Zum Autor:
Dr. James R. Hansen hat als Historiker für die NASA gearbeitet und ist heute Professor für Geschichte an der Auburn University, Alabama. Er hat bereits zehn Bücher über die Geschichte der Luft- und Raumfahrt veröffentlicht und wurde dafür vielfach ausgezeichnet. Er lebt in Auburn, Alabama.
Zum Buch:
Am 21. Juli 1969 hält die Welt den Atem an: Neil Armstrong setzt als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond. So berühmt Armstrong dadurch wurde, so wortkarg und scheu trat er in der Öffentlichkeit auf. James Hansen gewährte er erstmals exklusiven Zugang zu privaten Dokumenten und persönlichen Quellen. Von Armstrongs Kindheit bis zum unfassbaren Ruhm durch die Apollo-11-Mission und Armstrongs Beteiligung an der Untersuchung der Challenger-Katastrophe - First Man erzählt das Leben eines Mannes, dessen „kleiner Schritt“ Geschichte schrieb.
JAMES R. HANSEN
AUFBRUCH
ZUM MOND
NEIL ARMSTRONG –
DIE AUTORISIERTE BIOGRAFIE
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schmalen
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel First Man – The Life of Neil A. Armstrong bei Simon & Schuster Paperbacks, An Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.
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Deutsche Erstausgabe 09/2018
© 2005 by James R. Hansen
This Simon & Schuster trade paperback edition April 2018
© der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Ralf Dürr
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Covermotiv: © 2018 UNIVERSAL STUDIOS. ALL RIGHTS RESERVED
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-22412-7
V003
www.heyne.de
Für Isabelle, Mason und Luke
Inhalt
Vorwort
Prolog: Der Start
TEIL EINS: Nachwuchspilot
KAPITEL 1 Eine amerikanische Familiengeschichte
KAPITEL 2 Smallville
KAPITEL 3 Aufstieg in luftige Höhen
KAPITEL 4 Einführung in die Luftfahrttechnik
TEIL ZWEI: Navy-Pilot
KAPITEL 5 Goldene Schwingen
KAPITEL 6 Kampfstaffel 51
TEIL DREI: Testpilot
KAPITEL 7 Über der Wüste
KAPITEL 8 Am Rand des Weltalls
KAPITEL 9 Der schlimmste Verlust
KAPITEL 10 Auf zu neuen Ufern
KAPITEL 11 Das Geheimnis
TEIL VIER: Astronaut
KAPITEL 12 Trainingstage
KAPITEL 13 Warten auf den Einsatz
KAPITEL 14 Gemini VIII
KAPITEL 15 Die Frau des Astronauten
KAPITEL 16 Für ganz Amerika
TEIL FÜNF: Apollo-Kommandant
KAPITEL 17 Aus der Asche
KAPITEL 18 Ohne Flügel auf den Mond
KAPITEL 19 Freundlich gesinnte Fremde
KAPITEL 20 Die große Frage
KAPITEL 21 Vorbereitungen auf die Mondmission
TEIL SECHS: Mondfahrer
KAPITEL 22 Unterwegs
KAPITEL 23 Die Landung
KAPITEL 24 Ein kleiner Schritt
KAPITEL 25 Rückkehr zur Erde
KAPITEL 26 Für die ganze Menschheit
TEIL SIEBEN: Ikone
KAPITEL 27 Am Boden geblieben
KAPITEL 28 Ingenieur auf Lebenszeit
KAPITEL 29 Die dunkle Seite des Mondes
KAPITEL 30 Herzensangelegenheiten
Dank
Literaturverzeichnis
Hinweis zu den Quellen
Bildnachweis
Vorwort
Wenn Neil Armstrong heute noch am Leben wäre, wie würde er sich dann das Vorwort zu dieser neuen Ausgabe seiner Biografie wünschen, die kurz vor dem 50. Jahrestag der Apollo-11-Mission erscheint? Ich weiß genau, was er zu mir gesagt hätte, wenn ich ihm diese Frage gestellt hätte: »Jim, es ist dein Buch. Du bist der Autor, nicht ich. Du solltest den Anfang so schreiben, wie es dir am passendsten erscheint.«
Denn so war Neil Armstrong. Sobald er mir schließlich zugesagt hatte, mich beim Aufschreiben seiner Lebensgeschichte zu unterstützen – ich brauchte fast drei Jahre, von 1999 bis 2002, um ihm das abzuringen –, wollte er, dass das Buch eine unabhängige, faktenreiche Biografie wird. Er ließ sich insgesamt 55 Stunden lang von mir interviewen und willigte ein, die Rohfassung jedes Kapitels zu lesen und mit Kommentaren zu versehen. Doch kein einziges Mal versuchte er meine Analysen oder Deutungen zu verändern oder gar zu beeinflussen. Später weigerte er sich auch rundheraus, das Buch zu signieren. Nicht er habe es geschrieben, meinte er zu den Leuten, sondern Jim. Ich bat ihn einmal, zwei Exemplare für meine Kinder zu signieren. Er sagte, er werde darüber nachdenken. Ich fragte kein zweites Mal nach, und er sprach das Thema nie wieder an. Es stand ihm eben einfach nicht zu, das Buch mit seiner Unterschrift zu versehen. Auch das war typisch für Neil.
Also, was schreibe ich nun in das Vorwort dieser Ausgabe zum 50. Jahrestag der Apollo-11-Mission?
Ich möchte dem Buch gern einige Worte voranstellen, die auch Neil in diesem historischen Augenblick in der Geschichte der Erforschung des Weltalls für wichtig befunden hätte: Zwischen 2018 und 2022 feiert die Welt nicht nur das Jubiläum der ersten Mondlandung, sondern das von insgesamt zehn erstaunlichen NASA-Missionen eines jungen und zukunftsweisenden Raumfahrtprogramms, das bemerkenswert rasch und erfolgreich ausgeführt wurde, in Form eines monumentalen Unterfangens, dessen Name zur Legende wurde: Apollo. Von der gewagten Mondumkreisung durch Apollo 8 im Dezember 1968 bis zur letzten Mondlandung durch die kühnen Astronauten von Apollo 17 im Dezember 1972 sah die Welt dabei zu, wie amerikanische Astronauten ihren Heimatplaneten verließen, um einen anderen, 400000 Kilometer weit entfernten Himmelskörper zu betreten. Der herausragendste Tag war dabei der 20. Juli 1969, an dem mit Apollo 11 die historische erste »bemannte« Landung auf dem Mond gelang.
