Buch
Cornwall 1943: Als sich die Schwestern Adele und Amelia im Schatten des Krieges Lebewohl sagen, ahnen sie nicht, dass eine folgenschwere Tat ihr Schicksal für immer bestimmen wird. – Cape Cod 2015: Vor seinem Tod spricht Laras geliebter Urgroßvater nur ein Wort: »Adele«. Die junge Starköchin steht vor einem Rätsel, denn dies ist nicht der Name seiner früh verstorbenen Frau. Mitten in einer persönlichen Krise macht sie sich auf nach Cornwall in die Heimat ihrer Urgroßmutter Amelia. Lara hofft, dort ihre Wurzeln zu finden, und stößt auf ein tragisches Geheimnis, das die Geschicke der Familie über Generationen geprägt hat …
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Liz Fenwick
Das Leuchten
des Meeres
Roman
Aus dem Englischen
von Kristina Lake-Zapp
Für meine Eltern Kim und Jay …
Sie haben mich gelehrt, dass es bei der Liebe nicht um die Worte »Ich liebe dich« geht, sondern darum, was man tut.
Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt:
Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;
Versäumt man sie, so muss die ganze Reise
Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.
Wir sind nun flott auf solcher hohen See
Und müssen, wenn der Strom uns hebt, ihn nutzen;
Wo nicht, verlieren wir des Zufalls Gunst.
William Shakespeare, Julius Cäsar
Ebbe
Die Gezeiten steigen, die Gezeiten fallen
Die Abenddämmerung senkt sich herab,
der Brachvogel ruft
H. Wadsworth Longfellow,
»The Tide Rises, The Tide Falls«
Kapitel eins
Windward, Mawnan Smith, Falmouth, Cornwall
12. September 1945
Das Festzelt, in dem die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfanden, war klein, aber eigentlich wurde es auch gar nicht benötigt. Der Himmel war strahlend blau, der Weizen auf dem Feld nebenan wogte in der leichten Brise von Osten, doch die See schwoll an wie der Bauch meiner Schwester. Der Krieg war vorbei. Sie hatte soeben geheiratet, gerade noch rechtzeitig, denn man konnte schon etwas sehen. Ihr Bräutigam, ein gutaussehender Mann in der Uniform eines Captains von der US Army, stand unbeholfen neben ihr, die Hand auf ihren Rücken gelegt. Er blinzelte in die Ferne, als halte er nach etwas Ausschau. Nach etwas, was verloren gegangen war. Unschuld, nahm ich an. Die beiden hatten vor, nach Amerika zu gehen, und wäre das Schicksal gnädig, würde ich meine Schwester nie wiedersehen.
Ich berührte die Perlen an meinem Hals und wandte mich ab. Mein Vater kam mit seiner Kamera zu mir. Seine Hände zitterten. »Mach du das Foto für mich.«
Ich verschränkte die Arme.
»Nimm!«, bellte er, als würde er den Truppen eine Anweisung erteilen. Seine Uniform zeigte, dass er einen höheren Rang bekleidete als ich; er war Major bei der Armee, während ich gerade aus der Marine entlassen worden war. Er hatte eine Funktion inne, wusste, was zu tun war; ich wurde von den Gezeiten getrieben, war bereit zu gehen, wohin auch immer sie mich tragen würden, solange es nur weit fort von hier war.
Ich hielt die Kamera in Richtung des Paars, aber ich wollte nicht durch den Sucher blicken. Ich wollte sie nicht sehen, Braut und Bräutigam, perfekt gerahmt im Septembersonnenschein. Stattdessen spähte ich über die Kamera hinweg zum Haus. Bis vor Kurzem war Windward ein Ort des Glücks und der Zuflucht gewesen – trotz des Kriegs.
Ich drückte auf den Auslöser, die Kamera klickte, ich reichte sie meinem Vater, dann ging ich davon. Meine Pflicht war erledigt. Ich hatte genug getan.
Vor mir glitzerte das Wasser der Falmouth Bay. Die Ebbe legte die Felsen frei, die eine Bedrohung für jedes Boot darstellten, das bei Flut ohne Seekarte an die Küste zu navigieren versuchte.
Meine Schwester war von jeher eine Romantikerin gewesen, die unaufhörlich von der Liebe redete. Liebe. Wie verblendet ich gewesen war. Eines Abends im Savoy in London hatte ich den attraktivsten US-Lieutenant aller Zeiten kennengelernt. Ein einziger Blick aus seinen großen blauen Augen genügte, und ich war verloren. Von da an galt für mich weder Karte noch Kompass. Alles veränderte sich.
1. Mai 2015
Ich faltete das Taschentuch zusammen, mit dem ich mir die feuchten Augen gewischt hatte, und fuhr mit den Fingern über die Stickerei in einer der Ecken. Ein Maiglöckchen. Meine Lieblingsblumen. Mein Blick fiel auf die Maiglöckchen in den Beeten und auf dem Rasen im Garten. Die frisch geöffneten Blüten verströmten ihren Duft in die warme Luft. Ganz gleich, wie oft ich die Wurzeln über die Jahre hinweg entfernt hatte, die Blumen kehrten jedes Jahr zurück wie unerwünschtes Unkraut. Vor mir steckten meine Enkelin Peta, ihr Verlobter Fred Polcrebar und mein Enkel Jack mit Pfosten die Rasenfläche für das Festzelt ab, das in ein paar Monaten, genau gesagt am zwölften September, aufgestellt werden sollte. Sie wussten nicht um die Bedeutung dieses Datums. Die Wärme des heutigen Maitags verhieß einen heißen Sommer, während die Sonne am 12. September 1945, wenngleich warm, doch kühlere Tage hatte erahnen lassen.
Peta strahlte vor Vorfreude auf ihre Hochzeit, wohingegen Jack, ihr überfürsorglicher Bruder, fürchterlich nervös war und jede Entscheidung hinterfragte. Er hoffte, Peta damit zur Vernunft zu bringen, wollte, dass sie ihre Entscheidung rückgängig machte. Seiner Ansicht nach war sie zu jung für die Ehe, und er war der festen Überzeugung, die Liebe habe ihren Verstand vernebelt. Ich wusste nur zu gut, dass die Dinge ohnehin ihren Lauf nehmen würden. Das taten sie immer. Ich hätte diesen Lauf vor Jahrzehnten aufhalten können, aber was hätte mir das gebracht?
»Wie sieht es von dort drüben aus, Mrs Rowse?« Fred richtete sich auf und ließ die breiten Schultern kreisen.
