American Indian Movement (AIM): von indianischen Aktivisten 1968 in Minneapolis gegründete Bewegung, organisierte politische Aktionen wie die Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz 1969–71, den Trail of Broken Treaties 1972, die Besetzung von Wounded Knee 1973. Forderungen waren u. a. Überprüfung bzw. Abschaffung des nachweislich korrupten BIA (Bureau of Indian Affairs, Unterabteilung des Innenministeriums mit 16 000 Angestellten und 240 Mio. Dollar Jahresetat); Verhandlung über fast 400 Vertragsbrüche seitens der Regierung (v. a. Landrechte und Rohstoffausbeutung); Kultur- und Religionsfreiheit indianischer Völker, selbstverwaltete Schulen, Selbstbestimmung in den Reservationen. AIM kämpft bis heute gegen desolate Sozialverhältnisse in Reservationen und Städten, organisiert Rechtsbeistand, Bürgerhilfe, Kultur- und Bildungsmaßnahmen.
Anishinabe: mit über 125 Stämmen (darunter Ojibwa und Chippewa) eins der größten Indianervölker Nordamerikas aus der Region rund um die Großen Seen mit Ausbreitung in die kanadischen Prärieprovinzen und Nördlichen Plains der USA. Traditionell waren Anishinabe je nach Landstrich Fischer, Elch- und Karibujäger, Bisonjäger der nördlichen Prärien, Wildreis-Ernter und Gartenbauer. Erich Fromm analysierte in Anatomie der menschlichen Destruktivität u. a. die Anishinabe und ordnete sie den »Nichtdestruktiv-aggressiven Gesellschaften« zu (Gemeinschaftssinn mit ausgeprägter Individualität, zielgerichtete Kindererziehung, reglementierte Umgangsformen, männliche Aggressionsneigung, jedoch ohne destruktive Tendenzen). Träume und ihre verschlüsselten Botschaften spielen im Glauben der Anishinabe eine große Rolle. Ihre Sprache (Ojibwe) gehört zur Algonkin-Sprachfamilie.
Außerkörperliche Erfahrungen (out-of-body experiences) sind in der indianischen Religiosität und Kultur üblich. Naturwissenschaftlich umstritten, sind sie stark beforscht, wurden künstlich und wiederholbar im Labor erzeugt und als Störungen bestimmter Gehirnfunktionen (z. B. durch Stress, Substanzen, Nahtoderfahrung oder physikalische Beeinflussung der Nervenaktivität) eingeordnet. In den meisten Kulturkreisen gibt es die Vorstellung, dass Geist oder Seele den Körper verlassen können.
4-H: politisch und religiös ungebundene Organisation, 1902 in Ohio gegründet, um Verelendung unter Kindern und Jugendlichen zu bekämpfen. 4-H steht für head, hands, heart, health. Frühe Programme umfassten Förderung dörflicher Gemeinschaften, Ausbildung in Land- und Hauswirtschaft, Schulprojekte zum Erwerb von im Alltag und auf dem Arbeitsmarkt gebrauchten Fertigkeiten. Ging es zunächst um Perspektiven für Jugendliche auf dem Land, richten sich Aktivitäten und Schulprojekte heute auch an Kinder und Jugendliche in Städten (Schwerpunkte: Erziehung zur Internationalität, soziale Interaktion, Umwelterziehung).
Internatsschulen für Indianerkinder (Indian Boarding Schools) waren in den USA von 1880 bis in die 1970er Jahre ein rigides Assimilierungsinstrument, um indianischen Kindern ihre traditionelle Lebensweise abzutrainieren zugunsten westlicher Normen, Werte und Rollenvorstellungen sowie des Christentums. Im Laufe der 1980er und 90er Jahre wurden die meisten dieser Schulen geschlossen. Bis heute laufen Verfahren wegen körperlicher Misshandlung und Folter.
Ojo de Dios: span. Gottesauge; handgemachter Schmuck- und Votivgegenstand aus der Tradition mexikanischer Indianer. Durch das Führen von Garn um ein Holzkreuz entsteht ein konzentrisches Muster. Kann symbolische Bedeutung haben, als Amulett oder Wegschild dienen. Auch zum Basteln mit Kindern beliebt.
