DIE AUTORIN
Foto: © Privat
Ali Novak, geb. 1991, stammt aus Wisconsin und hat vor Kurzem ihr Creative-Writing-Studium an der University of Wisconsin-Madison abgeschlossen. Ihren ersten Roman, Ich und die Walter Boys, begann sie im Alter von 15 zu schreiben und stellte den Text 2010 als Selbstpublisher online. Inzwischen haben ihre Geschichten über 150 Millionen Leser. Wenn sie nicht gerade schreibt oder Fantasyromane liest, ist Ali gern auf Reisen oder veranstaltet Netflix-Marathons mit ihrem Mann Jared.
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Aus dem Englischen
von Michaela Link
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Deutsche Erstausgabe Juli 2018
© 2017 by Ali Novak
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Paper Hearts« bei Sourcebooks, Inc.
© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Michaela Link
Covergestaltung: buxdesign | Lisa Höfner, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (sivilla)
(LADO, Africastudio, kiuikson)
ml · Herstellung: ER
Satz: KompetenzCenter Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-22461-5
V003
www.cbj-verlag.de
Für Jared, den besten besten Freund aller besten Freunde,
seit es Freunde gibt, und – noch wichtiger –
die Liebe meines Lebens.
Danke, dass du bei jedem Schritt des Weges bei mir gewesen bist!
KAPITEL 1
Heute war der Geburtstag meiner Schwester. Ich habe gebetet, dass meine Mutter dieses Jahr durch irgendein Wunder nicht daran denken würde. Heute Morgen hatte sie auch tatsächlich nichts gesagt, während ich mir mein Müsli zubereitete – kein Wort darüber, dass wir uns Rose’ Lieblingsfilme anschauen oder bei Vine & Dine zu Abend essen sollten, worauf sie für gewöhnlich bestand –, und ich hatte das als ein Zeichen dafür gedeutet, dass meine Gebete erhört worden waren.
Das waren sie nicht.
Stattdessen stand, als ich von meiner gemeinnützigen Arbeit nach Hause kam, ein roter Cupcake auf dem Tisch und daneben eine Karte, die Rose nie lesen würde. Ich bin kein gläubiger Mensch, also war es nur logisch, dass meine Bitte von wem auch immer da oben ignoriert worden war. Trotzdem grummelte ich vor mich hin, als ich meinen Rucksack auf den nächstbesten Stuhl stellte.
Ich atmete tief durch. »MOM!«
Für einen Moment war es still, aber dann hörte ich in dem kleinen Schlafzimmer, das an die Küche angrenzt, eine Schublade zuknallen. Zwei Sekunden später ging die Tür auf.
»Hallo, Schätzchen!« Mom hatte sich ein Handtuch um ihr blondes Haar gewickelt, trug eine Gesichtsmaske und den Bademantel, den ich ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Mit Zehentrennern aus Schaumstoff an den Füßen kam sie in die Küche gehumpelt. Meine Augenbrauen gingen in die Höhe. Mom lackierte sich die Zehennägel nur, wenn sie ein Date mit ihrem Freund Dave hatte.
Okay, vielleicht ist das mit dem Geburtstag doch nicht so schlimm, wie ich dachte.
»Wie war es im Diner? Hast du viel Trinkgeld bekommen?«
»Mom, ich hatte meine Schicht für dieses Wochenende doch abgesagt. Das habe ich dir gestern schon erzählt.« Samstags und sonntags bekam ich am meisten Trinkgeld – sie musste also viel an Rose gedacht haben, wenn sie bei unserem Gespräch so völlig abgeschaltet hatte. Oder sie war von der Vorfreude auf ihre Verabredung mit Dave abgelenkt gewesen. Hoffentlich Letzteres. »Die Kinderkrebshilfe veranstaltet heute Abend einen großen Wohltätigkeits-Ball, das weißt du doch. Heute Morgen habe ich beim Aufbau geholfen.«
»Ich weiß nicht, warum du deine Zeit mit unbezahlter Arbeit verschwendest«, sagte sie. »Du brauchst Geld, kein gutes Karma.« Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, ein sicheres Zeichen dafür, dass ich ihrer Meinung nach einen schweren Fehler machte. Sie war immer sehr besorgt, wenn es um Geld ging. Ein entfernter Verwandter könnte ihr ein beträchtliches Vermögen vermachen, ja, sie könnte sogar im Lotto gewinnen und bliebe doch immer eine Pfennigfuchserin. Aber dafür machte ich ihr keinen Vorwurf. Dad hatte sie schließlich ohne einen Cent sitzen lassen, da war das irgendwie verständlich.
