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Buch

Als Victoria Camber das Büro ihrer kranken Mutter in Bristol ausräumt, bringt der Fund eines Briefes sie auf die Spur eines Familiengeheimnisses und der dramatischen Lebensgeschichte einer ihr unbekannten Frau. Nordengland 1874: Endlich ist Agnes Resolute volljährig und darf das Findelhaus, in dem sie aufgewachsen ist, verlassen. Vor ihrer Abreise erfährt sie, dass ihr als Baby ein Andenken mitgegeben wurde – ein Knopf mit einem Einhorn. Agnes glaubt zu wissen, wem der Knopf gehörte: Genevieve Breckby, der Tochter einer noblen Familie. Doch diese hat England mittlerweile Richtung Australien verlassen. Und so begibt sich Agnes auf die Suche nach ihrer Mutter und eine ungewisse Reise …

Autorin

Kimberley Freeman wurde in London geboren, kam aber als Kind nach Australien, wo sie auch heute noch lebt. Die mehrfach preisgekrönte Autorin von Jugendbüchern, historischen Romanen und großen Frauensagas, die auch unter ihrem richtigen Namen Kim Wilkins und dem Pseudonym Kimberley Wilkins veröffentlicht, hat an der Universität von Queensland promoviert, wo sie Literatur unterrichtet.

Kimberley Freeman

Sterne
über dem Meer

Roman

Deutsch von
Andrea Brandl

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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Stars Across the Ocean« bei Hachette, Australia, Sidney.
Copyright © der Originalausgabe 2017 by Kimberley Freeman
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Gestaltung des Umschlags und der Umschlaginnenseiten:
UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: Gettyimages/Stephanie Hager – HagerPhoto
Gettyimages/Tom Meaker/EyeEm
FinePic®, München
Redaktion: Friederike Arnold
BH · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22608-4
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für meine Mutter

GEGENWART

»Mum?«

»Sie ist noch ein bisschen verwirrt. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn sie …«

»Mum?«, wiederhole ich mit ein wenig mehr Nachdruck, so wie ich früher manchmal als junges Mädchen mit ihr gesprochen habe, wenn ich leicht genervt war. Ich sehe meiner Mutter ins Gesicht, und sie erwidert meinen Blick, trotzdem scheint sich ein Schleier zwischen uns zu befinden. Auf der einen Seite die blassgrünen Krankenhauswände, die Schwester und ich. Auf der anderen meine Mutter, komplett durch den Wind.

Aber dann lüftet sich der Schleier endlich. »Victoria?«, sagt sie.

Ich lächle. »Ja, ich bin’s.« Sie ist die Einzige, die mich bei meinem vollen Vornamen nennt. Für alle anderen bin ich Tori – ein stinknormaler Null-acht-fünfzehn-Name. Sie hat mich nach einer Königin benannt. Aber ich bin keine Königin.

»Ich bin vor ein Auto gelaufen«, sagt sie – als Erklärung für die Abschürfungen in ihrem blassen, von leichten Falten durchzogenen Gesicht.

»Ich hab’s gehört.«

»Na ja, es hätte schlimmer ausgehen können. Ich habe mir ja nichts gebrochen.« Sie schnieft. »Aber deshalb bist du bestimmt nicht extra aus Australien hergekommen.«

Die Krankenschwester tätschelt ihren Oberschenkel. »Ich lasse Sie beide jetzt allein, in Ordnung, Mrs Camber?«

»Professor Camber«, korrigieren wir sie gleichzeitig in gereiztem Tonfall.

»Na, sieh mal einer an, wie schnell sich Ihr Gedächtnis plötzlich erholt«, sagt die Schwester und geht zur Tür. Sie klingt gar nicht nett. Ich dachte immer, Krankenschwestern wären grundsätzlich freundliche Menschen, aber allein schon, wie sie über meine Mutter gesprochen hat: »Die alte Madam« und »die dumme Nuss«, dabei ist Mum gerade mal siebzig und weder dumm noch sonst was.