Quilt: Decke aus zwei bis drei Lagen, die oberste aus Stoffresten, oft mit erzählerischem Motiv gestaltet, die Zwischenlage als wärmendes Vlies aus Wolle oder Baumwolle. Das Quilten war sozialer Akt und handwerkliche Kunstform US-amerikanischer Siedlerfrauen.
Weiterführende Literatur
David Wallace Adams: Education for Extinction: American Indians and the Boarding School Experience, 1875–1928. University of Kansas Press 1995
Claus Biegert: Seit zweihundert Jahren ohne Verfassung. USA: Indianer im Widerstand. Rowohlt 1983
Ward Churchill: Kill the Indian, Save the Man: The Genocidal Impact of American Indian Residential Schools. City Lights Publishers 2004
Mary Crow Dog: Lakota Woman. Engl.: Grove Press 2011 (Reprint). D: Deutscher Taschenbuch Verlag 1998
Vine Deloria junior: Gott ist rot – Eine indianische Provokation. New York 1973. D: Dianus-Trikont 1984
Alvin M. Josephy (Hg.): Amerika 1492. Die Indianervölker vor der Entdeckung. Nachwort v. Vine Deloria. S. Fischer 1992
Winona LaDuke: Last Standing Woman: Eine indianische Saga von 1862–2018. Sierra Taschenbuch 2001
Valerie Lambert: Choctaw Nation: A Story of American Indian Resurgence. University of Nebraska Press 2007
Manfred B. Steger: Globalization. Oxford University Press 2013
Wub-e-ke-niew: We Have the Right to Exist: A Translation of Aboriginal Indigenous Thought. First Book Ever Published from an Ahnishinahbæótjibway Perspective. Black Thistle Press 1995
Film
Our Spirits Don’t Speak English: Indian Boarding School (Rich-Heape Films 2008), Dokumentarfilm über Internatsschulen für Indianerkinder und deren Praxen Mitte 19. bis Mitte 20. Jh. mit dem Ziel, »Indianer zu zivilisieren und zu christianisieren«.
Online
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eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017
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Alle Rechte vorbehalten
Titel der amerikanischen Originalausgabe
bei Cinco Puntos Press, El Paso:
Murder on the Red River
© 2017 by Marcie R. Rendon
Printausgabe: © Argument Verlag 2017
Covergestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: November 2017
ISBN 978-3-95988-099-2
Sie ist neunzehn und in der Gegend um Fargo bekannt wie ein bunter Hund: Cash, eine trinkfeste indianische Landarbeiterin, die ihren Feierabend meist am Pooltisch verbringt. Eines Morgens liegt ein Toter im Stoppelfeld. Indianer wie Cash. Landarbeiter. Keine Papiere. Cash macht sich auf zur Red Lake-Reservation und sucht nach der Familie des Toten. Doch ihre Einmischung ist nicht allen willkommen …
Marcie Rendons Roman spielt 1970 am Grenzfluss zwischen Norddakota und Minnesota, tief im amerikanischen Weizengürtel. Das Porträt der ländlichen USA aus Sicht einer einzelgängerischen jungen Indianerin ist historisch gesättigt, so lakonisch wie illusionslos, mit einem leisen, rebellischen Humor.
»Cash, aufgewachsen bei einer endlosen Reihe von Pflegefamilien, ist kratzbürstig, empfindlich, klug, eine Landarbeiterin und Pool-Zockerin. Die coole 19-jährige Cash bringt Rendons um Fargo angesiedelten Krimi zum Leuchten.« Publishers Weekly
Marcie Rendon, Stammesangehörige der Anishinabe White Earth Nation, ist Dichterin, Stückeschreiberin und Performancekünstlerin, engagiert sich als kulturpolitische Aktivistin, kuratiert indigene Künstler/innenförderung, schreibt Sach- und Geschichtsbücher für Kinder, hält Schreibkurse in Gefängnissen ab und unterstützt indianische und mexikanische Nachwuchskunst. Vier ihrer Theaterstücke sind veröffentlicht, und sie ist der kreative Kopf hinter Raving Native Theater, Raving Native Cabaret und Raving Native Radio. Am roten Fluss ist ihr erster Roman.
Marcie Rendon
Am roten Fluss
Deutsch von Laudan & Szelinski
CulturBooks Verlag
www.culturbooks.de
gigawabamin, Jim –
also bis nächstes Mal,
nächstes Mal
und übernächstes Mal.