Nach langem Überlegen, wie ich dieses Buch beginnen soll, erinnerte ich mich an ein Gespräch, das ich 2009 mit Neil geführt hatte – vier Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe von First Man und vierzig Jahre nach Apollo 11. Unsere Unterhaltung drehte sich um einen der Gegenstände, die Neil 1969 bewusst auf dem Mond zurückgelassen hatte: eine winzige Siliziumplatte, auf der in mikroskopisch kleiner Schrift »Grußbotschaften« von Staatsoberhäuptern aus 73 Ländern auf der ganzen Welt enthalten waren.
Neils Erinnerungsvermögen war oft hervorragend, auch wenn er von Natur aus vergesslich war, wenn es um Themen ging, die für ihn keine große Rolle spielten. In unserem Gespräch fragte ich ihn, an welche dieser Botschaften er sich noch erinnerte und welche ihn am meisten beeindruckt hatten. Er nannte drei, die er mir alle treffend zusammenfasste und zum Teil sogar recht akkurat wiedergab. Sie stammten von den Staatsoberhäuptern der Elfenbeinküste, von Belgien und Costa Rica. Als ich nach Hause zurückkehrte, las ich mir jede der Botschaften, die Neil erwähnt hatte, und auch die siebzig übrigen durch – Neil hatte tatsächlich drei der besten ausgesucht.
Neil ist nun seit sechs Jahren tot. Im Verlauf dieser Zeit wurde uns allen, die ihn gut kannten, immer klarer, was für ein außergewöhnlicher Mensch er war, wie einzigartig sein Wesen und seine Erfolge waren und wie sehr wir ihn vermissen. Mit diesem zeitlichen Abstand können wir nicht nur sein gesamtes Leben darstellen, reflektieren, einordnen und würdigen, sondern uns auch der Frage widmen, was von ihm dauerhaft bleiben wird.
Bei allem, was er in seinem Leben tat, verkörperte Neil die wichtigsten Eigenschaften und Werte eines herausragenden Menschen: Hingabe, Zuverlässigkeit, Selbstvertrauen, Entschiedenheit, Innovationsstreben, Loyalität, eine positive Einstellung, Respekt anderen gegenüber, Integrität, Unabhängigkeit, Urteilsfähigkeit und vieles mehr. Niemand hätte die Menschheit beim Betreten eines anderen Himmelskörpers besser repräsentieren können als Neil. Und keiner hätte besser mit dem strahlenden Glanz des internationalen Ruhms oder der plötzlichen Verwandlung in eine Ikone umgehen können als Neil. Es lag in seinem sanften und bescheidenen Wesen, die Öffentlichkeit zu meiden und an der Realität seines gewählten Berufes als Ingenieur festzuhalten; er war einfach nicht der Typ, der die in seinen Augen unverdienten Auswirkungen seines Namens und seines Rufes auskostete.
Jede Analyse der ruhigen und zurückhaltenden Lebensweise, die Neil nach Apollo 11 pflegte, der Art, wie er in all den darauffolgenden Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit mied, muss dem Betrachter vor Augen führen, dass Neil über eine besondere Sensibilität verfügte, die untrennbar mit seinem Wesen verbunden war: Es war, als hätte er gewusst, dass die Leistung, zu der er seinem Land im Sommer 1969 verhalf – die historische Landung der ersten Menschen auf dem Mond und ihre sichere Rückkehr zur Erde – vom lauten Kommerz unserer modernen Welt, ihren überflüssigen Fragen, ihrem leeren Gerede unerbittlich herabgesetzt werden würde. Auf einer zutiefst persönlichen Ebene verstand Neil nicht nur, was für eine überragende Erfahrung er gemacht hatte, sondern auch, was für eine überragende Erfahrung das für die ganze Welt war, für uns alle, und er wusste es zu schätzen.
Neil gehörte zu einer ganzen Riege von Leuten, denen die ersten Flüge ins Weltall gelangen – und er hat stets die gemeinschaftlichen Bemühungen der 400000 Amerikaner betont, die hinter dem Erfolg von Apollo steckten. Er stand an der Spitze der Pyramide, ja, doch es war keineswegs vorherbestimmt gewesen, dass er zum Kommandanten der ersten Mondlandung oder zum ersten Menschen auf der Mondoberfläche wurde. Wie er selbst immer erklärte, war es größtenteils Glück, ein Zusammenwirken der Umstände. Dennoch hatte er seinen Beitrag geleistet, und er verstand, welche großen Opfer, welch ein herausragendes Engagement und welch eine außerordentliche menschliche Kreativität nötig gewesen waren, um das zu erreichen. Er war sehr stolz auf die Rolle, die ihm bei der ersten Mondlandung zugefallen war, aber er nutzte das nicht für eine Zirkusnummer oder als Gelddruckmaschine aus. Nicht dass Neil nach Apollo 11 ein Einsiedlerdasein fristete – das ist ein Mythos, den frustrierte Journalisten erfunden haben, denen er kein Interview geben wollte. Er führte nach der Mondlandung ein sehr aktives Leben, indem er viele weitere Erfolge feierte, in der Lehre, in der Wissenschaft, in der freien Wirtschaft und in der Erforschung der Welt – und all das auf ehrenwerte und integre Weise.
Als Motto, das ich First Man voranstellen möchte, habe ich ein Zitat des amerikanischen Mythologen Joseph Campbell ausgewählt, das ich für sehr tiefsinnig halte. Dieser Satz lautet: »Das Privileg der Lebenserfahrung besteht darin, zu sein, wer man ist.« Neil Armstrong genoss dieses Privileg, und wir alle sollten uns freuen, dass es sich für ihn so ergab – und für uns.
James R. Hansen
März 2018
Das Privileg der Lebenserfahrung besteht darin, zu sein, wer man ist.