»Gut, aber bitte nenn mich doch Elle.«
»Das kann ich nicht.« Er kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu. Kaum zu glauben, dass er schon dreiundzwanzig sein sollte.
»Und warum nicht?«
»Es wäre einfach nicht richtig, das ist alles.«
»Weil ich so alt bin.« Ich lachte über seinen entsetzten Gesichtsausdruck.
»Nein.« Er wandte den Blick von meinem faltigen Gesicht ab.
»Du bist ein schlechter Lügner. Entscheide dich, ob du mich Elle oder Gran nennen möchtest, aber sag bitte nicht Mrs Rowse. Du gehörst jetzt zur Familie.«
Jack kam hüstelnd auf mich zu. Seine wohlgeformten Lippen waren missmutig verzogen, seine Hände zu Fäusten geballt. Er war so leicht zu durchschauen.
»Sprich mit ihr«, wisperte er.
»Gefällt dir etwa der Platz für das Zelt nicht?« Mit hochgezogener Augenbraue musterte ich die Pfosten auf dem Rasen.
»Jetzt sag bloß nicht, du stehst auf ihrer Seite.« Er sprach so leise, dass Fred und Peta ihn nicht hören konnten.
Ich unterdrückte ein Lächeln. »Ich wusste gar nicht, dass es Seiten gibt.«
»Sie sind zu jung.«
»Manche Leute sind noch jünger, wenn sie heiraten.« Knapp zwanzig Meter vor mir lachte Fred über etwas, was Peta gesagt hatte.
Jack vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Das heißt aber noch lange nicht, dass es richtig ist.«
Ich runzelte die Stirn. Es war gar nicht gut, dass er sich derart querstellte. Die Sorge um das Glück seiner Schwester war eine Sache, aber darum ging es hier nicht. Es ging um etwas Tieferes. Um seine Vergangenheit, um seine Eltern.
»Du glaubst doch auch nicht an die Liebe.« Er schnaubte, und ich lächelte über seine Verdrossenheit.
»Ich war zwanzig Jahre lang glücklich mit deinem Großvater verheiratet«, entgegnete ich und streckte den Arm nach ihm aus, doch er hatte sich schon abgewandt.
»Ja, aber du warst schon über vierzig.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Und ob.« Er kehrte kopfschüttelnd ins Haus zurück.
Peta schlug den letzten Pfosten mit dem Holzhammer in den Rasen. Sie strahlte Zuversicht und Selbstvertrauen aus. Sie wusste, was sie wollte, und ging ihren Weg mit einer Überzeugung, die mich neidisch machte. Fred nahm ihre Hand in seine und küsste sie auf die Stirn. Junge Liebe. Unverfälscht und rein. Könnten sie es aller Widrigkeiten zum Trotz schaffen?
Ich drehte mich um und betrachtete die rückwärtige Fassade von Windward, die auf die Bucht hinausging. Einst war dies ein glückliches Haus gewesen. Ich hatte angenommen, mit Andrew und mir hätten sich die Dinge gewendet, doch Düsternis hatte sich in die abgeschiedenen Winkel von Windward gestohlen und wartete nur darauf, die Nichtsahnenden aus dem Hinterhalt zu überfallen. Jeder der großen Granitsteine schien mit Mörtel aus Schmerz und Verlust an seinem Platz zu verharren. Als ich nun Jacks Silhouette hinter dem Salonfenster erblickte, wusste ich, dass es sich dabei nicht nur um meinen eigenen Schmerz und Verlust handelte, sondern auch um den Schmerz und Verlust dieser Generation.
Peta blieb unter der Baumgruppe stehen, pflückte ein Maiglöckchen und atmete den Duft ein. Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie wandte sich um und kam auf mich zu, den zarten Stängel mit den schneeweißen Glöckchen zwischen den Fingern. »Auf die Rückkehr des Glücks«, sagte sie und reichte ihn mir, doch dafür war es viel zu spät. Frieden war alles, worum ich noch bitten durfte.
5. Mai 2015
Peta warf mir einen reumütigen Blick von der gegenüberliegenden Zimmerseite aus zu. Ich funkelte sie an. Sie wusste, dass das hier das Letzte war, woran ich teilnehmen wollte, dennoch saß ich auf dem Sofa vor einer auf mich gerichteten Kamera. Ich hatte die Knöchel übereinandergeschlagen, die Schultern nach hinten genommen, das Kinn leicht emporgereckt, genau wie meine Großmutter es uns gelehrt hatte. Obwohl sie schon seit neunundsechzig Jahren nicht mehr lebte, fühlte sich Windward immer noch mehr wie ihr Haus an als wie meines. In all der Zeit hatte sich hier nur wenig verändert.
Die junge Frau von der BBC räusperte sich und schien leicht beklommen, weil sie mit mir reden sollte. »Mrs Rowse, das hier ist ein Foto von Ihnen, aufgenommen am 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung.« Sie hielt einen glänzenden Abzug in die Höhe, der eine Frau in der Uniform des Women’s Royal Naval Service, des Königlichen Marinediensts der Frauen – kurz: WRNS – in den Armen eines Piloten zeigte. Das Lächeln der Frau hätte der Londoner Skyline im Hintergrund Konkurrenz machen können, die zum ersten Mal seit Jahren wieder in voller Pracht erstrahlte.
Ich kannte jenes Gesicht, jene Augen.
»Das ist eine wundervolle Aufnahme«, sagte die junge Frau, »weil sie das Gefühl der Freude so vortrefflich einfängt.«
Ich nickte. Es war ein albernes Bild, und es ärgerte mich, dass mein Hut schief saß.
»War das Ihr Freund? Ihr Verlobter?«
»Nein.« Ich nahm ihr das Foto ab. Meine Hand zitterte.
»Kannten Sie ihn?«
»Nein. Es war der VE-Day. In Europa war der Zweite Weltkrieg vorbei, und wie alle anderen wollte ich tanzen, singen und feiern.« Die Freude in jener Nacht war greifbar gewesen. Nun, zumindest für die meisten Menschen. Die junge Reporterin betrachtete das Foto, und ich konnte sehen, wie sie sich ein Märchen zurechtspann, doch die Geschichte, die das Bild erzählte, war eine Lüge. Es hatte lediglich einen Moment eingefangen, kurz bevor sich alles veränderte. Ich holte tief Luft, was ein seltsam saugendes Geräusch verursachte.
