Zum Buch
In einem großen, wortgewaltigen Werk erzählt der französische Philosoph Michel Onfray die 2000 Jahre alte Geschichte der jüdisch-christlichen Kultur, und er prophezeit ihren unaufhaltsamen Untergang. Onfray schildert ihren Aufstieg und ihre Blüte, dann die allmähliche Infragestellung des christlichen Weltbildes seit Renaissance und Aufklärung und schließlich den Verfall in unseren Tagen, der einhergehe mit Nihilismus und Fanatismus, wie wir sie in unseren Gesellschaften erlebten. Den Angriffen mörderischer Ideologien wie der des radikalen Islamismus setze die liberale westliche Welt nichts entgegen. Und obgleich bekennender Atheist, erkennt Onfray die große Leistung der bedrohten jüdisch-christlichen Kultur: den Respekt für das menschliche Individuum.
Zum Autor
Der Philosoph Michel Onfray, geboren 1959 in Argentan/Frankreich, gründete 2002 in Caen die »Université Populaire«, eine Art Volksuniversität, zu der jedermann Zutritt hat. Jährlich besuchen Tausende Zuhörer seine Vorlesungen. Mit seiner Absage an alle Religionen und dem Plädoyer für ein freies, vernunftbestimmtes Leben entfachte er eine leidenschaftlich und kontrovers geführte Debatte. Er verfasste mehr als 50 Bücher, die in über 25 Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt erschienen von ihm bei Knaus Im Namen der Freiheit – Leben und Philosophie des Albert Camus und Anti Freud.
Michel Onfray
NIEDERGANG
Aufstieg und Fall
der abendländischen Kultur –
von Jesus bis Bin Laden
Aus dem Französischen von
Stephanie Singh und Enrico Heinemann
Knaus
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Décadence. Vie et mort du judéo-christianisme
bei Flammarion, Paris.
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Copyright © 2017 Michel Onfray
Copyright © 2018 der deutschsprachigen Übersetzung
Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Margret Trebbe-Plath
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,
nach einem Entwurf von FAVORITBUERO, München
Umschlagabbildung: © Benjamin West,
Zerstörung des Tieres und des Falschen Propheten
(Destruction of the Beast and the False Prophet) (Detail),
1804, Öl/Holz, Minneapolis Institute of Arts, MN, USA /
The William Hood Dunwoody Fund / Bridgeman Images
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-22450-9
V002
www.knaus-verlag.de
»Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer grossartig verächtlichen Geldwirthschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchtthürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei, die jetzige Kunst und Wissenschaft mit einbegriffen.«
FRIEDRICH NIETZSCHE,
Unzeitgemäße Betrachtungen, III. § 4
Inhalt
VORWORT: Metaphysik der Ruinen – Selbst der Tod stirbt
EINLEITUNG: Kraft und Niedergang – Im Echo eines zusammenstürzenden Sterns
ERSTER TEIL – ZEIT DER VITALITÄT
1. GEBURT – Die Fertigung einer Kultur
1. Von den Abenteuern des Nichtkörpers Christi – Die Biographie einer Fiktion
2. Theorie der »Beschneidung der Herzen« – Die Nachkommenschaft der Missgeburt Gottes
3. Ein jüdischer Fausthieb ins Gesicht Christi – Die Geburt des christlichen Antisemitismus
4. Die Erfindung des verstümmelten Körpers – Eine Neurose breitet sich aus
5. Von der Sekte zur Religion – Als das Lamm die Wölfin fraß
2. WACHSTUM – Die Kraft des Glaubens
1. Das Diesseits des Himmelreichs – Parusie, Cäsaropapismus und das Ende der Geschichte
