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Das Buch

Hildy und Paul, beide 18, nehmen an einem psychologischen Experiment teil: die wissensdurstige, aber etwas chaotische Hildy aus Interesse und tausend anderen Gründen. Paul aus einem einzigen: weil er die Teilnahme bezahlt bekommt. Und so sitzen sich die beiden in einem kargen Universitätsraum gegenüber und stellen sich Fragen, die zwischen ihnen Liebe erzeugen sollen. Fragen, die zunächst scheinbar banal sind (»Wie sähe ein perfekter Tag für dich aus?«) und dann immer persönlicher werden (»Was ist deine schlimmste Erinnerung?«). Fragen, die Hildy im wahren Leben nie jemandem wie Paul stellen würde, dem gut aussehenden Typ, der sich für nichts und niemand interessiert, am wenigsten für Hildy. Oder?

Als ein Fisch durch die Luft fliegt, droht das Experiment zu scheitern. Und plötzlich ist es Paul, der alles tut, damit Hildy wieder an den Tisch zurückkehrt. Und damit auch zu ihm …

»Voller Herz, Humor und dem einen oder anderen fliegenden Fisch – das reine Lesevergnügen! Wetten, dass jeder sich in dieses Buch verliebt?«       Rachel Bateman (Autorin »Glücksspuren im Sand«)

Die Autorin

Die kanadische Autorin Vicki Grant arbeitete zunächst in der Werbung und als preisgekrönte Drehbuchautorin, bevor sie ihre wahre Leidenschaft entdeckte: das Schreiben von Jugendbüchern. Ihre Romane wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die 36 Fragen, die sie zu diesem Roman inspiriert haben, gibt es wirklich – sie wurden vom New Yorker Universitätspsychologen Dr. Arthur Aron entwickelt. Vicki Grant lebt mit ihrer Familie in Halifax, Nova Scotia.

Aus dem kanadischen Englisch von

Astrid Finke

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel 36 Questions That Changed My Mind About You bei Running Press Teens, Hachette Book Group, New York

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Copyright © 2017 by Victoria Grant

Copyright © der 36 Fragen: Arthur Aron, Edward Melinat, Elaine N. Aron, Robert Darrin Vallone, Renee J. Bator: »The Experimental Generation of Interpersonal Closeness: A Procedure and some Preliminary Findings«, in: Personality & Social Psychology Bulletin. Sage Publication 01.04.1997

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Die deutschen Rechte wurden vermittelt durch: Barbara Küper, Literarische Agentur

Redaktion: Martina Vogl

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Illustrationen im Text: Das Illustrat, München, nach der Vorlage von Kyle Metcalf

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-22651-0
V002

Für @cheese_gypsy, @call_me_edwina, @thevirlbox

mit <3

Kapitel 1

Es wurde dreimal hastig geklopft, dann ging die Tür auf, und eine junge Frau stolperte herein, ganz außer Atem.

»Sorry. Entschuldigung, dass ich zu spät bin. Ich musste noch mit meinem Englischlehrer über mein Referat reden, und er war nicht in seinem Zimmer, und …«

Jeff wackelte mit dem Kopf, kein Problem.

»… als er dann endlich da war, hatte ich den Bus schon verpasst und musste in die Stadt zum –«

»Macht nichts. Ist überhaupt nicht schlimm. Haben Sie das Formular ausgefüllt?«

»Äh, ja. Moment.« Sie sah sich nach einem geeigneten Platz für den lebendigen Zierfisch um, den sie in einer kleinen, mit Wasser gefüllten Plastiktüte in der Hand hielt.

»Hier.« Er klopfte auf die Schreibtischecke.

»Danke.« Sie stellte den Fisch ab. »Bäh. Nass. Verzeihung.« Sie hob die Tüte hoch, wischte sie am Ärmel ihres großen grauen Secondhand-Mantels ab und legte sie wieder hin. »Dieser blöde Fisch. Es gibt nur einen Laden, in dem man den kriegt, und mein Bruder – Gabe. Er ist zwölf. Er hat … sorry. Das interessiert Sie gar nicht. Sie wollen das Formular.« Sie begann, in der großen Ledertasche zu wühlen, die sie schräg über der Brust trug. Eine zerlesene Ausgabe von Wiedersehen mit Brideshead fiel auf den Boden.