»So ein wundervolles Foto.« Sie sah mich an, versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen der strahlenden Wren, wie man die Mitglieder des WRNS nannte, auf dem Foto und der alten Frau vor ihr. Das Einzige, das all die Jahre über unverändert geblieben war, war meine Nase. Die Augen leuchteten nicht länger wie Bernstein, die Zeit hatte jegliche Ähnlichkeit ausradiert.
»Fotos sind selten das, was sie zu sein scheinen.« Ich reichte ihr den Abzug zurück.
Sie runzelte die Stirn und legte das Foto auf den Tisch. »Das hier ist ein Bild der Glückseligkeit am Tag der Befreiung.«
»Das ist es.« Ich wandte mich ab. Auf dem Tisch am Fenster stand ein Silberrahmen mit einem Foto von meiner Mutter im Garten von Windward, anmutig, allein. Die Aufnahme zeigte nicht, wie gebrochen sie war – nahezu gänzlich verloren in der Welt in ihrem Kopf. Die zu dieser Tageszeit schräg einfallenden Sonnenstrahlen hoben die dünne Staubschicht auf dem Walnussfurnier hervor. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal Staub gewischt oder die Möbel poliert hatte. Irgendwer musste das für mich übernommen haben.
»Es ist offensichtlich, dass Sie sich über das Ende des Krieges freuten.«
»Ja.«
»Erzählen Sie mir vom Krieg. Es ist wichtig, die Geschichten der Zeitzeugen zu hören.«
In wenigen Tagen jährte sich der Tag des Kriegsendes in Europa zum siebzigsten Mal. Inzwischen war er Geschichte, der Victory in Europe Day, und das Andenken daran sollte für zukünftige Generationen bewahrt werden, damit die Vergangenheit nicht in Vergessenheit geriet. In meinen Augen allerdings sollte man manche Dinge lieber vergessen, und mein Krieg – der Krieg, wie ich ihn erlebt hatte – zählte definitiv dazu.
»Soweit ich weiß, haben Sie auf der HMS Attack gedient.«
Ich nickte. Die junge Reporterin hatte ihre Hausaufgaben gemacht.
»Erzählen Sie mir, wie es war, als weibliches Mitglied der britischen Marine zu arbeiten. Sie waren Telegraphistin?«
Ich streckte den Rücken durch. Dabei fiel mir unweigerlich die Ballettlehrerin ein, die meine Großmutter engagiert hatte, damit meine Schwester und ich eine aufrechte Körperhaltung einnahmen. Wir hatten alles gemeinsam gemacht, unisono. Als wir jung waren, stimmten unsere Bewegungen so perfekt überein, dass uns niemand auseinanderhalten konnte.
»Sie haben die Nachrichten von den Schiffen aufgezeichnet.«
Ich musterte die Reporterin, während mir eine Flut von Bildern durch den Kopf schwappte. Fragmente, Schnappschüsse aus vergangenen Zeiten, als blätterte ich durch ein Album – doch dann runzelte ich die Stirn und klappte das Album zu, bevor ich mich noch an mehr erinnerte.
»Ich weiß, dass das hier schwer für Sie sein muss.«
Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims … Dit-dah, dit-dah … · - / · - … Der Buchstabe A, unendlich oft wiederholt. Ich riss die Augen weit auf. Die Reporterin hatte ja keine Ahnung.
»Es ist wichtig, dass Sie uns die damaligen Ereignisse mit Ihren eigenen Worten schildern. Haben Sie schon früher einmal über Ihre Erfahrungen gesprochen?«
»Darüber gesprochen? Nein, das durften wir nicht.« Brachte man den jungen Leuten heutzutage denn gar nichts bei?
»Es ist wichtig, dass Sie mir – uns – davon erzählen, bevor diese Ereignisse der Vergessenheit anheimfallen, verloren gehen.«
»Manche Dinge sollten besser in Vergessenheit geraten.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, dass Sie bei der Exercise Tiger dabei waren, und zwar an dem Tag, an dem die deutschen Schnellboote dem Konvoi der US-Kräfte in die Quere kamen, die sich auf den D-Day vorbereiteten.«
Der Decision Day – kurz: D-Day. Der Tag der Entscheidung am 6. Juni 1944. Und die Vorbereitungen für diesen Tag, die Exercise Tiger am 28. April 1944. Das war mein Krieg – die letzten Worte der sterbenden Männer. Sogar jetzt flüsterten sie in meinem Hinterkopf, und ihre Stimmen wurden immer lauter. Seit Jahren hatte ich versucht, sie zum Schweigen zu bringen, weigerte mich, auf sie zu hören. Diese Reporterin dachte allen Ernstes, ich wollte mich daran erinnern, alles wieder zurückholen – den Schmerz der Soldaten, ihre Angst, ihre letzten Worte. Helfen Sie uns. Ich konnte sie hören. Jetzt. ···· · · - ·· · - - · / ·· - ··· Mein Finger zuckte, tippte die Morsezeichen. Ich öffnete die Augen und sah die junge Frau vor mir an. »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Ich kann mir gut vorstellen, wie schmerzhaft die Erinnerungen sind.«
»Sie haben keine Ahnung.«
»Posttraumatische Belastungsstörung«, hielt die Reporterin dagegen.
Ich musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Wie bitte?«
»Haben Sie je mit irgendwem über jenen Tag gesprochen?«
Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »Nein.«
»Warum nicht?«
Die heutige Welt. Über alles wurde geredet. Das Fernsehen und die Zeitungen warteten mit Details aus fremder Leute Leben auf, als ob mich das interessierte. Nichts war privat, und alle strebten ständig danach, sich zu verbessern, perfekt zu sein, aber nichts war perfekt. Nichts war vorhersehbar. »Wir haben wegen des Official Secrets Act nicht darüber geredet. Wer Staatsgeheimnisse ausplauderte, kam vors Kriegsgericht.« Ich stand auf und trat ans Fenster. Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild in der Glasscheibe. Eine alte Frau sah mich an. Die Uhr sprach mit mir, weckte Erinnerungen ans Morsen. Das war die Sprache meines Krieges, und ich wollte sie nicht hören.
»Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen.«
Stimmen hallten durch den gefliesten Flur. Was war mit dem türkischen Teppich passiert, der im Eingangsbereich gelegen hatte? Das war ein kleines Detail, das nicht mehr so war wie früher. Meine Großmutter hatte den Teppich wegen seiner intensiven Farben geliebt, doch das helle Sonnenlicht, das an den meisten Tagen in die Diele fiel, hatte den Tönen die Tiefe genommen. An manchen Stellen war er von den zahlreichen Füßen abgewetzt, die im Laufe der Jahre über ihn hinweggelaufen waren einschließlich der Füße der zahlenden Sommergäste. Ich lächelte. So war Andrew in mein Leben zurückgekehrt, über ebenjenen Teppich.
