Steve Hamilton
Drei Zeugen zu viel
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Diemerling
Knaur e-books
Steve Hamilton, geboren 1961 in Detroit, studierte an der University of Michigan kreatives Schreiben. Bereits an der Universität wurde er mit einem Preis ausgezeichnet. Seitdem hat er zahlreiche Romane verfasst, zehn davon in der Serie um den Ermittler Alex McKnight. Für seine Werke erhielt er eine Vielzahl an Preisen. Neben Ross Thomas ist er der einzige Autor, der jemals den Edgar Award, den renommiertesten US-Krimi-Preis, sowohl für das beste Debüt als auch für den besten Roman gewonnen hat. Er lebt mit seiner Familie im nördlichen Bundesstaat New York.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Exit Strategy« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.
© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2017 by Cold Day Productions, LLC
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
Covergestaltung: NETWORK! Werbeagentur GmbH
Coverabbildungen: Getty Images/by ale_flamy; Shutterstock/Viktor Gladkov
ISBN 978-3-426-43621-9
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Für Julia,
wieder einmal und immer wieder.
Du bringst einen Menschen um, und das verändert dich.
Du bringst fünf um, und das hat mit Veränderung nichts mehr zu tun.
Das ist dann, wer du bist.
Quintero wusste das. Er hatte es schon bei anderen beobachtet. Auch bei sich selbst. Und er beobachtete es nun bei Nick Mason, während er ihm bei seinen Vorbereitungen zusah und an den Tag dachte, an dem er ihn am Tor des Bundesgefängnisses Terre Haute abgeholt hatte.
Er dachte an Masons ersten Auftrag in dem Motelzimmer. An sein Gesicht hinterher – ausdruckslos, blutleer –, als er den Mustang zu der Ausschlachtwerkstatt gebracht hatte.
Wie er gesagt hatte, dass er das nie wieder machen würde.
Bis zum nächsten Anruf.
Denn das war der ungeschriebene Vertrag, den Mason unterzeichnet hatte: Zwanzig Jahre seines Lebens im Austausch gegen treue Dienste für Darius Cole. Rund um die Uhr auf Abruf, sieben Tage die Woche. Um zu tun, was von ihm verlangt wurde.
Was es auch war.
Mason zog sein Hemd aus und enthüllte den sehnigen, muskulösen Oberkörper eines Weltergewichts mit heller, untätowierter Haut.
Selbst nach fünfeinhalb Jahren hinter Gittern war er ohne einen einzigen Tropfen Knasttinte an seinem Körper herausgekommen. Dafür hatte Cole gesorgt. Mason legte die Soft-Armor-Schutzweste an, die fest genug war, um alles bis hin zu einer Kaliber .44 Magnum abzuhalten, und zog einen schwarzen Rollkragenpullover darüber. Zusammen mit seiner schwarzen Hose und den schwarzen Schuhen mit Gummisohle war die Uniform eines Profis komplett. Er nahm die schwarze Balaklava, formte sie zu einer eng anliegenden Kappe und setzte sie auf seine kurzgeschnittenen Haare. Dann zog er die Maske herunter, schob sie über den Augen zurecht und warf einen Blick in den Spiegel. Zufrieden rollte er sie wieder auf.
Quintero setzte die schwarze Segeltuchreisetasche, die er über der Schulter trug, auf dem Tisch ab. Mason zog den Reißverschluss auf und sah hinein.
»Da ist alles drin, was du brauchst«, sagte Quintero. »Denk dran, das sind Typen der Extraklasse. Tipptopp in Form, können mit ihren Waffen umgehen.«
»Wie viele?«
»Zehn bis zwölf. Nicht genug, um dich aufzuhalten.«
Mason schüttelte den Kopf, während er die Tauchhandschuhe anprobierte.
»Wie lautet die wichtigste Anweisung?«, fragte Quintero.
»Mich vom einundzwanzigsten Stock fernhalten«, antwortete Mason. »Um Punkt zweiundzwanzig Uhr fliegt er in die Luft.«
»Danach kannst du in aller Ruhe dort rausspazieren.«
Mason nickte.
