Claus Koch
1968
Drei Generationen –
eine Geschichte
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Redaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh (www.schaefer-lektorat.de)
Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See
Umschlagmotiv: © H. Armstrong Roberts / ClassicStock
ISBN 978-3-641-22541-4
V001
www.gtvh.de
INHALT
Einleitung
TEIL I: UNSERE ELTERN – WOHER WIR KAMEN
Kapitel 1: Täter in Trümmern
Schuld, Schweigen, Wiederaufbau
Ungeschehenmachen
Bindung brechen: Das Programm der NS-Ratgeberikone Johanna Haarer
Bindungslosigkeit als politisches Instrument
Kapitel 2: Aufwachsen im Feindesland
Das Kind als Feind
Familie und Vaterland
Vom Versuch, einen Drachen zu umarmen
Im Nazinebel
Vom Leben draußen
TEIL II: WIR KINDER – WOHIN WIR WOLLTEN
Kapitel 3: Das große Aufbegehren
Die hellen Jahre
»The times they are a changing«
»Catch the wind«: Gammler und Hippies
Wenn das Meer anfängt zu leuchten
Kapitel 4: Der Einbruch des Politischen ins Teenageralter
Paul Nizan: »Auf dem Meer ist die Freiheit einfach nur Abwesenheit«
Theodor W. Adorno: »Das Ganze ist das Unwahre«14
Herbert Marcuse: »Freiheit ist nur denkbar als Realisierung von Utopie«
Reimut Reiche: »Sexualität und Klassenkampf«
Schüleraufstand: »Gegen Arschkriecherei und Duckmäusertum«
Schatten an der Wand: 2. Juni 1967
Kapitel 5: Alles nur geträumt? 1968 und das Ende der Utopie
Das Attentat auf Rudi Dutschke
Berlin brennt
Der Kampf geht weiter
Mythos Mai 68
»Schon zehn Tage Glück« – Frankreich im Aufstand
Kapitel 6: In der Denkfalle
Neue Väter braucht das Land (Marx, Lenin, Mao)
Wir sind die anderen: Die Entdeckung des Proletariats
Proletarische Revolution
Die Unterwerfung
TEIL III: WIR ERWACHSENEN – WAS BLEIBT
Kapitel 7: Die Revolution entlässt ihr Kinder
Der Abschied von der Revolution
Befreiung aus dem Irrgarten des Marxismus-Leninismus
Aufbruch zu neuen Ufern
Kapitel 8: Neue Kinder braucht das Land
»Antiautoritäre Erziehung« – Vorstellung und Wirklichkeit
Der »autoritäre Charakter«
Kommune 2
Bindung und Autonomie
Kapitel 9: Zeitenwende
DDR: Terra incognita
1989: »Das Ende der Geschichte«
Die Revolte des Kapitals
Neoliberalismus – das vergiftete Freiheitsversprechen
TEIL IV: UNSERE KINDER UND ENKEL – WAS WIRD?
Kapitel 10: Rückkehr der Vergangenheit
Alte und neue Lügenpropheten
Neue Rechte: Alte Parolen
Trumpismus
Regressive Utopie – die rechte deutsche Revolte
Das Versagen der Linken
»Ultrahumanismus« – der Aufstand der Gefühllosen
Jedwede Bedeutung entsteht mit dem Blick – Bindung und Empathie
Kapitel 11: Aufrecht in die Nacht? Die Kinder und Kindeskinder der 68er
»Gesellschaftliche Veränderung fängt dort an, wo man wirklich etwas bewirken kann: im eigenen Leben.«
Leben in der Komfortzone
Eine neue »skeptische« Generation?
»Kommt heraus aus euren Köpfen«: Neue Proteste, neue Protestformen
»Generation Snowflake«?
»Generation K«?
Die Rückkehr der Revolte
Epilog
Zeittafel
Literatur
Personenregister
Anmerkungen
Danksagung
EINLEITUNG
Rückblick – 1968: Als ich das Zimmer nach 50 Jahren wiedersehe, bin ich überrascht, wie klein es ist, zwei mal drei Meter vielleicht. Liegt es daran, dass einem die Räume weiter und ihre Begrenzungen weniger eng vorkommen, wenn man jung ist? Auch Kinder sehen die Welt und ihre Gegenstände schließlich größer als später die Erwachsenen. Aber 1968 waren wir keine Kinder mehr. Wir waren 18, 20 oder 25 Jahre alt und gerade dabei, die Welt um uns herum gründlich zu verändern.
