eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017
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Das französische Original erschien 2001 unter dem Titel »La chorale de sang«, © Editions Mémoire, Montreal, April 2001
Deutsche Printausgabe: litradukt, Literatureditionen Manuela Zeilinger-Trier, Trier 2017
Aus dem Französischen von Peter Trier
Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj
eBook-Herstellung: CulturBooks
Erscheinungsdatum: November 2017
ISBN 9-783-95988-100-5
Ein Mann fürchtet, das Schicksal der Kokosnüsse zu erleiden. Einem hohen Beamten wächst plötzlich ein Schwanz. Ein im Traum geschlossenes Geschäft wird beängstigende Realität. Ein Drogensüchtiger versucht, dem Programmierer seines Lebens auf die Spur zu kommen …
Neun Erzählungen von Gary Victor mit den Qualitäten, die auch seine Krimis auszeichnen: Satire und Tragik, Realismus und Fantastisches vereinigen sich zu jener Handschrift, die seine Werke so unverwechselbar macht.
Der Blutchor ist eine offene Tür […] in eine andere Vorstellungswelt. Gary Victor
Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, meistgelesener Gegenwartsautor Haitis, hat Leser und Kritiker im deutschsprachigen Raum mit seinen Krimis um Inspektor Dieuswalwe Azémar begeistert. Schweinezeiten, Soro sowie Suff und Sühne standen auf der Krimibestenliste (DIE ZEIT, später FAS und DLF Kultur) sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger. Der Blutchor erschien erstmals 2007, 2011 wurden die Geschichten von namhaften Schauspielern, darunter Charly Hübner und Oliver Wnuk, als Hörbuch eingelesen.
Gary Victor
Der Blutchor
Erzählungen
Aus dem Französischen von Peter Trier
CulturBooks Verlag
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Bald werde ich das Schicksal der Kokosnüsse erleiden. Ich sehe überall Kokosnüsse: in der Küche, im Esszimmer, im Bücherregal und sogar unter der Veranda. Ich bin derart besessen von Nüssen, dass ich fürchte, sie an einer Straßenecke, an meiner Bushaltestelle oder in der Cafeteria zu entdecken. Die Kokosnüsse, die ich entdecke, und jene anderen, deren Anwesenheit ich überall erahne, sind Wegmarken, mit denen die Zielgerade meines Daseins abgesteckt ist. Ich weiß nun, dass sie Zeichen sind und dass ihre Botschaft an mich gerichtet ist. Meine Frau spielt seit einigen Wochen ein seltsames und erschreckendes Spiel. Ich habe den Verdacht, dass sie das ausführende Organ einer Geheimorganisation ist, die den Auftrag hat, Männer zu bestrafen, die sich etwas trauen.
Ich bin zum Tode verurteilt, weil ich den groben Fehler begangen habe, ihr aus Lust an der Herausforderung einen Text mit dem Titel Eheliche Überwachung zu lesen zu geben. Welcher Mann bei klarem Verstand hätte sich schon gegenüber seiner Ehefrau so verhalten, wenn die Analogien zwischen der Erzählung und seinem realen Leben in Wahrheit schon beängstigend sind? Ich bin Schriftsteller. Mein Erzähler träumt davon, ein großer Dichter zu werden. Ich habe eine zweijährige Tochter, und die Tochter von meiner Figur ist genauso alt (Irrtum oder gewollte Provokation).
Meine Frau ist von aufdringlichem Misstrauen – das irgendwie etwas Inspiriertes hat – aber denn doch nicht so ein Ungeheuer, wie es in jener Erzählung angedeutet wird. (Das glaubte ich zumindest vor der furchtbaren Entdeckung.) Wie jene verrückte Ehefrau machte sie ätzende Bemerkungen über die Trugbilder von Hoffnungsfrauen, die man nie zu fassen bekommt, nachdem sie einige Verse gelesen hatte, welche ich zu meiner Zerstreuung auf einem Blatt Papier notiert und unglückseligerweise auf meinem Arbeitstisch vergessen hatte. Ich war verärgert über ihre Äußerungen und wurde gleichzeitig von einem Gefühl der Unsicherheit befallen. Ein Schöpfer muss frei sein. Er darf seine Inspiration nicht unter dem Vorwand zensieren, dass sich seine eheliche Treue in seinem Werk und sogar im einzigen geheimen Garten spiegeln muss, den uns die Welt, dieser von Big-Brothers bevölkerte Kerker, noch gelassen hat: unseren Träumen. Ich werde sterben, weil die Gefängnisatmosphäre des ehelichen Heims mich nicht gebrochen, nicht zum Zombie gemacht hat, weil die Verkäufer mit ihrem Marktgeschrei, die Päpste, Morallehrer, Psychoanalytiker und Fernsehmoderatoren mich nicht vernichtet haben, mich, den anonymen Rebellen, der es gewagt hat, dem Gesetz die Stirn zu bieten, und der nun ergeben die von den Kokosnüssen angekündigte Strafe erwartet. Wird es mir rechtzeitig gelingen, die Kleinodien zu retten, nach denen sie so wild giert wie ein Raubtier aus den Abgründen der Hölle?