»Um ein Stipendium zu bekommen, muss ich in meiner College-Bewerbung gemeinnützige Arbeitsstunden vorweisen können«, entgegnete ich mit gepresster Stimme. Ich musste gezielt meine Kiefermuskeln entspannen, um nicht mit den Zähnen zu knirschen und Mom anzufahren. Wir hatten das schon tausend Mal durchgekaut, aber sie begriff immer noch nicht, dass diese jetzt geopferten Stunden sich später bezahlt machen würden.
Seit vier Jahren war es mein größter Wunsch, nach Harvard zu gehen. Aber Mom konnte schon unseren Haushalt nur mit knapper Not über Wasser halten. Also war klar, dass ich das Geld fürs College allein aufbringen musste. Das bedeutete, ich war auf Stipendien angewiesen – und zwar auf viele. Und was macht sich besser in einer Bewerbung als freiwillige Arbeit bei einer Wohltätigkeitsorganisation? Mom dachte, ich könnte mein Studium mit der Arbeit im Diner bezahlen, aber egal wie viele Schichten ich auch schob, es würden dabei nie die happigen 45 Riesen herumkommen, die ich jährlich für die Studiengebühren aufbringen müsste. Und dazu kam ja noch die Miete.
Immer wenn wir über Studiengebühren diskutierten, sprach Mom die Treuhandfonds an, die sie und mein Dad vor ihrer Trennung für uns eingerichtet hatten. Einen für Rose, einen für mich. Sie tat so, als würde mein Fonds all meine Probleme lösen, aber das Geld darin würde nur für ein einziges Semester reichen, nicht für die acht, die bis zum Abschluss erforderlich waren. Ich war wirklich nicht undankbar, aber da ich selbst dafür verantwortlich war, mein Studium zu finanzieren, musste ich das große Ganze im Auge behalten. Denn ich wollte keinesfalls den Rest meines Lebens auf einem Berg Studienschulden sitzen.
Du hast sie nicht gerufen, um mit ihr über Geld zu streiten, rief ich mir ins Gedächtnis. Das Studium – genauer gesagt dessen Finanzierung – war ein ständiger Streitpunkt zwischen uns, also war es nicht überraschend, dass ich mich hatte ablenken lassen.
»Aber ich denke trotzdem …«
»Was soll der Cupcake?«, fragte ich und wechselte damit das Thema.
»Felicity, nicht das schon wieder.« Mom verschränkte die Arme und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Die grüne Crememaske auf ihrem Gesicht gab ihrem Versuch, eine grimmige Miene aufzusetzen, etwas Lächerliches. Sie war nie gut darin gewesen, mich und Rose zu maßregeln. Nicht, dass ich eine strenge Hand gebraucht hätte. Ich war das, was sie das perfekte Kind nannte, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen und immer gehorsam. Rose war das genaue Gegenteil, ein rebellisches Kind, das wie Taz von den Looney Tunes durch einen Raum fegen und ein Chaos aus Spielzeug und Saftflecken hinterlassen konnte.
Als wir älter wurden, hatte sich daran nichts geändert. Ich hatte die Hausregeln befolgt, Rose dagegen hatte Mom mit frechen Widerworten einfach niedergewalzt. Sie war nachts aus dem Haus geschlichen, um im Auto ihres gerade aktuellen Freundes rumzuknutschen – und das auch noch mitten in der Woche.
»Nur weil du dich weigerst, zu feiern, Felicity, bedeutet das nicht, dass ich es nicht tun sollte.«
»Eine Person muss anwesend sein, damit man ihren Geburtstag feiern kann.« Genau diese Unterhaltung hatte immer eine sehr ermüdende Wirkung auf mich, als würde mich jedes Wort Kraft kosten. Einen Moment lang ließ ich die Erinnerung an den letzten 23. Juli zu, auf den ich mich wirklich gefreut hatte. Wie ich am Vorabend Rose’ Geschenk – ein über Monate von mir zusammengestelltes Erinnerungsalbum mit Bildern von uns – sorgfältig eingepackt und es mit stolzgeschwellter Brust neben Moms Geschenk auf den Küchentisch gestellt hatte. Dann kehrte das kalte, übelkeitserregende Gefühl zurück, wie damals, als ich ihr Bett am nächsten Morgen leer vorgefunden hatte. »Rose ist weg, Mom. Seit vier Jahren.«
Das Gesicht meiner Mutter wurde traurig.
