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Buch

Im eisigen Sibirien trifft Ex-Geheimagent Cotton Malone auf Aleksandr Zorin, einem Mann, der auch Jahre später der ehemaligen Sowjetunion die Treue hält und die USA abgrundtief hasst. Malone kann ihm entkommen – vorher findet er jedoch heraus, dass ein weiterer ehemaliger KGB-Agent in Washington, D.C. auf Zorin wartet. Gemeinsam wollen sie am Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten einen Anschlag verüben, der die Vereinigten Staaten und die ganze westliche Welt ins Chaos stürzen könnte. Malone muss eingreifen, doch Zorin und sein Gehilfe sind im Besitz einer Waffe aus dem Kalten Krieg, gegen die es kaum Gegenwehr gibt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Autor

Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hochspannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und begeistert Leser in über fünfzig Ländern. Steve Berry lebt mit seiner Frau in St. Augustine, Florida.

Von Steve Berry bereits erschienen:

Die Napoleon-Verschwörung, Das verbotene Reich, Die Washington-Akte, Die Kolumbus-Verschwörung, Das Königskomplott, Der Lincoln-Pakt, Antarctica, Geheimakte 16, Plan Zero

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Steve Berry

PLAN ZERO

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»The 14th Colony« bei Minotaur Books, New York.

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1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Steve Berry

Published by Arrangement with MAGELLAN BILLET INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Werner Bauer

Covergestaltung: © Johannes Frick unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Orhan Cam, © Durch STILLFX, © patrice6000, © caesart, © Olga Nikonova, © Matt Gibson)

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22821-7
V001

www.blanvalet.de

Für die Ducks:

Larry und Sue Begyn, Brad und Kathleen Charon, Glenn und Kris Cox, John und Esther Garver, Peter Hedlund und Leah Barna, Jamie und Colleen Kelly, Marianna McLoughlin, Terry und Lea Morse, Joe Perko, Diane und Alex Sherwood, Fritz und Debi Strobl sowie Warren und Taisley Weston.

Die Amtsperioden des Präsidenten und des Vizepräsidenten enden am Mittag des 20. Tages des Monats Januar.

US-Verfassung, 20. Zusatzartikel

Prolog

Vatikanstadt

Montag, 7. Juni 1982

Ronald Reagan wusste, dass ihn die Hand Gottes hergeführt hatte. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben? Noch zwei Jahre zuvor hatte er in erbitterten Vorwahlen gegen zehn Mitbewerber zum dritten Mal um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner gekämpft. Er gewann diese Schlacht und die Wahl, besiegte den amtierenden Demokraten Jimmy Carter und gewann in vierundvierzig Bundesstaaten. Vor vierzehn Monaten versuchte ein Attentäter, ihn umzubringen, doch er wurde der erste amerikanische Präsident, der ein Attentat mit einer Schusswaffe überlebte. Und jetzt war er hier, in der dritten Etage des Apostolischen Palasts, auf dem Weg zum privaten Arbeitszimmer des Papstes, wo das Oberhaupt von nahezu einer Milliarde Katholiken darauf wartete, mit ihm zu reden.

Er trat ein – und bewunderte sogleich die Gediegenheit des Raums. Schwere Vorhänge schützten vor der Sommersonne. Doch er wusste, dass der Papst jeden Sonntag aus diesen Fenstern hinaus mit Tausenden Besuchern des Petersplatzes betete. Der Raum war spärlich möbliert; das größte Möbelstück war ein einfacher Schreibtisch aus Holz, der mehr an einen Esstisch erinnerte, mit zwei hochlehnigen Polsterstühlen, die sich an den Längsseiten des Schreibtischs gegenüberstanden. Auf der Tischplatte befanden sich nur eine goldene Uhr, ein Kruzifix und eine lederne Schreibtischunterlage. Unter dem Tisch bedeckte ein Orientteppich den Marmorboden.

Johannes Paul II. stand ganz in päpstliches Weiß gekleidet in der Nähe des Schreibtisches. In den vergangenen Monaten hatten sie sich gegenseitig vertraulich über ein Dutzend Briefe geschrieben, von denen jeder einzelne durch einen Boten überbracht worden war. Sie hatten sich darin über die Schrecken der Nuklearwaffen und die Krise Osteuropas ausgelassen. Vor sieben Monaten hatte die polnische Regierung auf Druck der Sowjets das Kriegsrecht ausgerufen und alle Diskussionen über Reformen abgewürgt. Im Gegenzug verhängten die Vereinigten Staaten Sanktionen gegen die UdSSR und die polnische Marionettenregierung. Diese Sanktionen sollten aufrechterhalten werden, bis alle politischen Gefangenen befreit waren, das Kriegsrecht beendet und der unterbrochene Dialog fortgeführt wurde. Um sich besser mit dem Vatikan abzustimmen, hatte er dem Papst über seine Sonderbotschafterin bergeweise Geheimdienstinformationen über Polen zukommen lassen und ihn stets umfassend informiert. Allerdings bezweifelte er, dass er dem Papst viel mitteilte, was diesem nicht längst bekannt gewesen wäre.

Doch eins hatte er in Erfahrung gebracht.

Dieser zurückhaltende Geistliche, der in eine der einflussreichsten Positionen der Welt aufgestiegen war, glaubte wie er, dass die Sowjetunion scheitern musste.

