen lästig, denn ja, ich gebe es zu: Meine romantischen Erwartungen an meinen eigenen Haus-und-Hof-Brad-Pitt/George-Clooney/Ryan-Gosling nach einem Hollywood-Heulfilm sind dementsprechend. Deswegen schaut mein Mann immer, dass er schon tief und fest schläft, wenn ich mal wieder mit einer Freundin im Kino gewesen bin.
Was sagt uns das jetzt? Ich heule also schon immer, und Heike, Heike ist eine Neuheulerin. Es hört sich nicht so an, als sei ihr diese Entdeckung unangenehm. Aber das Wichtigste: Es ist eine nigelnagelneue Verhaltensform. NEU! Das totale Gegenteil von ALT! Mit über FÜNFZIG! Ist das nicht großartig? Das heißt ja, auch für mich besteht bezüglich Neuem trotz des fortgeschrittenen Alters noch Hoffnung! Ja, jetzt, da ich gründlich darüber nachdenke, sehe ich es genau: Es gibt sie, die lange Liste an neuen und verbesserten Verhaltensmustern, die man erst im fortgeschrittenen Alter entdecken kann. Die man erst freischalten kann, wenn man im Spiel des Lebens ein Level weiter ist. Erkenntnisse sind etwas Tolles. Und ganz besonders, wenn sie einen holperigen Weg zu einem ungeliebten Ziel ein wenig ebnen.
Hach, ich könnte heulen, so schön finde ich das!
Heike
Auf einmal werde ich überall gesiezt …
Genug geheult jetzt! Älterwerden ist kein Grund dazu – es hat nur ein paar nicht ganz so erfreuliche Symptome, aber an denen kann man ja arbeiten.
Ein untrügliches Symptom ist die Sache mit der Siezerei. Das wird jetzt nicht jeden so stören wie mich, es soll ja Leute geben, die es gar nicht leiden können, mit Du angesprochen zu werden. Zu diesen Leuten gehöre ich definitiv nicht.
Mein persönlicher Duz-Siez-Konflikt begann mit einem Purzelbaum. Es war in den Sommerferien, bevor ich in die dritte Klasse kam. Bis dahin hatte ich in einer vom Du dominierten Welt gelebt. Kunststück, hatte ich doch fast ausschließlich mit meinen Eltern, Geschwistern, Großeltern und Freunden zu tun. Lediglich unsere Lehrerin war eine Sie-Person, aber mit ihr hatte ich schließlich nur »beruflich« zu tun, niemals privat.
Doch dann misslang mir im elterlichen Garten dieser blöde Purzelbaum, wobei ich mir vermutlich eine heftige Zerrung zuzog. Allerdings an einer Stelle im Bauch, die auch bei einer Blinddarmentzündung wehgetan hätte. Meine Eltern wollten kein Risiko eingehen, karrten mich ins nächste Krankenhaus, und wenig später lag ich zum ersten Mal im Leben auf einem OP-Tisch.
Im Nachhinein war das mit der Operation wohl maßlos übertrieben, aber das machte mir nichts aus. Und meine Eltern behielten zum Glück ihre Sicher-ist-sicher-Haltung bei, denn als ein paar Jahre später mein jüngerer Bruder sämtliche bekannten Symptome einer Blinddarmentzündung – inklusive Fieber und Erbrechen – aufwies, ignorierten sie die hausärztliche Diagnose »Das Kind simuliert« und verfrachteten auch ihn in die Klinik. In dem Fall keine Sekunde zu spät, denn sein Blinddarm war bereits angerissen, als man ihn entfernte.
Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich nach der Operation erwachte. Ich blinzelte, erblickte eine fremde Umgebung, erkannte einen hässlichen, grellorangefarbenen Vorhang, der eine Zimmerecke mit Waschbecken abtrennen konnte, und war glücklich. Denn mit einem Mal erinnerte ich mich wieder an alles. Und ich wusste, dass eine wunderbare Zeit vor mir lag: eine ganze Woche, in der ich faul im Bett liegen durfte, ohne dass jemand mich dazu ermunterte, ein bisschen an die frische Luft zu gehen und mich womöglich auch noch zu bewegen! (Wohin das führte, hatte ich ja gerade erst schmerzlich erfahren.) Heutzutage wird man ja schon am Tag der OP aus den Laken gezerrt, um den Kreislauf in Schwung zu bringen und eine Thrombose zu verhindern, aber seinerzeit galt zu meinem großen Behagen noch das Bettruhegebot. Was bedeutete, dass ich eine ungestörte Lesewoche vor mir hatte – ja, sogar noch jede Menge Bücher geschenkt bekam, und das ganz ohne Weihnachten oder Geburtstag zu haben. Der Himmel auf Erden!