Das Zimmer. Ein schmales Sofa, auf dem wir schliefen, wenn wir zu zweit waren und J. nicht in Paris. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, eine Gasheizung, in die wir Münzen einwerfen mussten, wenn uns kalt wurde. Über dem Sofa ein Brett, auf dem ein kleines Radio stand und ein Plattenspieler. Das Radio gehörte J., der Plattenspieler mir. Der Plattenspieler war eines der wenigen Dinge, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Das Radio von J. empfing keine Sender mehr, aber die Platten konnten wir damit hören. John Coltrane, Albert Ayler, Stones, Velvet Underground, Doors. Die Stimmen von Bob Dylan, Joan Baez, Donovan und den anderen Folk- und Protestsängern waren leiser geworden. Man hörte ihre Lieder nur noch, wenn man allein war. Die helle Zeit, als das Meer zu leuchten anfing und sich das Leben so weich anfühlte, dass man hineinfiel, dieses Leben, das schon hinter uns lag und doch immer noch greifbar schien, war dabei, sich langsam von uns zurückzuziehen.
Das Zimmer war immer stockdunkel, obwohl es ein sehr großes Fenster hatte, in dem man sogar stehen konnte. Aber im Abstand von knapp einem Meter befand sich schon die Wand des Nachbarhauses. Vor diesem großen dunklen Fenster stand ein kleiner Tisch. Darauf eine winzige selbstgemachte Blumenvase von J., in die sie aber nie Blumen steckte. Daneben ein Becher mit Tee oder Kaffee, dazu Zigarettenpackungen, aus Frankreich mitgebracht, weil sie dort billig waren, ein selbstgemaltes Bild mit einem silbernen Mond über einem Berg vor einem nachtblauen Himmel von der Schwester von J., die hier auch manchmal wohnte. Auf dem Tisch lagen unsere Bücher, die wir gerade lasen. Die von Paul Nizan, den Sartre uns empfohlen hatte, »Aden Arabie«, »Das trojanische Pferd« und »Antoine Bloyé«, über den Vater, der seine Herkunft verriet. »Die sexuelle Revolution« und »Massenpsychologie des Faschismus« von Wilhelm Reich. Dazwischen, ein wenig verstreut, »Nadja« von André Breton, »Minima Moralia« von Adorno, »Le dieu caché« von Lucien Goldmann, Gedichte von Dylan Thomas, übersetzt von Erich Fried. Und dann waren da noch »Das Kapital« von Marx, »Was tun?« von Lenin und ein bisschen Mao, Vorboten der »dunklen Jahre«.
Wenn man das Zimmer nach draußen in die Gassen der Altstadt verließ, brauchte man einige Zeit, die Welt in ihrer Helligkeit wiederzuerkennen. Menschen, die so taten, als wäre nichts, gingen an einem vorbei. Sie lachten und freuten sich über die Sonne, als sähen sie nicht die roten Fahnen, die aus unseren Fenstern hingen, entzifferten nicht unsere Parolen an den Wänden, hörten nicht unsere Rufe, sie zu befreien. Das gleißende Licht schmerzte dann noch lange in den Augen, wenn wir später ins Zimmer zurückkamen, und eines Tages meinte N., sie fahre morgen nach Paris, da ist es anders als hier, ich werde dir schreiben. J. änderte oft ihren Vornamen. Sie fand in der Welt für sich kein Zuhause mehr, und der Marxismus-Leninismus konnte ihr dabei auch nicht weiterhelfen.
.....
Was hat uns die Chiffre 68 über diese und ähnliche Erinnerungen hinaus heute noch zu sagen, das ist eine der Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Sie stellt sich weniger uns, den Akteuren von einst, sondern den jungen Leuten heute. Denn auch ihr Leben hat mit unserer verlorenen Schlacht vor 50 Jahren zu tun. Weil seitdem die Allianz utopischen Denkens mit einem revolutionären Projekt zerbrochen ist. Weil unsere Kinder, wenn auch anders als wir bei unseren eigenen Eltern, an uns das süße Gift einer totalitären Ideologie kennengelernt haben. Manche von ihnen hat das hoffnungslos gemacht. Dabei ist die Welt heute keinesfalls besser als die vor 50 Jahren. Niemand behaupte, sie habe ihr Antlitz seitdem einer schöneren Zukunft zugewandt, von der wir damals träumten und manchmal glaubten, sie schon fast in unseren Händen zu halten.