»Wiederhol noch mal den Plan«, befahl Quintero. »Schritt für Schritt.«
»Der Lieferwagen«, sagte Mason. »Er fährt um einundzwanzig Uhr fünfunddreißig in die Tiefgarage …«
Nick Mason sah den Lieferwagen vom Columbus Drive in die Tiefgarage abbiegen. Der Fahrer hielt an einer breiten Stahltür und wartete darauf, dass der Pförtner ihm aufmachte. Das verschaffte Mason etwa zwanzig Sekunden Zeit, um unter den Wagen zu kriechen und sich an den Halterungen der Auspuffanlage hochzuziehen, bis sein Körper samt der fest an den Rücken geschnallten Stofftasche den Betonboden nicht mehr berührte. Die Taucherhandschuhe waren dünn und elastisch, ermöglichten ihm einen guten Griff und verhinderten Fingerabdrücke auf jeder Oberfläche, sogar auf dem Unterboden dieses Trucks.
Der Wagen fuhr noch etwa hundert Meter weit, bevor er stehen blieb und die Stahltür hinter ihm zuglitt. Als der Motor abgeschaltet wurde, ließ Mason sich auf den Boden herab und blieb dort still liegen, die Stofftasche neben sich.
Es war einundzwanzig Uhr siebenunddreißig. Die meisten Firmenbüros im Erdgeschoss hatten geschlossen, und der abendliche Ansturm auf die Restaurants war vorüber. Mason wartete, dass der Fahrer ausstieg, und folgte ihm dann in einem Abstand von gut zehn Metern. Kurz darauf war er im Gebäude.
Das »Aqua«. Am Nordende des »The Loop« genannten Downtown-Bezirks gelegen, zweiundachtzig Stockwerke hoch, einer der markantesten Wolkenkratzer Chicagos mit seinen wellenförmigen Balkonen, die um alle vier Seiten wogten. Das Wasserthema setzte sich in der Innenausgestaltung fort, angefangen von der allgegenwärtigen blaugrünen Farbgebung bis hin zu dem Meerwasseraquarium in der Eingangshalle.
Mason bewegte sich rasch, aber ohne Hast auf den Lastenaufzug zu, wusste genau, wo er ihn finden würde. Die Zielperson hielt sich im dreiundvierzigsten Stock auf, also drückte er die Taste für den zweiundvierzigsten und benutzte den Überbrückungsschalter für die Feuerwehr, um ohne Zwischenstopp zu der Etage zu gelangen.
Oben angekommen, betrat er einen leeren Flur. Vor einer der Türen entdeckte er ein Tablett des Zimmerservice auf dem Boden, nahm es und entfernte alles darauf außer der silbernen Tellerglocke. Dann ging er zu der Treppe am Ende des Flurs und stieg in den dreiundvierzigsten Stock hinauf.
Dort öffnete er die Treppentür einen Spaltbreit und sah prüfend in den Gang. Ein Marshal saß auf einem Stuhl vor einem der Zimmer, sieben oder acht Türen weiter. Jung, höchstens dreißig. Stämmig. Er wirkte eher gelangweilt als wachsam.
Mason öffnete seine Tasche und nahm das Mossberg 500 heraus. Ein Modell mit Pistolengriff, verkürztem Lauf und Magazin für sechs Patronen. Es war mit etwas geladen, das der Hersteller gewieft als »Munition zur Massenkontrolle« bezeichnete, Silikonpfropfen, die, wie es hieß, »nicht tödliche, aber kampfunfähig machende Verletzungen« hervorriefen.
Kampfunfähig machende Verletzungen.
Mit anderen Worten, sie sorgten dafür, dass man lediglich wünschte, man wäre tot.
»Das musst du überwinden«, sagte Quintero zu ihm. »Einen zu töten und alle anderen leben zu lassen.«
Mason antwortete nicht. Er lud die Flinte.
»Die Knarre in deiner Hand, meinst du, die schert sich darum, wer vor ihr steht?«
Mason sah ihn an.
»Du musst genauso werden«, sagte Quintero. »Bevor dieser Schwachsinn dich umbringt.«
Mason nahm auch die HK USP Halbautomatik aus der Tasche und schob sie in seinen Gürtel. Das Magazin fasste fünfzehn Neun-Millimeter-Patronen, eine sechzehnte steckte bereits in der Kammer. Zum Schluss holte er einen Elektroschockstab heraus und hängte ihn sich an den Gürtel. Fünfundvierzig Zentimeter lang, fast drei Pfund verstärktes Aluminium und eine »Polizeikräftewirksamkeit« von zwölf Millionen Volt, die das gesamte neuromuskuläre System eines Menschen lahmlegte. Noch so eine kleine Versicherung für alle Fälle.