– JOSEPH CAMPBELL, REFLECTIONS ON THE ART OF LIVING
PROLOG
Der Start
Nachdem die Mondmission vorbei und die Apollo-11-Besatzung wieder zur Erde zurückgekehrt war, meinte Buzz Aldrin zu Neil Armstrong: »Neil, wir haben das Ganze verpasst.«
Am Cape Kennedy in Florida versammelten sich in den Tagen vor Mittwoch, dem 16. Juli 1969, annähernd eine Million Menschen, die größte Menschenmenge, die je zu einem Raketenstart kam. Fast tausend Polizisten und Bootspatrouillen bemühten sich am Abend vorher darum, die etwa 350000 Autos und Schiffe auf den Straßen und Wasserwegen in Bewegung zu halten.
Trotz der glühenden Hitze, die schon am Vormittag die dreißig Grad überschritt, trotz aller Moskitostiche, trotz der Staus und der gesalzenen Touristenpreise wartete eine große Masse Menschen geduldig darauf, dass die gewaltige Saturn-V-Rakete die Apollo 11 Richtung Mond schoss.
Auf einem großen Motorkreuzer im Besitz des Unternehmens North American Aviation, dem Erbauer des Apollo-Kommandomoduls, standen Janet Armstrong, die Frau des Kommandanten von Apollo 11, und ihre beiden Söhne, der zwölfjährige Rick und der sechsjährige Mark, und warteten nervös auf den Start.
Über ihnen brachten Hubschrauber die VIP-Gäste grüppchenweise zu den reservierten Plätzen auf den Tribünen, die nur rund fünf Kilometer von der Startrampe entfernt und damit am nächsten dran waren. Vizepräsident Spiro T. Agnew saß auf der Tribüne, während Präsident Richard M. Nixon den Start über einen Fernseher im Oval Office verfolgte. Ursprünglich hatte das Weiße Haus geplant, dass Nixon am Abend vor dem Abflug zusammen mit der Besatzung zu Abend essen sollte, doch dieses Vorhaben wurde gekippt, nachdem die Presse Dr. Charles Berry, den für die Astronauten zuständigen Arzt, mit den Worten zitierte, der Präsident könne unwissentlich eine aufkommende Erkältung in sich tragen.
Aus dem Pressebereich des Kennedy Space Center heraus verfolgten 2000 Reporter den Start. Die Mondlandung war ein globales Ereignis, das fast alle Menschen für wichtiger hielten als die politische Situation. In einem niederländischen Leitartikel wurde das Land als »mondverrückt« bezeichnet. Ein tschechoslowakischer Kommentator bemerkte: »Dies ist das Amerika, das wir lieben, es ist ganz anders als das Amerika, das in Vietnam kämpft.« Selbst die Franzosen hielten Apollo 11 für »das größte Abenteuer in der Geschichte der Menschheit«.
Doch nicht überall war die Berichterstattung positiv. In Hongkong attackierten kommunistische Zeitungen die Mission als Ablenkungsmanöver von der Unfähigkeit der Amerikaner, den Vietnamkrieg zu gewinnen, und erklärten die Mondlandung zu einem Versuch, »den Imperialismus auf das Weltall auszudehnen«. Andere erhoben den Vorwurf, der Materialismus des amerikanischen Raumfahrtprogramms werde die Faszination und die ätherische Schönheit des geheimnisvollen Mondes ruinieren, der seit Menschengedenken in Legenden gehüllt sei.
Ein Großteil der direkten Augenzeugen versammelte sich am und rund um das Kap in der Erwartung, einen der beeindruckendsten Anblicke der Menschheitsgeschichte mitzuerleben. Der CBS-Kommentator Heywood Hale Broun, der für seine respektlose Sportberichterstattung bekannt war, erlebte den Start gemeinsam mit Tausenden anderer Menschen am Cocoa Beach, etwa 25 Kilometer von der Startrampe entfernt. Er berichtete den Dutzenden Millionen, die die Sendung schauten: »Bei einem Tennisspiel geht der Blick hin und her. Bei einem Raketenstart geht er höher und höher, die Augen schauen immer weiter nach oben, und auch die Hoffnung steigt, bis schließlich die ganze Menschenmenge wie eine riesige, vieläugige Krabbe nach oben starrte, ohne einen Ton zu sagen. Es war ein leises ›Aah‹ zu hören, als die Rakete abhob, aber danach gab es nur noch die in die Höhe wandernden Blicke. Das war die Poesie der Hoffnung, wenn man so will, unausgesprochen, aber doch deutlich vernehmbar in den konzentrierten Gesten der Leute, deren Blick mit der Rakete immer weiter aufstieg.«
Mitten in Ohio, mehr als 1600 Kilometer von den Tribünen in Florida entfernt, zählte Armstrongs kleine Heimatstadt Wapakoneta die verbleibende Zeit bis zum Start herunter. Die Straßen waren wie leer gefegt, fast alle der 6700 Bewohner klebten vor den Fernsehgeräten. Im Zentrum des Geschehens stand das einstöckige Haus mit der Adresse 912 Neil Armstrong Drive, das einem Farmhaus nachempfunden war und in das Viola und Steve Armstrong erst ein Jahr zuvor eingezogen waren. Beim Start von Gemini VIII 1966 waren Neils Eltern vor Ort dabei gewesen. Ihr Sohn hatte ihnen auch den Besuch des Starts von Apollo 10 im April organisiert. Doch bei diesem Flug hatte er ihnen geraten, zu Hause zu bleiben, denn am Kap »könnte der Druck zu groß werden«. In den Monaten vor dem Start war das Paar »von Reportern aller Art belagert« worden. Viola erinnerte sich: »Ihre neugierigen Fragen zehrten an meiner Kraft und an meinem Nervenkostüm. Ich habe die Zeit nur dank Gottes Gnade überstanden. Er muss ständig an meiner Seite gewesen sein.«
Um während der Zeit der Mission aus Wapakoneta übertragen zu können, hatten die drei großen Senderverbünde gemeinsam einen 25 Meter hohen Sendemast auf der Auffahrt der Armstrongs aufgestellt. Die Garage war in ein Pressezentrum verwandelt worden, mit einem wilden Durcheinander von Telefonen auf klappbaren Campingtischen, und die NASA hatte Tom Andrews geschickt, einen Protokollbeamten, der die Armstrongs dabei unterstützen sollte, mit der Schar von Reportern fertigzuwerden. Da Neils Eltern immer noch nur einen alten Schwarz-Weiß-Fernseher besaßen, stellten ihnen die Senderverbünde ein großes Farbgerät zur Verfügung, auf dem sie die Mission verfolgen konnten.