Aber das revolutionäre Experiment unserer Generation ist gescheitert. Und sein Scheitern empfanden viele von uns als ebenso grandios wie vorher die hochfliegenden Träume. Und so hinterließ unser späterer Rückzug eine Lücke in der Geschichte, einen Spalt, den unsere Kinder immer noch dabei sind aufzufüllen, um den Blick wieder freizubekommen. Wie werden sie sich von der herrschenden Apologetik vollendeter Tatsachen befreien, die alles so glatt und vollendet erscheinen lassen, wie können sie aus dem »Alternativlosen« herausfinden, sich der werbelärmenden Belästigung im postfaktischen Zeitalter widersetzen, um eine Welt zu schaffen, die sie freundlich aufnimmt, die ihre Träume respektiert und annimmt, die sie, ihre Kinder und Enkel überleben lässt? Damit sie nicht länger blind wie Fledermäuse hin und her fliegen müssen?1 Sich an Dystopien und apokalyptischen Perspektiven zu berauschen, ist keine so gute Idee. Den resignierten, aber vor Armut geschützten Clochard zu spielen, ebenso wenig,2 wie eine Schneeflocke zu sein, die in der warmen Frühlingsluft sanft dahinschmilzt3.
Dieses Buch betrachtet die mitunter zum Mythos geronnene Chiffre 1968 aus der Perspektive von mindestens drei Generationen, unseren Eltern, uns selbst und der unserer erwachsenen Kinder bzw. der Generation, die ihnen gerade folgt.
Was unsere eigenen Eltern betrifft, waren sie an den Geschehnissen von damals mitbeteiligt. Sie waren es, die uns ihre unheimlichen Visionen, endgültig zerbrochen und inmitten einer Trümmerlandschaft gigantischen Ausmaßes als bittere Mitgift unserer Revolte beigaben. Aber das verstanden sie nicht und wollten es auch nicht verstehen. Gaben sich nach außen wie uneinsichtige Kinder, die mit den Füßen auf dem Boden aufstampfen, erst toben und dann trotzig schweigen. Sicherlich: Unser Aufstand war politisch motiviert, zumindest haben das später viele von uns behauptet. Unseren Feind glaubten wir genau zu kennen. Aber als unser Protest in den 60er Jahren begann, waren wir mit unseren Gedanken und unserem Herzen näher an Paul Nizan, dem französischen Schriftsteller der 1930er Jahre, als an der proletarischen Revolution. Hatte der doch in seinem Fluchtroman »Aden« geschrieben: »Wir wissen ja, wie unsere Eltern lebten. Ungeschickt, unglücklich wie Katzen, die Fieber haben, wie Ziegen, die seekrank sind.«4 Und: »Ich war zwanzig. Niemand soll sagen, das sei die schönste Zeit des Lebens. Alles droht einen zu vernichten: die Liebe, die Ideen, der Verlust der Familie, der Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Es ist schwer, seinen Part in der Welt zu finden.«5
Um das, was uns die Generation unserer Mütter und Väter mit auf den Weg gab, und die Folgen geht es am Anfang des Buches. Um etwas, das uns, die wir während oder nach dem Krieg geboren wurden, wie ein Stein um den Hals hing und unter Wasser zog, sodass wir kaum Luft zum Atmen bekamen. Ein Erbe, das abscheulicher nicht hätte sein können, außerhalb unserer Vorstellung liegend, ein Menschheitsverbrechen, von der Elterngeneration gemeinschaftlich begangen und uns nach dem Krieg in ihrem störrischen Schweigen zugeschoben. Und als wir anfingen, uns dagegen zur Wehr zu setzen und ihnen mit einigen Versprengten aus ihrer eigenen Generation die Frage stellten, wie das alles denn hatte geschehen können, gaben sie uns zur Antwort: »Macht aus unseren Verbrechen, was ihr wollt, aber lasst uns endlich damit in Ruhe.« Und so liefen wir in diese Welt hinein: Noch mit Nazimethoden erzogen, ohne Bindung, ohne Vorbilder, aus einer unendlichen Leere hinaus ins eigene Leben.
