Cover

SUSANNE

JANSSON

OPFER
MOOR

ROMAN

Aus dem Schwedischen
von Lotta Rüegger
und Holger Wolandt

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe Offermossen erschien 2017
bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

Der Abdruck von John Berger stammt mit freundlicher Genehmigung aus: John Berger, Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Aus dem Englischen von Axel Schenck, © S. Fischer Verlage, Frankfurt a. M., 2016.

Der Abdruck von Susan Sontag stammt mit freundlicher Genehmigung aus: Susan Sontag, Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, © Carl Hanser Verlag, München/Wien 2002.


Copyright © 2017 by Susanne Jansson
Published by agreement with Ahlander Agency
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
beim C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: Bürosüd
Covermotiv: Trevillion Images / Andy & Michelle Kerry
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22351-9
V002

www.cbertelsmann.de

Für Alma und Edvard

Es heißt, auf jeden lebenden Menschen kämen zehn Tote. Ihr Gewicht geht einem auf die Nerven.

GÖRAN DAHLBERG, Der Umgang mit Gespenstern

Das, was es nicht gibt
durchdringt alles
und nimmt dessen Platz ein.

ANN JÄDERLUND, Tiefe Liebe Niemand

s wäre falsch zu behaupten, niemand hätte etwas gesehen oder gehört. Natürlich hörten viele Zeugen die Schüsse durch die Nacht hallen und sahen eine Gestalt aus dem Haus fliehen und mit einem wartenden Auto verschwinden.

Vielleicht wandten sich diese Zeugen dann wieder anderen Dingen zu. Vielleicht schenkten sie noch dem Nachspiel, dem Erscheinen der Polizei und dem Abtransport der Leichen, ihre Aufmerksamkeit. Aber sie schwiegen. Sie strichen durchs Gebüsch, ruhten in den Bäumen oder schwebten über der Erde. Sie waren eins mit der Natur und wurden von den Menschen oft gar nicht wahrgenommen. Vielleicht handelte es sich auch nur um Tiere, große oder kleine, schnelle oder langsame, scharfsichtige oder halb blinde.

Die Wahrheit über die tatsächlichen Ereignisse in diesem Haus löste sich ohnehin recht bald auf.

Wie so vieles andere.

Prolog

egen Abend kam Wind auf. Erst strich er nur leicht über die Baumkronen, dann blies er immer stärker. Schließlich zerrte er an allem, was er erwischte. Die Dunkelheit würde nur noch eine gute halbe Stunde auf sich warten lassen.

Auf dem Parkplatz vor dem Gutshaus stieg Johannes vom Fahrrad und lehnte es an einen Laternenpfahl. Dann fasste er sein schwarzes Haar mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen. Das Wetter war furchtbar. Ein Wetter, in dem kein normaler Mensch joggen ging.

Aber er war eben nicht normal.

Als er sein Fahrrad abschloss, sah er zu Nathalies Häuschen hinüber. Das Licht einer Petroleumlampe flackerte in einem der Fenster. Ihr Schatten strich über die Wände, langsam und schwer zu fassen.

Wie sie.

Kürzlich hatte sie bei ihm übernachtet. Aber als er morgens aufwachte, war das Bett leer und sie weg.

Zwar hatte sie angekündigt, dass sie am nächsten Tag früh aufstehen müsse, trotzdem war er enttäuscht gewesen. Sie hatten einen schönen Abend zusammen verbracht – und dann war sie ohne ein Wort, ohne einen Zettel verschwunden.

Vermutlich die übliche Angst vor Nähe, dachte er während der Dehnübungen. Sie hatte sich verletzlich gefühlt und daher zurückgezogen. Eine mögliche Erklärung, falls man psychologisieren wollte.

Der Regen nahm zu, ebenso sein Wunsch, auf das Joggen zu verzichten. Er war nicht angemessen gekleidet, aber das war er sowieso nur selten. Er interessierte sich nicht für Wettervorhersagen. Vermutlich, weil sie seiner Mutter immer so wichtig gewesen waren. Für jede Temperatur, für jede Tätigkeit gab es bei ihr die passende Kleidung. Seine Kindheit war von ständigem Kleiderwechsel geprägt, damit kein einziger Regentropfen oder kalter Windhauch an seine Haut dringen konnte.

Deshalb bekam er jetzt, als Erwachsener, manchmal richtig gute Laune, wenn er unerwartet nass wurde oder frieren musste.

Er joggte auf den Pfad zu und bog dann rechts ab, wobei er sich von Nathalies Häuschen entfernte. Auf der einen Seite lag Wald, auf der anderen das Moor, eine Landschaft, die er lieb gewonnen hatte: die ausgedehnte Ödnis, die graue, geduckte Vegetation, die bei Wind und Regen noch robuster und sonderbarer wirkte.

Er erinnerte sich an den Raureif, der das Torfmoor im vergangenen Winter überzogen hatte. Damals war die Stimmung unwirklich, zerbrechlich und verführerisch gewesen, so etwas hatte er noch nie erlebt.

Einmal war ein großer Elch aus dem Nichts aufgetaucht und hatte wiegenden Schritts das gefrorene Moor durchquert. Die berstende Eisfläche hatte wie ein melancholisches Glockenspiel geklungen. Jetzt hörte er nur das monotone Geräusch seiner eigenen Schuhe, die beharrlich und mechanisch auf den Weg einhämmerten.

Die Windungen des Pfades gingen in eine lange Gerade über, die auf den alten Torfstich zuführte. Gelegentlich fiel sein Blick auf den Kiesweg, der zum jetzt leeren Parkplatz im Moor führte. Nur selten verirrte sich jemand hierher, und an diesem Abend, wo ihm der Regen ins Gesicht peitschte, war es besonders einsam.