Sie sah so todunglücklich aus. Als hätten wir die Rollen getauscht, fühlte mich in diesem Moment wie die Mutter, die ihr leidendes Kind trösten musste. Aber dann warf ich wieder einen Blick auf den Cupcake. Es war einer von denen, die teuer aussahen – mit geschwungener Glasur und roten Streuseln – und die es nur bei der schicken, vornehmen Konditorei gegenüber von Moms Büro gab. Das dumme Ding hatte wahrscheinlich über fünf Dollar gekostet und würde am nächsten Morgen ungegessen in den Müll wandern.
»Felicity«, begann sie und blinzelte aufsteigende Tränen weg.
Ich wandte mich ihr wieder zu; meine Nasenflügel bebten. »Bitte nicht«, entgegnete ich und hielt eine Hand hoch. Ich hätte wissen sollen, dass es eine schlechte Idee war, den verdammten Cupcake anzusprechen. Mom trauerte gern so, als wäre Rose gestorben, aber ich würde bestimmt nicht um jemanden trauern, der mich im Stich gelassen hat. »Vergiss, dass ich es angesprochen habe, okay?«
Moms Gesichtsausdruck veränderte sich. Sie sah mich an, als hätte ich unsere Familie betrogen. Dabei war ich nicht diejenige, die entschieden hatte, dass sie uns nicht mehr brauchte. Ich war nicht diejenige, die weggerannt und für immer verschwunden war.
»Asha holt mich um vier ab«, sagte ich schließlich und beendete damit das angespannte Schweigen zwischen uns. »Ich muss mich fertig machen. Bestell Dave schöne Grüße von mir.«
Als ich in Richtung meines Schlafzimmers ging, spürte ich, wie sie mich mit ihrem Blick verfolgte. Also richtete ich mich etwas gerader auf und tat, als wäre alles in Ordnung. In Wahrheit brannten meine Augenlider, und mir war schwer ums Herz, aber ich wartete, bis meine Tür geschlossen war, bevor ich mich aufs Bett warf und den Tränen freien Lauf ließ.
Später am Abend, nachdem ich meine gerötete Haut und die verheulten Augen mit einer Schicht Foundation abgedeckt hatte, war von meinem kleinen Zusammenbruch nichts mehr zu sehen. Außerdem tat es auch gut, aus dem Haus zu kommen. West Hollywood war farbenfroh und lebhaft; das half mir zu vergessen, wie sehr ich den Geburtstag meiner Schwester hasste. Ich nannte ihn auch den Tag des Verlassens.
»Es ist sinnlos«, sagte Asha. Sie lehnte an der Theke der Garderobe und stützte das Kinn in die Hand. Als sie einen missmutigen Seufzer ausstieß, wirbelten ihre Ponysträhnen wie Federn im Aufwärtswind. »Wir verschwenden unsere Zeit.«
Viele Jahre Freundschaft mit Asha hatten mich ihr konstantes Gejammer zu ignorieren gelehrt. Sich zu beschweren war für Asha so etwas wie ein Hobby, eine Art Zeitvertreib, wenn sie Langeweile hatte. Dennoch hob ich fragend eine Augenbraue.
Wie konnte sie nicht aufgeregt sein?
Selbst nach allem, was vorhin mit meiner Mom geschehen war, sprudelte ich vor Vorfreude geradezu über. Heute Abend fand das größte Fundraising-Event des Jahres statt – der Maskenball der Kinderkrebshilfe KKH. Die reichsten Menschen aus Kalifornien würden kommen, von Geschäftsführern bis hin zu Hollywoodstars. Gerüchten zufolge sollte sogar Beyoncé auftauchen. Das bezweifelte ich zwar, aber mit einigen Promis durften wir wohl tatsächlich rechnen.
Seit letztem Monat machten Asha und ich bei der KKH ein Praktikum. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, potenzielle Spender anzurufen, Rundschreiben zu verfassen und alle möglichen Dinge zu besorgen, aber heute hatten wir Dienst an der Garderobe. Unsere Schicht endete bald, und nach so vielen Stunden der Vorbereitung für diese Veranstaltung konnte ich es kaum abwarten, eine Maske aufzusetzen und mich selbst ins Partytreiben zu stürzen.