Wenn gute Kriminal- und Noir-Romane, wie ich gern behaupte, Fenster zur Welt sind, dann ist die Geschichte von Cash vielleicht die Fensteröffnung einer Blockhütte, durch die der Blick in die Vergangenheit fällt, auf die fruchtbare Ebene am Red River im Jahr 1970.
Countryballade. In eigentümlich entschleunigtem Erzählrhythmus führt Marcie Rendon in den täglichen Trott der Farmer/innen, der Wander- und Landarbeiter, wie sie ihrem Tagwerk nachgehen in diesem Spätsommer des Jahres 1970, während der Weizenpreis noch bodenständig ist, Nixon fest im Sessel sitzt, in Vietnam Tausende sterben und Charley Pride die Countrycharts anführt.
Erntezeit im Valley. Erdklumpen unter Stiefelsohlen sagen, was wichtig ist, Kaffee kochen oder ein Bad nehmen. Doch es gibt noch anderes Volk, mit eigener Bindung ans Land und Wurzeln, die weiter zurückreichen. Und Cash, zwischen den Welten, kurze Lunte im Umgang mit Bigotterie, eine kantige, wehrhafte Jugendliche, mittendrin und doch auch außerhalb, sucht sich ihren eigenen Weg.
Marcie Rendon, die Dichterin, erzählt von einem Mikrokosmos mit wenig Stimulanzien, der überschaubar, fast hermetisch daherkommt und doch alles enthält, Geschichte, Streben und Dominanz, Konflikt und Verdrängung, Macht und Ohnmacht. Ich hoffe sehr, dass ihrem ersten Roman noch viele folgen.
Sonnensattes Weizenland. Der Refrain spielte in Cashs Kopf, als sie die Fliegentür des Casbah aufzog. Sie blieb reglos stehen. Kurzfristig blind, wartete sie, bis ihre Augen sich an den dunklen Schankraum angepasst hatten. Draußen lehnte sich die Sonne auf den westlichen Horizont. Im Casbah herrschte immer Nacht. Hinter ihr schlug dumpf die hölzerne Fliegentür in den Rahmen. Die Kneipengerüche – schales Bier, Zigarettenrauch, Sägemehl und Billardkreide – hießen sie in ihrem Feierabend-Zuhause willkommen.
Sonnensattes Weizenland, warm strahlt gottes Gunst herab, heilt mein Herz so sanft. Cash mochte das Wort Gott nicht. Schrieb es deshalb innerlich in Kleinbuchstaben. Was hatte er je für sie getan? Aber: Sonnensattes Weizenland, warm strahlt die Gunst der Sonne herab… nee, das war es nicht, hatte keinen Klang. Warm strahlt gottes Gunst herab – ja, das ging.
Ihr Geist komponierte immerzu Songs oder Geschichten. Die langen Arbeitstage auf dem Feld ließen ihr reichlich Zeit, sich auszudenken, worüber sie schreiben könnte. Ob sie je dazu kam, die Zeilen zu Papier zu bringen, stand auf einem anderen Blatt. Von Wörtern im Kopf ließ sich keine Miete zahlen. Und kein Bier. Vielleicht kaufte sie sich vom nächsten Lohn eine Gitarre. Dann konnte sie in der Fahrerkabine des Lasters drauflossingen, ohne erst alles aufschreiben zu müssen. Mal sehen.
Ole Johnson kauerte auf einem Barhocker an dem ellenlangen Mahagonitresen. Über seinem Kopf tanzte der Bär von Hamms Bier auf kühl sprudelnden Wassern. Ole schob seinem Bruder Carl, der rechts neben ihm saß, fünfzig Cent rüber. Die beiden hatten eine allabendliche Wette laufen: Würden Cashs Haare, die ihr bis über den Arsch reichten, in der zuklappenden Fliegentür hängen bleiben oder nicht? Wenn ihr das passierte, gab sie der Tür mit dem rechten Fuß einen Tritt und zerrte die Mähne hinter sich her ins Innere der Bar.
Heute entging ihr Haar der Falle.
Wie an jedem Abend, seit sie vor einem Jahr erstmals das Casbah betreten hatte, legte sie ein paar Vierteldollarstücke auf den Billardtisch, ehe sie zum Tresen ging, um zwei Budweiser zu ordern.