Der Papst und er reichten sich die Hände, tauschten Freundlichkeiten aus und posierten für die Kameras. Dann machte Johannes Paul ein Zeichen, dass sie sich an den Schreibtisch begeben sollten. Sie setzten sich einander gegenüber. An der Wand hing ein Gemälde mit einer Darstellung der Madonna, die sie aufmerksam betrachtete. Die Fotografen zogen sich zurück, ebenso alle Adjutanten. Die Türen wurden geschlossen, und nun begegneten sich zum ersten Mal in der Geschichte ein Papst und ein Präsident der Vereinigten Staaten unter vier Augen. Reagan hatte um diese außergewöhnliche Geste gebeten, und Johannes Paul hatte keine Einwände dagegen erhoben. Bei der Vorbereitung dieses Gesprächs unter vier Augen waren keine offiziellen Mitarbeiter eingebunden gewesen; lediglich seine Sonderbotschafterin hatte hinter den Kulissen alles vorbereitet.

Also wussten beide Männer, warum sie hier waren.

»Ich will gleich auf den Punkt kommen, Eure Heiligkeit. Ich will das Abkommen von Jalta aufkündigen.«

Johannes Paul nickte. »Das will ich auch. Es war ein unanständiges Konzept. Ein großer Fehler. Ich war immer der Meinung, dass die Grenzziehungen von Jalta widerrufen werden sollten.«

In diesem ersten Punkt hatte seine Sonderbotschafterin die Auffassung des Papstes richtig gedeutet. Die Konferenz von Jalta hatte im Februar 1945 stattgefunden. Stalin, Roosevelt und Churchill trafen sich zum letzten Mal und entschieden darüber, wie ein Nachkriegseuropa aussehen und regiert werden sollte. Es wurden Grenzlinien gezogen – manche willkürlich, andere bewusst als Entgegenkommen an die Sowjets. Zu diesen Zugeständnissen gehörte auch die Vereinbarung, dass Polen weiterhin dem Machtbereich der UdSSR zugehören sollte. Stalin hatte versprochen, freie Wahlen abhalten zu lassen. Das war natürlich nie geschehen, und seither herrschten dort die Kommunisten.

»Jalta hat künstliche Teilungen geschaffen«, fuhr Johannes Paul fort. »Ich und Millionen andere Polen bedauern zutiefst, dass unsere Heimat weggegeben wurde. Unsere Leute kämpften und starben in jenem Krieg, aber das hat niemanden interessiert. Wir mussten vierzig Jahre lang eine Gewaltherrschaft erdulden, die mit den Nazis begann und dann von den Sowjets fortgeführt wurde.«

Reagan gab ihm recht. »Ich glaube auch, dass Solidarność die Möglichkeit bietet, Jalta ein Ende zu bereiten.«

Der Riss im Eisernen Vorhang war vor zwei Jahren entstanden, als sich in den Werften von Danzig die erste Gewerkschaftsbewegung gründete, die nicht von den Kommunisten kontrolliert wurde. Inzwischen waren über neun Millionen Polen in diese Gewerkschaft eingetreten, rund ein Drittel aller Beschäftigten. Ein aufmüpfiger Elektriker namens Lech Walesa war ihr Anführer. Die Bewegung war stärker und einflussreicher geworden und hatte immer mehr Zulauf erfahren – so viel, dass die polnische Regierung im vergangenen Dezember das Kriegsrecht verhängte, um sie zu unterdrücken.

»Es war ein Fehler, dass sie versuchten, Solidarność zu zerschlagen«, sagte er. »Man kann nicht etwas für eine gewisse Zeit erlauben, und wenn es dann Fahrt aufnimmt, den Kurs ändern und es verbieten. Damit hat die Regierung ihren Einfluss überschätzt.«

»Wir sind bei polnischen Regierungsvertretern vorstellig geworden«, erwiderte Johannes Paul. »Wir müssen Gespräche über die Zukunft von Solidarność und die Beendigung des Kriegsrechts aufnehmen.«

»Warum sollten wir dagegen angehen?«

Reagan beobachtete, dass diese neue Betrachtungsweise auf offene Ohren stieß. Seine Sonderbotschafterin hatte ihn gedrängt, das Thema anzusprechen, weil sie davon ausging, damit im Vatikan Gehör zu finden.

Der Papst verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich verstehe. Sollen sie weitermachen. Damit entfremden sie sich nur noch mehr von den Menschen. Weshalb sollte man dem Einhalt gebieten?«

Reagan nickte. »Die Ablehnung von Solidarność durch die Regierung ist wie ein Krebsgeschwür. Es soll sich ausbreiten. Jedes Wort der Regierung gegen die Bewegung macht sie nur stärker. Das Einzige, was Solidarność braucht, um am Leben zu bleiben, ist Geld, und die Vereinigten Staaten sind bereit, es beizusteuern.«

Der Papst nickte und dachte offensichtlich über den Vorschlag nach. Dies war erheblich mehr, als die Leute der Reagan-Administration bisher zu tun bereit gewesen waren. Das Außenministerium hatte sich vehement gegen diese Taktik ausgesprochen und behauptet, das polnische Regime sei stabil, solide und populär. Dieselbe Einschätzung hatte es auch für Moskau und die UdSSR geäußert.

Doch es hatte sich geirrt.