Der stolze Bürgermeister von Wapakoneta verordnete, dass jedes Haus und jedes Geschäft in der Stadt vom Morgen des Starts an bis zur sicheren Heimkehr der »Jungs« mit einer amerikanischen Flagge geschmückt zu sein hatte. Bei einigen Einwohnern wirkte sich die mediale Aufmerksamkeit auch auf das Erinnerungsvermögen aus. Manche erzählten sogar frei erfundene Geschichten über ihre spezielle Verbindung zum Astronauten.
Da die Telefonnummer der Armstrongs in Auglaize County bekannt war, richtete Tom Andrews zwei private Telefonanschlüsse im Hauswirtschaftsraum neben der Küche ein. Am Tag vor dem Start rief Neil seine Eltern gegen Mittag vom Kap aus dort an. Viola erinnerte sich: »Er klang fröhlich. Er meinte, sie seien bereit für den Start am nächsten Tag. Wir baten Gott, über ihn zu wachen.«
Neils Bruder und seine Schwester waren beim Start in Florida vor Ort. June, ihr Mann Dr. Jack Hoffman und ihre sieben Kinder waren aus ihrer Heimat in Menomonee Falls, Wisconsin, dorthin geflogen. Dean Armstrong, seine Frau Marilyn und die drei Kinder waren aus Anderson, Indiana, wo sie wohnten, nach Florida gefahren. Viola blieb dieser ganz besondere Morgen bis zu ihrem Tod klar in Erinnerung: »Besucher, Nachbarn und Fremde kamen zusammen, um zuzuschauen und zuzuhören, darunter auch meine Mutter Caroline, meine Cousine Rose und mein Pfarrer, Reverend Weber. Stephen und ich saßen nebeneinander und trugen als Glücksbringer die Anstecknadeln von Gemini VIII, die Neil uns gegeben hatte.«
»Es schien, als sei unser Sohn seit dem Augenblick seiner Geburt – oder sogar noch länger, schon als die Vorfahren der Familie meines Mannes und meiner eigenen vor Jahrhunderten noch in Europa lebten – für diese Mission vorherbestimmt gewesen.«
TEIL EINS
Nachwuchspilot
Ich bin in Ohio geboren und aufgewachsen, knapp 100 Kilometer nördlich von Dayton. Die Geschichten über die Leistungen der Gebrüder Wright und ihre Erfindung des Flugzeugs kenne ich, seit ich denken kann … Ursprünglich interessierte mich vor allem der Flugzeugbau, nicht das Fliegen selbst. Man konnte keinen Erfolg mit einem Modell haben, das nicht gut konstruiert war.
– NEIL A. ARMSTRONG ZUM AUTOR, 13. AUGUST 2002
KAPITEL 1
Eine amerikanische Familiengeschichte
Neil Armstrong verstand, dass weder seine Lebensgeschichte noch die irgendeines anderen Menschen mit der Geburt beginnt. Sie reicht weit in die Vergangenheit, in den Stammbaum der Familie zurück, Hunderte Jahre, soweit es Erinnerungen, historische Überlieferungen und Aufzeichnungen gibt. Es ist ein Betrug an jeder Lebensgeschichte, die Vergangenheit der Familie zu ignorieren. Neil bestand darauf, dass seine Biografie diesen Teil der Geschichte enthielt.
Außerdem lag ihm sehr am Herzen, dass die Geschichte seiner Vorfahren wie bei so vielen amerikanischen Familien von Einwanderern und deren mutiger Entscheidung, in ein neues Land aufzubrechen, geprägt war – es war eine »typisch amerikanische Familiengeschichte«, wie er es einst nannte.
Neil lagen Amerika und seine Geschichte sehr am Herzen. Ihm gefiel, wofür das Land schon vor seiner Entstehung im Kampf um die Unabhängigkeit vom Mutterland England zwischen 1776 und 1783 gestanden hatte.
Für Neil galt: »Amerika ist das Land der Möglichkeiten. So war es schon zu Beginn. Die frühen Siedler kamen in die neue Welt, um ihre Religion gemäß ihren Überzeugungen ausüben und sich eine Zukunft auf der Grundlage ihrer Initiative und ihrer harten Arbeit aufbauen zu können. Sie entdeckten ein neues Leben, das mit der Freiheit einherging, individuelle Ziele zu erreichen.«
In Neils Fall reicht die Vergangenheit der Familie mehr als 300 Jahre zurück, bis zu seinen ersten bekannten Vorfahren Ende des 17. Jahrhunderts. Väterlicherseits entstammt Neils Familie einem Clan von Armstrongs, der sich ab dem Spätmittelalter in den berüchtigten »Borderlands« zwischen Schottland und England ausbreitete. Eine kleine Gruppe unerschrockener Armstrongs überquerte vier Jahrzehnte vor der Amerikanischen Revolution den Atlantik. Deren Nachkommen zogen dann in Wagen und Booten stetig Richtung Westen, über die Appalachen hinweg. Sie zählten zu den kühnsten Pionieren dieser Zeit und ließen sich schließlich kurz nach dem Britisch-Amerikanischen Krieg in der fruchtbaren Region im Nordwesten von Ohio nieder.
Schon die Geschichte des Namens »Armstrong« ist schillernd. Er ist anglo-dänischen Ursprungs und bedeutet das, was er sagt – »starker Arm«. Im Lauf des 15. Jahrhunderts entwickelte sich der Armstrong-Clan zu einer bedeutenden Macht in den Borderlands. Im 16. Jahrhundert zählte die Familie unzweifelhaft zu den unverwüstlichsten Viehdieben – die Armstrongs waren also Banditen und Räuber. Ihr jahrzehntelanges, immer ausgedehnteres Treiben zwang die Krone schließlich, dem Unwesen Einhalt zu gebieten.