Die warmen Teppichfarben hatten in starkem Kontrast zu den schwarz-weißen Bodenfliesen gestanden. In einem Landhaus, umgeben von Feldern und Wiesen, war dies nicht der praktischste Fußboden. Die weißen Fliesen waren stets von schlammigen Fußabdrücken bedeckt, da wir irgendwann aufgegeben hatten, jeden Tag zu wischen. Großmutter hatte die Fliesen ausgesucht, als sie sich ein Leben ohne Angestellte noch gar nicht vorstellen konnte. Ich lachte, und dann fiel es mir wieder ein: Ich war vor Kurzem über den Teppich gestolpert, und Jack hatte ihn zusammengerollt und weggeräumt. Ich verstand, warum er das getan hatte, dennoch hasste ich es, dass ich mich meinen Gebrechlichkeiten beugen musste.
»Haben Sie bekommen, was Sie wollten?« Jacks Stimme, die vom Flur zu mir herüberdrang, verriet keinerlei Emotionen. Seit ich diese neuen Hörgeräte hatte, war es noch schwieriger, die Leute auszublenden. Es hatte Vorteile, fast taub zu sein.
»Nein, nicht wirklich.« Die Reporterin seufzte. »Ich nehme an, wir können das Ganze ein bisschen aufbereiten, aber es wäre wirklich hilfreich, wenn wir mehr hätten.«
Er lachte. Es war das Lachen, das er lachte, um abzulenken, das Lachen, das ich so gut kannte. Er hielt sich stets bedeckt, ließ niemanden an sich heran. Sein sarkastischer Humor diente ihm zum Selbstschutz. Der Tod seiner Mutter hatte ihn gebrochen, und der Tod seines Vaters weniger als ein Jahr später hatte ihm den Rest gegeben.
»Sie verfügt über so viele wertvolle Informationen, und sie ist keinesfalls senil.«
Schweigen senkte sich herab. Ich stellte mir Jack vor, die Stirn in Falten gelegt, Verachtung im Gesicht. Er war ein Verbündeter. Ich verstand ihn. Das tat sonst niemand, auch wenn es viele versucht hatten. Die Frauen lagen ihm zu Füßen, doch er war über sie alle hinweggestiegen. Keine, die versucht hatte, ihn für sich zu gewinnen, hatte den soliden Stahlkäfig aufbrechen können, in den er sich vor dreizehn Jahren zurückgezogen hatte. Er schob die Schuld auf die Liebe – und ich konnte verstehen, warum. Auch ich tat das, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Nur Andrew, Jacks Großvater, hatte meinen eigenen Stahlkäfig demontieren oder zumindest Löcher hineinbohren können, die mir erlaubten, ab und an zu atmen.
Liebe. Für Jack war sie gleichzusetzen mit Tod. Das Risiko zu lieben würde er niemals wieder eingehen. Für mich bedeutete die Liebe Verlust.
»Können Sie nicht mit ihr reden?«, bat die Reporterin.
»Ich schlage vor, Sie probieren es morgen noch einmal«, erwiderte Jack.
»Glauben Sie, das macht Sinn?« Ihre Stimme stieg an vor Aufregung.
»Nein, aber dann haben Sie es zumindest versucht.«
Obwohl ich sie von hier aus nicht sehen konnte, spürte ich ihre Enttäuschung. Jack versuchte freundlich zu sein. Wie schade, dass er Freude und Hoffnung nicht in sein eigenes Leben ließ. Es war alles umsonst. Genau das hatte meine Mutter mir vor Jahren in einem ihrer hellen Momente mitgeteilt. Finde dich damit ab, hatte sie gesagt. Mach das Beste aus dem, was man dir gegeben hat. Ich konnte mich nie damit abfinden, aber zumindest hatte ich jemanden in mein Leben gelassen, wenn auch nur ein bisschen. Andrew war ein geduldiger, freundlicher Mann gewesen. Ich hatte mich bemüht, eine gute Ehefrau und Stiefmutter zu sein.
»Ich denke, sie leidet noch immer unter dem, was sie durchgemacht hat.« Die Reporterin hustete.
»Das ist durchaus möglich, aber darüber wird sie nicht mit Ihnen reden.« Ich hörte die Schritte im Flur. »So etwas macht ihre Generation nun mal nicht.«
Die Haustür wurde geöffnet und wieder geschlossen, kurz darauf betrat Jack die Bibliothek. »Du warst ja nicht sehr entgegenkommend.« Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das tatsächlich seine Augen erreichte. Er war ein gutaussehender Bursche, der mich in vielerlei Hinsicht an seinen Großvater erinnerte, auch wenn er blond war. Andrew hatte dunkle Haare gehabt.
»Nein.«
Er setzte sich mir gegenüber.
»Sie hatte doch nichts Böses im Sinn.«
»Was bringt es, ihr von meinem Krieg zu erzählen?«
Er nahm die Fotografie vom Tisch, die sie hatte liegen lassen. Sein Blick wanderte von der Aufnahme zu mir. »Du bist so schön, Gran.«
»War.«
»Nein, du bist immer noch schön.« Er schaute mich über den Rand des Fotos hinweg an.
»So sehe ich nicht mehr aus.«
Er grinste. »Doch.«
»Pah.«
»Älter, ja, aber das Lächeln ist noch dasselbe, genau wie die Augen, die Nase.« Er stand auf. »Wirst du der Frau nun helfen und ein paar kurze Sätze für sie aufzeichnen?«
»Das ist nicht nötig. Es steht alles in den offiziellen Akten.«
»Aber das ist nicht ganz dasselbe, stimmt’s?« Er beugte sich über mich und küsste meine Stirn.
»Du denkst also, ich sollte das tun.«
»Tu nur, was du tun möchtest«, sagte er.
»Ha.«
»Es ist deine Entscheidung, Gran.« Er ging in die Küche. Bald schon würden wundervolle Düfte durchs Haus ziehen. Das Licht der Tischlampe spiegelte sich in der glänzenden Oberfläche des Fotos. Alles auf dem Bild passte zusammen, sogar mein schiefer Hut. Der Fotograf musste die Qual der Wahl gehabt haben bei all den fröhlichen Motiven, die sich ihm an jenem Abend in London boten, doch er hatte mich gewählt, mich, in den Armen eines Piloten.