Hier und da führten Plankenwege ins Moor, und er dachte einen Augenblick daran, eine Abkürzung zu nehmen und eine kürzere Runde zu laufen, sah jedoch, dass die Holzplanken glatt waren. Das war ihm zu riskant. Man musste nur kurz das Gleichgewicht verlieren, schon …

»Au!«

Sein Fuß hatte den Halt verloren, obwohl ihm die Strecke so vertraut war, dass er jede Wurzel und jeden Felsbrocken kannte. Der Schmerz strahlte in sein Bein aus, zog sich zurück und kehrte mit voller Wucht wieder.

So ein Mist!

Er hüpfte ein Stück weit auf einem Bein und versuchte sich irgendwo abzustützen, brach dann aber schließlich auf dem Weg zusammen.

Es tat sehr weh. Wind und Regen zerrten an seinen Kleidern. Er versuchte, sich aufzurichten, aber der Fuß ließ sich nicht mehr belasten.

Er wartete eine Weile auf das Abebben des Schmerzes und verfluchte dabei, sein Handy zu Hause gelassen zu haben. Wie würde er jetzt zum Gutshaus zurückgelangen?

Am Weg wuchsen Büsche, und er überlegte, ein paar stabile Äste abzureißen und als provisorische Krücken zu verwenden. Die Idee war an sich nicht schlecht, aber nach einer Weile musste er aufgeben, da die Äste nicht kräftig genug waren.

Er hüpfte auf einem Bein und kroch dann wieder ein kurzes Stück, bis ihm plötzlich etwas auffiel: Es regnete nicht mehr, und der Wind war eingeschlafen. Es herrschte vollkommene Stille.

Wie seltsam.

Der Mond segelte am dunklen Himmel hinter den Wolken dahin und beschien Nebelstreifen, die sich träge über die feuchte Erde bewegten.

Er glaubte, etwas zu hören. War das der Wind? Oder ein Tier? Fast klang es wie ein Jammern oder leises Rufen.

Da entdeckte er einen Lichtschein ganz hinten auf dem Weg.

Eine Taschenlampe. Jemand kam!

»Hallo!«, rief er.

Keine Antwort.

»Ich brauche Hilfe«, fuhr er fort. »Ich habe mich verletzt …«

Der Lichtschein näherte sich, bis er ihn so sehr blendete, dass er sich die Hand vor die Augen halten musste.

»Hallo?«

Der Lichtschein bewegte sich weiter, und plötzlich sah er klarer.

Was soll das?, konnte er gerade noch denken.

Dann wurde alles schwarz.

Drei Wochen früher

Tock, tock, tock.

Nathalie erwachte. Sie drückte die Fingerspitzen an die Schläfen, um das Klopfen in ihrem Kopf zum Verstummen zu bringen.

Tock, tock, tock.

Tock, tock, tock.

Ein Blick auf den Wecker bestätigte, dass bis zum Aufstehen noch mehr als zwei Stunden blieben. So war es meistens. Noch mal einschlafen zu wollen hatte keinen Sinn. Hatte nie einen Sinn.

Sie setzte sich auf die Bettkante und überlegte, ob noch etwas erledigt werden musste. Nein. Die Wohnung war aufgeräumt. Die Taschen, die nicht bereits im Auto lagen, standen gepackt in der Diele. Alles war bereit.

Sie duschte, frühstückte im Stehen und bemühte sich, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Dann schrieb sie einen Zettel an die Person, die in ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung wohnen würde, und legte ihn auf den Küchentisch.

Im Kühlschrank stehen noch ein paar Dinge. Vielleicht hast Du ja Verwendung dafür. Die Kontonummer für die Miete steht in der gestrigen Mail. Ich hoffe, Du fühlst Dich hier wohl.

Viele Grüße! Nathalie

Die Straße lag sonntagstot und still da. Sie hob das letzte Gepäck in den Kofferraum, setzte sich ans Steuer und fuhr los.

Sie verließ Göteborg vor Erwachen der Stadt, fuhr auf die Fünfundvierzig Richtung Norden und hatte dabei das Gefühl, sich aus einer eher zufälligen Beziehung rauszuschleichen.

Nach einer Weile hielt sie an einer Tankstelle, um zu tanken, einen Kaffee zu trinken und für die ersten Tage einzukaufen. Dann fuhr sie weiter. Bald veränderte sich die Landschaft und wurde dunkler, tiefer.

Wie wenige Stunden es doch nur dauerte, so viele Jahre zurückzureisen! In das Land der Seen und Wälder. In Gefilde, die eigentlich heimatlich waren.

In der großen Stadt am Meer hatte sie sich nie zu Hause gefühlt. Das muntere, unruhige, unzuverlässige Meer. Sie hatte nie zu den Menschen gepasst, die ständig segeln wollten, denen kahle Felsen und ein weiter Horizont gefielen, die die Sonne verehrten und die sich nichts anderes wünschten als warmes, beständiges Wetter. Sie schienen von ihr dasselbe zu erwarten, eine Art innere Hochtourigkeit, die ihr nie zu eigen gewesen war, die sie aber mittlerweile halbwegs vorzutäuschen wusste.

Jeden Sommer, wenn sie sich von den warmen Granitfelsen Bohusläns ins Wasser gleiten ließ, hatte sie das Gefühl, als wollte sie das Meer aus einem unmittelbaren Reflex heraus wieder ausspucken, als wüsste es, dass sie nicht in seine natürliche Sphäre gehörte.