2. Gequälte Körper, gequälte Seelen – Der totalitäre christliche Staat
3. Das bedrohte Paradies – Erstes islamisches Intermezzo
4. Eine Ästhetik der Propaganda – Die Politik der christlichen Kunst
5. Der Leib Christi im Bauch einer Ratte – Scholastik und Dialektik auf Abwegen
3. MACHT – Die gewalttätige Religion
1. Der gerechte Krieg ist auch nur ein Krieg – Die Kreuzzüge als »exquisite Erfindung«
2. Die Kraft des Gesetzes – Inquisition und Schreckensherrschaft
3. Schweine vor Gericht – Die Prozesse zur Auslöschung des Animalischen im Menschen
4. Phänomenologie des Hexenbesens – Zur Kritik der frauenfeindlichen Vernunft
5. Glück und Unglück der Sarazenen – Zweites muslimisches Zwischenspiel
ZWEITER TEIL – ZEIT DER ERSCHÖPFUNG
1. ENTARTUNG – Die rationale Dekonstruktion
1. Päpste, Antipäpste und Gegenpäpste – Der christliche Fisch stinkt vom Kopf her
2. Die Architektur der antiken Ruinen – Bücher gegen das Buch der Bücher
3. Friss deinen Nächsten wie dich selbst – Wie man Kannibalen ausnutzt
4. Die List der hugenottischen Vernunft – Von der Entsakralisierung des Souveräns
5. Göttliche Seismologie in Lissabon – Die Philosophie des Erdbebens
2. VERGREISUNG – Ressentiment als Prinzip
1. Die Ressentiment-Maschine – Die Revolution frisst ihre Kinder
2. Das Prinzip der Auslöschung – Die Erfindung des Totalitarismus
3. Der transzendentale Sozialismus – Die marxistisch-leninistische Parusie
4. Die konterrevolutionäre Revolution – Faschismus als christliche Reaktion
5. Theorie der Gaskammer – Die Ruinen des Westens
3. VERFALL – Der europäische Nihilismus
1. Die Leidenschaft der Zerstörung – Eine nihilistische Ästhetik
2. Christliche Entchristianisierung – Der immanente Paraklet des Zweiten Vatikanischen Konzils
3. Die Metaphysik des Mai 68 – Der Königsweg des Konsumismus
4. Die Geschichte nach dem Ende der Geschichte – Drittes muslimisches Zwischenspiel
5. Die Entstehung des kleinen Kriegs – Vorletztes muslimisches Zwischenspiel
SCHLUSS: Die entterritorialisierte Macht –
Der Weg in eine globale Kultur
CHRONOLOGIE
BIBLIOGRAPHIE
PERSONEN- UND WERKREGISTER
SACHREGISTER
VORWORT
Metaphysik der Ruinen – Selbst der Tod stirbt
Karthago (Tunis)
Freitag, 29. April 2016, am späten Vormittag
Der Himmel ist schwarz. Wie unter der Aschewolke eines Vulkans, aus der kaltes Licht hervorbricht, liegt eine halb zerstörte Stadt. Sie erstreckt sich entlang eines Strandes, von dem sich das Wasser zurückgezogen hat. Neben einem auf Grund gelaufenen Schiff meditiert ein Bischof mit Mütze und Krummstab. Das Gemälde dieser Szene, das mit Monsù Desiderio signiert ist, kommt mit einer nüchternen Farbpalette aus: Teerschwarz für die Nacht und Goldbraun für eine kalte Sonne. Die Stadt muss einst prächtig und glanzvoll gewesen sein: Ihre Ruinen künden von Erhabenheit, Größe und Macht. Eine gewaltige Säule, eine Rotunde auf einem massiven Bogen, ein kunstvoll verzierter Campanile und imposante mehrstöckige Bauten – doch überall Zerstörung, Verfall und Einsturzgefahr, ohne dass deutlich wird, was geschehen ist. Ein Krieg? Solche Verwüstungen können nur mit den militärischen Mitteln heutiger Zeit angerichtet werden. Sollte eine Pestepidemie die Menschen aus der Stadt vertrieben und den Elementen Zeit gegeben haben, ihr Zerstörungswerk zu verrichten? Möglich. Hat ein Erdbeben das Meer zurückgedrängt und das Schiff auf den Strand befördert? Eher wahrscheinlich.