»Warum setzen Sie sich nicht?« Jeff deutete auf einen Plastikstuhl vor dem Schreibtisch. »Dann geht es vielleicht einfacher.«

Sie setzte sich, hob das Buch auf und suchte weiter. »Normalerweise bin ich nicht so unorganisiert. Ehrlich. Es ist nur. Was für ein Tag. Ich meine, Woche.«

»Es ist blau«, sagte er. »DIN A4 … Da ist es ja. Neben dem, äh, Portemonnaie.«

»Ach ja.« Sie verdrehte die Augen über sich selbst und reichte ihm das Formular. »Meinen Lebenslauf hab ich auch dabei.«

»Nicht nötig.« Er strich den Zettel glatt und überflog ihn schnell.

»Sicher? Ich hab nämlich einen kurzen Absatz geschrieben, dass ich unter Umständen Psychologie im Nebenfach studieren will, besonders in Bezug auf –«

»Nein, wirklich. Es sind keine Qualifikationen erforderlich.«

Während er ihr Formular durchlas, sah sie sich im Büro um. »Sie mögen Spielzeug«, sagte sie.

Ohne den Kopf zu heben, verbesserte er: »Action-Figuren.« Sie waren in den Regalen nach Genre, Seltenheit, Alter und einem schwer zu definierenden Zusatzfaktor sortiert: dem kleinen Kick, den ihm die richtig coolen gaben. Das war kein Spielzeug.

Er machte sich Notizen, dann sagte er. »Also, Hilda Sangster, Citadel High…«

Sie stöhnte.

Jetzt hob er den Kopf. »Stimmt was nicht?«

»Sorry. Das mit dem Hilda. Das hätte ich erklären sollen.«

Er sah noch einmal auf das Formular.

»Ich weiß, dass ich Hilda geschrieben habe, aber nur, weil da stand ›Vorname, Nachname‹, nicht ›Rufname‹, und ich dachte mir, Sie brauchen das für offizielle Zwecke, deshalb habe ich es, na ja, ordnungsgemäß ausgefüllt, obwohl ich den Namen nicht ausstehen kann. Er ist so, wie soll ich sagen, teutonisch oder so. Niemand nennt mich Hilda.«

»Und wie sollte ich Sie dann nennen?«

»Hildy.«

»Hil-dy, nicht Hil-da.«

»Klingt nicht groß anders, aber, mal ehrlich? Für mich? Riesenunterschied. Irgendwann lasse ich ihn ändern, also amtlich und alles, aber meine Oma lebt noch, und, na ja, Rücksicht auf Gefühle, Familientradition etc. etc.«

Sie musste bemerkt haben, dass sie zu viel redete. Sie lächelte verlegen und drückte den Rücken durch.

»Dann also Hildy. Ich sehe hier, Sie sind in der zwölften Klasse. Sie sind single?«

Sie lachte auf eine Art, die nur Ja bedeuten konnte.

»Und Sie sind, was? Achtzehn? Gut. Sie müssen nämlich eine Einverständniserklärung unterschreiben.«

»Klar. Kein Problem, aber … Ähm. Vielleicht sollte ich mich erst mal erkundigen, worum es geht? Ich meine, es gibt Grenzen dessen, was ich im Namen der Wissenschaft so alles tue.« Wieder lachte sie, aber sie wussten beide Bescheid.

»Auf jeden Fall. Gut. Mein Name ist Jeff. Ich bin Doktorand hier an der Uni. Vor Kurzem habe ich ein Forschungsstipendium erhalten zum Thema – tja, am besten kann man es als ›Beziehungsaufbau‹ beschreiben. Im Prinzip interessiere ich mich für die Frage, ob man Testpersonen wie Sie, zum Beispiel, dahingehend beeinflussen kann, dass sie eine enge persönliche Bindung zu einem anderen Teilnehmer entwickeln, die sich wiederum möglicherweise weiterentwickelt zu –«

»Entschuldigung. Ähm. Verstehe ich das richtig?« Sie schlang die Arme um ihre Tasche, als wäre sie ein Kleinkind, das getröstet werden musste. »Sie wollen rausfinden, ob man Menschen dazu bringen kann, sich zu mögen?«