Jetzt fiel Septemberregen auf die Windschutzscheibe, zögernd, leise, so als schliche sich der Herbst vorsichtig an, um nicht zu stören oder Unruhe zu stiften.

Komm, dachte sie. Komm einfach.

Lass dich einfach fallen.

Wir machen’s gemeinsam.

Von der Åmåler Umgehungsstraße bog sie nach Fengerskog ab. Ein Gefühl der Unwirklichkeit befiel sie kurz und überwältigend, und sie fragte sich, was sie eigentlich vorhatte. Was sie jetzt wohl in Gang trat. Gleichzeitig sah sie ein, dass es zum Umkehren viel zu spät war.

Bei der Kunstschule und der alten Fabrik, in der, wie sie wusste, mittlerweile Ateliers, Galerien und Werkstätten untergebracht waren, verlangsamte sie das Tempo. An der Kreuzung, an der es früher nur ein kleines Lebensmittelgeschäft gegeben hatte, war jetzt auch noch eine Bäckerei mit Café, in dem nicht mehr ganz junge Leute aus großen Gläsern Latte Macchiato oder Tee tranken. Dann löste Wald die Bebauung ab, bis die Straße schließlich in eine Birkenallee, die zum Gutshaus führte, überging.

Auf dem großen Kiesplatz standen einige Autos. Nathalie stieg aus, ließ das Gepäck im Auto und ging auf den Haupteingang zu.

Das stattliche weiß verputzte Gebäude besaß vier Türme, ein lindenblütengrünes Blechdach und große Fenster. Von hier aus hätten eine liebliche Landschaft, ein idyllischer See oder bewaldete Hügel eine angemessene Aussicht bieten können.

Aber dieses Gutshaus war anders. Es lag in einer stillen, bescheidenen Gegend mit einem nebelverhüllten Hochmoor, gebeugten Kiefern und sumpfigen Äckern, einer Landschaft, in der die Erde nie trocknete und die sich in ihrer eigenen Feuchtigkeit wälzte.

Hierher war sie nun aus freien Stücken zurückgekehrt.

»Sie wollten die Lillstugan mieten?«

Die Vorsteherin des Gutes stellte sich als Agneta vor. Sie trug ein kaftanähnliches, beiges Kleid mit einer breiten Stickerei, die ihre imposante Gestalt säulenartig umhüllte. Sie hatte dunkelblondes schulterlanges Haar und einen geraden Pony.

»Ja, das stimmt.«

Dicht hinter Agneta stand ihr Mann, der einen Kopf kleiner war, einen dunklen Anzug trug und das Geschehen wachsam im Auge behielt.

Gustav, dachte Nathalie. Wie ein Leibwächter. Genauso wie früher.

»Herzlich willkommen auf dem Gutshof Mossmarken. Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass das Häuschen, das Sie mieten, sehr schlicht ist. Eigentlich ist es nur in den Sommermonaten bewohnt.«

»Ja, aber das dürfte kein Problem sein. Es lässt sich heizen, nicht wahr?«

»Das Haus hat zwei Öfen. Der Kühlschrank wird mit Gas betrieben. Das ist alles an Komfort. Wasser müssen Sie mit Kanistern hier im Keller holen. Ihr Handy und Ihren Computer und Ähnliches können Sie im Büro aufladen. Dusche und Toilette finden Sie im Obergeschoss. Hinter der Lillstugan ist allerdings auch noch ein Trockenklosett. Was gibt es sonst noch …« Sie dachte nach. »Genau. Fahrrad. Im Keller steht ein altes Fahrrad, das Sie gerne benutzen dürfen. Woher kommen Sie übrigens?«

»Ich wohne in Göteborg.«

An den Wänden in der Eingangshalle hingen alte Gemälde eleganter Damen in weiten Röcken und stolzer Herren in Uniform. Als Kind hatten sie Nathalie fasziniert, besonders das Gemälde Sofia Hansdotters, die Ende des 19. Jahrhunderts im Gutshaus residiert hatte. Sie erinnerte sich noch gut an Sofias erbsengrünes Kleid und ihren wehmütigen Blick.

Es hieß, sie sei verrückt gewesen und habe heimlich sieben ihrer acht Kinder erwürgt, die sie dann von ihrem Mann im Moor beim Gutshaus begraben ließ, weil sie sie in ihrer Nähe haben wollte. Ihr Mann war ihr zu Willen gewesen, um ihrem gebrochenen Herzen nicht noch mehr Qualen zu bereiten, bis er nach der Geburt des achten Kindes in einem Augenblick plötzlicher Einsicht verstand, wie es zu dem Tod seiner Kinder gekommen war. Er beschloss, der Mutter das Neugeborene wegzunehmen. Daraufhin hatte Sofia den Ort aufgesucht, an dem ihre Kinder begraben lagen, hatte einen Schritt ins Moor getan und war versunken.

Niemand hatte versucht, sie zu retten.

Das achte Kind wuchs zu einem gesunden und starken Mann heran, der das Gut erbte und der Urgroßvater des jetzigen Besitzers Gustav war.

»Gustav und ich betreiben das Gut schon seit über fünfunddreißig Jahren als Pension. Wir haben sie von seinen Eltern übernommen«, fuhr Agneta mit gewichtiger Stimme fort, die nahelegte, dass sie diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählte. »Es befindet sich seit dem 17. Jahrhundert im Besitz unserer Familie. Gustavs Ahnen können Sie auf den Gemälden bewundern, die in den Zimmern hängen.« Sie vollführte eine ausholende Handbewegung.