Das Gemälde mit dem Titel Legende des heiligen Augustinus. Ruinen und gescheiterte Einschiffung wurde im 17. Jahrhundert von den beiden Franzosen Didier Barra und François de Nomé geschaffen, die in Neapel lebten. Ein zweites, ähnliches Gemälde ohne gestrandetes Schiff zeigt ein aufgewühltes blaues Meer, aus dem Ruinen auftauchen: Der heilige Augustinus. Imaginäre Ruinen am Ufer des Meeres. Während das erste in der National Gallery in London hängt, befindet sich das zweite in Privatbesitz. Ihren Titel verdanken die Bilder dem Kunstkritiker Félix Sluys, der beiden Malern eine Monographie widmete. Über die Künstler selbst ist wenig bekannt.
Auch wenn Mitra und Krummstab die Attribute des Bischofs sind, so doch nicht des heiligen Augustinus, der sich gleichwohl häufig am Meer aufgehalten haben muss: in Karthago, wo er lehrte, und während seines gesamten Lebens, da er in 30 Jahren 33 Mal ans Meer reiste; in Roms Hafen Ostia, wo er ein Verkündungserlebnis hatte und wo seine Mutter starb, sowie in Hippo, wo er als Priester wirkte und zum Bischof berufen wurde. In Hippo war es dann auch, dass ihm, als er Betrachtungen über das Mysterium der Dreifaltigkeit anstellte, ein Kind erschienen sein soll, das am Strand ein Loch ausgehoben hatte und versuchte, mit einer Muschelschale das Wasser des Meeres hineinzuschöpfen. Augustinus erklärte sein Vorhaben für vergebens. Das Kind, in Wahrheit ein Engel, erwiderte ihm, ehe er, der Philosoph Augustinus, das Mysterium der Dreifaltigkeit ergründen könne, werde es, das Kind, das ganze Meer in sein Loch umgefüllt haben.
Mitra und Krummstab sprechen dafür, dass es sich bei der gemalten Stadt um Hippo handelt, zu deren Bischof Augustinus schon 396 berufen worden war. Diese Funktion sollte er bis zu seinem Tod am 28. August 430 bekleiden. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Stadt seit Wochen von 12 000 Vandalen belagert, angeführt von König Geiserich, dem sich Alanen und Goten angeschlossen hatten. Doch die Barbaren waren arianische Christen. Sie glaubten, dass Gott göttlich und sein Sohn menschlich, aber zur Hälfte göttlich sei. Augustinus sah noch die immensen Schäden, die die Barbaren angerichtet hatten: Sie hatten zwei Bischöfe zu Tode gefoltert, ganze Städte zerstört, Anwesen auf dem Land dem Erdboden gleichgemacht und die Besitzer niedergemetzelt. Sie vergewaltigten geweihte Jungfrauen; verboten den katholischen Kult; plünderten Kirchen und brannten sie nieder. Sie taten, was Christen überall dort taten, wo sie an die Macht gelangt waren, nachdem Kaiser Konstantin das Römische Reich zum Christentum bekehrt hatte.
Die mit Monsù Desiderio signierten Gemälde können also durchaus den heiligen Augustinus am Meer darstellen, sehr wahrscheinlich in Hippo, dem heutigen Annaba in Algerien. Aber wichtiger als diese historische Spur ist die gleichnishafte, metaphorische und philosophische: Das einstmals Große ist dazu bestimmt, zu Staub zu zerfallen, ob Mensch oder Zivilisation. Mochte er auch ein berühmter Kirchenvater, großer Kirchenlehrer, angesehener Theologe, christlicher Philosoph und Heiliger gewesen sein: Augustinus war ein kranker Mann, ein Todeskandidat, ja eine lebende Leiche.