Einer seiner Mundwinkel zuckte nach oben. »Nicht unbedingt dazu bringen.« Wenn er das gekonnt hätte, wäre er Milliardär. »Es geht uns nicht um Gehirnwäsche. Wir wollen nur testen, ob es möglich ist, eine persönliche Nähe, sagen wir mal, zu fördern, aus der sich letztlich mehr ergeben könnte.«

»Eine Freundschaft, meinen Sie?«

»Ja. Oder besser gesagt, eine Beziehung. Ich untersuche, wie Menschen intime Bindungen eingehen und ob dieser Prozess in irgendeiner Weise angestupst werden kann.«

»Liebe?«, fragte Hildy, als wäre es ein Vorwurf, »darum geht es hier?«

Er schrieb sich etwas auf. »Ja, potenziell, wobei –«

»Hat Max Ihnen meinen Namen gegeben?« Sie klang verärgert.

»Max? Nein. Welcher Max?«

»Xiu?«

»Was? Ich weiß gar nicht, was das ist.«

»Xiu Fraser?«

»Nein. Niemand hat mir Ihren Namen gegeben. Sie haben doch mich kontaktiert. Wissen Sie nicht mehr? Das hier ist nur eine psychologische Studie, um zu erforschen, ob Liebe –«

»Liebe!«, sagte sie wieder und sprang auf.

Wie sie es schaffte, sein Regal von der Wand zu reißen, war ihm ein Rätsel – so groß war sie nämlich gar nicht –, aber plötzlich flogen Action-Figuren um sie herum, als hätte es in einem Animationsfilm eine Explosion gegeben.

»O Gott. Nein. Entschuldigung«, sagte sie und drehte sich dabei um die eigene Achse, um zu sehen, was sie angerichtet hatte. Dabei schwang ihre Ledertasche herum und traf eine Lampe, die gegen ein anderes Regalbrett krachte, sodass es jetzt auch noch Superschurken hagelte.

Sie schlug sich die Hand vor den Mund und stieß die Art von Winseln aus, das Hunde machen, wenn sie nach draußen müssen.

Dann ging sie in die Hocke, hob mit beiden Händen Figuren auf und türmte sie auf seinen Schreibtisch.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht kommen dürfen. Ich hätte mein Zimmer nicht verlassen dürfen. Im Ernst. So was passiert, wenn ich –«

»Es war doch nur ein Versehen.«

»Nein. Nein, nein, nein, nein.« Sie machte eine ausladende Geste durchs Zimmer. »Diese ganzen kleinen Körper überall? Das Chaos? Perfekte Metapher für mein Leben. Genau das. Mache ich. Ständig.«

Mit einem Märchenprinzen aus den 1930er-Jahren, den sie an den Füßen hielt und durch die Luft schwenkte, verlieh sie ihren Worten Nachdruck. Es war eine von Jeffs Lieblingsfiguren. Er hatte Angst, der Kopf könnte abfallen.

»Schon gut.« Er bemühte sich, entspannt zu klingen. »Ist ja kein Drama. Ich räume das wieder auf. Ehrlich. Ich hab da ein System. Bitte. Hören Sie auf.«

Er musste es mehrmals sagen, bis sie nickte, sich erneut entschuldigte und aufstand, besser gesagt es versuchte. Sie trat auf ihren Mantel und knallte mit der Stirn gegen die Schreibtischkante. Es musste wehgetan haben, aber mittlerweile hatte sie eine eigenartige Ruhe zurückgewonnen. Sie atmete laut durch die Nase ein, hob den Mantelsaum hoch, als wäre er Aschenputtels Ballkleid, und stand auf.

»Ähm. Entschuldigen Sie den kleinen Ausbruch … und das Chaos … und dass ich Ihnen die Zeit gestohlen habe und alles. Ich wusste nicht, worum es bei der Studie geht. Ich hätte mich nicht anmelden sollen.« Sie verzog den Mund zu einer Art Lächeln und verließ den Raum.