»Der innere Druck wächst mit jedem Tag«, fuhr Reagan fort, »und die Sowjets haben keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen. Der Kommunismus ist nicht imstande, auf Widerspruch anders als mit Terror und Gewalt zu reagieren. Moskaus Ethik ist nur einem einzigen Ziel verpflichtet: Es geht darum, die eigene Agenda voranzubringen. Die Kommunisten nehmen für sich das alleinige Recht in Anspruch, Verbrechen jeglicher Art zu begehen. Zu lügen, zu betrügen und alles zu tun, was sie wollen. Solche politischen Systeme haben noch nie überlebt. Es ist unausweichlich, dass ihr System zusammenbrechen wird.« Er machte eine Pause. »Aber wir können es beschleunigen.«

Johannes Paul nickte. »Der Baum ist verfault. Jetzt muss man ihn nur noch fest genug schütteln, dann fallen die faulen Äpfel herunter. Der Kommunismus nimmt den Menschen ihre Freiheit.«

Dies war eine andere Einschätzung, von der seine Sonderbotschafterin bereits berichtet und auf die er gehofft hatte. Noch nie hatten sich ein Papst und ein Präsident auf eine solche Weise miteinander verschworen, und keiner von ihnen würde jemals eingestehen können, dass es geschehen war. Die Kirche hatte offiziell jeglicher Einmischung in die Politik entsagt. Das war der Welt erst kürzlich vor Augen geführt worden, als Johannes Paul einen Priester rügte, der sich dem päpstlichen Befehl widersetzte, von einem Regierungsamt zurückzutreten. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Kirche Unterdrückung nicht registrierte; schon gar nicht, wenn sie sich den Unterdrückten so verbunden fühlte. Was ein weiterer Beweis für ein göttliches Wirken war. In diesem exakten Augenblick der Weltgeschichte schien sich alles auf Polen zu konzentrieren. Zum ersten Mal seit vierhundertfünfzig Jahren saß ein Nicht-Italiener – ein Pole – auf dem Papstthron in St. Peter. Und fast neunzig Prozent aller Polen waren katholisch.

Kein Drehbuchautor hätte sich das besser ausdenken können.

Die Sowjetunion stand vor einer gewaltigen Umwälzung. Er spürte, wie sie näher rückte. Dieses Land war keineswegs gegen Revolten gefeit, und Polen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen konnte. Das war zwar ein Klischee, traf die Sache aber auf den Punkt. Es war wie mit den Dominosteinen – wenn das erste Land fiel, fielen sie alle. Die Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und alle anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion. Der gesamte Ostblock. Ein Land nach dem anderen würde abfallen.

Warum sollte man nicht mit einem kleinen Stoß nachhelfen?

»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf …«, meldete Reagan sich wieder zu Wort. »… Man hat mich einmal gefragt, woran man einen Kommunisten erkennt. Die Antwort ist leicht. Das ist jemand, der Marx und Lenin liest. Aber woran erkennt man einen Anti-Kommunisten?« Er machte eine Pause. »Das ist jemand, der Marx und Lenin versteht.«

Der Papst lächelte.

Doch es entsprach der Wahrheit.

»Ich habe meine Zustimmung zu diesem Gespräch unter vier Augen gegeben«, sagte der Papst, »weil ich uns die Gelegenheit verschaffen wollte, einen aufrichtigen Dialog zu führen. Es schien mir überfällig zu sein. Deshalb muss ich Sie fragen: Was ist mit den Cruise Missiles, die Sie in Europa stationieren wollen? Gegenwärtig findet unter Ihrer Führung eine beispiellose Wiederbewaffnung Amerikas statt, und die Ausgaben betragen viele Milliarden Dollar. Das bereitet mir Sorgen.«

Seine Sonderbotschafterin hatte ihn vor diesen Vorbehalten gewarnt, deshalb hatte er eine Antwort parat. »Es gibt niemanden auf dieser Welt, der den Krieg und Nuklearwaffen mehr hasst als ich. Wir müssen den Planeten von diesen beiden Geißeln befreien. Mein Ziel ist Frieden und Abrüstung. Doch um es zu erreichen, muss ich mich der Mittel bedienen, die mir zur Verfügung stehen. Ja, wir haben die Ausgaben für Waffen erhöht. Doch ich tue das nicht nur, um Amerika stark zu machen, sondern auch, um die UdSSR in den Ruin zu treiben.«

Johannes Paul hörte aufmerksam zu.

»Sie haben recht. Wir geben Milliarden aus. Den Sowjets bleibt keine Wahl, als es uns gleichzutun und ebenso viel und mehr auszugeben. Der Unterschied ist, dass wir uns diese Ausgaben leisten können, sie jedoch nicht. Wenn die Vereinigten Staaten Geld für Regierungsprojekte ausgeben, fließen diese Mittel durch Gehälter und Profite wieder in unsere Wirtschaft zurück. Aber wenn die Sowjets Geld ausgeben, belasten sie damit nur ihren Staatshaushalt. Dort gibt es keinen freien Markt. Das Geld verschwindet einfach und kehrt nicht zurück. Die Gehälter werden kontrolliert, die Profite reguliert, und deshalb müssen sie ständig neues Geld generieren, nur um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Wir recyceln unser Geld. Mit ihrem Rubel können sie unserem Dollar nicht Jahr für Jahr das Wasser reichen. Das ist unmöglich. Sie werden implodieren.«

Der Papst war sichtlich angetan.