Ohne dass ein Wort fiel, öffnete Shorty Nelson, Barmann des Casbah, eine Flasche Bud und ließ sie über die Holztheke auf sie zuschliddern. Sie rollte sich die kühle schwitzende Flasche über die Stirn. Der Schock drang durch die Haut bis tief in den Schädelknochen. Es erinnerte Cash an den Kältekopfschmerz, den sie als Kind manchmal von Eiscreme gekriegt hatte.
Sie trank einen großen Schluck und spürte das kühle Lindern in ihrer ausgedörrten Kehle, ehe es schäumend in ihrem leeren Magen auftraf. Ah. Sie ergriff die zweite Flasche, drückte sie ans linke Schlüsselbein und schlenderte zu einer leeren Sitznische bei den Pooltischen, ihre Queuetasche über der Schulter. Es war ein ledernes Futteral, das sie vor einigen Sommern gefertigt hatte, während sie in der Kabine eines Rübenlasters auf dem Gelände von Crystal Sugar aufs Abladen wartete. Die Lederfransen schwangen bei jedem ihrer Schritte.
Ihr Baumwollhemd roch nach Weizen. Sie hatte sich umgezogen, ehe sie ins Casbah ging, aber selbst ihr Ranchero Pickup-Truck, der den ganzen Tag bloß am Feldrand herumstand, dünstete Weizen aus. Ihre ganze Welt bestand aus Weizen, Spreu und Stoppeln, aus dem Dröhnen der Mähdrescher und den Ford-Lastwagen, deren Kupplungspedale ihre kurzen Gliedmaßen hart auf die Probe stellten. Manchmal, wenn sie Glück hatte, gab es im Laster ein Radio, sodass sie Countrymusik dudeln lassen konnte.
Heiliger Strohsack, da lag Old Willie schon wieder bewusstlos in einer der Sitznischen. Noch in Arbeitsklamotten. Sein stoppeliger deutscher Schnauzbart, so stümperhaft gestutzt wie die halb ergrauten Ponyfransen über seiner Stirn, hing kraftlos über schlaffen Lippen. Cash unterdrückte ein leichtes Schaudern. Nach der Hamms Bier-Uhr hinterm Tresen war es fünf nach halb zehn. Willie musste früh Feierabend gemacht haben. Falls er überhaupt noch aufs Feld ging. Cash hatte eher den Eindruck, dass sein Sohn inzwischen die ganze Landarbeit übernahm. Oller Suffkopp. Unwillkürlich prüfte sie mit einem kurzen Blick, ob seine Hose vorne noch trocken war. Doch, ja. Noch ein unterdrücktes Schaudern. Armer alter Mann. Wann immer sie ins Casbah kam, also an so ziemlich jedem verdammten Abend, hatte Old Willie schon gewaltig getankt.
Sie lehnte sich an eine halbhohe Wand und schaute zu, wie ein paar Farmerjungs am Pooltisch einen auf Großstadtzocker machten. Sie hatten noch vier Vierteldollarstücke liegen. Cash war noch nie aus dem Red River Valley herausgekommen, aber sie wusste, die zwei hier hatten keinen blassen Dunst. Es waren mal zwei Kerle auf Urlaub hier gewesen, von der Arbeit auf den Montana-Ranches. Sie trugen dicke Silbergürtelschnallen und dazu passende Stetsons, neben denen die Schnabelmützen der Farmer recht beschränkt wirkten. All die blonden Farmermädchen waren ganz aus dem Häuschen in der Woche, die diese Jungs in Fargo blieben. Die beiden, die hatten sich aufs Zocken verstanden. Und noch ein anderer Kerl, ein Kriegsheimkehrer von der Front in ’Nam, der hatte richtig Ahnung vom Billard gehabt. Aber an den meisten Abenden war Cashs einzige Herausforderung das Glück von Anfängern oder Besoffenen.
»Bist du dabei, Cash?«, fragte einer der Farmerjungs. Sie nickte, nahm einen schnellen Zug von ihrer Zigarette und einen großen Schluck Bier.