Jeff betrachtete die auf dem Boden verstreuten Action-Figuren. Er hatte momentan zu viel zu tun, um sie in der richtigen Ordnung wieder aufzustellen. Also legte er sie alle in einen Karton unter seinem Schreibtisch, wo er ihre winzigen Schreie nicht hören könnte.

Er dachte über Hildy nach.

Was zum Henker war da los? Fluchtreflex? Konfliktvermeidung? Irgendein komisches Religionsding?

Er setzte sich und überprüfte seine Notizen. Hatte er das alles vorhergesehen? Hatte er versehentlich etwas ausgelöst?

Im Rahmen der Studie hatte er eine kleine Nebenwette mit sich selbst laufen. Er war nicht hundertprozentig sicher, wie ethisch korrekt das war, aber es hielt das Ganze interessant. Und zwar machte er sich Notizen zu den Teilnehmern, vergab Wertungen nach einem Punktesystem und versuchte dann vorauszusagen, ob es zwischen zwei von ihnen funken würde, wenn er sie zusammen in einen Raum steckte.

Im Verlauf des Gesprächs hatte er ein paar Stichworte neben Hildys Namen geschrieben. Wie immer hatte er das spontan gemacht, denn er fand, wenn die Teilnehmer sich auf ihren ersten Eindruck verlassen mussten, sollte das auch für ihn gelten.

WW – AE

HIQ/HA

TG

FST

Womit gemeint war:

Weiß, weiblich – Akademikereltern

Hoher IQ/Hohe Ansprüche

Theatergruppe

Französisches Spruch-Tattoo

Bei Letzterem stellte er sich ein nebulöses Zitat von einem Philosophen aus dem achtzehnten Jahrhundert oder einem Nachkriegsregisseur in Schreibschrift auf ihrem Fußrücken vor.

(Damit zumindest lag er falsch. Ein nebulöses Zitat hätte Hildy zwar vielleicht zugesagt, aber sie hätte sich niemals tätowieren lassen. Sie hatte Angst vor Nadeln und, wichtiger noch, vor Dauerhaftigkeit. Sie betrachtete sich gern als noch im Puppenstadium ihres Daseins befindlich.)

Einen Zahlenwert festzulegen war der Teil, bei dem Jeff die größten Bedenken hatte. Die Skala reichte natürlich von eins bis zehn und beruhte natürlich auf körperlicher Attraktivität. Aber sie war nicht sexistisch gemeint. Er stufte die männlichen und die transsexuellen Teilnehmer ebenfalls ein.

Außerdem war er, redete er sich ein, nur realistisch. Das Äußere zählte nun mal, obwohl er ganz ehrlich nicht wusste, welches oder warum. Früher hatte er geglaubt, dass glutvolle Augen oder imposante Brüste oder breite Schultern immer punkten würden, aber so war es offenbar nicht. Es gab eine Menge Joker im Kartenspiel menschlicher Sexualität.

Bei Hildy fiel ihm die Wertung schwer. Sie war keine Schönheit – Augen zu klein, Mund zu groß –, aber er wusste, dass das für eine Teilmenge von Männern keine Rolle spielte. Da bekäme sie Extrapunkte für interessant. Durch den riesigen Wintermantel, den sie trug, konnte er ihre Statur nicht genau beurteilen. Durchschnittlich, würde er sagen. Vielleicht schmal bis durchschnittlich.

Bestnoten für ihre Haare allerdings. Sie waren lang und glänzend und mussten blond gewesen sein, als sie noch klein war. Die meisten Heteromänner standen total auf Haare, besonders auf diese zarten Strähnen, die sich aus geflochtenen Zöpfen lösten und Andeutungen hauchten, man wäre gerade aus dem Bett gekrochen.

Er gab ihr eine 7,5. Schade eigentlich, dachte er, dass sie nicht an der Studie teilnahm. Sie hätte eine interessante Ergänzung abgegeben.

Es klopfte. Er sah auf die Uhr. Etwas früh für den nächsten Teilnehmer.

»Herein.«

Hildy trat ein. Sie hielt den Märchenprinzen in der Hand.