»Der Kommunismus hat es nie geschafft, sich durch öffentliche Unterstützung zu legitimieren. Seine Herrschaft beruht ausschließlich auf der Macht, die mit Terror durchgesetzt wird. Die Zeit hat gegen sie gearbeitet, die ganze Welt hat es getan, weil sie sich geändert hat. Kommunismus ist nur eine moderne Form der Leibeigenschaft, und ich kann keine Vorteile gegenüber dem Kapitalismus erkennen. Ist Eurer Heiligkeit klar, dass in der UdSSR nicht einmal eine von sieben Familien über ein eigenes Auto verfügt? Wenn jemand ein Auto kaufen möchte, beträgt die Wartezeit zehn Jahre. Wie soll man ein solches System für stabil oder abgesichert halten?«

Johannes Paul lächelte. »Das Regime steht auf einem brüchigen Fundament. Das hat es schon immer getan, von Anfang an.«

»Ich möchte Ihnen versichern, dass ich kein Kriegstreiber bin. Es geht dem amerikanischen Volk nicht um Eroberung. Wir wollen einen dauerhaften Frieden.«

Reagan meinte, was er sagte. In seiner Jackentasche trug er ein laminiertes Kärtchen mit den Codes, die nötig waren, um einen Nuklearangriff zu starten. Gleich vor der Tür saß ein Militärattaché mit einer schwarzen Lederaktentasche, in der sich etwas befand, was genau diesem Zweck diente. Alles in allem verfügten die Vereinigten Staaten über 23 464 atomare Sprengköpfe. Die Sowjetunion lagerte 32 049. Reagan nannte sie »die Werkzeuge Armageddons«. Schon eine Handvoll von ihnen konnte die gesamte menschliche Zivilisation auslöschen.

Es war sein Ziel, dass sie niemals angewendet werden mussten.

»Ich glaube Ihnen«, sagte der Papst. »Ihre Botschafterin hat Ihre Auffassung sehr gut dargestellt. Sie ist eine intelligente Frau. Sie haben sie gut ausgewählt.«

Er hatte sie mitnichten ausgewählt. Al Haig hatte die Wahl unter seinen Attachés im Außenministerium getroffen. Aber Johannes Paul hatte recht. Sie war jung, intelligent und besaß Einfühlungsvermögen – und er verließ sich auf ihr Urteil, wenn es um den Vatikan ging.

»Da wir so offen sprechen«, sagte er, »lassen Sie mich sagen, dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen. Auch Sie bedienen sich gewisser Täuschungsmanöver. Dieser Priester, den Sie scheinbar ungehalten auf dem Rollfeld in Nicaragua getadelt haben. Sie haben ihn aufgefordert, sein Regierungsamt niederzulegen, doch er hat sich Ihnen widersetzt. Und das tut er immer noch. Ich vermute, dass der Mann den Vatikan inzwischen bestens mit Informationen darüber versorgen kann, was die Sandinisten tun. Und wer würde ihn schon nach einer solch öffentlichen Zurechtweisung verdächtigen?«

Johannes Paul sagte nichts, doch Reagan wusste, dass seine Schlussfolgerung zutraf. Die Sandinisten waren nichts als sowjetische Marionetten. Seine Leute arbeiteten bereits daran, Mittelamerika von ihnen zu befreien, und Johannes Paul anscheinend auch.

»Unsere Politik muss weitsichtig sein«, sagte der Papst. »Sie muss den ganzen Erdball im Auge behalten und sich für Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe und Wahrheit einsetzen. Unser Ziel muss immer der Frieden sein.«

»Zweifellos. Ich habe eine Theorie.« Reagan hielt den Moment für gekommen, sie mitzuteilen. »Die UdSSR ist für mich im Kern eine christliche Nation. Russen waren schon lange, bevor sie Kommunisten wurden, Christen. Wenn wir unseren Kurs weiterverfolgen, können wir nach meiner Einschätzung für einen Stimmungswandel sorgen, bei dem die Einwohner der Sowjetunion zum Christentum zurückfinden, sodass jene lang gehegten Ideale den Kommunismus überwinden.«

Er fragte sich, ob der Papst den Eindruck hatte, dass er ihm nach dem Mund redete. Seine Sonderbotschafterin hatte ihm nach ihren Besuchen eine detaillierte Einschätzung seiner Persönlichkeit geliefert. Johannes Paul legte Wert auf Ordnung und Sicherheit und schätzte es nicht, sich auf Unbekanntes einlassen zu müssen. Er ließ sich von seiner Vernunft und seinen Überlegungen anleiten und mied bewusst Risiken und Wagnisse. Unklarheiten, Impulsivität und Extremismus stießen ihn ab. Bevor er eine Entscheidung traf, durchdachte er immer alles genau. Ganz besonders störte ihn jedoch, wenn er das Gefühl bekam, jemand würde ihm nur das erzählen, von dem er glaubte, dass er es hören wollte.

»Glauben Sie das?«, fragte der Papst. »In Ihrem Herzen? Mit Ihrem Verstand? Mit Ihrer Seele?«

»Ich muss gestehen, Eure Heiligkeit, dass ich niemand bin, der regelmäßig zur Kirche geht. Ich halte mich nicht einmal für besonders religiös. Aber ich bin ein spiritueller Mensch. Ich glaube an Gott. Und ich finde Stärke in meinen tiefsten Überzeugungen.«

Das meinte er wirklich ernst.

»Sie und ich, wir haben etwas gemeinsam«, sagte er.

Johannes Paul war die Verbindung offensichtlich klar. Im letzten Jahr war innerhalb von zwei Monaten auf sie beide geschossen worden. Alle drei Kugeln wurden aus nächster Nähe abgefeuert und verfehlten nur knapp ihre Hauptschlagadern, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Reagan wurde in die Lunge getroffen, während die beiden Kugeln, die auf Johannes Paul abgefeuert wurden, seinen Körper glatt durchschlugen, dabei jedoch wunderbarerweise kein lebenswichtiges Organ trafen.