So kündet die verewigte Stadt von der Größe der Zivilisation, für die sie steht: vom imperialen Rom mit seinen heidnischen Cäsaren, stoischen Philosophen und majestätischen Bauten; vom Genie seiner Ingenieure und Architekten, von militärischen Siegen, dem immanenten Denken, vom Rom Vergils und Ciceros, der epikureischen Denker oder der Elegiker Kampaniens. Augustinus bleibt unbeeindruckt. Man kann sich sogar vorstellen, was ihm an diesem Strand ohne Meer durch den Kopf gegangen sein mag: »Alles, was erzählt wurde, ist schrecklich«, so hat er geschrieben. »Die Trümmer, die Feuersbrünste, die Plünderungen, die Morde und die barbarischen Taten. All dies ist wahr. Wir haben gejammert, ohne Trost zu finden, geweint. Ich leugne es also nicht, stimme zu, diese Geschichte ist traurig, und die Stadt hat grausam gelitten […] Ihr wundert euch, dass die Welt untergeht, als würdet ihr euch darüber empören, dass sie älter wird! Die Welt ist wie der Mensch. Er wird geboren, wächst heran und stirbt … Stoßt euch nicht daran, wenn ihr die Gerechten leiden seht! Ihre Leiden sind Prüfung, nicht Verdammnis.« (Sermo 81,8)
Und dann: »Denn die Ungleichheit der Leidenden bleibt auch bei Gleichheit der Leiden bestehen, und wenn auch der gleichen Marter unterworfen, ist Tugend und Laster doch nicht das gleiche […] Daher die Erscheinung, dass in der gleichen Heimsuchung die Bösen Gott verwünschen und lästern, die Guten ihn anrufen und preisen. So sehr kommt es darauf an, nicht welcher Art die Leiden, sondern welcher Art die Dulder sind.« (Vom Gottesstaat, 1,8) In einer bedeutenden theokratischen Tradition sah Augustinus in der Geschichte die göttliche Hand walten: Wenn Gott das Ende des Römerreichs wollte, hatte er gute Gründe dafür. Wenn Rom untergehen sollte, würde es untergehen, wie einst das punische Karthago unter dem Schwert und dem ausgestreuten Salz der Römer unterging.
Was Augustinus allerdings nicht wusste: Der Zusammenbruch der römischen Zivilisation, der er am Meer in Hippo beiwohnte, ermöglichte den Aufstieg der jüdisch-christlichen Kultur, zu deren bedeutendsten Denkern er zählen würde. Vor ihm war die Stadt phönizisch, punisch, numidisch und römisch gewesen. Unter seinem Mandat wurde sie christlich, später vandalisch, byzantinisch und schließlich muslimisch – was sie bis heute ist. Weil das römische Hippo unterging, konnte das christliche erblühen. So wie Augustinus, der in der Übergangszeit dieser beiden Welten lebte, leben auch wir, Sie und ich, in einer Übergangszeit: in der zwischen dem Ende des Judäo-Christentums und dem Anfang von dem, was sich bislang erst unscharf abzeichnet.
Ich streife durch die Ruinen Karthagos, in denen zahlreiche Synoden der Urkirche stattfanden, und blicke auf ein Mittelmeer und in einen Himmel, die noch dieselben sind wie zu Augustinus’ Zeiten. Noch immer wärmt dieselbe Sonne die Seele. Aber alles hat sich verändert und wird sich weiter verändern.
Hinter Monsù Desiderio stehen Maler der Vanitas und der Historie, was ein und dasselbe ist: Der Turm zu Babel als Symbol, dass jedes Bauwerk noch vor seiner Vollendung dem Untergang geweiht ist; imaginäre Ruinen, das ausgehöhlte Gemäuer, der am Boden liegende Schutt; der umgestürzte Schaft einer Säule, der zerbrochene Bogen, die eingestürzte Kuppel und die zersprengte Kirche – all dies sagt dem Betrachter leise das, was einst der Staatssklave dem römischen Kaiser am Krönungstag auf dem Triumphwagen von hinten ins Ohr geflüstert haben soll: Memento mori, »Bedenke, dass auch du sterben musst.«
Blickt man von einem Aussichtspunkt auf die Ruinen von Karthago herab, befällt einen die jähe Erkenntnis, dass der Untergang das Gesetz alles Seienden ist: für den unscheinbarsten Menschen wie für die glanzvollste Zivilisation. Das Christentum hinterließ Ruinen auf seinem Siegeszug, bis sich schließlich in ihm selbst Risse auftaten und es ebenso verfiel wie Stonehenge, Karnak, Babylon, die Cheops-Pyramide, Palmyra, Leptis Magna, Athen oder Rom. Augustinus blickte auf die Ruinen Roms und sollte am Aufbau einer poströmischen Zeit mitwirken, doch auch sein christliches Werk würde dem Verfall anheimfallen wie die Ruinen, welche die Vandalen und ihre Verbündeten hinterlassen hatten. Vergangenes geht unter und schafft Platz für Kommendes, das dann ebenfalls untergeht.