»Den hab ich aus Versehen mitgenommen.« Sie verzog entschuldigend das Gesicht und legte ihn auf den Schreibtisch. »Ich hab es erst gemerkt, als ich schon unten war.«

»Sie haben aus Versehen einen Märchenprinzen mitgenommen.« Jeff zog die Augenbrauen hoch. »Was Freud wohl dazu gesagt hätte?«

Das war als Witz gemeint, aber Hildy sagte: »Ja, eben. Deshalb bin ich wieder hier. Ich meine, ich musste ja die Figur zurückbringen und den Fisch habe ich auch vergessen, es war also nicht der einzige Grund, nur –« Sie unterbrach sich. »Wissen Sie, ich bin nicht abergläubisch oder so, aber ich hab da unten kurz nachgedacht und, äh, also, wenn das Universum sich solche Mühe gibt, einem ein Zeichen zu senden, sollte man es vermutlich berücksichtigen.« Sie setzte sich wieder. »Darum möchte ich jetzt doch an der Studie teilnehmen. Ich meine, wenn Sie einverstanden sind.«

»Sind Sie sicher?«, fragte er.

»Ja. Na ja, so sicher ich mir überhaupt jemals bin.« Sie lächelte, und er notierte sich FB für Ferienlagerbetreuerin. Vor seinem geistigen Auge sah er Hildy kleinen Kindern gut zureden, sich immer anzustrengen und kein Spielverderber zu sein.

»Also. Würden Sie mir bitte noch mal das Experiment erklären? Ich verspreche auch, nicht wieder auszuflippen.«

Er zwang sich, nicht nach den noch intakten Regalen auf der anderen Zimmerseite zu schielen. »Super. Okay. Unsere Arbeit beruht auf einer Studie mit dem Titel ›The Experimental Generation of Interpersonal Closeness‹, zu Deutsch ›Die experimentelle Erzeugung zwischenmenschlicher Nähe‹. Entwickelt wurde sie in den Neunzigern von einem Psychologen namens Dr. Arthur Aron. Seine Ergebnisse waren damals nicht eindeutig, aber die Welt hat sich seitdem verändert. Wir fragen uns, inwiefern das digitale Zeitalter die Art und Weise, wie Intimität erlebt wird, beeinflusst hat oder auch nicht. Im Prinzip wollen wir untersuchen, wie junge Menschen, die mit zwölfhundert Online-›Freunden‹ aufgewachsen sind, auf ein intensives, persönliches, emotionales Gespräch reagieren. Klingt das interessant für Sie?«

»Was muss ich tun?« Das war noch kein echtes Ja.

»Nicht viel. Wir weisen Ihnen einen nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Fremden als Partner zu – je nach Ihrer sexuellen Orientierung männlich oder weiblich – und geben Ihnen sechsunddreißig Fragen, die Sie einander stellen müssen. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten, keine guten oder schlechten. Unsere einzige Bitte ist, dass Sie so ehrlich wie möglich antworten.«

»Aha. Zufallsprinzip?«

»Was?«

»Sagten Sie, ›einen nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Fremden‹?«

»Ja.«

»Das könnte also jeder sein?«

Er befürchtete einen weiteren Ausbruch. »Ja, schon, aber realistisch ist, dass es sich um einen anderen Schüler oder Studenten handelt und nicht um, sagen wir mal, um Drake oder einen der Jonas Brothers …«

»Oder einen Serienmörder?« Irgendwie ein Scherz, aber nicht so richtig.

»Höchst unwahrscheinlich. Außerdem wird die Studie hier an der Uni durchgeführt. Wir haben sämtliche relevanten Daten der Teilnehmer, aber Sie werden den echten Namen und die Adresse Ihres Partners nicht kennen.«

»Gut. Dann sollte das okay sein, denke ich.«

Sollte okay sein.

Er ging nicht darauf ein und warf noch einen Blick auf ihr Formular.

»Sie haben sich selbst als hetero bezeichnet. Dann bekommen Sie eine männliche Testperson ungefähr ihres Alters zugeteilt. Sie werden sich gegenseitig einfach Bob und Betty nennen. Wir bitten all unsere Teilnehmer, diese Namen zu benutzen. Wir haben sämtliche Vorkehrungen getroffen, um Ihre Privatsphäre und Ihre körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten.«

Sie nickte, aber ihre Augen flackerten zu stark, um sie zu ignorieren.