Doch jetzt sind wir allein, und ich sehe sie wieder an. Sie sieht verängstigt aus, und ich spüre, wie sich ihre Furcht auf mich überträgt, und bekomme ein flaues Gefühl im Magen. Wovor hat sie Angst? Sollte ich vor etwas Angst haben? Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Tja«, sage ich.

Meine Mutter lächelt ebenfalls. Mein Lächeln scheint sie zu beruhigen. »Aber deshalb bist du bestimmt nicht extra aus Australien hergekommen«, sagt sie noch einmal – vielleicht als rhetorische Wendung oder bloß, weil sie schon wieder vergessen hat, dass sie das gerade gesagt hat.

»Wegen deinem Unfall? Nein, eigentlich nicht. Ich bin hier, weil ich …«

Sie starrt ins Leere. In ihrer Jugend war meine Mutter eine echte Schönheit, und wahre Schönheit vergeht nie. Zwar sind ihre Haare mittlerweile stahlgrau und ihre Wangen hohl, und um ihren Mund kräuseln sich zahllose Fältchen, aber sie hat immer noch schöne große, blaue Augen und lange, dunkle Wimpern.

Ein schwacher Sonnenstrahl fällt durch das Fenster, und vom Bristol Channel hört man das gedämpfte Kreischen der Möwen. Mum arbeitet in Bristol, hat jedoch immer in Portishead gelebt. Ihr Haus liegt fünf Minuten von der Klinik entfernt. Bei ihren Nachmittagsspaziergängen ist sie bestimmt unzählige Male daran vorbeigekommen, ohne je auf die Idee zu kommen, dass sie eines Tages hier landen würde: in dem »Heim für alte Ladys, die plemplem geworden sind«, wie sie oft gesagt hat.

Wird sie noch in Bristol arbeiten? In den E-Mails, die sie mir in den letzten achtzehn Monaten geschrieben hat, klang mehr als deutlich durch, dass sie sich mit ihrem Ruhestand nur sehr zögernd anfreunden konnte.

»Es ist nicht so schlimm, wie die glauben«, sagt sie schließlich. »Ich vergesse manche Dinge, aber dafür erinnere ich mich wieder an andere.«

»Deine Ärztin hat mir gesagt, es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass du durch die Gegend geirrt bist.«

»Ich bin an der falschen Haltestelle ausgestiegen. Sie haben die Busroute geändert, und das hat mich durcheinandergebracht. Hör nicht auf Dr. Chaudry. Sie ist jung und glaubt, sie weiß alles.«

Ich hake nicht weiter nach. Vier Mal, hat die Ärztin gesagt. Vier Mal ist meine Mutter verwirrt und orientierungslos auf der Straße aufgegriffen worden. »Wahrscheinlich ist es öfter vorgekommen, aber dann hat sie doch noch nach Hause gefunden oder mir nichts davon erzählt«, hat Dr. Chaudry gesagt. Eine Reihe von Tests sind ohne mein Wissen durchgeführt worden, und die Diagnose ist keine Überraschung. Margaret Camber, die gefürchtete emeritierte Professorin für Geschichte am Locksley College: plemplem.

Definitiv plemplem.

Für jede Frau ist das eine schreckliche Diagnose, für eine so hochintelligente Frau wie meine Mutter jedoch muss es doppelt so schlimm sein.

Dreifach so schlimm sogar, weil sie meine Mum ist.

Ich sitze neben ihrem Bett und kann es immer noch nicht glauben. Dass meine Mutter nicht unbesiegbar ist. Dass sie ebenso wenig immun gegen Krankheit und Sterblichkeit ist wie alle anderen auch. Ich habe Kopfschmerzen vom Jetlag und das Gefühl, als könnte ich nicht klar denken. Ich bin traurig, bedrückt. Ich möchte, dass meine Mutter mich tröstet, doch seltsamerweise sind plötzlich unsere Rollen vertauscht, und es sieht ganz so aus, als müsse ich die Rolle der Trösterin übernehmen.

»Wie lange bleibst du?«, fragt sie nach einer Weile.