In diesem Augenblick erschien eine Frau aus dem Obergeschoss.

»Das ist Jelena, unsere Wirtschafterin. Sie bereitet die besten geräucherten Felchen auf dieser Seite des Vänersees zu. Sicherlich werden Sie einmal bei uns im Gutshaus essen wollen.«

Jelena war blass und dünn und entsprach überhaupt nicht dem Klischee einer Wirtschafterin.

»Und hier kommt Alex, unser Hausmeister«, sagte Agneta, als ein großer, muskulöser Mann durch die Tür trat. »An ihn können Sie sich wenden, wenn etwas repariert werden muss.«

Alex blieb stehen, hielt seinen Blick an einen vagen Punkt an der Decke gerichtet, nickte kurz und verschwand schließlich in einem Nebenraum.

»Gustav und ich stehen Ihnen für alle Fragen an Wochentagen zwischen neun und sechzehn Uhr zur Verfügung. Meistens sind wir im Büro hier nebenan, falls wir nicht gerade auf einer Leiter stehen und eine Stalltür anstreichen, einen kaputten Traktor reparieren oder ähnliche Dinge tun. Ansonsten finden Sie uns im Ostflügel, in dem unsere Wohnung liegt. Sie dürfen sich gerne auch außerhalb der Bürozeiten an uns wenden.« Sie hielt inne und fuhr dann fort: »Das war vermutlich das Wichtigste. Wir befinden uns ja gerade in der Nachsaison, es ist also nicht viel los. Darf ich fragen, ob Sie aus einem besonderen Grund hier sind?«

»Ich schreibe meine Doktorarbeit. Ich beschäftige mich mit der Frage, wie die globale Erwärmung die Zersetzungsprozesse in Sumpfgebieten beeinflusst. Ich bin Biologin.«

»Ich verstehe.« Agneta lächelte und deutete aufs Fenster. »Sie sind also wegen des Moors hier. Interessant.«

»Ich beabsichtige, hier meine abschließenden Feldforschungen durchzuführen.«

»Dieses Moor ist wirklich ganz bemerkenswert«, meinte Agneta. »Es soll in grauer Vorzeit ein Opfermoor gewesen sein.«

»Ja.«

»Vielleicht haben Sie ja schon einmal davon gehört? In der Eisenzeit sollen hier verschiedene Opfergaben an die Götter versenkt worden sein. Sogar Menschen. In unserem Büro gibt es Broschüren darüber. Um die letzte Jahrtausendwende wurde eine derartige Leiche gefunden. Sie stammt aus dem 3. Jahrhundert vor Christus und ist jetzt im Kulturhistorischen Museum in Karlstad zu bewundern.«

Nathalie nickte. »Ich habe davon gehört …«

»Das Preiselbeermädchen«, sagte Agneta.

»Aha«, meinte Nathalie.

»Ja, so wird das Mädchen genannt. Übrigens hoffe ich, dass Sie vorsichtig sind, wenn Sie dorthin gehen. Stellenweise ist der Boden sehr nachgiebig und morastig, und die Plankenwege sind um diese Jahreszeit äußerst glatt. Aber das wissen Sie natürlich alles.«

*

Das Häuschen unterhalb des Gutshauses bestand aus Kammer und Küche. Die Küche war mit einer Spüle ohne Wasserhahn, einem großen Holzherd und einer Essecke mit einer Schlafbank und zwei Stühlen ausgestattet. Im Zimmer gab es ein Bett, einen Kleiderschrank, einen einfachen Schreibtisch sowie vor dem Kachelofen zwei alte Sessel und einen kleinen Couchtisch.

Die herbstliche Kälte drang durch die dicken Blockhauswände. Im Inneren war die Luft rau, aber nicht muffig.

In einer Ecke lehnte ein großer Spiegel an der Wand. Nathalie ließ sich im Schneidersitz zu Boden sinken und betrachtete ihr Gesicht. Es verblüffte sie stets, dass sie immer so viel fitter aussah, als sie sich fühlte. Sie trug ihr blondes Haar, das sie einmal im Jahr schneiden ließ, immer auf dieselbe Weise, wie vor acht Jahren von einem Starfriseur vor einem Modeshooting vorgeschlagen. Ein einfacher, halblanger und pflegeleichter Pagenschnitt.

Mit achtzehn war sie vor einem Kino »entdeckt« und dann als Model unter Vertrag genommen worden, obwohl sie eigentlich nicht groß genug war, ein Entgegenkommen, für das grenzenlose Dankbarkeit erwartet wurde.

So kurz nach dem Abitur war ihr dieser scheinbar unkomplizierte Gelderwerb willkommen gewesen, aber die Hektik wurde ihr recht bald zu viel. Das Haarspray, das ihr in die Nase stach, die Puderquasten, die ihr übers Gesicht fuhren, die barschen und unbegreiflichen Anweisungen vor der Kamera, dass sie Außergewöhnlichkeit ausstrahlen müsse. Nach zwei Monaten hatte sie einfach genug.

Die Frisur war das Einzige, was ihr aus dieser kurzen Phase geblieben war. Mit minimalem Aufwand pflegte sie ihr vorteilhaftes Äußeres, und zwar aus rein pragmatischen Gründen: Ihre Umgebung war zufrieden und konzentrierte sich auf die Oberfläche.

In der Diele standen zwei Wasserkanister und ein großer Korb Brennholz. Sie heizte sowohl im Küchenherd als auch im Kachelofen ein, verstaute dann die Lebensmittel und ihre Kleider. Schließlich hängte sie sich eine große Landkarte der näheren Umgebung mit Stecknadeln über den Schreibtisch und zog Pantoffeln und einen dicken Pullover an.