Mein Krieg. Die Sonne hatte die Südseite des Hauses verlassen und war weitergezogen; obwohl ich es nicht sehen konnte, wusste ich, dass sie ihre letzten Strahlen nun in Küche und Herrenzimmer warf, bevor sie hinter den großen Bäumen versank, die die Gartengrenze markierten. Wann hatte mein Krieg begonnen? Diese Frage war leicht zu beantworten, doch ich glaube nicht, dass er je ein ordentliches Ende genommen hatte. Ich spürte seine Auswirkungen noch immer, und zwar jeden einzelnen Tag.
Wir waren kurz nach Beginn des Blitz–Angriffs 1940 nach Windward gezogen, das meiner Großmutter damals als Sommerhaus diente. Mutter war mit den Nerven am Ende, seit in London das Haus drei Hausnummern neben unserem von einer Bombe getroffen und fast komplett zerstört worden war.
Ich hatte keinen Einwand erhoben, als unser Sommerrefugium zu unserem Hauptwohnsitz wurde. Großmutter war kurz darauf ebenfalls hierher umgesiedelt, nachdem die Armee Onkel Reginalds Haus in Oxfordshire requiriert hatte. Ich lächelte. Großmutter hatte sich wieder und wieder darüber ausgelassen, welche Unannehmlichkeiten ihr die Beschlagnahmung bereitete, dabei hätte sie einfach das Witwenhaus auf Onkel Reginalds Anwesen beziehen können. Doch Cornwall lag ihr im Blut, und so diente ihr die Requisition als perfekter Vorwand, nicht das Richtige zu tun und über den Besitz in Oxfordshire zu wachen, sondern das zu tun, was sie wollte.
Ich schaute hinaus auf die Falmouth Bay und sah die Bucht vor mir, wie sie damals gewesen war – voller Schiffe der königlichen Marine –, während jetzt nur noch gelegentlich ein Tanker oder ein Vergnügungsboot zu sehen waren. Auf meinen Gehstock gestützt spitzte ich die Ohren. In der Ferne erklangen die Töne von Glenn Millers »In the Mood«. War ich etwa dabei, den Verstand zu verlieren? Ich schloss die Augen. Jene Jahre waren so weit entfernt, doch genau in diesem Augenblick packten sie mich bei der Kehle und drückten mir die Luft ab. Das Heulen einer Luftschutzsirene erfüllte den Raum. Ich schaute nach links und nach rechts, versuchte, mich daran zu erinnern, wo der Schutzraum war, doch dann verstummte die Sirene, und ich hörte Jack in der Küche »Run, Rabbit, Run« singen.
Ich lachte. Was war ich doch für eine alberne alte Frau! Es musste irgendeine Sendung im Radio laufen. Jack hörte beim Kochen gern Radio. Musik war so machtvoll. All die Jahre über hatte ich bewusst vermieden, Musik zu hören, da sie mir vorkam wie eine Zeitmaschine. Ich tanzte wieder eng umschlungen mit Bobby und hörte, wie er mir zur Musik die Worte »I Only Have Eyes For You« ins Ohr flüsterte. In jenem Moment war mir klar geworden, dass ich mein Herz für immer verloren hatte. Ich schauderte. Er drückte mich fest an sich, und als die Musik endete, wisperte er die Worte, die ich selbst so gerne gesagt hätte.
Ich liebe dich.
Der Wind wehte durchs offene Fenster. Ich rieb meine Arme. Ich hatte eine Gänsehaut. Es brachte nichts, in alten Erinnerungen zu schwelgen. Da lag diese verflixte Reporterin völlig falsch. Ich hätte das ganze Gewese um den Jahrestag meiden und der BBC eine Absage erteilen sollen. Warum sollte ich zurückblicken wollen? Warum sollte überhaupt jemand zurückblicken wollen? Wir mussten im Jetzt leben, nicht in der Zukunft oder der Vergangenheit.
Der Duft angebratener Zwiebeln waberte durchs Haus. Dass sich in Windward all die Jahrzehnte über so gut wie nichts verändert hatte, war hauptsächlich meiner Bequemlichkeit in den letzten Jahren geschuldet, doch sicherlich auch der vorangegangenen Pfennigfuchserei. Trotzdem – dafür sah es gar nicht schlecht aus. Andrew hatte gewollt, dass ich sein Geld für das Haus ausgab, doch die Sparsamkeit war mir längst in Fleisch und Blut übergegangen. Großmutter hätte sich im Grabe umgedreht bei der Vorstellung. Die Ehrenwerte Agatha Davies, née Worth, hatte eine gute Partie gemacht, ihre Kinder allerdings waren für sie eine Enttäuschung und ihre Enkel noch mehr. Was für ein Abstieg – aber so schlimm war es gar nicht. Andrew war ein guter Mann gewesen, und nun war ich mit seinen Enkeln gesegnet.
»Gran, das Abendessen ist fertig. Möchtest du in der Küche oder im Esszimmer essen?« Jack stand auf der Schwelle und summte mit, als Bing Crosby »Don’t Fence Me In« sang. Er machte ein paar Tanzschritte und streckte mir auffordernd die Hand entgegen, ein breites Grinsen auf dem gutaussehenden Gesicht. Ja, das Leben hatte für manchen Ausgleich gesorgt.
Kapitel zwei
Eventide, Falmouth Heights, Cape Cod, Massachusetts
15. August 2015
Eine Fliege prallte am Fliegengitter ab und störte Laras Wache. Sie sah, wie sich die Brust ihres Urgroßvaters hob und senkte. Jedes Mal, wenn er einen Atemzug tat, fragte sie sich, ob dies wohl sein letzter sein mochte. Laut der Pflegerin war er nicht mehr bei Bewusstsein gewesen, seit sie um Mitternacht ins Bett gegangen war. Es würde nun nicht mehr lange dauern. Die Familie war informiert, doch niemand schien es sonderlich eilig zu haben. Sie hatten sich bereits alle verabschiedet. Lara stand auf und trat ans Fenster. Abschiede. Sie hasste Abschiede, und dieser hier zählte definitiv zu denen, die sie am liebsten vermieden hätte.