»So lange, wie du mich brauchst.«

»Geoff wird sauer sein, wenn ich deine Hilfe über Gebühr in Anspruch nehme.«

»Ach was.«

Erneut herrscht Stille. Dann: »Wie lange bleibst du?«

»So lange, wie … Ich weiß noch nicht genau. Ich habe keinen Rückflug gebucht.«

»Kannst du bitte so schnell wie möglich in mein Büro gehen?«

»Dein Büro? An der Uni?«

Sie nickt, und ich merke, wie sie sofort neue Energie verspürt. »Sonst schmeißen die alles weg, und ich bin noch nicht mit Sortieren fertig.«

»Du meinst deine Bücher und Unterlagen? Soll ich sie zusammenpacken?«

»Die haben meine ganzen Sachen mitten im Zimmer gestapelt. Die verdammten Mistkerle!«

»Reg dich nicht auf, Mum. Wo ist dein Büroschlüssel?«

»Bei meinen anderen Schlüsseln. Meine Handtasche ist in der Schublade da drüben.«

Sie zeigt auf eine Kommode auf der anderen Seite des Bettes. Ich ziehe die unterste Schublade auf und nehme die Schlüssel aus ihrer Handtasche.

»Ich fahre hin, sobald die Schwester mich rausschmeißt«, sage ich.

Sie entspannt sich wieder. »Ich dachte, ich hätte ihn gesehen. Emile.«

»Wer ist Emile?«

»Aber jetzt ist mir klar, dass das ja gar nicht möglich ist. Ich habe da irgendwas durcheinandergebracht. Aber ich dachte, ich hätte ihn auf der anderen Straßenseite gesehen, und habe nicht auf den Verkehr geachtet.«

»Wer ist Emile?«, wiederhole ich.

Traurig schüttelt sie den Kopf. »Ich wollte ihn nur fragen, wie die Geschichte ausgegangen ist.« Sie murmelt irgendetwas vor sich hin. Der Schleier senkt sich wieder. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mich überhaupt noch wahrnimmt.

Schweigend streichle ich ihre Hand. Die Schwester kommt herein und verkündet gut gelaunt, es sei Zeit für den Tee. Ich weiß nicht, ob es an meinem Jetlag oder am Zustand meiner Mutter liegt, aber ich fühle mich ganz und gar nicht nach einem nachmittäglichen Tässchen Tee. Mir ist, als wäre finsterste Nacht.

Das Locksley College liegt an einer langen, von Bäumen gesäumten Straße oberhalb der Clifton Suspension Bridge. Meine Mutter ist jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit voller Freude über diese Ikone der viktorianischen Architektur gefahren, insbesondere als Historikerin und Spezialistin für die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts – der Alltagsgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, um genau zu sein. Sie hat auf BBC 2 sogar für kurze Zeit eine Sendereihe mit dem Titel Das Leben viktorianischer Frauen moderiert. Das war in den Neunzigern, als es mir noch peinlich war, wenn meine Arbeitskollegen sich darüber ausließen, wie attraktiv sie meine Mutter fanden: Mum war fünfzig, ich neunzehn, und ich schien dazu verdammt, für den Rest meines Lebens in ihrem Schatten zu stehen.

Ich fahre im Schritttempo die Straße entlang, halte Ausschau nach einer Parklücke. Eigentlich bin ich sehr müde, aber die zwei Stunden mit dem Mietwagen von Heathrow nach Bristol habe ich schließlich auch überlebt. Ich finde einen Parkplatz, werfe ein paar Münzen in die Parkuhr. Dann gehe ich zum Beech House hinüber (1901 erbaut, also gerade noch viktorianisch) und die abgetretenen Steinstufen hinauf in den dritten Stock in Mums Büro.

Ich werfe kurz einen Blick über die Schulter, bevor ich den Schlüssel ins Schloss stecke. Schuldig fühle ich mich nicht, vielleicht eher wie auf einer geheimen Mission. Stille. Es ist schon nach sechs. Die einen sind wahrscheinlich nach Hause gegangen, um den langen englischen Sommerabend zu genießen, die anderen längst in den Ferien. Ich schließe die Tür hinter mir und bin schlagartig von den Gerüchen umgeben, die ich mit meiner Mutter verbinde, der Muff von alten Büchern, der Duft von Rosenöl. Ich halte einen Augenblick inne und atme tief durch.