Die Geschichte des Christentums ist voll von Ruinen; man stößt überall dort auf sie, wo man seiner Spur folgt: Ruinen heidnischer Tempel, abgerissen und als Steinbruch zweckentfremdet, ausgeplündert von den ersten Christen, nachdem Kaiser Konstantin ihren sektiererischen Glauben zur Staatsreligion erhoben hatte. Man denke nur an den Konstantinsbogen in Rom, der dem Sieg des christlichen Kaisers über Maxentius an der Milvischen Brücke und dessen erster zehn Herrschaftsjahre gedenkt. Beutegut aus heidnischen Tempeln wurde auch in der ersten christlichen Basilika in Rom und in den Monumenten Konstantinopels verbaut. Das Christentum recycelte das Heidentum in seiner Architektur wie in seinen Legenden.
In der Renaissance tauchten die antiken Ruinen dann wieder auf: Steine mit Inschriften ragten aus dem Boden; Gräber öffneten sich und gaben Schätze preis; Säulenschäfte, Gebälk, Triglyphen und Metopen kamen in brauner Erde zum Vorschein. War über tausend Jahre lang die Wahrheit angeblich in der Bibel niedergelegt gewesen, die den Horizont jeder Ontologie, Philosophie, Wissenschaft, Metaphysik, Geschichte, Politik, Astronomie, Geologie und Moral gebildet hatte, so wurde mit diesen Funden die Archäologie geboren, die eine Geschichtsschreibung der Völker ohne die Heilige Schrift – und damit der Völker – ermöglichte.
Die Überreste dieser untergegangenen Welt erwiesen sich als Schatz: Von der Bibel befreit, ließen sich nun Antworten auf ihre Fragen in Inschriften und Texten zeitgenössischer Autoren aus dieser Welt suchen, die der Boden wieder hergab wie die von Lukrez, der als geistiger und spiritueller Hebel bei der Entstehung einer neuen Welt fungierte. Die antiken Ruinen ruinierten das christliche Weltbild. Antiquitätenhändler beförderten Neues auf den Markt, welches das Christentum ins Reich des Veralteten verwies. Die zu neuem Leben erwachten römischen Überreste bereiteten dem christlichen Leben nach und nach den Untergang.
Risse gefährdeten die christliche Bausubstanz. Explosion in einer Kirche, ebenfalls mit Monsù Desiderio signiert, stellt metaphorisch die Zerstörung eines Gotteshauses durch die heidnische Renaissance und einen Protestantismus dar, der sich im Bildersturm gegen das heidnische Erbe im Christentum ergeht. Während die rechte Hausseite einstürzt, zerschlagen auf der linken Plünderer als Götzen geltende Statuen. Das Gemälde dokumentiert einen bestimmten Aspekt des Zusammenbruchs des Christentums, wohl aus Sicht der katholischen, barocken Gegenreformation: Eine Welt ist ins Rutschen geraten und wird nun mehr mit sich fortreißen, als man zunächst geglaubt hat.