Dann sah sie sich eine Weile in ihrem Häuschen um. Im Kachelofen knisterte es, und aus dem Küchenherd quoll so viel Rauch, dass sie ein Fenster öffnen musste

Nach einiger Zeit schien alles zu funktionieren. Sie wärmte die Dosentortellini von der Tankstelle auf und aß dazu ein Brot mit Streichkäse.

Hinter dem Haus lag ein kleiner, von verwilderten Heckenrosen umgebener Garten, vor der Haustür standen zwei abgenutzte Holzliegestühle. Wenige Meter vor dem Haus verlief der Fitnesspfad, der um das Moor herumführte.

Nathalie zog ihre Jacke an, nahm vorsichtig auf einem der Liegestühle Platz und betrachtete die Landschaft. Nichts schien sich verändert zu haben, alles wirkte wie immer, und zwar nicht nur während der letzten fünfzehn Jahre, sondern seit Jahrhunderten und seit dem Anbeginn der Zeit. Die knorrigen, grauen Kiefern. Tümpel wie funkelnde Wasseraugen zwischen grünsaftigen Grasbüscheln. Eine behagliche Ödnis in matten Farben. Schimmerndes Wollgras auf dünnen, herbstlich rostroten Stängeln.

Sie hörte das Flöten des Brachvogels unter den Wolken widerhallen, obwohl er schon lange nach Süden gezogen war. Sie hörte ihn, obwohl sie seinen ausgelassenen, jubelnden Gesang schon seit Langem nicht mehr vernommen hatte. Den Singflug, den sie so liebte, ehe sich alles veränderte, ehe er sich in ihrer Erinnerung in ein täuschendes Hohngelächter und einen bedrohlichen Warnruf vor dem Kommenden verwandelte.

Als sie darüber nachdachte, worauf sie sich gerade einließ, fühlte sie sich kühn, fast schon leichtsinnig – als hätte sie aus einem inneren Zwang heraus eine Grenze überschritten, ohne sich richtig vorbereitet zu haben.

Wenn sie nach Westen schaute, sah sie die Strommasten über die Bäume ragen, die sie damals auch aus ihrem Zimmerfenster erblickt hatte und die ihr immer als Orientierung dienten, wenn sie sich verlaufen hatte. Ein beinahe unfassbarer Gedanke: Wenn sie den Masten folgte, würden diese sie bis an den Ort führen, an dem alles begann und endete.

ls sie am ersten Morgen in dem kleinen Häuschen erwachte, herrschte noch Dunkelheit, eines der wenigen Herbstmerkmale, das sie nicht zu schätzen wusste: Die dunklen Morgen- und Abendstunden, die Tage, die immer lichtloser wurden. In dieser Hinsicht zog sie den Sommer vor. Morgens gegen vier, wenn das Geklopfe in ihrem Kopf sie wachhämmerte, hatte der Tag wenigstens schon begonnen. Das Licht erleichterte es ihr, die Schwere ihrer Glieder und das unerklärliche Unbehagen zu überwinden. Die herbstliche Dunkelheit hatte die entgegengesetzte Wirkung und schien die schweren Gedanken bereitwillig zu beherbergen.

Sie zündete die Petroleumlampe neben ihrem Bett an und ging zum noch warmen Kachelofen. Dann umarmte sie ihn bedächtig wie einen guten, großen Freund, drückte sich mit geschlossenen Augen an ihn und ließ ihre Handflächen, Oberschenkel und eine Wange auf seiner warmen Oberfläche ruhen. Das Wort Gebet ging ihr durch den Kopf. War es dieses Gefühl?

Da kratzte es an der Scheibe. Ein hartes Geräusch.

Was war das?

Mit langsamen Schritten trat sie ans Fenster und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Elstern?

Sie sah nichts. Nichts, außer den beiden Laternen vor dem Gutshaus in hundert Metern Entfernung, kleine Kugeln, die in der Dunkelheit zu schweben schienen.

In dieser Finsternis wurde sie durch das Licht der Petroleumlampe entblößt. Es gab keine Gardinen, die sie zuziehen konnte. Aber in den oberen Ecken der Fensterrahmen steckten Nägel. Sie knotete zwei dicke Wollpullover zusammen, kletterte auf einen Stuhl und versuchte sie so aufzuhängen, dass sie das Fenster neben dem Bett abdeckten. Das Ergebnis fiel allerdings wenig zufriedenstellend aus. Sie musste sich Decken besorgen. Oder Laken, auch für die anderen Fenster.

Sie nahm die Zeitung vom Vortag aus ihrer Reisetasche und kroch wieder unter die Decke. Sie versuchte, einen Leitartikel über Energiepolitik zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Die Fenster starrten sie an, die Dunkelheit schaute zu ihr herein.

Verdammt! Wie würde das nur enden?

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so verletzlich fühlen würde. Das war nicht Teil ihres Plans. Nein, weg mit diesem Gedanken. Jetzt würde sie sich auf zwei Dinge konzentrieren: die Arbeit und den vagen, unterschwelligen Auftrag, bei dem es um sie selbst ging.

Niemand außer dem Dozenten, der ihre Arbeit betreute und der im Augenblick verreist war, wusste, dass sie sich in Mossmarken aufhielt.

Nathalie gefiel der Gedanke, dass sie sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Es hatte etwas von einer Katharsis, aus der gewohnten Umgebung abzuhauen, es wirkte wie die ultimative Freiheit.