Für die nächsten zwei Stunden hörte man außer dem Hintergrund aus halblauten Farmergesprächen an der Bar und gelegentlichem Konservengelächter aus dem Fernseher hinterm Tresen nur das Klacken der Billardkugeln sowie das Poltern, wenn eine versenkt wurde und zur Sammelstelle rollte, wo sie mit einem Klonk auf die schon dort liegenden Kugeln traf.
Cash hielt den Tisch und trank die ganze Zeit umsonst. Sie verlor erst, als Jim Jenson, ein schlaksiger Farmer aus Hendrum, hinter ihr auftauchte, während sie gerade den Lauf der nächsten fünf Kugeln plante. Er schlang seine Arme um ihre Taille und raunte ihr ins Ohr: »Nimm mich mit zu dir, Cash.«
Cash hatte Jim bei einem Poolturnier drüben im Flame kennengelernt, nur ein paar Querstraßen vom Casbah entfernt. Sie nahm dort am allmonatlichen Einzelwettbewerb teil und war gerade am Stoß, als die Barkeeperin ihr ein Budweiser brachte und auf den hochgewachsenen, sehnigen Farmer zeigte, der es spendiert hatte. Nachdem sie abgeräumt und die Acht versenkt hatte, kam er rübergeschlendert und fragte, ob sie im gemischten Doppel seine Partnerin sein wollte. Sagte, dass er Jim hieß und glaubte, als Team hätten sie gute Chancen auf das Preisgeld. Er war nicht so sehr viel älter als Cash, und es störte ihn offenbar nicht, dass sie weder blond noch blauäugig war. Er meinte, ihm hätte der Effet gefallen, mit dem sie die Acht in der Ecktasche versenkt hatte.
An diesem Abend wurden sie Dritte und strichen einschließlich Spielkasse und Wetten pro Nase fünfzig Mäuse ein. Hinterher standen sie rauchend draußen auf dem Parkplatz, er fragte, wo sie sonst so spielte, und als sie sagte, im Casbah, lachte er in sich hinein und machte einen Spruch über den vornehmen Teil der Stadt. Sie blickte langsam hoch zu der neonbeleuchteten Stripperin, die über dem Eingang des Flame dekorativ ihr Bein um eine Stange schlang. Er gluckste erneut. Sagte, er würde demnächst mal im Casbah vorbeischauen und ein paar Stöße machen. Gute Übung für das Turnier im kommenden Monat. Aber jetzt müsste er heim zu Frau und Kindern.
Cash dachte nicht weiter an ihn, bis er zwei Wochen später im Casbah auftauchte, seinen Queuekoffer in der Hand. Er wurde Stammgast, und sie wurden feste Partner bei den Flame-Turnieren. Billard, Bier und Siege – eins führte zum anderen. Nämlich direkt in Cashs Bude, wo Cash dann fragte: »Was ist jetzt mit Frau und Kindern?«, und Jim erwiderte: »Mach dir darüber keine Sorgen.« Also hielt sie sich daran.
Sie hatte ja ihr Leben lang Zeit, sich darüber keine Sorgen zu machen.
Heute Abend stellte sein Atem ihre Nackenhärchen auf, Gänsehaut überzog ihre Arme. Sie schüttelte ihn ab, beugte sich über den Tisch und zog ein Stellungsspiel über fünf Kugeln durch. Die letzte Tasche verfehlte sie. Der Kerl, gegen den sie spielte, trumpfte auf: »Wusste doch, dass ich dich schlage, Mädchen. Deine Glückssträhne ist vorbei.«
Er lochte seine letzten vier Kugeln ein, aber schaffte es nicht, die Acht in der Mitteltasche zu versenken.
Cash vermurkste ihren Stoß.
Er vermurkste seinen.
Nur Carl und Ole sahen Cashs leichtes Achselzucken in Jims Richtung, mit dem sie fragte: Wie willst du’s haben?
Jim schlang den Arm um ihre Hüfte und drückte erneut seine Nase in ihren Nacken. Sie schob ihn weg, beugte sich über den Tisch und setzte die Acht schnurgerade in ihre Tasche, direkt gefolgt vom Spielball.
»Du schuldest mir ’n Hamms, Mädchen«, krähte ihr Gegner. »Bau gleich wieder auf.«
Cash nahm stattdessen ihr Queue auseinander, ging zur Bar und bestellte ihrem Gegner ein Hamms. Trank ihr Bud aus.