Adam Armstrong, der 1638 in den Borderlands geboren wurde und dort 1696 starb, bildet die erste von zehn Generationen vor dem ersten Menschen auf dem Mond. Adam hatte zwei Söhne, von denen einer ebenfalls Adam hieß und 1685 im englischen Cumbria zur Welt kam. Dessen Sohn Adam Abraham Armstrong III überquerte Mitte der 1730er-Jahre gemeinsam mit seinem Vater den Atlantik, was sie zu den ersten Vorfahren von Neil macht, die nach Amerika auswanderten.
Die Armstrongs zählten zu den ersten Siedlern der Conococheague-Region in Pennsylvania. 1818 ließ sich John Armstrong, der Enkel von Adam Abraham, mit seiner Familie am Westufer des St. Marys River in Ohio nieder. Die ersten Ernten brachten so viel ein, dass die Armstrongs das sechzig Hektar große Stück Land erstehen konnten, das zur »Armstrong-Farm« wurde, dem ältesten Hof in Auglaize County.
David Armstrong, das älteste von Johns Kindern, und Margaret Van Nuys waren Neils Urgroßeltern väterlicherseits. Ihr Sohn Stephen Armstrong erhielt an seinem 21. Geburtstag das Erbe seines Großvaters, Geld und Güter im Wert von rund 200 Dollar. Er heiratete Martha Watkins Badgley, die 1867 den Sohn Willis zur Welt brachte. Als Stephen 1884 im Alter von 58 Jahren starb, besaß er mehr als 160 Hektar Land, das sein Sohn Willis erbte, der drei Jahre später Lillian Brewer heiratete. Das Paar bekam fünf Kinder und wohnte in einem Bauernhaus an der River Road. 1901 starb Lillian im Kindbett. Willis heiratete 1905 Laura Koenig. Das Paar wohnte zunächst in einem Haus, das Willis in St. Marys gekauft hatte. Später zogen sie in ein beeindruckendes viktorianisches Eckhaus an der West Spring Street um.
Hier wuchs Stephen Koenig Armstrong, Neils Vater, auf. Er war das erste von zwei Kindern von Willis und Laura und kam 1907 zur Welt, freudig begrüßt von seinen Halbschwestern Bernice und Grace und seinen Halbbrüdern Guy und Ray. Seine Kindheit war von unglücklichen wirtschaftlichen Entscheidungen und einer Pechsträhne der Familie geprägt. Willis nahm eine Hypothek auf die Farm auf und investierte auf Anraten seines Schwagers einen Großteil seines Geldes in ein Eisenbahnprojekt. Doch leider zahlte sich das nicht aus, und die daraus resultierende finanzielle Katastrophe lastete schwer auf den Familienbeziehungen, auch auf Willis’ Ehe.
1912 starb Stephens Halbbruder Guy, und 1914 brannte das Haus der Armstrongs ab. Der sechsjährige Stephen entkam nur mit den Kleidern, die er am Leib trug. 1916 ging Willis nach Kansas, um sein Glück auf den Erdölfeldern zu suchen. Als er Anfang 1919 nach Ohio zurückkehrte, zog die Familie innerhalb weniger Wochen zurück auf die Farm an der River Road, obwohl diese noch mit einer Hypothek belastet war. Da Willis schon bald darauf von einer chronischen Arthritis am Arbeiten gehindert wurde, musste Stephen die Felder bestellen; er konnte nur weiter zur Schule gehen, weil seine Mutter darauf bestand.
Noch bevor er die Highschool 1925 abschloss, hatte er entschieden, sein Leben nicht als Farmer zu verbringen. Kurze Zeit später verliebte er sich in eine zurückhaltende junge Frau namens Viola Louise Engel.
Stephen Armstrongs Familie lebte bereits seit mehr als einem Jahrhundert in Amerika, als Violas in Deutschland geborener Großvater, Friedrich Wilhelm Kötter, im Oktober 1864 im Hafen von Baltimore ankam. Seine Familie hatte einen Teil ihres Hofes in Westfalen verkauft, damit der achtzehnjährige Fritz nicht vom preußischen Militär eingezogen wurde und sich so die Überfahrt nach Amerika finanzieren konnte.
Dort kam Friedrich in den kleinen Ort New Knoxville, Ohio. Ein Bundesstaat, in dem über 200000 deutsche Auswanderer lebten, übte auf den Jungen natürlich eine gewisse Anziehungskraft aus. Anfang der 1870er-Jahre heiratete er, nachdem er gut dreißig Hektar Land erstanden hatte, eine Tochter deutscher Auswanderer, Maria Martha Katterheinrich. Das Paar amerikanisierte seinen Namen und nannte sich nun Katter. Es hatte sechs Söhne und eine Tochter, Caroline, die 1888 geboren wurde. Caroline heiratete den Metzger Martin Engel und brachte 1907 ihr einziges Kind Viola zur Welt. Violas Familie gehörte der Reformierten Kirche in St. Paul an, deren Lehren auf Martin Luthers Katechismus basierten. Die junge Viola wuchs sehr fromm auf und blieb es ihr Leben lang.
Martin Engel starb am 4. Mai 1909 an Tuberkulose. Einige Jahre später lernte Caroline den Farmer William Ernst Korspeter kennen, die beiden heirateten 1916.
Viola war ein schlankes, bescheidenes Mädchen mit sehr guten Noten, das seit dem achten Lebensjahr Klavier spielte und für seine Liebe zur Musik bekannt war. Diese Leidenschaft gab sie an ihren Sohn Neil weiter, neben Erfindungsreichtum, Organisationsfähigkeit und Durchhaltevermögen.