Vor vierzehn Jahren hatte sie diese Gegend sang- und klanglos verlassen, jetzt kehrte sie zurück, folgte dem Faden in umgekehrter Richtung, um sämtliche Knoten zu lösen und von vorne zu beginnen.

Den meisten ihrer Freunde würde ihre Abwesenheit kaum auffallen, denn sie arbeiteten ebenfalls in der Forschung und lebten über den ganzen Erdball verstreut.

Höchstens ihre Pflegeeltern würden sich über ihren Verbleib Gedanken machen.

Aber während der letzten Jahre hatte Nathalie nicht die Kraft gehabt, eine engere Beziehung zu ihnen aufrecht zu erhalten, und der immer sporadischere Kontakt hatte ihr zunehmend Vorwürfe eingetragen, vor allem von Seiten Harriets, ihrer Pflegemutter.

»Ist das der Dank für alles, was wir für dich getan haben?«, hatte Harriet sie bei ihrem letzten Treffen gefragt. Sie waren mit einem Blumenstrauß zu Nathalies Geburtstag angerückt, und Harriets Gefühle waren aus ihr herausgebrochen. Mit hochrotem Gesicht hatte sie gegen die Tränen angekämpft.

Nathalies Pflegevater Lars saß während des ganzen Besuchs im Mantel auf einem Stuhl, zupfte an seinem Schnurrbart und starrte zu Boden.

»Jetzt gehen wir«, sagte er zu guter Letzt. »Wir geben auf. Sie will nicht.«

Für diese radikale Einstellung konnte Nathalie zwar ein gewisses Verständnis aufbringen, ansonsten regten sich aber keinerlei Gefühle in ihr. Ein Umstand, der Harriet vermutlich nicht entgangen war.

Bei ihrem Aufbruch hatte Harriet sie noch ein letztes Mal mit mitleidsloser Miene gemustert und mit gebrochener Stimme gesagt: »Du bist schrecklich, weißt du das? Ich dachte immer, das läge an allem, was du durchmachen musstest, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht bist du ja einfach so veranlagt: oberflächlich, gefühllos und undankbar.«

Nathalie knotete den Morgenmantel fester zu und setzte sich mitten in den Raum, um die Kontrolle zurückzugewinnen und das Gefühl der Verletzlichkeit zu überwinden. Sie breitete ihre Papiere vor sich aus, die Ergebnisse der Messungen und Experimente, die sie bislang in Deutschland, den Niederlanden, Polen und Dänemark durchgeführt hatte.

Die Stille, dachte sie und sah sich um. In ihrem Häuschen herrschte diese vollkommene, herausfordernde Stille. Vielleicht würde sie sich ja daran gewöhnen.

Sie versuchte, die wenigen Geräusche, die es dennoch gab, einzufangen. Eine träge Fliege summte am Küchenfenster ihrem Ende entgegen. Das Knistern und die Zugluft im Holzofen, die dumpfe Heiserkeit eines Raben in der Nähe. Dann konzentrierte sie sich auf die Gerüche, was schwieriger war: brennendes Holz, Schmierseife und Ruß.

Dann wendete sie sich den Stickstoffdiagrammen zu und überlegte, wie sich die Abweichungen erklären ließen. Wieso waren die deutschen Werte höher als die polnischen? Lag es an den Jahreszeiten, den geologischen Bedingungen oder der globalen Erwärmung?

Jene Kollegen in aller Welt, die sich mit ähnlichen Fragen beschäftigten, hatten ihre Untersuchungen hauptsächlich in den Polargebieten, auf riesigen von Dauerfrost geprägten Arealen durchgeführt. In den durch die globale Erwärmung entstandenen Auftauböden wurden nun aber Prozesse eingeleitet, die zur Freisetzung zusätzlicher Treibhausgase in die Atmosphäre führten. Die Frage war jetzt, um welche Mengen es sich dabei handelte und inwiefern diese die Erwärmung beeinflussten.

Als Mitglied eines nordischen Forscherteams hatte Nathalie die gleichen Phänomene im schwedischen Gebirge erforscht, und als sich die Gelegenheit bot, nordische und zentraleuropäische Sümpfe eingehender zu studieren, bewarb sie sich sofort und erhielt ein Forschungsstipendium.

Sicherlich würde sie einen wertvollen Beitrag zur Klimaforschung leisten. Aber erst nachdem sie den Aufenthalt in Mossmarken geplant und ihr Quartier gebucht hatte, erkannte sie, dass diese Entscheidung nicht nur berufliche Gründe hatte. Auch wenn ihr dies rückblickend wie selbstverständlich erschienen war, war sie von diesem Gedanken geradezu überwältigt, ja förmlich an die Wand gedrückt und zum Zuhören gezwungen worden. Und obwohl sie sich bisher noch nicht sonderlich weit in ihr eigenes Seelenleben vorgewagt hatte, war sie auch nicht zurückgeschreckt.

Und nun befand sie sich an diesem gottverlassenen Ort in den Sümpfen zwischen Dalsland und Värmland.

Das war vielleicht das Wichtigste.

Sie verließ das Haus nur zum Duschen, Wasserholen oder wenn sie die Akkus ihres Handys und ihres Computers aufladen musste. Sie wollte sich erst einmal an ihre neue Behausung gewöhnen und eine stabile Ausgangsposition schaffen, ehe sie sich ins Moor begab.

Auf der Landkarte zeichnete sie die Orte ein, an denen sie Messungen vornehmen wollte. An zwei Tagen würde sie in zwölf verschiedenen Anschnitten Proben entnehmen, um auch wirklich ein signifikantes Messergebnis zu erhalten. Im November, wenn der Boden abgekühlt war, würde sie diese Untersuchungen wiederholen.