Die Hundstage im August machten ihrem Ruf alle Ehre. Wenn überhaupt ein Lüftchen ging, war es so schwach, dass es nicht mal die Musselingardinen bauschte. Der Strand vor Eventide, Grandies Zuhause, war leer. Der Nantucket Sound lag reglos unter einer Hitzeglocke. Die Fliege ruhte sich auf der Fensterbank aus. Das Einzige, was die lastende Stille durchbrach, war Grandies rasselnder Atem. Auf seinem Nachttisch lag das Strandgut, das Lara für ihn von ihrem Morgenspaziergang mitgebracht hatte. Es erinnerte an die Schatzsuche eines Kindes: Jeden Tag der vergangenen Woche war sie bei Sonnenaufgang am Strand entlanggeschlendert und hatte ihm etwas mitgebracht, von dem sie hoffte, dass er sich daran freuen würde. Vor zwei Tagen hatte er zum letzten Mal zusammenhängend gesprochen, hatte ihr den Lebenszyklus des Pfeilschwanzkrebses erklärt, die Überreste der panzerartigen Rückenplatte, die sie gefunden hatte, in den Händen. Sein Verstand war scharf wie eh und je. Es war lediglich sein Körper, der aufgab. Seine Leidenschaft für den Ozean und all die Dinge darin war die Arbeit seines Lebens gewesen, und dieses Leben war beinahe abgeschlossen.
Er war vierundneunzig. Sie wusste, dass er auf keinen Fall seinen Geburtstag im September erleben würde, ganz gleich, wie sehr sie sich das wünschte. Ohne nachzudenken, nahm sie die Muschelschale und legte sie in seine offene Hand, half ihm, die Konturen zu ertasten. Er öffnete die Augen und sah sie an. In seinem Blick lag Liebe. Sie schluckte.
»Was für eine Muschelart ist das? Du weißt doch, ich kann das einfach nicht unterscheiden. Ist das eine Venusmuschel oder eine Mondmuschel?«
Die Pflegerin streckte den Kopf zur Tür herein. »Alles in Ordnung?«
Lara nickte und gab ihr ein Zeichen, dass sie sich zurückziehen möge. Wenn dies tatsächlich Grandies letzten Stunden waren, wollte sie so selbstsüchtig sein, sie mit niemandem zu teilen. Die Muschel fiel aus seiner Hand auf den Boden, rutschte unter das Bett und blieb neben einer alten Metallkiste liegen. Lara bückte sich, um sie aufzuheben, und zog die Kiste hervor. Vorsichtig stellte sie sie aufs Bett. »Was ist das?«, fragte sie und deutete auf die Kiste.
Grandie versuchte, die Hand zu heben, doch sie fiel kraftlos zurück aufs Bett. Der Deckel der Kiste war staubbedeckt. Lara fuhr mit der Hand darüber und legte einen gelben Aufkleber mit der Aufschrift WWII frei.
»Darf ich die Kiste aufmachen?«
Er blinzelte, was sie als Ja auffasste, wohlwissend, dass sie oder ein anderer die Kiste, die offenbar aus dem Zweiten Weltkrieg stammte, irgendwann sowieso öffnen würde. Sie war nicht verschlossen, man brauchte nur etwas Kraft, um den Deckel anzuheben. Obenauf lagen auf einem Einsatz Grandies militärische Orden. Lara nahm einen davon in die Hand und war überrascht über sein Gewicht. An einem rot-weiß gestreiften Band hing eine Medaille mit einem Adler, umgeben von den Worten »Tüchtigkeit, Ehre, Treue«, und es gab noch viele andere.
Sie drückte die Medaille in seine Hand, und er lächelte, doch er sagte nichts. Lara legte den Orden zurück, dann hob sie vorsichtig den Einsatz an, um nachzuschauen, was sich darunter befand. Ein paar Schwarz-Weiß-Fotos von ihm in Uniform lagen auf mehreren losen Blättern.
»Du sahst gut aus.« Sie hielt ein Foto in die Höhe. »Natürlich will ich damit nicht sagen, dass sich das geändert hat.«
Er lächelte.
»Wo warst du auf diesem Bild hier?«
Er schloss die Augen, und Lara drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand etwas mit dünnem, verblasstem Bleistift geschrieben. Blinzelnd hielt sie es näher vor die Augen. »Helford River?«
Er antwortete nicht, war wieder eingeschlafen. Die Phasen, in denen er wach war, wurden immer seltener. Lara legte das Foto zur Seite und griff nach dem Stapel zusammengefalteter Blätter.
25. Juni 1944
Mein Herzallerliebster,
ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du lebst. Tag für Tag hat man Tote und Verletzte gebracht, und ich habe gebetet, dass du nicht darunter bist, doch ich hatte beinahe Angst zu hoffen. Ich glaube nicht, dass mein Herz das verkraften würde. Ich verstehe nicht, wie du es geschafft hast, in so kurzer Zeit zu meiner ganzen Welt zu werden, aber das hast du. Bitte, bitte, pass auf dich auf! Du bist mein Herz, du bist mein Leben. Ich kann kaum atmen, wenn ich an dich und die Gefahr denke, in der du in diesem Augenblick vermutlich schwebst. Ich weiß, dass ich tapfer sein muss, und ich werde tapfer sein – für dich.
Ich liebe dich.
Für immer die Deine
Axxxooo
Mit Küssen und Umarmungen. Der Brief musste von Amelia stammen, ihrer Urgroßmutter. Grandie hatte sie in England während des Krieges kennengelernt. Lara öffnete einen weiteren zusammengefalteten Bogen, doch dann hielt sie inne, um einen Blick auf Grandie zu werfen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihn vor sich – so wie er auf den Fotos war: jung und ausgesprochen gutaussehend. Sie sollte seine privaten Briefe wirklich nicht lesen, doch sie waren die erste konkrete Berührung mit ihrer Urgroßmutter, deren Name nur sehr selten erwähnt wurde.
Liebling,
dich gestern zu sehen hat alles beinahe noch schlimmer gemacht. Dich für ein paar Stunden bei mir zu haben macht das Getrenntsein unerträglich. Ich berühre immer wieder meine Lippen und denke daran, wie es war, deinen Mund auf meinem zu spüren. Ich will dich so sehr, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Wann wird dieser elende Krieg enden, damit wir zusammen sein können?
Ich stelle fest, dass ich auf jedes Paar eifersüchtig bin, dem ich begegne. Es erinnert mich daran, dass du so weit weg bist und ich dich nicht berühren oder die Wärme deiner Haut an meiner spüren kann. Hättest du mir vor ein paar Monaten gesagt, dass ich einst so empfinden würde, hätte ich dir nicht geglaubt. Du bist mein Verlangen.
Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich, und ich versuche, dich zu umarmen, aber im besten Falle umarme ich mein Kissen. Ich kann dir die Kälte nicht beschreiben, die mich nach der Hitze meiner Träume überkommt.