»Gott hat uns beide gerettet«, sagte er, »damit wir tun können, was wir tun werden. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben?«

Er glaubte schon seit Langem, dass jeder Mensch einen göttlichen Auftrag hatte. Einen Plan für die Welt, der sich der menschlichen Kontrolle entzog. Er wusste, dass dieser Papst ebenfalls an die Macht symbolischer Handlungen und die Rolle der Vorsehung glaubte.

»Ich bin Ihrer Meinung, Mr. President«, flüsterte der Papst nahezu. »Wir müssen es tun. Gemeinsam.«

»In meinem Fall war der Schütze einfach nur geisteskrank. Aber in Ihrem Fall würde ich sagen, Sie haben es den Sowjets zu verdanken.«

Die CIA hatte von einer Verbindung zwischen dem Mann, der das Attentat auf Johannes Paul verübt hatte, und Bulgarien erfahren. Die Spur führte direkt bis Moskau. Das Weiße Haus hatte dem Vatikan diese Informationen zur Verfügung gestellt. Ein echter, belastbarer Beweis fehlte, doch es war die Absicht gewesen, Solidarność ein Ende zu bereiten, indem man deren geistigen und moralischen Führer beseitigte. Selbstverständlich konnten sich die Sowjets unmöglich unmittelbar an einer Verschwörung beteiligen, deren Ziel es war, den Anführer einer Milliarde Katholiken zu töten.

Doch sie waren darin verwickelt.

»Soweit es irgend möglich ist und von euch abhängt, lebt mit allen Menschen in Frieden«, sagte Johannes Paul, indem er den Bibelvers Römer 12,18 zitierte. »Rache wäre also recht unchristlich, nicht wahr?«

Reagan entschloss sich, bei der Bibel und den Römerbriefen zu bleiben:

»Rächet euch nicht selbst, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes.

So nun dein Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.«

Und genau das würden sie tun.

Dieser Priester hatte die Gewaltherrschaft der Nazis erlebt. Karol Wojtyla war da gewesen, als Polen jenen unvorstellbaren Horror erduldete und er hatte mit der Widerstandsbewegung zusammengearbeitet. Nach dem Krieg tat er, was er konnte, um den Sowjets entgegenzuwirken, die das Leiden der Polen verlängerten. Johannes Paul war unbestritten eine Heldenfigur, ein außerordentlicher Mann mit viel Erfahrung und großem Mut.

Er konnte den Menschen Kraft geben.

Und er war mit der richtigen Einstellung zur rechten Zeit am rechten Ort.

»In dem Moment, als ich auf dem Petersplatz stürzte«, sagte der Papst, »hatte ich eine klare Vorahnung, dass ich gerettet werden würde. Diese Gewissheit hat mich zu keiner Zeit verlassen. Die Jungfrau Maria ist an jenem Tag persönlich hinzugetreten und hat es mir erlaubt zu überleben. Das glaube ich von ganzem Herzen. Gott möge mir verzeihen, aber ich habe mit den Sowjets noch eine Rechnung offen. Nicht für das, was sie mir womöglich angetan haben, sondern für das, was sie schon seit so langer Zeit so vielen Millionen angetan haben. Ich habe dem Mann vergeben, der mich umbringen wollte. Ich ging in seine Zelle, kniete nieder, betete mit ihm, und er hat wegen seiner Sünde geweint. Nun kommt auch für diejenigen, die ihn schickten, die Zeit, ihre Sünden zu erkennen.«

Reagan sah die Entschlossenheit im festen Blick von Johannes Paul, der wirkte, als sei er zum Kampfe entschlossen. Er selbst war es auch. Er war jetzt einundsiebzig und fühlte sich besser denn je. Seine Spannkraft war nach dem Attentat zurückgekehrt, als wäre er tatsächlich neugeboren worden. Er hatte die Aussagen der Kritiker gelesen. Man schien von seiner Präsidentschaft nicht viel zu erwarten. In den vergangenen Jahrzehnten hatte das schiere Gewicht des Jobs viele gute Männer aufgerieben. Kennedy war gestorben. Vietnam hatte Johnson das Genick gebrochen. Nixon war zum Rücktritt gezwungen worden. Ford hatte sich nur zwei Jahre lang halten können und Carter wurde schon nach einer Amtszeit nach Hause geschickt. Kritiker nannten Ronald Reagan einen rücksichtslosen Cowboy, einen alten Schauspieler, der sich darauf verließ, dass andere ihm sagten, was er tun sollte.

Doch sie irrten sich.

Er war ein ehemaliger Demokrat, der schon vor langer Zeit die Partei gewechselt hatte. Das bedeutete, er ließ sich politisch nicht eindeutig einem Lager zuordnen. Viele fürchteten und misstrauten ihm. Andere verachteten ihn. Aber er war der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, er hatte vor, noch weitere sieben Jahre im Amt zu bleiben; und er beabsichtigte, diese Zeit einem Ziel zu widmen.

Reagan wollte dem Reich des Bösen ein Ende bereiten.

Denn genau das repräsentierte die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Doch allein schaffte er das nicht. Brauchte er auch nicht, denn jetzt hatte er einen Verbündeten. Jemanden, der zweitausend Jahre Erfahrung im Umgang mit Despoten hatte.