Im Jahrhundert darauf, am 14. Juli 1789, wurde die Bastille gestürmt, ausgeplündert und abgerissen. Der Jakobiner und Bauunternehmer Pierre-François Palloy, der für den Abbruch 800 Arbeiter beschäftigt hatte, verkaufte die Trümmerteile: als steinerne Fingerringe oder Anhänger, wie Mme de Genlis einen trug, der aus dem Bruchstück eines Sockels aus der Bastille angefertigt und mit der Inschrift »Liberté« aus Diamanten versehen war! Die Ketten des Gefängnisses wurden zu patriotischen Medaillons umgearbeitet. Die Holztäfelungen, Schmiedeeisen und Steine fanden ebenfalls Verwertung; manches diente als Baumaterial für die Brücke Pont de la Concorde. Noch lukrativere Geschäfte betrieb Palloy mit den Modellen, die er von dem zerstörten Gefängnis anfertigen ließ und in die Département-Hauptstädte verkaufte. Den Tod Ludwigs XVI. beging er alljährlich mit einem Festschmaus, bei dem man gefüllten Schweinskopf verzehrte. Palloy trug den Beinamen »Der Patriot«. Unter der Restauration zum Royalisten bekehrt, empfing er 1814 aus den Händen des späteren Karl X. den Ordre de Lys. Sic transit …
Der Künstler Hubert Robert, Exponent der Ruinen-Malerei, hat diese Zerstörung in seinem Gemälde Die Bastille in den ersten Tagen ihres Abbruchs eingefangen, das er 1789 im Salon de Paris ausstellte. Mit antiklerikaler Häme verewigte der mondäne und hedonistische Freimaurer auch die Zertrümmerung religiöser Bauten, so in Abbruch der Kirche Saint-Jean-en-Grève oder in Die Abtei von Longchamp. Was ihn jedoch nicht davor bewahrte, während der Schreckensherrschaft für neun Monate im Kerker zu sitzen. Seine Gefangenschaft hielt er malerisch auf Speisetellern fest und stieg, wieder in Freiheit nach dem Thermidor, zum Konservator des Louvre-Museums auf. Unverbesserlich, stellte er 1796 sein Gemälde Imaginäre Ansicht der zerfallenen Großen Galerie des Louvre fertig.
Niemand leugnet den Vandalismus während der Französischen Revolution: Neben der Bastille wurden zahlreiche Adelsschlösser, Burgen und Festungen geplündert; Kirchen mit ihren Skulpturen, Fenstern und Gemälden zertrümmert; Reliquienschreine eingeschmolzen und Symbole der Monarchie zuhauf vernichtet. Aus Bruchstücken königlicher Sarkophage errichteten die Revolutionäre zu Ehren Marats eine Pyramide. Das Pantheon, einst als Abteikirche geplant, diente nach deren Vollendung als weltliche Gedenkstätte, während andere Kirchen zu Tempeln der Vernunft umdeklariert wurden. Die großen und megaloman geplanten revolutionären Bauten Lequeus, Boullées und Ledoux’ blieben – wie die Freiheit für alle – dagegen reine Utopie.
Heidnische Ruinen, römische Ruinen, revolutionäre Ruinen: Ruinen pflastern die Geschichte des jüdisch-christlichen Abendlandes. Wo eine Kultur an Kraft verliert, bleiben massenhaft Ruinen zurück. Die beiden Weltkriege stehen für die Hochzeiten des Nihilismus. Sie verwüsteten Europa und vernichteten neben Menschenleben zahlreiche Städte und Dörfer. So wurde Reims vom 3. September 1914 bis zum 5. Oktober 1918 immer wieder von den Deutschen bombardiert. Von 14 000 Gebäuden überstanden ganze 2000 das Massaker. 350 Granaten wurden auf die Kathedrale abgefeuert. Nach einem Brand lagen das Hauptschiff und der Chor in Trümmern. 1939 bis 1945 brachten Niederlage und Befreiung umfangreiche Zerstörungen mit sich. Nach der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 wurde die Normandie verwüstet, die an Baudenkmälern aus dem Mittelalter und der Renaissance am reichsten war. Caen wurde 65 Tage lang ununterbrochen bombardiert.