»Sie sind noch nicht überzeugt«, sagte er.

»Doch, doch. Na ja. Zumindest, was die körperliche Unversehrtheit betrifft.«

»Aber nicht, was?«

Flatterige Hände. Achselzucken. Seufzen. »Das klingt jetzt wahrscheinlich albern.«

Er wartete.

»Aber was ist mit, also, emotionaler Unversehrtheit?«

»Soll heißen?«

Sie stieß hörbar Luft aus. »Weiß nicht. Alles Mögliche! Zurückweisung. Enttäuschung. Schrecklicher Liebeskummer. Ha, ha. Sie wissen schon. Das Übliche.«

»Ich würde sagen, so ist eben das Leben.« Nebenbei einer der Gründe, warum er schon immer Action-Figuren bevorzugt hatte.

»Ja. Ich weiß schon, aber. Ich meine, ich könnte mich da mit einem Wildfremden hinsetzen und die sechsunddreißig Fragen abhaken, und plötzlich bin ich rettungslos verknallt in einen, was weiß ich, Troll oder so.«

»Meines Wissens haben sich keine Trolle beworben.«

»Dumme Frage.«

Das hatte er nicht gesagt. Sie nestelte an den Knöpfen ihres Mantels, dann lachte sie unfroh.

»Ach, wem will ich hier was erzählen? Das eigentliche Problem wäre, wenn der Troll meine Gefühle nicht erwidern würde. Aber, wie Sie schon sagen, so ist eben das Leben. Oder zumindest mein Leben.« Sie schüttelte den Kopf. »Sorry. Bla, bla, bla. So bin ich immer, wenn ich gestresst bin. Bei mir ist einfach momentan bisschen viel los. Meine eigene Schuld natürlich. Kann die Klappe nicht halten. Betriebsblind. Kaputter sozialer Radar. So in der Art. Meine Freunde sagen mir immer, ich sollte – Ups. Sehen Sie? Bla, bla, bla. Sorry. Beachten Sie mich gar nicht.«

»Kein Druck«, sagte er und ging nicht weiter darauf ein.

Sie zog die Ärmel herunter und knautschte sie in ihre Fäuste. Ein paar Sekunden lang betrachtete sie den Plastik-Märchenprinzen, dann wandte sie sich wieder Jeff zu. »Okay. Ich mach’s. Ich sollte es machen.«

»Es gibt hier kein ›sollte‹. Wirklich. Ich möchte nicht, dass Sie teilnehmen, nur weil das Universum gesagt hat, Sie müssten.«

Das brachte sie zum Lachen. »Keine Sorge. Ich lasse mich von keinem fiesen alten Universum rumschubsen. Ich möchte mitmachen. Ganz im Ernst. Tief drinnen will ich, glaube ich, tatsächlich. ›Wer nicht wagt, der nicht gewinnt‹, stimmt’s?«

»Großartig.« Er sah ein letztes Mal auf ihre Anmeldung. »Hier ist so weit alles in Ordnung, wenn Sie also keine weiteren Fragen haben, müssten Sie nur noch die Einverständniserklärung unterschreiben.«

Er gab ihr einen Moment Zeit. Beim Lesen fuhr sie mit dem Finger jede Zeile nach, dann schrieb sie ihren Namen unten auf das Blatt.

»Okay. Mein Herz liegt in Ihren Händen!« Hildy lächelte, und ihre Augen verschwanden hinter dichten Wimpern. Ihre Zähne waren groß und gerade und weiß. Ihre Haut war makellos.

Er verbesserte ihre Wertung auf 7,75 und nahm das Formular.

»Also gut. Gehen Sie bitte in Zimmer 417, den Flur runter links. Nehmen Sie sich Kaffee. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Karteikarten mit den Fragen, aber drehen Sie sie bitte erst um, wenn Sie anfangen. In Kürze schicken wir Ihnen einen Partner. Ich werde mich bemühen, die Trolle auszusortieren.«

Sie zog sich den Mantelkragen über den Mund und lachte wieder. Vielleicht war sie sogar eine glatte Acht.

»Und vergessen Sie den Fisch nicht. Sonst nimmt er es langsam persönlich.«