Eigentlich war es Violas höchstes Ziel, ihr Leben Jesus Christus zu widmen und Missionarin zu werden, doch das verhinderten ihre Eltern. Stattdessen arbeitete sie als Angestellte in einem Kaufhaus und verdiente zwanzig Cent pro Stunde. Zu der Zeit begann Viola sich mit Stephen Armstrong zu treffen, der gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Die beiden sprachen bei einem Jugendgruppentreffen der Reformierten Kirche von St. Paul zum ersten Mal miteinander, und das Feuer der jungen Liebe überdeckte die vielen Unterschiede zwischen ihnen – Unterschiede, die im Lauf der Jahre immer deutlicher zutage traten, bis Viola sich im hohen Alter schließlich insgeheim fragte, ob es eigentlich richtig gewesen war, einen so unreligiösen Mann zu heiraten.
Doch diese Frage stellte sich erst viele Jahre später. An Weihnachten 1928 tauschten Viola und Stephen Verlobungsringe aus, und am 8. Oktober 1929 heirateten sie. In den Flitterwochen fuhr das Paar ins 100 Kilometer entfernte Dayton – es war die erste gemeinsame Reise. Zwei Wochen später kam es zum Börsencrash an der Wall Street, und die Wirtschaftskrise begann.
Stephen holte Viola ins Bauernhaus an der River Road, wo sie seine Mutter bei der Hausarbeit unterstützte. Er selbst ging nach Columbus, um die Aufnahmeprüfung für den Staatsdienst abzulegen, und wurde im Februar 1930 der Assistent des Hauptrechnungsprüfers von Columbiana County. Daraufhin trafen die Armstrongs die nötigen Vorbereitungen, um die Farm zu verkaufen und Stephens Eltern in ein kleines Haus in St. Marys umzusiedeln. Mitte Mai 1930 legten Stephen und Viola, die mittlerweile im sechsten Monat schwanger war, die 370 Kilometer bis nach Lisbon nahe der Grenze zu Pennsylvania zurück. Sie waren »vor Begeisterung sprachlos« darüber, dass es in ihrer möblierten Zweizimmerwohnung elektrisches Licht und fließendes heißes und kaltes Wasser gab.
Zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, am 4. August, bereitete Viola im Bauernhaus ihrer Eltern alles für die Geburt vor. Stephen blieb in Lisbon. Am 5. August 1930 brachte sie einen kleinen Jungen zur Welt. Die Mundpartie ähnelte der seines Vaters, doch die Nase und die Augen waren ganz Violas. Das Paar nannte seinen Sohn Neil Alden. Viola mochte die Alliteration »Alden Armstrong« und auch den Bezug zu Alden aus Henry Wadsworth Longfellows Gedicht »The Courtship of Myles Standish«. Niemand in beiden Familien hatte je den Namen »Neil« getragen. Vielleicht wussten die beiden, dass »Neil« die schottische Form des gälischen Namens »Néall« war, was übersetzt »Wolke« hieß, oder dass er in seiner modernen Form »Sieger« bedeutete.
KAPITEL 2
Smallville
Zehn Tage nach der Entbindung stand Viola aus dem Bett auf, um sich um das Baby zu kümmern. Der Arzt erlaubte ihr nicht, zum Begräbnis ihres Schwiegervaters Willis zu fahren, aber da Stephen dort war, sorgte sie dafür, dass Neil von Reverend Burkett getauft wurde, dem Geistlichen, der die Armstrongs auch verheiratet hatte. Stephens Arbeit verlangte einen sofortigen Umzug nach Warren, Ohio, wo er einen leitenden Rechnungsprüfer unterstützen sollte. In den folgenden vierzehn Jahren zog die Familie Armstrong insgesamt sechzehn Mal um, eine Odyssee quer durch Ohio, die 1944 in Wapakoneta endete.
Neil stellte sich laut Viola als ruhiges Kind heraus, das zur Schüchternheit neigte. Sie las ihm ständig vor und weckte so die Liebe zu Büchern in ihm. Der Junge lernte extrem früh zu lesen, er entzifferte schon mit drei Jahren die Straßenschilder. Im ersten Jahr in der Grundschule in Warren las Neil über 100 Bücher. Obwohl er sein zweites Schuljahr auf der Gesamtschule in Moulton begann, es aber in St. Marys beendete, merkten die Lehrer, dass er Bücher las, die für Viertklässler gedacht waren. Sie stuften ihn in die dritte Klasse hoch, sodass er erst acht Jahre alt war, als er im folgenden Herbst in die vierte Klasse kam. Dennoch waren seine Noten sehr gut. Wo auch immer die Familie hinzog, Neil gewöhnte sich rasch ein und fand schnell neue Freunde. Seine dauerhaftesten Begleiter waren jedoch seine jüngeren Geschwister. Am 6. Juli 1933, als Neil fast drei war, kam June Louise zur Welt, am 22. Februar 1935 wurde Dean Alan geboren.
Obwohl auch June und Dean sich von ihren Eltern immer geliebt und wertgeschätzt fühlten, spürten sie, dass ihr älterer Bruder »Mutters Liebling« war. »Als bei den Großeltern draußen Kartoffeln gepflanzt werden mussten, war Neil nirgends zu finden. Er saß im Haus, in einer Ecke, und las ein Buch«, erinnerte sich June. »Er machte nie irgendetwas falsch. Er war Mr. Superbrav. Es lag einfach in seiner Natur.«
Neil »kümmerte sich um mich«, sagte June, soweit man das von älteren Brüdern verlangen konnte. Das Verhältnis zu seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Dean war schwieriger: »Ich kam Neil nie zu nahe. Dazu hätte er mich schon einladen müssen.« Obwohl die Brüder beim gleichen Pfadfinderstamm waren, errang Neil deutlich mehr Abzeichen und umgab sich hauptsächlich mit seinen älteren Freunden aus der Schule. Beide liebten Musik, aber Dean reizte zudem auch der sportliche Wettkampf, er spielte in der Schulbasketballmannschaft. Neil war »ganz aufs Lernen fokussiert«, wie seine Mutter, während Dean eher seinem Vater ähnelte und »gern Spaß hatte«.