Am 10. Juni 1944 ermordete die SS-Panzerdivision »Das Reich« in Oradour-sur-Glane 642 Dorfbewohner, die sie auf dem Hauptplatz zusammengetrieben hatte. Kinder, Frauen, Greise und auf den Feldern aufgegriffene Männer wurden in die Kirche gesperrt, in deren Flammen sie dann umkamen. Fünf Menschen starben im Ofen des Bäckers. In Brunnen tauchten Leichen auf. Mit seinen ausgebrannten Wagen, verkohlten Häusern, der geschmolzenen Kirchenglocke und den Gleisen der Straßenbahn wurde das Dorf zur Gedenkstätte – eine sorgsam gepflegte Ruine zur Erinnerung daran, dass Menschen diese Zivilisation auslöschen wollten.
Neben den Ruinen des Krieges blieben auch die des totalitären Regimes zurück, das den Untergang des Dorfes herbeigeführt hatte. Hitler, der in jungen Jahren Architekt hatte werden wollen und der dann die wohl größte Architekturvernichtung der Geschichte betrieb, beauftragte Albert Speer, die Bauten für sein angestrebtes tausendjähriges Reich so zu konzipieren, dass ihre Ruinen in Tausenden von Jahren denjenigen Roms ähneln würden: der NS-Diktator als neuzeitlicher Nero! Das Projekt einer nationalsozialistischen Zivilisation währte als Barbarei vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 – das tausendjährige Reich hatte ganze zwölf Jahre Bestand – zwölf Jahre unbeschreiblicher Massenmorde.
Zwischen der Landung der Alliierten und dem Einmarsch der Befreiungstruppen in Berlin blieb den Nazis noch Zeit, zahlreiche Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen: In den Vernichtungslagern flogen die Gaskammern und Krematorien in die Luft und wurden so zu den Ruinen, in denen später Claude Lanzmann sein Meisterwerk Shoah drehen sollte. Derweil legten Bomber deutsche Städte in Schutt und Asche. Zwischen dem 13. und 15. Februar 1945, wenige Tage nach der Konferenz von Jalta, tilgten sie Dresden gleichsam von der Landkarte, gerade so, als müssten die Amerikaner und die Briten Stalin ihre Entschlossenheit demonstrieren. Bei drei Angriffen warfen 1300 Bomber rund 7000 Tonnen Bomben ab. Geschätzte 25 000 Menschen kamen in den Feuerstürmen und unter den Trümmern ums Leben.
Ruinen hinterließ auch die einstige UdSSR: in Stalingrad natürlich, der Märtyrerstadt, aber auch in vielen anderen Orten dieses Staates, der die Hauptlast des Zweiten Weltkriegs zu tragen hatte. Nach der deutschen Kapitulation verwendete die Sowjetunion den Großteil ihrer Kraft darauf, einem totalitären Regime den letzten Schliff zu geben: mit dem Bau des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer sowie einem gewaltigen Programm zur Errichtung Tausender von Arbeitslager im ganzen Land. Wie das Dritte Reich, das sich den Aufbau einer neuen Zivilisation auf die Fahnen geschrieben hatte, ging auch der bolschewistische Staat unter: Die Trümmer des Gulag liegen heute unter Gestrüpp oder Schnee verborgen, bisweilen unsichtbar für ahnungslose Besucher.
Die Berliner Mauer wurde abgetragen, aber ihr Beton so wiederverwertet, wie es einst mit den Steinen der Bastille durch den jakobinischen Citoyen geschehen war. Volker Pawlowski, ein ehemaliger Bauarbeiter der DDR, sicherte sich Reste aus dem Abbruch und verkauft sie seither einzeln oder en gros in Berliner Souvenirshops. Manche lässt er wieder bemalen oder, je nach Nachfrage, neu zurechtbrechen. Kleine Bruchstücke verkauft er in Kunststoffkapseln, eingelassen in Postkarten, zertifiziert mit einem selbst gefertigten DDR-Wappen. Ein großes Stück Mauer ging an die CIA, die es in ihren Neubau integrieren ließ. Von den 302 Wachtürmen der Mauer stehen heute noch fünf. Einer dient als Museum.