»Niemand hat überhaupt eine Jacke dabei«, fuhr Asha fort. »Es ist elendig heiß draußen.«
Da konnte ich ihr nicht widersprechen. Los Angeles wurde gerade von einer Hitzewelle geplagt. Morgens, während ich mein Müsli verschlang, hatte ich auf Kanal 7 im Wetterbericht gehört, dass es in der Stadt seit den Neunzigern nicht mehr so heiß gewesen sei. Infolgedessen war unser Einsatz an der Garderobe, wie Asha erkannt hatte, absolut sinnlos. Nicht, dass mir das etwas ausgemacht hätte. Die Garderobe lag neben der Lobby, also konnte ich, wenn ich mich nach links lehnte und den Hals reckte, die Gäste auf dem roten Teppich hereinkommen sehen. Ich hatte vorgehabt, die freie Zeit zum Lernen zu nutzen, aber das zu diesem Zweck mitgebrachte Buch lag unbeachtet vor mir auf dem Tresen.
»Entspann dich doch mal«, ergriff ich das Wort. »Das hier soll Spaß machen.«
»Spaß?«, erwiderte Asha und deutete auf den leeren Raum. »Deine Vorstellung von Spaß ist ziemlich verdreht.«
Bevor ich antworten konnte, registrierte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung – ein weiterer Gast! Ich drehte mich so schnell um, dass ich mir fast den Nacken verknackste, dennoch konnte ich nur einen Smoking und etwas blondes Haar erhaschen. Nach dem wachsenden Getuschel in der Lobby zu urteilen, war der Neuankömmling eine wichtige Person, aber zu viele Menschen versperrten mir die Sicht, als dass ich etwas erkennen konnte. Gerade als ich mich wieder Asha zuwenden wollte, erkannte ich eine hochgewachsene Frau mit Kurzhaarschnitt, die aus der Menge trat und auf uns zukam. Selbst durch die Maske vor ihrem Gesicht erkannte ich, dass es Sandra Hogan war, unsere Chefin.
»Sieh mal«, sagte ich. »Vielleicht lässt Sandra uns früher gehen. Wir könnten noch den Rest des Sektempfangs erwischen!« Ich spürte, dass sich unwillkürlich ein Lächeln auf meine Lippen stahl, aber ich zügelte es, bevor meine Aufregung die Überhand gewann. Es gab keine Garantie dafür, dass Sandra uns nach unserer Schicht am Ball teilnehmen lassen würde.
Mit einem Finger drehte Asha ihr Handy auf dem Tresen im Kreis. »Du sagst das so, als wolltest du hierbleiben.«
Ich sah sie überrascht an. »Du etwa nicht?«
»Definitiv nicht«, antwortete sie und rümpfte die Nase. »Sobald wir hier fertig sind, mache ich mich auf den Weg nach Hause.«
»Ach, komm schon«, nörgelte ich, den Blick noch immer auf unsere Chefin gerichtet. Sandra hielt in der Lobby inne, um mit einem der Gäste zu sprechen, und meine Schultern sackten herab. Vielleicht würde sie uns doch nicht früher gehen lassen. Trotzdem sagte ich: »Du kannst nicht einfach gehen. Du bist doch meine Mitfahrgelegenheit.«
»Sorry, Felicity.« Asha zuckte halbherzig die Schultern. »Ich habe ein Date mit meinem Computer. Wir werden einen langen, romantischen Abend auf Tumblr verbringen.«
Das war keine Überraschung. Asha war von Tumblr nahezu besessen, seit ihr Fan-Blog über die erfolgreiche Fernsehsendung Immortal Nights sich wie ein Virus verbreitet hatte. Nun verbrachte sie mehr Zeit damit, Memes zu erstellen und Enthüllungen über die Schauspieler zu publizieren, als mit echten Menschen zu sprechen. Tatsächlich war das auch der Grund, weshalb sie jetzt bei der KKH arbeitete. Ashas Mom hatte die Nase voll vom unsozialen Verhalten ihrer Tochter und hatte sie dazu gezwungen, sich einen Sommerjob zu suchen. Weil Asha nicht am Drive-in-Schalter unseres örtlichen Fast-Food-Restaurants arbeiten oder Bowlingschuhe sortieren wollte, entschloss sie sich, gemeinsam mit mir ehrenamtlich zu arbeiten. Und solange es sie aus dem Haus brachte, war es Mrs Van de Berg vollkommen egal, was Asha tat.