»Von meiner Seite aus werde ich den Druck beibehalten«, sagte er. »Sowohl politisch als auch ökonomisch. Von Ihrer Position aus könnten Sie das sogar mit spiritueller Unterstützung tun. Eine weitere Reise nach Polen wäre gut, aber noch nicht sofort. In einem Jahr vielleicht.«

Johannes Paul hatte sein Heimatland bereits im Jahre 1979 besucht. Drei Millionen Menschen waren zur Messe auf den Warschauer Siegesplatz gekommen. Als damaliger Kandidat für das Weiße Haus hatte er sich im Fernsehen angesehen, wie der Mann in Weiß aus dem päpstlichen Flugzeug stieg und den Boden küsste. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, was der Papst seinen Landsleuten immer wieder eingehämmert hatte.

Habt keine Angst.

Damals hatte er begriffen, was das religiöse Oberhaupt von einer Milliarde Menschen erreichen konnte, insbesondere jemand, dem die Herzen und die Gedanken von Millionen Polen gehörten. Er war einer von ihnen. Sie hörten auf das, was er zu sagen hatte. Doch als Papst durfte er sich nicht allzu deutlich äußern. Die Botschaft aus Rom musste vielmehr immer eine Botschaft der Wahrheit, der Liebe und des Friedens sein. Es gibt einen Gott, und jeder hat das unveräußerliche Recht, ihn ungehindert zu verehren. Moskau ignorierte das zunächst, doch schließlich reagierte es mit Drohungen und Gewalt, und der erschreckende Kontrast zwischen den beiden Kernbotschaften sprach Bände. Unterdessen sprachen sich die Vereinigten Staaten für Reformen im Ostblock aus, sie finanzierten Verbesserungen für einen freien Warenaustausch und isolierten die Sowjetunion ökonomisch wie technologisch und manövrierten sie so langsam, aber sicher in den Bankrott. Sie bedienten sich dabei der Paranoia und der Angst, die der Kommunismus so gern bei anderen erweckte. Er wurde aber nicht damit fertig, wenn es ihn selbst betraf.

Ein perfekter Zweifrontenkrieg.

Er warf einen Blick auf die Uhr.

Jetzt redeten sie schon über fünfzig Minuten.

Jeder schien eine klare Vorstellung von der Aufgabe und ihren individuellen Verantwortlichkeiten zu haben. Es wurde Zeit für den letzten Schritt. Er stand auf und streckte den Arm über den Tisch.

Auch der Papst erhob sich von seinem Stuhl.

»Mögen wir beide erfolgreich unsere Pflichten gegenüber der Menschheit erfüllen«, sagte er.

Der Papst nickte, und sie schüttelten sich noch einmal die Hände.

»Gemeinsam«, sagte er, »werden wir die UdSSR auslöschen.«

GEGENWART

1

Baikalsee, Sibirien

Freitag, 18. Januar

15 Uhr

Bittere Erfahrungen hatten Cotton Malone gelehrt, dass totale Abgeschiedenheit normalerweise Ärger ankündigte.

Und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme.

Er flog eine 180-Grad-Schleife, damit er noch einmal hinuntersehen konnte, bevor er landete. Die blasse messingfarbene Sonne stand tief im Westen. Der Baikalsee lag unter einer winterlichen Eisschicht, dick genug, um darauf fahren zu können. Er hatte bereits Lkw ausgemacht, Autobusse und Pkw, die in alle möglichen Richtungen über die milchig-weißen Bruchkanten fuhren, und deren Reifenspuren diese vergänglichen Schnellstraßen anzeigten. Andere Autos parkten um Angellöcher herum. Er erinnerte sich aus dem Geschichtsunterricht daran, dass man im frühen 20. Jahrhundert Eisenbahnschienen über das Eis gelegt hatte, um während des Russisch-Japanischen Krieges Nachschub in den Osten zu transportieren.

Allein durch seine Zahlen wirkte der See fantastisch. Er wurde von einem uralten kontinentalen Grabenbruch gebildet, der dreißig Millionen Jahre alt war. Er galt als der älteste See der Welt und enthielt ein Fünftel des gesamten Süßwasservorrats weltweit. Dreihundert Flüsse speisten ihn, doch es gab nur einen einzigen Abfluss. Der See war fast 100 Meilen lang, bis zu fünfzig Meilen breit und erreichte eine Tiefe von bis zu 1600 Metern. Das Ufer hatte eine Länge von über 1200 Meilen, und dreißig Inseln verteilten sich auf der kristallklaren Oberfläche. Auf Landkarten sah der See in Südsibirien wie ein halbmondförmiger Bogen aus, er lag 2000 Meilen westlich vom Pazifik und 3200 Meilen östlich von Moskau, in dem großen, menschenleeren Gebiet Russlands nahe der Grenze zur Mongolei. Man hatte ihn zum Weltnaturerbe erklärt. Auch darüber dachte Malone nach, weil das normalerweise ebenfalls mit Ärger verbunden war.