*
Eheliche Überwachung – Fragmente.
Soeben ist sie mit Torri, unserer kleinen Tochter, aus dem Haus gegangen. Ich habe das Ohr an die Haustür gelegt und gewartet, bis das Geräusch ihrer Schritte im Flur verhallt war. Dann fing ich an, unsere Wohnung bis in den letzten Winkel nach Mikros und Kameras zu durchsuchen. Ich habe das Bücherregal durchkämmt, die Vorhänge, die künstlichen Pflanzen. Ich habe den Ofen untersucht, die Waschmaschine, den Wäschetrockner, den Kühlschrank, die Spülmaschine. Ich habe mit dem Detektor den Fernseher, die Stereoanlage und das Telefon kontrolliert, in den Schmutzwäschekorb und die Abfalleimer gegriffen und im Schlafzimmer eine furchtbare Unordnung angerichtet. Ich habe die Möbel, die Fotografien, die Bilder, die Nippsachen, die Vasen, die Unterseite der Lampenschirme, die Wasseruhr und das Spinnrad minutiös gemustert und die Wände mit dem Blick abgetastet. Ich habe das Belüftungssystem geprüft und dann meinen Arbeitstisch aus allen Blickwinkeln studiert. Ich stieg auf die Leiter, um die Decke abzusuchen. Im Vorbeigehen stöberte ich im Lüster, um mich von der Sterilität der Kristalle zu überzeugen. Mir fiel ein, dass sie mir meine Kleidung kauft. Ich zog mich schnell aus und vergaß auch die Schuhe nicht. Konnte ich nun anfangen zu schreiben? Meine Haare! Sie hatte am Morgen darauf bestanden, sie mir zu bürsten. Ich stürzte unter die Dusche und verbrühte mir die Kopfhaut unter einem kochend heißen Wasserstrahl. Um noch sicherer zu gehen, fuhr ich mir mit einem Magneten durchs Haar. Ich hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass ein starkes Magnetfeld ein gutes Mittel ist, um Miniaturabhörgeräte unschädlich zu machen.
Endlich setzte ich mich an den Schreibtisch. Meinen Federhalter und meinen Schreibblock konnte ich gefahrlos benutzen, da ich mein Material regelmäßig von einer Spezialagentur überprüfen ließ, mit deren Leiter ich von Kind auf befreundet war.
Die Inspiration! Sie kündigte sich an! Ich konnte fast hören, wie sie verstohlen angeschlichen kam, konnte ihre Umrisse erahnen und ihre sinnlichen Berührungen spüren. Ich wusste, dass ich kein guter Dichter war, aber worauf es ankam, war und blieb die freie Ausübung der schöpferischen Tätigkeit. Ich begann zu schreiben:
Ich tilge mich aus meiner glitschigen Nacht aus
mein Schmerzensmannkörper wird schwer von meinen kalten Orgasmen
das Fleisch, das ich durchpflüge, ist nicht das Fleisch meines Kopfes
und ich brülle deinen Namen, oh Erhoffte
oh Unbekannte, nach der ich taste im Dschungel meiner Nacht.
Erregt und verwirrt hielt ich einen Moment inne. Ich war verschwitzt wie ein Marathonläufer. Ich hatte es geschafft! Die ersten Verse! Die waren das Schwierigste. Ich tauchte meine Feder in die sorgfältig kontrollierte Tinte:
Warum gleiten meine Finger immer ab
von Hoffnungsfrauentrugbildern
die ich nie zu fassen bekomme.
Die Zimmerdecke erhellte sich und verwandelte sich in einen Frauenmund, den ich nur zu gut kannte. Sie keifte los:
»Deine Finger auf Hoffnungsfrauentrugbildern! Ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es sich nicht bloß um Trugbilder handelt! Und warum Frauen, in der Mehrzahl? Rabenvater … Dreckskerl …«
Der Mund wurde zu einer weiblichen Hand, die mich zu ergreifen versuchte. Ich konnte ihr durch einen Sprung zur Seite rechtzeitig ausweichen. Während ich beschämt entfloh, hörte ich, wie die Hand das einzige Gedicht zerriss, das ich nach tagelangen verzweifelten Anstrengungen zustande gebracht hatte.
Ende der Fragmente.