»Ernsthaft?«, wollte ich wissen. »Willst du gar nicht wissen, wie die Party ist?«
»Ich habe nicht die Absicht, meinen Abend mit einem Haufen spießiger Promis zu verbringen«, spottete Asha.
»Aber es ist ein Maskenball«, sagte ich stirnrunzelnd. Schöne Menschen, umwerfende Kleider, Musik und Tanz – wie konnte man das nicht gut finden?
»Und?«, entgegnete Asha und griff nach ihrem Handy. Sie tippte kurz darauf herum und legte es wieder hin. Drei Sekunden später ertönte eine leise Melodie. Die Musik war nicht laut – alles andere hätte uns Ärger eingebracht –, aber es reichte, dass ich den Beginn von »Astrophil« ausmachen konnte, dem jüngsten Hit der Heartbreakers, der weltberühmten Boygroup. Und wenn es etwas gab, wovon Asha noch besessener war als von Immortal Nights oder Tumblr, dann war es diese Band.
Nachdem ich mir die ersten paar Takte angehört hatte, seufzte ich und antwortete auf ihre Frage. »Und es wird natürlich alles wahnsinnig glamourös sein.«
Sie verdrehte die Augen. »Ja, und ich bin der Inbegriff von Glamour.«
Gut, vielleicht war meine beste Freundin nicht gerade ein Modemensch. Ihr gewöhnliches Schuloutfit bestand aus Schlabberleggings und T-Shirts. Und da alle Helfer der KKH sich an den Dresscode der Abendgarderobe zu halten hatten, hatte sie drei Tage lang panisch versucht, ein passendes Outfit zu finden. Bis sie sich schließlich für den seidenen Sari ihrer Mutter entschieden hatte, der viel besser aussah als das, was ich für sie zusammengeworfen hatte.
Ich trug zwar gern Kleider, hatte aber nur blumengemusterte Flatterdinger aus Secondhandläden im Kleiderschrank, keine Ballkleider. Ich besaß nichts für feierliche Anlässe. Selbst das Kleid für den Schulball hatte ich mir von meiner Nachbarin geliehen, um Geld zu sparen.
Also war ich gestern Morgen, da ich immer noch ohne Outfit für die Benefizveranstaltung dastand, mit dem Bus zum Einkaufszentrum gefahren und hatte mich bei Macy’s durch das Regal mit den heruntergesetzten Sachen gekämpft. Bis ich schließlich ein pinkes, bodenlanges Kleid mit schmaler Taille und ausgestelltem Rock fand, dessen Farbe sich nicht mit dem Rot meines Haars biss und das zum Glück nur ein paar Rüschen hatte. Der Preis lag bei unter hundert Dollar, aber ich musste trotzdem an das Geld gehen, das ich fürs College gespart hatte, um es zu kaufen. Das bedeutete auch, dass keine neuen High Heels mehr drin waren und dass ich meine Füße in die Pumps zwängen musste, die ich schon zum Abschlussball der achten Klasse getragen hatte.
»Richtig angezogen sind wir ja schon«, sagte ich. »Willst du denn gar nicht wissen, ob vielleicht jemand Berühmtes kommt? Was, wenn Gabe Grant auftaucht?«
Damit erregte ich Ashas Aufmerksamkeit.
»Der kommt nicht«, antwortete sie, aber an ihrem Gesicht konnte ich ablesen, dass sie ihre Entscheidung noch einmal überdachte. Gabe Grant, Ashas größter Schwarm unter den Stars, spielte bei Immortal Nights den sexy Werwolfkrieger Luca. Sie hatte mindestens fünfzig Poster von ihm mit nacktem Oberkörper, mit denen sie ihr Schlafzimmer tapeziert hatte.
»Wer weiß«, trällerte ich leise und zog vielsagend die Augenbrauen hoch. »Stell dir nur vor, wie sehr du dich ärgern würdest, wenn du jetzt gehst, und er taucht doch noch auf.« Asha schürzte nachdenklich die Lippen, also machte ich sofort meinen besten Schmollmund. »Bitte.«
»Okay, okay. Du hast gewonnen«, gab sie nach. »Aber wir bleiben nur kurz. Lang genug, um uns auf der Tanzfläche umzusehen und rauszufinden, wer da ist. Dann verschwinden wir.« Sie wandte sich ab. Und die Tatsache, dass sie meinen Blick mied, war der einzige Hinweis, den ich brauchte, um zu merken, dass sie nicht wegen Gabe blieb.