Mit all meiner Liebe
Axxxxxxxxxxxxxxxxx
PS: Mein körperliches Verlangen nach dir durchdringt all meine Gedanken. Ich möchte dich ganz kennen. Ich verstehe, dass ich warten muss, aber mein Herz und mein Körper tun das nicht. Ich träume von nichts anderem außer von dir – von dir mit Leib und Seele –, und ich erwache in dem Bewusstsein, dass du nicht hier in meinen Armen bist und mich berührst.
Lara errötete, faltete den Brief sorgfältig zusammen und legte ihn zurück zu den anderen. Es fühlte sich falsch an, sie zu lesen. Grandie hatte nie wieder geheiratet, obwohl Amelia schon 1950 gestorben war, vier Jahre nachdem sie ihrer einzigen Tochter das Leben geschenkt hatte – Laras Großmutter Betty. Seine Liebe zu Amelia hatte sein ganzes Leben angedauert. Diese Briefe zeigten, mit welcher Leidenschaft auch sie ihn geliebt hatte.
Unter den Papierbogen entdeckte Lara mehrere dünne Bücher, jedes davon mit einer goldenen Jahreszahl bedruckt – 1943, 1944 und 1945. Sie blätterte durch die Seiten und stellte fest, dass Grandie jeden Tag höchstens ein, zwei Zeilen hineingeschrieben hatte. Er hatte nie über den Krieg gesprochen, obwohl sie und ihr Zwillingsbruder Leo ihn schon vor Jahren danach gefragt hatten.
Lara ging im Zimmer auf und ab, dann blieb sie stehen, um aus dem Fenster die verschwommene Silhouette von Martha’s Vineyard zu betrachten – ein schmerzhaft vertrauter Anblick. Eventide war genauso Teil ihres Lebens wie Grandie. Die Aussicht langweilte sie nie, der Strand vor dem Haus veränderte sich im Rhythmus der Gezeiten. Das Haus würde an ihre Großmutter Betty fallen, die bereits davon sprach, es zu verkaufen. Sie hatte Cape Cod schon vor Jahren verlassen und lebte nun in Florida, wo die Winter milder waren.
Es war Zeit loszulassen. Lara wandte sich vom Fenster ab und schaute wieder auf ihren Urgroßvater. Er wirkte so klein auf dem Bett mit den großen Holzpfosten, deren Spitzen durch einen geschnitzten Kiefernzapfen abgerundet wurden. Die nervige Fliege landete auf seiner Nase. Lara wedelte sie weg, dann strich sie ihm über die Augenbraue. Er war so attraktiv gewesen als junger Mann, und Spuren davon fanden sich selbst jetzt noch in seinen Gesichtszügen.
»Ich liebe dich, und ich weiß, dass du bereit bist.« Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und nahm seine Hand. »Auch ich versuche, bereit zu sein.« Sie seufzte. »Es ist schwer, jemanden loszulassen, und, na ja, ich war nie besonders gut darin. Ich hasse es, jemanden zu verlieren.«
Seine Augen öffneten sich. Er hörte ihr zu.
»Aber genau darum ist es bei mir in diesem Jahr bislang gegangen – ums Loslassen.«
Er blinzelte.
»In der Post war noch mehr Scheidungskram.« Sie war sich nicht sicher, warum sie ihm das erzählte. Er würde es nicht verstehen, wenn sie aufgab. Das taten die Menschen aus seiner Generation nicht. Man heiratete, und das war’s.
»Ich weiß, was du denkst.« Sein Blick ließ ihr Gesicht nicht los. »Ich sollte es einfach durchstehen. Aber …« Sie holte tief Luft. »Wenn es nur um mich ginge, würde ich genau das tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber in einer Ehe ist man nun mal nicht allein.« Sie zögerte. »Doch genau so hat sich Pierre anscheinend in unserer Ehe gefühlt. Allein.« Ihre langen Arbeitszeiten als Köchin hatten ihren Tribut gefordert. In der Gastronomie gab es nun mal keine freien Wochenenden, und er konnte sich während der Woche nicht freinehmen.
Grandies Augen schlossen sich. Lara schwieg, bis sie sah, dass er noch atmete. Hätten sie – oder vielmehr hätte sie – mehr tun sollen, um ihre Ehe zu retten? Was hätte Grandie getan? »Wir haben uns auseinandergelebt.« Im letzten Jahr waren Pierre und sie jeden Tag aneinander vorbeigelaufen, ohne einander zu berühren, und sie war zu müde gewesen, um es zu bemerken. Der Ehering an ihrem Finger fing das Licht der Nachttischlampe ein. »Wenn ich ehrlich bin, ist das eher meine Schuld als seine.«
Sein Atem setzte aus. Ihr Herz schnürte sich zusammen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du mich hören kannst oder nicht, aber ich muss wissen, wie du es geschafft hast, deine Frau all diese Zeit zu lieben. Amelia ist seit über sechzig Jahren tot. Wie kann man eine solche Liebe aufrechterhalten?«
Seine Hand bewegte sich, suchte nach ihrer. Sie hatte den Zeitpunkt verpasst, ihm diese Fragen zu stellen. Wenn die Pflegerin recht behielt, würde Grandie kein Wort mehr hervorbringen.
Anders als in modernen Häusern lag die Küche in Eventide nicht auf der Seite mit der schönen Aussicht, sondern blickte auf die Auffahrt hinaus. Wenn jemand das Haus kaufte, würde er es zweifelsohne nach neuen Vorstellungen umbauen lassen, statt die des späten neunzehnten Jahrhunderts beizubehalten. Lara dagegen gefiel es, dass sie beim Kochen nicht von der Aussicht abgelenkt wurde. In der Küche sollte der Fokus auf den Zutaten liegen und darauf, was man damit anstellte. Das war eine Lektion, die sie heute besser verstand als damals, wenn sie mit Grandie Blaubeermuffins gebacken hatte. Jahre auf der Kochschule und in den Küchen der Toprestaurants hatten sie dies und mehr gelehrt.
Hinter ihr auf dem Tisch lagen die letzten Scheidungsunterlagen. Ihre Ehe war so gut wie beendet. Sie hatte den Details keine wirkliche Beachtung geschenkt, da sie im Grunde nichts bedeuteten. Sie wusste, warum sie gescheitert waren. Jahrelang hatte sie zwölf, dreizehn Stunden pro Tag gearbeitet, und das sechs Tage die Woche. Am siebten Tag hatte sie geschlafen. Sie hatte Pierre gar nicht mehr richtig gekannt und sich selbst außerhalb der Küche erst recht nicht.