Während der ersten Tage sprach sie mit keiner Menschenseele, beobachtete aber jeden Nachmittag etwa zur gleichen Zeit einen Mann in ihrem Alter, der auf dem Weg vor ihrem Haus vorbeijoggte und dabei neugierig hinüberschielte.

Eines Tages, als sie gerade vom Trockenklo zurückkehrte, kam er zufällig wieder vorbei. Er hielt inne und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab, um Atem zu schöpfen, dann nickte er ihr zu.

»Hallo«, sagte er, immer noch etwas atemlos. »Wohnst du hier?«

Sie ertappte sich bei dem Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Sie hatte nicht mit Begegnungen gerechnet und sich darauf gefreut, dass ihr unfreiwillige Kontakte mit der Umwelt erspart bleiben würden.

»Ja, kann man so sagen«, antwortete sie. »Vorübergehend. Ich hab das Haus gemietet.«

Sie wandte sich zur Tür.

»Ein schöner Flecken«, sagte der Mann und hob die Hand zum Gruß. » Ich heiße übrigens Johannes. Dürfte ich … dich vielleicht um ein Glas Wasser bitten. Ich habe meine Wasserflasche vergessen und plötzlich wahnsinnigen Durst.«

»Natürlich.« Sie ging ins Haus, kehrte mit einem Glas Wasser zurück und reichte es ihm.

»Danke«, sagte er, leerte es in einem Zug und gab es ihr zurück. Dann wischte er sich mit dem unteren Teil seines Sweatshirts den Schweiß aus dem Gesicht, richtete sich wieder auf und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Rabenschwarz, kam es ihr in den Sinn. Sehr schön.

»Läuft es sich gut hier?«, erkundigte sie sich aus Höflichkeit.

»Ja, fantastisch. Diese Gegend ist, also …« Er runzelte die Stirn, als fehlten ihm die richtigen Worte.

»Ich bin an der Kunstschule drüben in Fengerskog. Niemand, mit dem ich mich bislang unterhalten habe, scheint sich jemals hierher verirrt zu haben. Nicht zu fassen! Dabei ist es hier so wahnsinnig schön. Aber von mir aus.« Er lächelte. »Es gefällt mir, allein hier zu sein. Und du? Was treibst du hier?«

Sie zögerte. Die Worte sträubten sich, wollten ihr nicht über die Lippen kommen, sondern sich verbergen oder vielleicht auch nur ausruhen. Sie waren des ewigen Versteckspiels überdrüssig. Dabei übte der Mann eine gewisse Anziehung auf sie aus. Außerdem ließ sich nicht leugnen, dass er aus der Nähe betrachtet eine faszinierend samtige Haut besaß, olivenfarbig hieß dieser Hautton vermutlich. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, diese Haut noch eine Weile verstohlen zu betrachten und darüber nachzudenken, welche Gene und Fettsäuren den Hautzellen zu solchen Vorteilen verhalfen.

»Ich messe die Treibhausgase im Moor«, antwortete sie und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Unter anderem. Zumindest habe ich das vor.«

»Treibhausgase?«, fragte er. »Ist das für irgendeine Firma?«

»Nein … ich arbeite an einer Studie. Biologie.«

»Interessant!« Sein Blick gewann an Schärfe. »Das würde ich mir gerne genauer erklären lassen«, meinte er, verstummte, um ihre Reaktion abzuwarten, und fuhr dann fort, »aber ich will nicht stören. Wir laufen uns sicher wieder mal über den Weg. Ich jogge fast jeden Tag hier vorbei.«

Er hob die Hand zum Gruß und joggte Richtung Parkplatz davon.

Nathalie sah ihm hinterher und betrachtete seine Oberschenkel- und Wadenmuskeln.

In den folgenden Tagen blieb sie im Haus, wenn Johannes vorbeijoggte. Sie stellte sich so ans Fenster, dass sie ihn beobachten, er sie aber nicht sehen konnte.

Eines Nachmittags kochte sie eine Kanne Tee und setzte sich mit einer Tasse auf einen der Liegestühle vor dem Haus. Als er verbeijoggte, rief sie:

»Möchtest du vielleicht einen Tee?«

Er hielt inne, strich sich mit der Hand über die Wange und zog erstaunt die Brauen hoch. Sie konnte nicht beurteilen, ob er nur überrascht war oder die Einladung seltsam fand, und bereute es sofort. Aber da antwortete er: »Sehr gerne«, und kam näher.

Erfreut und ein wenig nervös holte sie Milch und Zucker und eine weitere Tasse und stellte alles auf den kleinen Tisch zwischen den Liegestühlen.

Mit ruhigen, geschmeidigen Bewegungen nahm er Platz. Steht allem offen gegenüber und hat nichts zu verbergen, schoss es ihr durch den Kopf, dann spürte sie einen kalten Windhauch in der Brust: Wie ich, nur umgekehrt.

Er kippte mehrere Löffel Zucker in seinen Tee und lachte über ihre skeptische Miene.

»Ich weiß. Aber mein Vater war Marokkaner, das mit dem Zucker liegt mir also im Blut.«

Die Nachmittagssonne sank rasch, während sie es sich bequem machten.

»Und wie ist das Studium in Fengerskog?«, fragte sie.