Neils ungewöhnliche Kombination aus Lässigkeit, Zurückhaltung und Ehrlichkeit konnte undurchdringlich wirken. Doch das war er in den Augen seiner Mutter ganz und gar nicht: »Er hat eine gewisse Aufrichtigkeit an sich«, sagte Viola in einem Interview mit Dodie Hamblin, einer Reporterin der Zeitschrift Life, im Sommer 1969. »Er musste von etwas wirklich und ehrlich überzeugt sein, sonst hielt er sich heraus. Ich habe ihn wirklich nie ein böses Wort über jemanden sagen hören, nie.« Wenn es um seinen Vater ging, hielt sich Neil immer sehr bedeckt: »Die Arbeit meines Vaters sorgte dafür, dass er selten zu Hause war, daher habe ich ihn nie als jemanden wahrgenommen, der den Kindern nahesteht, und könnte nicht sagen, ob er sich einem von uns stärker verbunden fühlte als den anderen.« Auf die Frage, ob Neil und sein Vater ein enges Verhältnis gehabt hätten, antwortete June: »Nein …« Die Mutter nahm die Kinder in den Arm, der Vater nicht. »Neil ist vermutlich nie von ihm umarmt worden und hat ihn auch nicht umarmt.«
Neil konzentrierte sich schon zu Schulzeiten auf die Aspekte seines Lebens, die ihm im Alltag am wichtigsten waren – seine Freunde, seine Bücher und die Schule, die Pfadfinder, seine Nebenjobs und vor allem, wie wir sehen werden, seine Begeisterung für Flugzeuge und das Fliegen. Neil konnte völlig abwesend sein, wie June sich erinnerte: »Neil las als Kind viel, es war sein Zufluchtsort. Er floh nicht vor irgendetwas, sondern in etwas, in eine Welt der Fantasie. Als Kind fühlte er sich sicher genug, zu entfliehen, weil er wusste, dass er hinterher an einen positiven Ort zurückkehren würde.«
Für Neil Armstrong stand das ländliche Ohio für Geborgenheit, Sicherheit und vernünftige Wertvorstellungen. Als er die NASA 1971 verließ, strebte er eine Rückkehr in ein normales Leben an und kaufte sich eine kleine Farm in seinem Heimatstaat. »Ich habe beschlossen, meine Kinder in einem möglichst normalen Umfeld großzuziehen«, erklärte er da.
Armstrongs bodenständige Ansichten wurzelten in seiner Kindheit. In diesen Jahren ersann der Comicautor Jerry Siegel einen Helden namens Superman, der aus »Smallville« kam, einer Stadt mitten in den USA, die für »Truth, Justice and the American Way« (»Wahrheit, Gerechtigkeit und die amerikanische Lebensart«) einstand.
Armstrong lebte zwar nicht in Smallville, aber dafür in anderen Kleinstädten. Keine von ihnen hatte in den 1930er- und 1940er-Jahren deutlich mehr als 5000 Einwohner. In diesen echten Smallvilles entwickelten die jungen Leute – wenn sie die richtige Unterstützung durch ihre Familie und die Gemeinschaft erhielten – einen großen Ehrgeiz.
Diese Einstellung kennzeichnete nicht nur Neil Armstrong, sondern auch alle sieben ursprünglichen Mercury-Astronauten: Alan B. Shepard Jr. aus East Derry, New Hampshire, Virgil I. »Gus« Grissom aus Mitchell, Indiana, John H. Glenn Jr. aus New Concord, Ohio, Walter M. Schirra Jr. aus Oradell, New Jersey, L. Gordon Cooper Jr. aus Shawnee, Oklahoma, und Donald K. »Deke« Slayton aus Sparta, Wisconsin. M. Scott Carpenter war in Boulder, Colorado aufgewachsen, einer Stadt, die in seiner Jugend nur knapp über 10000 Einwohner zählte.
Diese »Ursprünglichen Sieben« hatten in ihren eigenen Augen »das gewisse Etwas«, eben weil sie so aufgewachsen waren. John Glenn, der erste Amerikaner in der Erdumlaufbahn, sagte: »In einer Kleinstadt groß zu werden gibt Kindern etwas Besonderes mit.« Die meiste Zeit des US-Raumfahrtprogramms über kamen mehr Astronauten aus Ohio als aus jedem anderen Bundesstaat. »Die kleinen Städte wie diejenigen, in denen ich aufgewachsen bin, erholten sich nach der Wirtschaftskrise nur langsam«, erinnerte sich Neil. »Wir litten keinen Mangel, aber es war nie viel Geld da. In dieser Hinsicht ging es uns nicht besser und nicht schlechter als Tausenden anderen Familien.« Für manche von Neils Kindheitsfreunden machte die Tatsache, dass sein Vater eine Stelle hatte, sie zu reichen Leuten.
Neil trat seinen ersten Job 1940 an, als er zehn Jahre alt war – und kaum mehr als dreißig Kilo wog. Für zehn Cent die Stunde mähte er den Rasen auf einem Friedhof. Später räumte er in einer Bäckerei Brote in die Regale und half dabei, pro Nacht über 1300 Donuts zu backen. Außerdem kratzte er den riesigen Donutteigmixer sauber: »Wahrscheinlich haben sie mich eingestellt, weil ich so klein war; ich konnte abends in die Teigbottiche klettern und sie sauber machen. Der größte Vorteil der Arbeit war, dass ich mich am Eis und an den selbst gemachten Pralinen bedienen durfte.«
In Wapakoneta, wo die Familie ab 1944 wohnte, arbeitete Neil in einem Lebensmittelladen und in einer Eisenwarenhandlung. Später übernahm er für vierzig Cent pro Stunde kleinere Aufgaben in einer Apotheke. Seine Eltern ließen ihn alle Einnahmen behalten, erwarteten aber, dass er einen beträchtlichen Teil davon fürs College sparte. Von den 294 Astronauten, die zwischen 1959 und 2003 ausgewählt wurden, waren über 200 bei den Pfadfindern aktiv gewesen, darunter auch 21 Frauen. Vierzig der Männer, die Astronauten wurden, hatten den höchsten Rang (»Eagle«) erreicht. Von den zwölf Männern, die auf den Mond flogen, waren elf Pfadfinder gewesen, darunter auch Neil und sein Apollo-11-Kamerad Buzz Aldrin.