Ein klein wenig getrübt wurde diese himmlische Situation durch meine Zimmergenossinnen. Denn ganz offensichtlich gab es in diesem Provinzkrankenhaus keine Kinderstation, weshalb man mich in einem Zimmer untergebracht hatte, in dem außer mir noch zwei sehr alte Damen lagen. Ich schätzte sie auf ungefähr hundert. Aber selbst wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass einer Achtjährigen alle über zwanzig geradezu greisenhaft vorkommen, müssen die zwei locker Mitte siebzig gewesen sein.
Praktischerweise hießen meine Zimmergenossinnen beide Margarete Müller. Zu unterscheiden waren sie an ihren jeweiligen Gebrechen: Die eine hatte einen irrwitzig großen Kropf, die andere einen dicken Verband am Bein, und sie wurde nicht müde, in den schillerndsten Farben (vor allem der Farbe Rot) zu schildern, wie ihr eine Ader (oder Vene?) geplatzt und das Blut bis zur Decke gespritzt war.
Ich fand, privater konnte eine Situation kaum sein. Da lagen wir alle drei in unseren Nachthemden und mit unseren Verbänden, verbrachten 24 Stunden am Tag in diesem Krankenzimmer und teilten unsere Leidensgeschichten. Ich wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, die beiden Margarete Müllers zu siezen!
Ungefähr drei Tage lang ging die Sache gut. Ich fühlte mich langsam besser, nicht nur weil ich ein Buch nach dem anderen inhalierte, sondern weil in Aussicht stand, dass ich bald ein Glas Saft würde trinken dürfen (der lauwarme Krankenhaustee war neben den Schmerzen an der Narbe bis dahin das einzige Haar in der Wellness-Suppe). Doch dann setzten die Margarete Müllers verkniffene Mienen auf und verkündeten, sie müssten mal mit mir reden. Ich sei schließlich weder ihre Enkelin noch ihre Nichte. Von daher fänden sie es nicht angebracht, dass ich sie duzte.
Ich fühlte mich, als hätte man mir eine Ohrfeige verpasst. Und ein bisschen beleidigt war ich natürlich auch. Wenn ich mich recht erinnere, vergoss ich sogar ein paar Wut-Tränen.
Ob ich die Margaretes anschließend mit »Frau Müller« angesprochen oder für den Rest des Aufenthaltes trotzig angeschwiegen habe, weiß ich nicht mehr.
Doch eins weiß ich genau: Meine Unbefangenheit war zwar empfindlich gestört, doch meiner Vorliebe für das familiäre Du tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Ich war und blieb eine überzeugte Duzerin! Weshalb mir auch die Schweden und Niederländer so sympathisch sind, denn die verwenden die Höflichkeitsform ungefähr so ungern wie ich. (Okay, im Englischen gibt es nur eine einzige Anredeform, aber rein grammatikalisch ist das ja eigentlich die Sie-Form, das »thou« ist mehr oder weniger ausgestorben …)
Natürlich lernte ich mit der Zeit, wann das Sie angemessener ist. Was für Lehrkräfte galt, das wandte ich von nun auch gegenüber fremden Erwachsenen an, denn auf einen weiteren Anpfiff der Margarete-Müller’schen Art war ich nicht gerade scharf.
Schlimmer geht immer:
Ihrzen, Erzen & Co.
Heute ist die Sie-Form gängige Höflichkeitsanrede. Das war nicht immer so. Früher galten andere Varianten als besonders ehrerbietig, die einem heute allerdings nur noch albern vorkommen:
Da ist Duzen doch wesentlich unkomplizierter, oder?