Jim legte erneut seinen Arm um sie. Im Rausgehen klopfte sie Carl und Ole auf die Schultern. »Wieder mal umsonst getrunken, was?«, sagte Carl.
»Guck mal«, Ole zeigte mit seiner Flasche auf den Fernseher. »Noch mehr von unseren Jungs sind tot.«
Jim und Cash blieben stehen und starrten auf die körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von in Reisfeldern landenden Hueys. Der Beitrag schloss mit der Vietnam-Todeszahl des Tages, dann wechselte das Bild zu den Lokalnachrichten. Cash konnte den Sprecher nicht mehr hören, da vom Pooltisch ein vielstimmiges Johlen ertönte. Als der Lärm erstarb, kam der Ansager schon zum abendlichen Wetterbericht.
Cash stemmte sich gegen Jim, bugsierte ihn weiter Richtung Tür. Der Abend war abgekühlt. Grillen zirpten. Am Red River, der nur ein paar Straßen entfernt durch die Stadt floss, riefen Frösche nach anderen Fröschen.
Cash und Jim gingen die zwei Blocks zu ihrer Wohnung über Maytags Elektroladen zu Fuß. Eine behelfsmäßige Holztreppe an der Straßenfront des Gebäudes verlief im Zickzack hoch zum ersten Stock. Die Brettertür führte in eine schäbige kleine Küche. Eine Kochplatte auf einem rissigen Linoleumtresen. Schmutziges Geschirr in der Spüle. Motten und Moskitos knallten gegen die Fliegengitter der offenen Fenster.
Cash zog den gewölbten Kühlschrank auf und schnappte sich vom obersten Bord zwei Langhalsflaschen Bud. Mit der Hüfte schlug sie die Tür zu und ging ins Wohnzimmer, das ihr zugleich als Schlafzimmer diente. Eingestaubte Jeans hingen über der Lehne eines Holzstuhls.
Sie hockte sich aufs Fußende des Betts und trank einen Schluck, bevor sie ihre Schuhe abstreifte und in eine Ecke kickte. Noch ein Schluck, dann stand sie auf, öffnete den Reißverschluss, stieg aus ihrer Jeans und ließ sie liegen. Sie ging ums Bett herum, setzte sich im Schneidersitz hin, Kissen auf dem Schoß, Rücken ans eiserne Kopfteil gelehnt, und nahm einen weiteren Schluck.
Jim zog sich aus bis auf seine weiße Unterwäsche und kroch unter die zerknautschte Decke. Er legte ihr einen Arm um die Taille und versuchte sie zu sich runter zu ziehen. »Lass mich austrinken«, sagte sie.
Nach dem letzten Schluck stellte sie die Flasche auf den Boden und fiel gründlich über ihn her.
Fünfzehn Minuten später zerrte sie ihr zerzaustes Haar unter seinem Rücken hervor, stieß sich von seiner Brust ab und setzte sich auf. »Zeit zum Aufbruch, Farmer Jim.« Sie zündete eine Zigarette an. »Frau und Kinder warten.«
Jim stöhnte und vergrub den Kopf unterm Kissen. Cash zog ihm das Kissen weg und sagte: »Komm schon, hoch mit dir. Ich muss früh raus.« Sie ging in die Küche, holte sich noch ein Bud und nahm einen großen Schluck, während sie zurück ins Schlafzimmer tappte. Das Bier war halb leer, als sie es auf dem abgestoßenen Couchtisch abstellte. Sie kroch ins Bett, zog Jim die Decke weg und wickelte sich hinein. Drehte sich von ihm weg. »Los jetzt. Mach die Tür richtig hinter dir zu.« Sie rauchte zu Ende, trank ihr Bier aus und schlief sofort ein.
Jim wälzte sich an die Bettkante, setzte sich auf, zog Socken und Jeans an. Im Dunkeln tastete er nach seinen Schuhen. Als er sich das Hemd zuknöpfte, beugte er sich über Cash und küsste sie auf die Stirn. Ohne aufzuwachen schlug sie ihn beiseite wie einen zudringlichen Moskito, der auf ihr gelandet war.
Er drückte den Knopf, der die Schlossfalle einschnappen ließ, bevor er die Tür hinter sich zuzog.