Als die Familie 1941 nach Upper Sandusky zog, eine Stadt mit rund 3000 Einwohnern, gab es dort noch keinen Pfadfinderstamm. Das änderte sich nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 – ein Ereignis, von dem Neil über das Radio erfuhr, weil sein Vater ihn deswegen vom Hof hineinrief, wo er gespielt hatte. Am folgenden Tag, als der Kongress den Krieg erklärte, stellten sich die amerikanischen Pfadfinder ganz in den Dienst des Landes. Neil erinnerte sich, dass die Nachrichten des Krieges »uns die ganze Zeit umgaben, in der Zeitung, im Radio. Und natürlich gab es eine ganze Reihe von Sternen in den Fenstern der Familien, deren Söhne in den Kampf gezogen waren.« Ein neuer Pfadfinderstamm entstand, die Nummer 25 in Ohio, er traf sich einmal im Monat unter der Leitung eines Reverends. Neils Gruppe nannte sich die »Wolfspatrouille« und wählte Bud Blackford zum Anführer, Kotcho Solacoff zum stellvertretenden Anführer und Neil zum Schriftführer.
Der Stamm Nr. 25 und die Wolfspatrouille gingen, so Neils Worte, »ganz im Kriegsgeschehen auf«. Eine Aufgabe der Pfadfinder, die ganz nach Neils Geschmack war, war die Flugzeugerkennung. Er und seine Freunde fertigten Modelle an, die ihr Pfadfinderleiter an die militärischen und zivilen Verteidigungsbehörden schickte, damit die Experten besser zwischen verbündeten und feindlichen Flugzeugen unterscheiden konnten. Als der Reverend wegzog, übernahm Ed Naus, »ein weniger strenger Zuchtmeister«, das Kommando, unterstützt von Neils Vater. Zwischen Neil, Bud und Kotcho entstand eine dieser unauslöschlichen Jugendfreundschaften, die auf gutmütiger Rivalität beruhen. Kotcho erinnert sich an einen Streich im Chemielabor: »Ich sagte: ›Hier, Neil, probier ein bisschen C12H22O11.‹ Zu meiner Überraschung und meinem großen Schrecken nahm Neil eine Prise und steckte sie sich in den Mund. Ich schrie: ›Spuck es aus, das ist Gift!‹ Neil meinte: ›C12H22O11 ist Zucker.‹ Ich sagte: ›Ich weiß, aber mir war nicht klar, dass du es auch weißt.‹ Das war das letzte Mal, dass ich davon ausging, etwas zu wissen, das er nicht wusste.«
Über die Jahre ist Wapakoneta immer wieder als Neils Heimatstadt bezeichnet worden, aber es waren die drei Jahre in Upper Sandusky, an die Neil sich am liebsten zurückerinnerte. Doch so sehr die Familie diese Zeit zwischen 1941 und 1944 auch genoss, die Umstände zwangen sie zu einem letzten Umzug, dieses Mal nach »Wapak«. Der Hauptgrund dafür war laut Neil, dass sein Vater trotz seiner 36 Jahre »befürchtete, er könnte eingezogen werden«. Von Wapakoneta aus, das sich rund achtzig Kilometer nördlich von Upper Sandusky befand, hatte Stephen einen deutlich weiteren Arbeitsweg, aber, so erklärte Neil, »Mutter hatte ihre Familie ganz in der Nähe.« Wäre ihr Mann zum Militär einberufen worden, hätte sie dort genügend Unterstützung gehabt.
Die Armstrongs kauften ein großes, zweistöckiges Eckhaus in der West Benton Street mit der Hausnummer 601. Neil hatte wie immer keine Schwierigkeiten, sich einzuleben, und trat sofort dem Pfadfinderstamm 14 bei. Die Blume-Highschool lag nur sechs Blocks von seinem Haus entfernt. Seine Zeugnisse zeigen, dass seine besten Fächer stets Mathe, Naturwissenschaften und Englisch waren.
Da Neil immer schon musikalisch veranlagt war, trat er dem Schulorchester, dem Glee-Club und der Band bei. Trotz seiner geringen Körpergröße spielte er eines der größten Instrumente, das Baritonhorn, weil er dessen besonderen Klang mochte (was nicht allen so ging). Wenn Neil und sein Horn hin und wieder einmal an einem Freitag- oder Samstagabend in einer Ragtime-Combo auftraten, verdienten er und seine jugendlichen Musikerkameraden, die sich die »Mississippi Moonshiners« nannten, höchstens fünf Dollar, die sie sich dann noch teilen mussten.
In der Highschool schloss Neil sich der Schülerorganisation Hi-Y, der Jahrbuchredaktion und der Theatergruppe an. Im elften und zwölften Schuljahr war er Mitglied des Schülerrates und im letzten Schuljahr stellvertretender Schülersprecher. Seine Schulfreunde haben Neil als nicht schüchtern, aber ruhig in Erinnerung. Er traf sich nur sehr selten mit Mädchen, besuchte aber den Abschlussball. Zu diesem Anlass lieh ihm sein Vater das brandneue Oldsmobile der Familie. »Wir fuhren zusammen mit Dudley Schuler und seiner Freundin Patty Cole zum Ball«, erinnert sich Alma Lou Shaw Kuffner, Neils Ballpartnerin. »Leider schlief Neil auf dem Rückweg aus Indian Lake, so gegen drei Uhr, am Steuer ein und fuhr in einen Graben. Ein Mann, der auf dem Weg zur Arbeit in Lima war, musste uns herausziehen. Am nächsten Morgen sah Neils Vater, dass die ganze Seite des Wagens zerkratzt war.«
In jenem Mai 1946 machte Neil, der immer noch erst sechzehn Jahre alt war, seinen Abschluss an der Blume-Highschool, als elftbester seiner 78 Jahrgangskameraden. Neben seinem Foto im Jahrbuch 1946/47 stand der Spruch: »Er denkt, er handelt, schon ist’s getan.« Seine späteren Erfolge im Umgang mit beweglichen Gefährten aller Art machten irgendwann auch die unrühmliche Aktion mit dem Oldsmobile seines Vaters vergessen.