»Ganz okay. Gute Lehrer. Nette Studienkollegen. Ruhig und friedlich, man kommt also zu was.«

»Aber ist es hier nicht recht einsam? Fehlt es nicht an Ablenkung?«

»Kann sein. Aber Leute kennenzulernen ist kein Problem. Schließlich finden dauernd Konzerte und Partys und so statt.« Er wandte sich ihr zu, als wolle er nicht weiter von sich sprechen. »Aber erzähl du. Wie sieht deine Arbeit genau aus? Du misst Treibhausgase. Wie geht das?«

Sie erzählte ihm von den Messungen, die sie am Wochenende durchführen wollte, und er hörte interessiert zu.

»Brauchst du da nicht vielleicht Gesellschaft?«, fragte er. »Das klingt spannend. Ich würde gerne zuschauen, wie das funktioniert. Ich könnte dir helfen, Sachen tragen und so was.«

Es wurde still.

Etwas regte sich in ihr. Verlockung gepaart mit einem stumpfen, rauen Gefühl der Gefahr. Und dann noch der Gedanke, dass zwei weitere Hände durchaus hilfreich sein könnten.

»Hättest du Lust?« Sie blickte ins Leere. »Warum eigentlich nicht. Das würde die Sache zweifellos vereinfachen.«

Erst einmal wollte sie ohne Johannes ins Moor gehen – sie musste sich dem Moor alleine stellen. Außerdem musste sie die Messstationen vorbereiten und abgesägte Abflussrohre an zwölf verschiedenen Stellen in die Erde rammen. Auf diese würde sie dann Deckel mit Gummipfropfen setzen, durch die mithilfe von Kanülen das Gas entnommen werden konnte.

An diesem Morgen war sie ungewöhnlich spät aufgewacht. Das Klopfen in ihrem Kopf hatte etwas nachgelassen. Die pochende Unruhe hingegen machte ihr weiterhin zu schaffen und schien durch ihren Körper zu wandern. Von der Brust in den Kopf und hinunter in den Bauch. Nathalie fühlte sich wie eine Süchtige auf Entzug, deren Droge die Verdrängung gewesen war. Was bringt das denn?, fragte das Teufelchen auf ihrer rechten Schulter. Was willst du hier? Fahr wieder nach Hause. Auf ihrer linken Schulter saß allerdings kein Engel, dort gähnte nur Leere. Ein ausradierter Platz. Ein Stechen unter den Lidern, als sie ihren eigenen Gedanken hörte: Ich.

Sie gönnte sich ein langes Frühstück. Dann öffnete sie die Tür, um das schöne Herbstwetter hereinzulassen, ging zwischen Kammer und Küche hin und her und schrieb auf, was bei der Durchführung ihrer Tests keinesfalls vergessen werden durfte.

Der Pfad, der ins Moor führte, verlief unterhalb des Hauses. Sie musste ihm nur folgen, einen Fuß vor den anderen setzen. Ganz einfach also.

Sie setzte sich in Bewegung, gedankenlos wie bei einem Sprung in einen kalten See, weil es irgendwie das Richtige war und man sich anschließend immer gut fühlte.

Ihre Füße auf dem Weg, ihr Fleisch und Blut auf dieser Erde. Erneut. Die Zeit zwischen jetzt und damals, zusammengepresst wie zu dünnen Schmetterlingsflügeln, mit wenigen fluchtartigen Flügelschlägen zunichte gemacht.

Fünf recht abgetretene Bretter durchschnitten die Landschaft wie ein langes, scharf abgegrenztes Band. Die Bohlenwege sahen aus wie damals, aber sie vermutete, dass sie auf irgendeine Weise instand gehalten wurden.

Schließlich waren fünfzehn Jahre vergangen.

Das Licht war gedämpft, die Luft kühl. Das ausgedehnte Moor präsentierte sich in Gelb- und Grautönen. Die Bäume, die ihr immer gebeugt vorgekommen waren, schienen sich jetzt voller Respekt zu verbeugen. Sie knicksten und nickten, als würden sie sie begrüßen.

Sie erwiderte den Gruß, öffnete behutsam ihre Sinne, entspannte sich und ließ sich führen. Die Zeit löste sich aus ihrem Rahmen und fiel Stück für Stück in sich zusammen, bis sich Nathalie eins mit ihrer Umgebung fühlte. Sie schien sich in einem Mosaik zu bewegen, in dem die Teile, die sie selbst ausmachten, mit denen der Umgebung verschmolzen.

Gemächlichen Schrittes legte sie ein gutes Stück zurück, ehe sie über ein paar feste Grasbüschel zu einer kleinen Kiefer gelangte, an die sie ihren Rücken lehnen konnte.

Eingebunden in den Rhythmus ihrer Atemzüge saß sie einfach da, während es zu nieseln begann. Mit leisem Prasseln fielen die Tropfen auf ihre Regenjacke wie auf eine Zeltplane. Es duftete nach Nadelwald. An ihren nassen Stiefeln klebten gelbliche Blätter des Sumpfporsts, die sich zu dieser Jahreszeit von ihren Zweigen lösten. Sie nahm einige in die Hände, zerrieb sie zwischen den Fingern, atmete den würzigen, durchdringenden Duft ein und schloss die Augen.

Einige Minuten verstrichen, vielleicht eine Viertelstunde. Dann näherte sich der Nebel wie ein neugieriges Tier mit unergründlichem Vorhaben. Er züngelte über den feuchten Boden, leckte an ihren Füßen, hüllte sie ein.

Als würde er sagen: Du. Da bist du ja. Das ist aber lange her.

Sie regte sich nicht. Atmete kaum. Saß einfach mit halb geschlossenen Augen da und wartete darauf, dass der Moment verstrich.

Ohne dass sie es merkte, kam ihr ein Flüstern über die Lippen. Ich weiß. Es hat eine Weile gedauert. Aber jetzt bin ich hier.