Wohin sollten wir gehen, womit diese innere Leere füllen, ohne gültigen Kompass, ohne Orientierung? Was anfangen mit unseren Bedürfnissen nach Liebe und Anerkennung in einer Welt, die uns feindlich gesonnen war? Also fingen wir, älter geworden, an, uns gegen das, was man uns aufgebürdet hatte, zu wehren und aufzulehnen. Probten den Aufstand gegen die, die uns so übel mitgespielt hatten. Entdeckten dabei Schönheit und Wildes inmitten dieser tödlichen Erstarrung, auch mitten in uns selbst. Und kamen schließlich auf die Idee, den morschen Ast, auf den man uns gesetzt hatte, einfach abzusägen! Suchten uns neue Vorbilder, neue Väter, zunächst in Frankreich, dann die, die aus dem Exil zu uns zurückgekommen waren. Wir lasen und lasen und unterstrichen jeden ihrer Sätze zweimal. Das Leben gefiel uns, mit einem Bein in den Büchern, mit dem anderen draußen, wo es von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und gleichzeitig vom Kampf für die Befreiung unserer Sexualität bestimmt war. Und dann fielen die ersten Schüsse.
Aus Berlin ereilte uns zuerst die Nachricht und kurz darauf folgend die dringende Botschaft, erst den Aufstand und dann die Revolution zu wagen. Jetzt müsse der Feind mit allen Mitteln besiegt werden. Der Feind, das waren immer die anderen. Die Verbündeten waren wir selbst. Militanz und Offensive! Ein Jahr später, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, loderten schließlich die Feuer von Barrikaden und an die Wände geschleuderten Brandsätzen. Sechs Monate später sangen die Rolling Stones aus dem Off »Street Fighting Man« für uns. Für einen Augenblick fühlten wir uns tatsächlich mächtig. Wie die Aufständischen der Französischen Revolution schossen wir unsere Salven auf die Kirchturmuhren, die uns umgaben, um die Zeit zum Stillstand zu bringen: Unter den Pflastersteinen der Strand! 10 Tage Glück! Unsere Auflehnung, unsere Sprache, unsere Gesten, unsere Blicke, unsere Musik, die Liebe in den Kampfpausen – das waren tatsächlich wir. Für kurze Zeit spürten wir in uns die jugendliche Kraft, die alles, was sich in den Weg stellt, zur Seite räumen kann. Lebten im Zentrum der Revolte, nur im Augenblick. Um dann diese Einheit von Wollen und Tun mit abstrakten Worthülsen zu betäuben und unser neues Lebensgefühl auf dem Altar des Marxismus-Leninismus zu opfern. Um uns in einem Irrgarten zu verlaufen, aus dem zu befreien wir Jahre brauchten.
Wie war es möglich, dass eine Jugend, die angetreten war, von elterlicher und gesellschaftlicher Autorität loszukommen, sich einige Jahre später eine Ideologie zur zweiten Natur machte, die ihr empfahl, das selbstständige Denken einzustellen? Sich in Kaderorganisationen einem gestrengen Regiment unterwarf, von dem sie geglaubt hatte, ihm in den hellen Jahren ihres Lebens längst entkommen zu sein? Welches Gift wirkte weiter in uns, wo wir doch dachten, es mit unserer persönlichen Revolte aus den Gliedern herausgeschüttelt zu haben? Von heute aus gesehen: Warum musste unser Erwachsenwerden so lange dauern? Ein Erwachsenwerden, das ja auch damit zu tun hat, nicht nur für andere, wie wir immer meinten, sondern auch für uns selbst Verantwortung zu übernehmen? Statt immer nur nach einem gelingenden Leben für alle zu fragen, wo sich die kommunistischen Utopien doch längst vor uns schon als schreckliche Monster herausgestellt hatten? Was war da los mit uns? Und wenn ich immer von »uns«, von den »68ern« oder eben auch, wie bis heute üblich, der 68er-Generation spreche – von wem ist hier eigentlich die Rede? Lassen sich die »68er« denn überhaupt in das gewohnte Schema nachfolgender Generationen einordnen – so, wie man von einer »Vorkriegsgeneration« spricht, von einer »Nachkriegsgeneration«, einer Generation X, Y oder Z?