*
Meine Frau reagierte mit kalter, verhaltener Heftigkeit. Sie akzeptierte nicht, dass diese Geschichte von Hoffnungsfrauen lediglich eine Laune eines vom Zauber der Wörter und des Traums faszinierten Künstlers war, sondern schloss aus ihr, dass ich nur von dem Gedanken besessen sei, sie zu betrügen. Das Ganze artete in einen heftigen Streit aus, in dem ich – so glaubte ich einige Wochen lang – das letzte Wort hatte. »In meinem Kopf bin ich frei. Die Träume darin gehören nur mir. Du wirst sie nie besitzen können … Niemals! «, hatte ich ihr wild entgegengeschleudert. Ich maß dieser Auseinandersetzung keine Bedeutung bei, obwohl meine Frau sich seitdem distanziert gab. Im Verlauf unserer Gespräche gestattete sie sich bisweilen ironische Anspielungen. Wir gingen weiterhin, wie früher, jeden Samstagabend ins Kino oder ins Restaurant. Eines Tages, als ich früher als gewöhnlich aus dem Büro kam, hörte ich dumpfe Schläge aus der Wohnung. Einer dunklen Vorahnung gehorchend, betrat ich vorsichtig die Wohnung und dämpfte dabei das Geräusch meiner Schritte. Es kam aus der Küche. Ich schlich näher und steckte den Kopf durch die ein wenig offen stehende Tür. Ich erblickte meine Frau, wie sie in wilder Wut die stählerne Klinge einer Machete auf Kokosnüsse niedersausen ließ; sie übte, sie mit einem Hieb zu spalten. Was mich erschreckte, waren ihr Gesichtsausdruck, ihre irren Blicke und ihre Art, die Kokosnüsse zu halten, als handelte es sich um einen Menschenkopf. Aufgewühlt von dieser Szene wich ich zurück, zumal mir gerade wieder die Worte eingefallen waren, die ich ihr unvorsichtigerweise entgegengeschleudert hatte: »In meinem Kopf bin ich frei. Die Träume darin gehören nur mir … Du wirst sie nie besitzen können. Niemals.«
Ich klopfte ein paar Mal leise an die Tür, weil ich mir dachte, dass die Reaktion meiner Frau, wenn ich sie bei so ungewöhnlichem Tun überraschte, mir einen Hinweis auf ihre Absicht geben würde. Sie kam wie ein Wirbelwind aus der Küche geschossen und zog mich eifrig ins Schlafzimmer, als wollte sie mir die Entdeckung der Machete und der Kokosnüsse ersparen. Dort liebte sie mich so furios, wie ich es von ihr nicht kannte. Ich hatte das zugleich erregende und unangenehme Gefühl, dass sie zu einer Gottesanbeterin geworden war, die mich fressen würde, wenn ihre Lust einmal gestillt war. Seitdem ist mein Leben zu einem grauenhaften Albtraum geworden. Nachts schließe ich nur zum Schein die Augen, denn ich weiß, dass es ausreichen würde, mich dem Schlaf hinzugeben, damit mir die Machete den Kopf ebenso gekonnt abschlüge, wie sie die Nüsse gespalten hat. Wenn ich in der Abenddämmerung von der Arbeit zurückkehre, schaue ich auf dem oft menschenleeren Weg zu unserer Wohnung über die Schulter in der Furcht, aus dem Halbdunkel könnte eine Frauenhand mit geschwungener Machete auftauchen. Wenn ich das Badezimmer benutze, schließe ich die Tür ab und drehe den Schlüssel zweimal herum. Oft schon meinte ich, schemenhaft eine Hand zu sehen, die sich im Umgang mit einer im grellen Licht des Nebenzimmers funkelnden Klinge übt. Sie fragen mit Recht, warum ich dieses Haus nicht verlasse … Mit ihr zu schlafen, berauscht mich inzwischen noch mehr. In dem Wahn, der mich verzehrt, stelle ich sie mir als Medusa, die Gorgonin, vor, wie sie meinen Körper vor einem Publikum aus dämonischen Gästen zu Bacchanalen benutzt. Ich glaube in aller Bescheidenheit, dass ich genauso schlapp und unbedeutend geworden bin wie meine Figur in Eheliche Überwachung. Wenn ich in mir einen letzten Funken Selbstachtung bewahre, dann weil ich trotz allem die einzig mögliche Antwort auf meine Ohnmacht gegenüber diesem verheerenden Geschlechtsteil gefunden habe, von dem ich nicht los komme. Ich widme meine Zeit dem Leeren meines Kopfes. Ich bringe meine Träume an einen sicheren Ort, den ich niemandem verraten werde, nicht einmal mir selbst. Soll sie mir doch den Schädel öffnen, bevor sie beschließt, mich zu Stein werden zu lassen. Sie wird nichts, rein gar nichts finden. Das ist die köstlichste Rache, die ich mir vorstellen kann.
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