Lara setzte den Kessel auf und stellte den Gasherd an. Die kleine Flamme züngelte auf, und sie schaute zu, wie sie unter dem Metallboden des Kessels ihre Farbe veränderte. Es war noch immer derselbe. Einst hatte er zu den Dingen im Haus gezählt, die sie gern haben wollte. Sie hielt sich oft in der Küche auf, betastete die alten Rührschüsseln, die eselsohrige Ausgabe von Die besten Rezepte der fleißigen Hausfrau und die abgegriffene Rezeptsammlung La Véritable Cuisine de Famille par Tante Marie – Die echte Familienküche von Tante Marie. Lara entdeckte das französische Kochbuch im Regal, nahm es zur Hand und blätterte durch die Seiten. Wann mochte Grandie es gekauft haben? Lara hatte ihr Highschool-Französisch erprobt, wenn sie versuchte, die Rezepte daraus zu kochen. Am meisten am Tante-Marie-Buch hatte sie die handgeschriebenen Bleistiftnotizen am Rand geliebt, meistens Ideen für alternative Zutaten. Auf gewisse Art und Weise hatten sie die vielen Stunden, die sie mit diesem Buch verbrachte, zu ihrer Karriere inspiriert.
Sie blätterte nach hinten zu den letzten Seiten, auf denen zahlreiche handgeschriebene Rezepte standen, ebenfalls in Bleistift verfasst. Die Schrift war weder die von Grandie noch die von ihrer Großmutter, sie musste also von dem vorherigen Besitzer des Kochbuchs stammen. Lächelnd strich sie mit der Hand über das sorgfältig verfasste Rezept für Hagebuttensirup. Draußen vor dem Fenster war der Garten voll von weiß-rosa Sea-Spray-Rosen, die schöne kleine, orangefarbene Hagebutten bildeten. In diesem Jahr wäre sie nicht hier, um sie zu ernten. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich im kommenden September, Oktober befinden würde.
Sie wusste, dass sie keins dieser Bücher mitnehmen würde. Sie würden an den hiesigen Wohltätigkeitsladen gehen. Trotz ihrer Erinnerungen gab es keinen Grund, an der Vergangenheit festzuhalten. Sie wusste nicht, wo sie die Bücher unterbringen sollte. Pierre bekam das Haus, das sie vor fünf Jahren in Falmouth, Massachusetts, gekauft hatten. Lara nahm aus ihrer Ehe etwas Bargeld mit und die verschwommene Erinnerung an die Hoffnung, die sie an ihrem Hochzeitstag verspürt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Das war vor zehn Jahren gewesen. Der Kessel gab ein ungleichmäßiges Pfeifen von sich. Sie stellte das Gas ab und sah, wie die Flamme zusammensackte und verschwand. Wie schnell sie erstarb, wenn ihr der Treibstoff genommen wurde, ein bisschen wie ihre Ehe. Auch die Liebe war ohne beständigen Treibstoff erloschen. Sie nahm die braune Teekanne aus dem Regal. Gut möglich, dass Grandie sie nach dem Krieg aus England mitgebracht hatte zusammen mit seiner Braut Amelia. Die Tülle hatte einen kleinen Sprung, doch ansonsten war die Kanne tadellos. Vielleicht war das das einzige Stück aus Eventide, um das sie bitten würde.
Die Fliegengittertür schwang auf, und ihr Zwillingsbruder Leo spazierte herein. Laras Augen füllten sich mit Tränen. Nie hatte er so gut ausgesehen, und noch nie hatte sie sich so gefreut, ihn zu sehen.
»Hallo, Zwerg.« Er ließ seine Tasche auf den Boden fallen und öffnete die Arme.
Salve Regina
»Leo«, flüsterte sie.
Er trat aufs Bett zu. »Bald?«
»Ja.«
Mit einem ermutigenden Lächeln strich er ihr über den Arm. »Geh ruhig. Gönn dir fünf Minuten.«
Lara ließ ihren Urgroßvater mit Leo allein und sprang die Treppe hinunter. Ihr war klar, dass Grandies Tod nur noch eine Frage von Stunden war. Wenn Grandie starb, würde er ein riesiges Loch in ihr Leben reißen, und ihr Leben war ohnehin schon ganz durchlöchert.
Sie trat vor die Küchentür und atmete tief die süß duftende Luft ein. Vielleicht sollte sie ihre Großmutter Betty oder ihre Mom anrufen, aber es gab ohnehin nichts, was die beiden tun konnten. Das Leben würde irgendwie weitergehen. Doch bis es so weit wäre, wollte sie keine Minute mit Grandie verpassen.
Eilig lief sie die Treppe hinauf. Als sie die Tür zu seinem Zimmer öffnete, richteten sich die Augen ihres Urgroßvaters auf sie. »Du bist wach«, stellte sie fest und blieb auf der Schwelle stehen.
»Ja«, flüsterte Grandie.
Leo sah sie von der gegenüberliegenden Bettseite aus an. »Wir haben uns unterhalten.«
Sie öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder. Vielleicht hatte sie zu viel geredet und Grandie keine Chance gegeben, selbst etwas zu sagen.
»Halte mich so, dass ich die Bucht sehen kann.« Grandies Stimme stockte, aber sie war klar. Mit Leos Hilfe richtete sie ihn auf. Sein Blick fokussierte einen Punkt in der Ferne. Der düstere Himmel traf auf die noch dunklere See, doch darüber brachen die Wolken auf, der blaue Himmel wirkte irgendwie noch strahlender. Die Bucht war ruhig. Lara hörte den Motor der ablegenden Fähre, die in Richtung Martha’s Vineyard aufbrach.
Grandie seufzte, die Augen nach wie vor auf den Punkt am Horizont geheftet. Lara schaute hinab auf den sichelförmigen Strand. Die Flut war auf dem höchsten Stand, beinahe der ganze Sand war mit Wasser bedeckt.
»Adele«, stieß ihr Urgroßvater angestrengt hervor.
Lara sah ihn an. Die Stirn gerunzelt, begegnete sie Leos Blick. Adele?, formte ihr Bruder mit den Lippen. Sie zuckte die Schultern. Wahrscheinlich hatten sie ihn missverstanden.
Grandies Atmung wurde flach, doch er löste den Blick nicht vom östlichen Horizont. Die gerade noch unbewegte Wasseroberfläche kräuselte sich, immer mehr blaue Flecken zeigten sich zwischen den dunklen Gewitterwolken am Himmel. Das Wasser trat seine Reise zurück ins Meer an. Grandie holte rasselnd Atem, schloss die Augen und sagte noch einmal: »Adele.«
Dann war er tot.