Zweifellos gehörten die meisten von uns 68ern, ordnet man sie in das gewohnte Generationenschema ein, der Nachkriegsgeneration und damit den Jahrgängen nach 1945 an, auch wenn auffallend viele unserer etwa ein Dutzend Wortführer bereits kurz vor Ausbruch oder während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden. Spricht man von uns von den »68ern« oder auch der »68er-Generation«, ist also eher das politische Projekt gemeint, dem wir uns gemeinsam verschrieben hatten, als die altersmäßige Zuordnung in eine klassische Generationenfolge. Und spreche ich in diesem Buch von »uns« und »wir«, sind auch nicht alle gemeint, die während oder nach dem Krieg geboren wurden, sondern nur ein zahlenmäßig kleiner Teil, der der Nachkriegsgeneration dennoch ihren bis heute am häufigsten verwendeten politischen Stempel aufgedrückt hat.
In gewisser Hinsicht erfüllten also wir, »die 68er«, in unserer Generation eine Avantgardefunktion, indem wir, wie noch auszuführen sein wird, eine latent vorhandene Stimmung und politische Strömung mit unserem Kampf um Emanzipation und Revolution am radikalsten auf den Begriff brachten, nämlich den gesellschaftlichen Aufbruch aus den spießigen und immer noch von faschistischen Idealen und Narrativen geprägten 50er Jahren. Dabei waren wir längst nicht so viele, wie es der immer wieder verwendete Generationenbegriff für uns nahelegt. Aktiv beteiligte sich an den lautstarken Aktionen und Demonstrationen höchstens ein Drittel »unserer Generation«, was nicht bedeutet, dass nicht auch andere mit einigen unserer Ziele in dieser Zeit sympathisierten und im Kielwasser hinter unseren Aktivitäten hersegelten. Und auch innerhalb der so näher bezeichneten Minderheit der »68er« gab es hinsichtlich ihrer biografischen Merkmale, politischen Vorstellungen und der Radikalität, mit der sie ihre Ziele verfolgten, zweifellos Unterschiede. Dennoch aber zeichnete sich dieser politisch aktive Kern durch ein gemeinsames Ziel aus, nämlich die bestehenden Verhältnisse der 1960er und 1970er Jahre radikal zu verändern und dazu aufzurufen, die in unseren Augen »herrschende Klasse«, d. h. die Bourgeoisie mitsamt ihrem von uns so verhassten Kapitalismus, zu stürzen. Was im Übrigen auch ein Grund dafür ist, dass die Chiffre 68 bis heute noch immer als politischer Kampfbegriff taugt, übrigens weniger in einem positiven Sinne als in denunziatorischer Absicht.
Als wir dann unseren revolutionären Kampf Ende der 1970er Jahre aufgaben, fehlten unseren Vorstellungen von einer gelingenden Zukunft zunächst die neuen Bewohner. Was hatte Bestand? Was konnte aussortiert werden? Nach dem ersten Schock stellten wir fest, dass wir trotz unseres grandiosen Scheiterns immer noch einiges zu bieten hatten. Zwar war uns das revolutionäre Subjekt, an das wir lange geglaubt hatten, abhandengekommen und damit auch das Ziel, der Gesellschaft, in der wir lebten, endgültig den Garaus zu machen. Aber es blieb doch immer noch genug, wofür es sich weiter zu kämpfen lohnte. Und viele von uns lebten jetzt ganz gut, immer noch mit dem Elan ihres revolutionären Erbes, das jetzt der Vergangenheit angehörte. Marschierten gegen Atomkraft und bauten sich Häuser im Wendland.
Und dann kam die Zeit, in der alles einfror. Ein von allen Fesseln befreiter globalisierter Kapitalismus siegte, das Reich des realen Sozialismus, das zumindest noch zur Antithese getaugt hatte, zerfiel, lag am Boden, war ein für alle Mal erledigt. Die Geschichte sei an ihrem Ende angelangt, triumphierten die Reichen und Mächtigen und gaben dem Kadaver des Sozialismus einen letzten Tritt. Der Einzelne habe gesiegt, es liegt an ihm, was er aus seinem Leben macht oder nicht. Das neue Zeitalter lud alle ein, mitzumachen oder die Klappe zu halten. Alternative sinn- und zwecklos.