Der Winter hatte Land und Wasser fest im Griff. Die Temperatur stagnierte um minus achtzehn Grad Celsius, überall lag Schnee, doch glücklicherweise fiel gerade keiner. Mit einem kurzen Zug am Steuerknüppel ging er auf eine Höhe von 700 Fuß. Die Kabinenheizung blies warme Luft auf seine Füße. Das Flugzeug stammte von einem kleinen Flugfeld außerhalb von Irkutsk und war ihm von den russischen Luftstreitkräften zur Verfügung gestellt worden. Weshalb es zu dieser intensiven russisch-amerikanischen Kooperation kam, wusste er nicht, doch Stephanie Nelle hatte ihm befohlen, sich das zunutze zu machen. Normalerweise wurden für eine Einreise nach Russland Visa benötigt. Während seiner Zeit als Agent beim Magellan Billet hatte er oft falsche Visa verwendet. Auch der Zoll hätte Probleme machen können, doch diesmal gab es überhaupt keinen Papierkram, und kein Behördenvertreter hatte ihm die Einreise erschwert. Stattdessen war er mit einem russischen Sukhoi/HAL-Kampfflugzeug der neuen Zweisitzer-Ausführung ins Land geflogen. Sein Ziel war ein Luftwaffenstützpunkt nördlich von Irkutsk gewesen, wo fünfundzwanzig Tupolew Tu-22M-Mittelstreckenbomber aufgereiht am Rollfeld standen. Ein Ilyushin-II-78-Tankflugzeug hatte während seines langen Fluges das Nachtanken ermöglicht. Am Luftwaffenstützpunkt hatte ein Helikopter gewartet, der ihn weiter nach Süden brachte, wo dieses Flugzeug für ihn bereitstand.

Die An-2 war eine einmotorige Doppeldeckermaschine mit einem abgeschlossenen Cockpit und einer Fahrgastkabine, in der zwölf Passagiere Platz hatten. Wegen des Vierblattpropellers rüttelte der dünne Aluminiumrumpf unablässig, als er sich in unruhigem Flug durch die eiskalte Luft schraubte. Er wusste nur wenig über dieses sowjetische Arbeitspferd aus dem Zweiten Weltkrieg, das langsam und ruhig flog und dabei kaum Steuerungskorrekturen erforderte. Diese Maschine war mit Kufen ausgestattet, die es ihm ermöglicht hatten, von einer verschneiten Bahn aus zu starten.

Er flog die Kurve aus und änderte dann den Kurs nach Richtung Nordosten, über dicht bewachsene Wälder hinweg. Große Felsbrocken ragten wie die Zähne eines Tieres in gezackten Linien über die Bergrücken. In der Ferne glitzerten an einem Hang ganze Batterien von Hochspannungsleitungen im Sonnenlicht. Das Land hinter dem Seeufer lag teils brach, dann und wann unterbrochen von kleinen Gruppen von Holzhäusern. Es gab aber auch Birken-, Tannen- und Lärchenwälder, und schließlich kamen die schneebedeckten Berge. Auf einem Felsgrat entdeckte er sogar einige alte Artilleriestellungen. Und er konnte eine Gruppe von Gebäuden erkennen, nahe am östlichen Ufer, gleich nördlich der Stelle, wo der Selengafluss nach seinem langen Weg durch die Mongolei in den See strömte. Das versandete Flussdelta bildete ein beeindruckendes, zu Eis erstarrtes Gewirr von Kanälen, Inseln und Schilfflächen.

»Was sehen Sie?«, fragte Stephanie Nelle über das Headset.

Das Kommunikationssystem der An-2 war mit seinem Handy verbunden, sodass sie miteinander reden konnten. Seine ehemalige Chefin überwachte alles von Washington aus.

»Eine Menge Eis. Es ist unglaublich, dass etwas so Großes so fest zusammenfrieren kann.«

Tiefblauer Dampf schien im Eis eingebettet zu sein. Ein wirbelnder Nebel aus Pulverschnee fegte über die Oberfläche. Der diamantartige Staub glitzerte in der Sonne. Er machte einen weiteren Überflug und inspizierte die unter ihm liegenden Gebäude. Zur Vorbereitung hatte er Satellitenaufnahmen der Gegend bekommen.

Jetzt sah er alles aus der Vogelperspektive.

»Das Hauptgebäude liegt abseits vom Dorf, circa eine Viertelmeile nördlich«, sagte er.

»Irgendwelche Aktivitäten?«

Das Dorf mit den Holzhäusern wirkte ruhig, nur flauschige Rauchschwaden kräuselten sich aus den Schornsteinen und ließen auf Bewohner schließen. Die Siedlung zog sich in die Länge, ohne sich irgendwo zu verdichten, und eine einzige geteerte Straße, die von Schnee gesäumt war, führte hinein und ein Stück weiter wieder hinaus. Eine Kirche aus gelben und rosafarbenen Holzbohlen mit zwei Zwiebeltürmen markierte das Zentrum. Sie befand sich in Ufernähe. Zwischen den Häusern und dem See erstreckte sich ein Kiesstrand. Man hatte ihm erzählt, dass das östliche Ufer weniger besucht werde und dünner besiedelt sei. In den etwa fünfzig Gemeinden lebten nur knapp 80 000 Menschen. Das südliche Ufer des Sees hatte sich zu einer Touristenattraktion entwickelt und war im Sommer bevölkert, doch das restliche Ufer, das sich über Hunderte von Meilen hinzog, blieb unberührt.

Genau das war der Grund, weshalb es das Dorf unter ihm überhaupt gab.

Seine Bewohner nannten es Chayaniye, was »Hoffnung« bedeutete. Sie wünschten sich nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden, und die russische Regierung hatte ihnen über zwanzig Jahre lang diesen Gefallen getan. Sie waren die Rote Garde: die letzte Bastion eingefleischter Kommunisten, die es im neuen Russland noch gab.