Als ich mich umsehe, zieht sich vor Zorn mein Magen zusammen. Mum hatte recht: Irgendwelche »Mistkerle« haben all ihre Akten und Unterlagen aus den Schubladen und Regalen gerissen und sie achtlos in Kartons geworfen, die aufeinandergetürmt in der Mitte des Zimmers stehen. Ein einziges Chaos, die Bücher auf dem Boden und dem Schreibtisch, in den Regalen nur noch Staub.

»Oh, Mum«, sage ich leise, während ich ein paar lose Seiten aus einem Rezeptbuch von 1881 zur Hand nehme und mir damit Luft zufächle. Es ist heiß und stickig. Ich lasse den Blick durch den Raum wandern: Wie soll ich das bloß schaffen?

Ich schwöre mir, gleich morgen früh zurückzukommen. Erst einmal ausschlafen. Und dann werde ich mir den Dekan vorknöpfen, ihm womöglich eins vor den Latz knallen, weil er meine Mutter zwingt, in den Ruhestand zu gehen, es zulässt, dass irgendeine Pappnase von Hausmeister so mit ihren kostbaren Sachen umgeht.

Ich lasse mich in Mums Schreibtischstuhl fallen. Durch das dicke Fensterglas sehe ich, wie die grünen Äste sich in der abendlichen Brise bewegen. Zwischen zwei Bücherstapeln liegt ein kleines Stück Papier; dünn und brüchig fühlt es sich an, als ich es vorsichtig zwischen zwei Finger nehme. Ganz oben steht in geschwungener, verblichener Handschrift:

Meinem Kind, das ich nicht behalten konnte.

Die wenigen Zeilen brechen mittendrin ab; das Stück Papier wurde von einem Blatt abgerissen. Einen Moment lang stelle ich mir vor, wie einer der Kerle, die hier gewütet haben, die übrigen Seiten beim Hinausgehen achtlos mit dem Fuß unter den Tisch gefegt hat.

Für mein Kind. Das ich nicht behalten konnte.

Plötzlich laufen mir Tränen über die Wangen. Ich bin todmüde. Mum ist krank, und ich habe ihr verschwiegen, dass ich ein weiteres Baby verloren habe. Diesmal nach der elften Woche. Ich war so nah dran, die freudige Nachricht zu verkünden. Bald werde ich vierzig, und wie gern hätte ich ein Kind gehabt. Wahrscheinlich werde ich nie eins bekommen.

All meine Kinder, die ich nicht behalten konnte.

Ich blinzle die Tränen weg, deprimiert von meinem eigenen Selbstmitleid, und beginne zu lesen.

Meinem Kind, das ich nicht behalten konnte.

Eins vorweg: Zweifle nie daran, dass ich Dich liebe. Ich liebe Dich noch immer.

Du wurdest mit Liebe gezeugt, mit Liebe geboren und mir wieder genommen, auch das der Liebe wegen. Seit Monaten versuche ich, Dich ausfindig zu machen, doch meine Familie – insbesondere meine Schwester, von der ich größeres Mitgefühl erwartet hätte – weigert sich beharrlich, mir zu verraten, wo Du bist. Sie haben mir lediglich gesagt, dass gut für Dich gesorgt wird. Inzwischen hast Du Deine neue Mama bereits oft angelächelt, vielleicht sogar schon die ersten Worte gesprochen. Du hast Dich an den Rhythmus ihrer Stimme, ihr Timbre gewöhnt, an ihre Umarmungen, das Bettchen, in dem Du schläfst. Allein die Vorstellung versetzt mir einen Stich ins Herz, doch ich bringe es nicht über mich, Dich von dort fortzuholen, wo Du glücklich und in Sicherheit bist. Würde ich Dich finden und Dich fest an mich drücken, dann nur in einer Welt, die uns nichts als Elend und Not zu bieten hätte. Vater hat mir unmissverständlich klargemacht, welchen Preis ich für die verlorene Ehre unserer Familie zahlen würde. Alle Liebe der Welt würde uns nicht vor dem Armenhaus bewahren.