Da war etwas passiert, das so nicht in unseren Büchern gestanden hatte. Schließlich hatten wir doch alles versucht, waren unseren Eltern davongelaufen, hatten, was sie uns überließen, abgestoßen wie einen Krankheitserreger, hatten den Aufstand geprobt, messianischen Glaubens, dass das Gute siegen würde – und jetzt? Manche haben diesen Rückschlag nicht verkraftet, andere wiederum waren insgeheim froh und landeten guten Gewissens dort, wovon sie einst weggelaufen waren. Lebten das Leben ihrer Eltern, nur anders. Besser.
Und heute: Wieder erwachte Gespenster der Vergangenheit kratzen am Stillstand der Geschichte – aber aus entgegengesetzter Richtung, als wir gedacht hatten. Ein Aufstand Gestriger und Gefühlloser spült das politische Gestern wieder ins Heute. An die Stelle unserer Zukunftsträume setzen sie ihre regressive Utopie. Internationale Konzerne und Banken greifen mit ihren allgegenwärtigen Tentakeln weltweit und lautlos ins politische Geschehen ein.
Jetzt aber sind nicht mehr wir, sondern unsere Kinder gefragt. Die Geschichte, die sie zu erzählen haben, ist nicht mehr unsere, aber sie hat auch mit unserem verlorenen Kampf zu tun. Denn unsere Niederlage hat sich in ihr Denken eingeschlichen. Sie sind skeptisch, und manche von ihnen haben schon resigniert, bevor sie wirklich erwachsen werden. Nicht frei von Splittern, die wir ihnen zugefügt haben und die ihnen immer noch unter der Haut sitzen und von Zeit zu Zeit schmerzen.
So, wie wir uns das Recht erkämpft haben, gegen das Erbe anzutreten, das auf uns lastete, haben sie das Recht, sich von uns loszusagen. Es ist jetzt an uns, in die Kulisse zurückzutreten und ihnen die Bühne zu überlassen, die Welt zu verändern. Schließlich ist es ihr Leben, in das die Schrecken globaler Ungerechtigkeit, die Flüchtlingsströme, die Zerstörung des Planeten und die alten Parolen zurückgekehrt sind. Dabei geht es um nicht mehr oder weniger als um die Vorstellung einer gerechteren Gegenwart. Darum, vom Gedanken an eine gelingende Zukunft wieder ins Jetzt zurückzufinden. Es geht um einen Sieg über die Dystopie, in der die Welt, in der sie leben, von Flucht, Zerstörung und Terror heimgesucht wird. Eine Welt, die unsere Kinder außerhalb von Grenzmauern und Stacheldrahtzäunen bereits ausmachen können. Einige von ihnen haben den Kampf schon aufgenommen und ihnen ist egal, wie man ihre Generation nennt, X, Y oder Z. Andere von ihnen, und es sind nicht wenige, sind schweigsam, manche schon ohne Hoffnung. Andere sehen nur zu, so, als ginge sie das Weltgeschehen nichts an. Sie wissen, dass sie einiges zu verlieren haben und leben nur den Augenblick.
»Schwimmt, sonst werden ihr untergehen wie ein Stein«, sang Bob Dylan vor 65 Jahren, als alles anfing. Was können wir, die damals Aufständischen, ihnen heute noch raten? Seid wachsam, die Zeiten ändern sich! Passt auf das auf, was wir euch an Gutem hinterlassen haben! Das ist mehr, als ihr denkt. Verzichtet auf unsere gestrandeten Träume, aber behaltet den Glauben daran, dass nichts auf dieser Welt unumstößlich ist! Wehrt euch gegen das, was man euch zumutet! Traut nicht dem falschen Propheten! Lernt aus unserem Scheitern! Menschenrechte sind entweder universell oder gar nicht. Hört auf die Unterdrückten und Schwachen. Seid verliebt in eure Ideen! Seid realistisch, aber verlangt immer wieder aufs Neue das Unmögliche!
TEIL I
UNSERE ELTERN – WOHER WIR KAMEN
»Wir haben aus dem Dasein unserer Eltern zu erwachen.«
Walter Benjamin