Asha wusste, dass heute der Tag des Verlassens war und, wichtiger noch, wie sehr ich ihn hasste. Dass sie bleiben wollte, damit ich nicht an Rose denken musste, brachte mich fast zum Weinen, aber auf gute Art und Weise, denn, mal ehrlich: die Chance, dass Gabe Grant sich auf dem Ball blicken ließ, standen gleich null. Sie tat es einzig und allein für mich. Mehr Mädchen brauchten allerbeste Freundinnen, die so toll waren wie Asha.
»Ja!« Ich gab ihr einen Wangenkuss. »Habe ich in letzter Zeit erwähnt, dass du die beste der besten Freundinnen in der gesamten Geschichte der Freundschaft bist?«
»Das kannst du laut sagen. Du schuldest mir was.«
»Wie läuft es hier, meine Damen?«, erkundigte sich Sandra. Ich schreckte beim Klang ihrer Stimme auf. Irgendwie war sie während unseres Gesprächs zu unserer Garderobe gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte.
»Wundervoll.« Ashas Stimme troff vor Sarkasmus. »Wir haben insgesamt eine Anzahl von null Mänteln zu verzeichnen, aber einigen Gästen haben wir den Weg zu den Toiletten gezeigt.«
Sandra lachte und zog ihre Maske hoch, sodass wir ihr Gesicht sehen konnten. »Nun, da die meisten unserer Gäste inzwischen da sind und nichts abgegeben wurde, dürft ihr nach Hause gehen.«
»Miss Hogan?«, begann ich, und Sandra richtete ihren einschüchternden Blick auf mich. »Ich habe mich gefragt, ob … Ich meine, Sie hatten erwähnt, dass wir vielleicht bleiben könnten?«
»Ich freue mich über deine Hilfsbereitschaft, Felicity«, antwortete sie, »aber es gibt hier keine Aufgaben mehr für euch.«
Mein Lächeln verblasste. »Eigentlich meinte ich bleiben, um an dem Ball teilzunehmen.«
Bitte, bitte, bettelte ich gedanklich.
Sandra sah mich scharf an, während sie über meine Worte nachdachte. »Ja, wieso nicht«, lautete schließlich ihre Antwort. »Aber ihr müsst Masken tragen und ich kann die von der Kinderkrebshilfe nicht verschenken. Ihr werdet euch welche kaufen müssen.«
»Kein Problem. Das habe ich bedacht.« Ich zückte meinen Leinenbeutel, der unter der Theke der Garderobe verstaut war. »Die hier habe ich gestern Nacht gemacht«, fügte ich hinzu, brachte zwei selbst gemachte Masken zum Vorschein und zeigte sie ihr. »Sie wissen schon, für den Fall, dass Sie uns erlauben würden, zu bleiben.«
Nach meinem Besuch im Einkaufszentrum war ich tags zuvor noch im Heimwerkerladen gewesen. Weil ich noch Coupons gehabt und mich an die reduzierte Ware gehalten hatte, war es mir gelungen, ziemlich günstig alles zu bekommen, was ich brauchte. Die Masken, die die Kinderkrebshilfe für den Ball geordert hatte, stellten alle unterschiedliche Tiere dar; deshalb hatte ich ebenfalls zwei Tiermasken gebastelt. Für Asha einen Vogel mit weißen und kobaltblauen Federn, die perfekt zu ihren Augen passten, und für mich einen Schmetterling mit pinkem Glitter und Strasssteinen.
»Ich sollte Nein sagen, denn alle anderen tragen unsere Masken«, warf Sandra ein und nahm eine meiner Kreationen in die Hand. »Aber die hier sind wirklich atemberaubend.«
Ich strahlte. »Also dürfen wir sie tragen?«
Sie nickte langsam. »Ja, meinetwegen.«
»Ja!«, sagte ich und konnte mein Glück kaum fassen. »Vielen Dank, Miss Hogan. Das bedeutet mir sehr viel.«
Sandra lief schon zurück zur Lobby und winkte mit einer Hand über dem Kopf, ohne sich umzusehen. »Amüsiert euch, meine Damen«, rief sie zum Abschied.
Genau das hatte ich vor.