Man hatte ihm gesagt, das Haupthaus wäre eine alte Datscha. Jeder angesehene Sowjetführer seit Lenin hatte ein solches Landhaus besessen und die Statthalter der Provinzen im fernen Osten waren da keine Ausnahme gewesen. Das Haus direkt unter ihm stand auf einem Felsbuckel, der in den gefrorenen See hineinreichte, und lag am Ende einer gewundenen Teerstraße, die durch ein dichtes Gewirr schneebedeckter Fichten verlief. Es war auch kein kleines Gartenhäuschen aus Holz, vielmehr schienen die ockerfarbenen Wände aus Ziegeln und Zement zu bestehen. Das Haus war zweigeschossig und hatte ein Schieferdach; zwei vierrädrige Fahrzeuge parkten an der Seite. Aus dem Schornstein des Hauses stieg dichter Rauch auf, auch aus dem Schornstein eines der hölzernen Nebengebäude, von denen es etliche gab.

Es war allerdings kein Mensch zu sehen.

Malone vollendete seinen Vorbeiflug und zog nach rechts für einen weiteren engen Kreis zurück über den See. Er liebte es zu fliegen, und hatte ein Talent dafür, die Maschine in der Luft zu steuern. Er würde schon bald die Kufen brauchen, wenn er fünf Meilen südlich in der Nähe der Stadt Babuschkin auf dem Eis landen und die Maschine bis zu den Docks rollen lassen würde, wo es, wie man ihm gesagt hatte, in dieser Jahreszeit keinen Schiffsverkehr gab. Dort sollte für sein Fortkommen über Land gesorgt sein, sodass er nach Norden fahren konnte, um sich diese Siedlung noch genauer anzusehen.

Ein letztes Mal flog er über Chayaniye und die Datscha hinweg, dann ging er in den Landeanflug auf Babuschkin. Er kannte die Geschichte vom Großen Sibirischen Marsch während des russischen Bürgerkriegs. Dreißigtausend Soldaten hatten sich über den gefrorenen Baikalsee zurückgezogen, wobei die meisten gestorben waren. Ihre Leichen waren bis zum Frühling im Eis eingeschlossen gewesen und erst dann endgültig im tiefen Wasser untergegangen. Dies war ein grausamer und brutaler Ort. Wie hatte ihn einst ein Schriftsteller genannt? Kaltschnäuzig gegenüber Fremden, rachsüchtig gegenüber Unvorbereiteten.

Er glaubte es.

Ein Aufblitzen zwischen den hohen Kiefern und Lärchen erregte seine Aufmerksamkeit. Die grünen Zweige bildeten einen starken Kontrast zu dem weißen Boden darunter. Etwas kam aus den Bäumen auf ihn zugeflogen und zog eine Rauchspur hinter sich her.

Eine Rakete?

»Ich bekomme Probleme«, sagte er. »Jemand feuert auf mich.«

Er reagierte nach seiner jahrelangen Erfahrung instinktiv, wie ein Autopilot. Er zog hart nach rechts, senkte die Nase des Flugzeugs tiefer und verlor rasch an Höhe. Die An-2 reagierte wie ein Sattelschlepper, deshalb setzte er die Kurve steiler an, um schneller an Höhe zu verlieren. Der Mann, der ihm das Flugzeug übergeben hatte, hatte ihm eingeschärft, den Steuerknüppel fest im Griff zu behalten, und damit hatte er recht gehabt. Das Steuerruder bäumte sich hoch wie ein Bulle. Jeder Niet schien sich durch die Vibration zu lockern. Die Rakete schoss vorbei und berührte die beiden linken Tragflächen; der Rumpf erzitterte von dem Aufprall. Malone fing seinen Sturzflug ab und besah sich den Schaden. Die Tragflächen waren nur mit Gewebe bezogen, das heißt, jetzt lagen viele Fasern frei und waren beschädigt. Die Fetzen flatterten im Wind.

Und es wurde sofort problematischer, die Maschine ruhig in der Luft zu halten.

Das Flugzeug schaukelte, und er musste sich anstrengen, um es unter Kontrolle zu behalten. Er flog jetzt direkt in einen steifen Nordwind, und seine Geschwindigkeit betrug weniger als fünfzig Knoten. Die Gefahr eines Strömungsabrisses wurde größer.

»Was ist los?«, fragte Stephanie.

Er kämpfte weiter mit dem Steuerknüppel, der sich loszureißen versuchte, doch er hielt ihn fest und gewann wieder an Höhe. Die Maschine röhrte wie ein Motorrad, als der Propeller sich bemühte, sie in der Luft zu halten.

Dann stotterte der Motor.

Fehlzündungen.

Er kannte den Grund: Der Propeller war überlastet, und der Motor machte nicht mehr mit.

Die Stromversorgung des Cockpits schaltete sich aus und wieder ein.

»Ich wurde von einer Boden-Luft-Rakete getroffen«, meldete er Stephanie. »Ich verliere die Kontrolle und gehe runter.«

Der Motor setzte aus.

Alle Instrumente erloschen.

Das Cockpit hatte vorn und seitlich Fenster; der Sitz des Kopiloten war leer. Malone blickte nach unten und sah nur das blaue Eis des Baikalsees. Die An-2 verwandelte sich schlagartig von einem Flugzeug in dreieinhalb Tonnen totes Metall.

Angst stieg in ihm hoch, und er hatte nur noch einen Gedanken.

Ist das mein Ende?