All diese europäischen, nationalsozialistischen und sowjetischen Ruinen schreiben die Liste der heidnischen, römischen und revolutionszeitlichen fort. Und die jüdisch-christliche Kultur kennt auch eine technologische Ruine: die des Atommeilers von Tschernobyl und der umliegenden Städte und Dörfer. Die Explosion, die sich dort 1986 ereignete, war weniger der Atomkraft selbst als vielmehr marxistisch-leninistischer Misswirtschaft geschuldet, der bürokratischen Erstarrung und einer Art Oblomowismus. Eine Stadt wurde verwüstet und weite Teile Europas radioaktiv verseucht, was man heute vom Touristenbus aus besichtigen kann … Diese Ruine könnte zu einem Vorläufer einer letzten Ruine werden: die der Zivilisation am Ende aller Zivilisationen, auf die wir uns als Menschheit naiv und verantwortungslos zuzubewegen scheinen.
Unser jüdisch-christliches Europa wird schon jetzt, am Ende seines Weges, von einer Ruine symbolisiert, die zu den am meisten besichtigten Bauwerken des Kontinents zählt: der Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona, die der vitalistische Architekt Antoni Gaudí im 19. Jahrhundert – genau genommen 1883 – konzipierte, zu der Zeit, als Nietzsche Also sprach Zarathustra veröffentlichte! Die Krypta und die Geburtsfassade erhielten 2005 den Titel des UNESCO-Welterbes, und am 7. November 2010 wurde die Kirche von Papst Benedikt XVI. geweiht. Doch trotz der weltlichen und klerikalen Anerkennung ist die Sagrada Familia bis heute, nach 130 Jahren, noch immer nicht fertiggestellt – und ist damit gewissermaßen eine Ruine vor dem eigenen Untergang!
Bedenken wir, dass Wilhelm der Eroberer nur 18 Jahre (von 1065 bis 1083) benötigte, um die Bauarbeiten am Benediktinerkloster Saint-Étienne (das ich tausend Jahre später täglich von meinem Büro aus im Blick habe) und am Frauenkloster Sainte-Trinité in Caen – neben zahlreichen weiteren – abzuschließen. Und zwischen 1035 und 1066 hatte er im Herzogtum bereits etwa 20 Abteien fertigstellen lassen, und das mit den beschränkten Mitteln der Zeit.
Eine Kultur schöpft ihre Kraft stets aus der Religion, von der sie legitimiert wird. Ist die Religion im Aufstieg begriffen, erblüht auch die Kultur. Ist sie im Niedergang, verfällt auch die Kultur und geht am Ende sogar unter. Als Atheist nehme ich persönlich weder daran Anstoß noch freue ich mich darüber. Ich stelle es fest, wie ein Arzt eine Abschilferung, einen Knochenbruch, Infarkt oder Tumor diagnostiziert. Die jüdisch-christliche Kultur befindet sich im Endstadium ihres Niedergangs.
Nietzsches Verkündigung vom Tod Gottes im Europa des 19. Jahrhunderts läutete das Ende der jüdisch-christlichen Kultur ein. Was der Glaube zur Zeit Wilhelms des Eroberers auf den Baustellen der Kathedralen, Kirchen und Klöster zu leisten imstande war, schafft die ermattete Religiosität des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Die Baugerüste, welche die Sagrada Familia wie ein stützendes Korsett umschließen, symbolisieren den Zustand des heutigen Christentums: Es ist in eine seinsphilosophische Sackgasse geraten. In einer besonderen Ironie der Geschichte hat Papst Benedikt XVI. gleichsam den Ruin des Christentums geweiht.
Ebendieser Papst, der in Regensburg Theologie und Philosophie gelehrt hatte, zitierte an der dortigen Universität am Dienstag, den 12. September 2006, Manuel II. Palaiologos, um die Rolle der Gewalt im Islam zu erläutern. Erkannte er angesichts des weltweiten Proteststurms, den er damit auslöste, dass ihm nur noch der Rücktritt blieb? Jedenfalls gab er sein Amt am 28. Februar 2013 auf und zog sich – jetzt wieder als Joseph Aloisius Ratzinger – in die Stille und ins Gebet zurück … Die Sagrada Familia steht als Bauruine da, und der Papst, der sie geweiht hat, ist zurückgetreten. Rom ist nicht mehr in Rom.