Aber ich habe Dich nicht vergessen, mein Schatz, und Du wirst immer in meinen Gedanken bleiben. Und auch wenn Du diese Zeilen womöglich niemals lesen wirst, kann ich nicht anders, als Dir die Ereignisse zu schildern, die …

Das ist alles. Ich frage mich, wie lange sich der Brief schon in Mums Besitz befindet und ob der Rest auch irgendwo hier herumliegt. Menschen aus aller Welt schicken meiner Mutter derartige Dokumente, die sie zwischen den Seiten alter Bücher oder nach einer Beerdigung in Urgroßmutters schimmelbefallenen Koffern gefunden haben. Sie hat die Zuständigen an der Uni zu überzeugen versucht, ein Archiv für das Material einzurichten, doch der neue Dekan will offenbar nur Gelder für die Archivierung von Dokumenten bereitstellen, die Aufschluss über Politik und Kriege geben – den üblichen Männerkram.

Ich lege das Blatt Papier zurück. Mein Kopf ist bleischwer; ich kann die Augen kaum noch offen halten.

Ich kritzle NICHTS ANFASSEN! auf ein Stück Karton, schließe hinter mir ab und fahre zu Mums Haus.

Als ich hineingehe, empfängt mich der alte vertraute Geruch. Ich mache Licht in der Diele und stelle meinen Koffer ab. Ich kann ihn auch später nach oben bringen. Jetzt will ich einfach nur einen Happen essen und mich aufs Ohr legen.

Als das Licht in der Küche angeht, blinzele ich verwirrt. Im ersten Moment glaube ich, Mum hätte überall blassgelbe Wimpel aufgehängt, doch dann sehe ich, dass die Schränke mit Post-it-Zetteln übersät sind. Auf einigen stehen ganz unmissverständliche Dinge, wie etwa: Dienstag, 15 Uhr – Friseur. Andere sind da schon kryptischer: Anderes Buch, Beth fragen oder 1875. Es sind so viele. Während mein Blick über die Zettel schweift, wird mir abermals klar, was ich so gern verleugnen möchte. Mum weiß, dass sie ihr Gedächtnis verliert. Und das hier sind ihre Versuche, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.

Ich gehe von Schrank zu Schrank, eine Post-it-Jagd durch das Gedächtnis meiner Mutter. Ich kann mir keinen Reim auf die Zettel machen, aber so ähnlich funktioniert das Gedächtnis wohl: Gedanken, die sich zerstreuen und wieder zusammenfügen. Auf dem Schrank mit den Teetassen klebt ein Zettel mit einem einzelnen Namen: EMILE VENSON.

Ich brauche ein paar Sekunden. Mum hat den Namen vorhin erwähnt. Emile. Ich dachte, ich hätte ihn gesehen.

Hat sie nicht irgendetwas gesagt, sie will herausfinden, wie die Geschichte ausgegangen ist? Meine Mutter lebt schon sehr lange allein. Mein Vater – er ist mittlerweile gestorben – hat uns verlassen, als ich gerade zwei Jahre alt war. Viele Männer haben sich für Mum interessiert, aber sie hat ihnen immer nur die kalte Schulter gezeigt. Warum, weiß ich auch nicht. Hatte sie etwas mit diesem Emile? Hat er sie verlassen? Warum wusste ich nichts davon? Und warum wusste ich nicht, dass meine Mutter ihre Erinnerungen auf Post-it-Zetteln festhält? Unsere räumliche Trennung ist im Lauf der Zeit auch zu einer emotionalen Trennung geworden – wie konnte ich es nur so weit kommen lassen?

Ich beuge mich über die Arbeitsplatte und stütze mich auf die Ellbogen. In der Küche ist es so still, dass ich das Rauschen meines eigenen Blutes höre. Im selben Augenblick zucke ich zusammen, als unvermittelt der Kompressor des Kühlschranks anspringt.

Ich muss etwas essen. Und dann ins Bett.

Dann kann ich endlich die Augen schließen und über Mum nachdenken. Und das Meer zwischen uns, das immer größer geworden ist.