Er ließ die leere Tasche auf den Boden gleiten, steckte sich ein Paar unauffällige Ohrstöpsel in die Ohren und nahm sich noch einen Moment Zeit, um durchzuatmen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihm lag. Denn wenn es erst einmal losging, passierte alles Schlag auf Schlag, ohne Möglichkeit zum Zögern oder Überlegen.
Er öffnete die Treppentür und ging durch den Flur. Das Tablett vom Zimmerservice verbarg die halbautomatische Pistole in seinem Gürtel, die für ein rechtshändiges diagonales Ziehen in der Elf-Uhr-Position steckte, ebenso den Schockstab und den größten Teil des Gewehrs.
Der Marshal stand auf. »Hey! Sie dürfen hier nicht lang!«
Dieser kurze Moment der Unentschlossenheit, bevor er nach seinem Funkgerät griff. Mason ließ das Tablett fallen und richtete das Gewehr auf die Brust des jungen Mannes, sah gerade noch, wie dessen Augen groß wurden, bevor er den Abzug drückte und den Silikonpfropfen in seinen Bauch jagte, knapp unterhalb der Schutzweste.
Der Marshal sackte zu Boden, zu einem Ball zusammengekrümmt. Er würde nicht wieder aufstehen, jedenfalls nicht ohne tatkräftige Hilfe und Schmerzmittel. Mason zog die Sturmhaube übers Gesicht, während er auf ihn zuging. Aus der Nähe sah er noch jünger aus – ein Milchbart, der niemals allein hier hätte positioniert werden dürfen. Mason griff in die Jacke des Jungen, zog die Glock aus seinem Holster und nahm ihm das Funkgerät ab. Anschließend holte er einen Kuli aus seiner eigenen Hosentasche – die Spitze war durch einen DC-Adapter ersetzt worden, und das Gehäuse enthielt eine Leiterplatte, die in weniger als einer Sekunde den Zweiunddreißig-Bit-Code des Hotels las und in den Kartenleser einspeiste.
Die Uhr tickte nun, wie er wusste. Irgendwer hatte diesen Schuss mit Sicherheit gehört und rief schon bei der Rezeption unten an.
»Der Marshal im Zimmer ist der Teamchef. Er ist ein Knallharter. Bleibt acht Stunden am Stück bei seinem Kunden – schläft nicht, isst nicht, geht nicht aufs verdammte Scheißhaus, es sei denn, er zerrt den Typ mit sich dort rein. Er nimmt diesen Quatsch persönlich, und er kann schießen. Die haben eins von seinen Zielscheibenblättern bei sich in der Schießanlage aufgehängt, also bau keinen Mist.«
Mason steckte den Kuli in den Port an der Unterseite des elektronischen Türschlosses, und das Lämpchen leuchtete grün. Er öffnete die Tür, bereit, sie aufzutreten, sobald der Sicherheitsriegel innen sie blockierte, doch sie schwang sofort ganz auf.
Leise ging er hinein, hielt sich dicht an der Wand. Nahm keinerlei Bewegung im Zimmer wahr. Die einzige Beleuchtung kam von dem nächtlichen Lichtermeer draußen vorm Fenster. Er machte ein paar weitere Schritte in den Raum hinein, den rechten Finger am Abzug der Flinte. Als er nacheinander in die Küchenecke, das Schlafzimmer und das Bad blickte, wurde es offensichtlich: Es war niemand da.
Kein Marshal, kein Target.
Das Zimmer war ein Täuschungsmanöver.
»Woher wissen wir, dass der Buchhalter sich dort aufhält? Wenn er im Zeugenschutzprogramm ist …«
»Wir haben einen Marshal auf unserer Seite. McLaren ist für eine vorprozessuale Zeugenaussage hier rauf nach Chicago gebracht worden.«
Ken McLaren, Darius Coles einstiger Chefbuchhalter. Ein ehemaliger Steuerfahnder bei der Bundessteuerbehörde IRS und ein Genie darin, Geld nach Übersee zu transferieren, es dann wieder zu »domizilieren«, indem er es in heimische Unternehmen investieren ließ, die auf dem Papier alle legal waren, um es schließlich unter Vermeidung jeglicher Steuerabgaben zurück aufs Konto zu bringen.
McLaren hatte fast ein Jahrzehnt lang irrsinnige Haufen von Geld für Cole gescheffelt.
Doch dann wurde sein Sohn auf dem Campus der University of Chicago mit einer dealergroßen Tüte voller Ecstasy-Pillen erwischt, und die Polizei setzte McLaren damit so lange unter Druck, bis er sich bereit erklärte, gegen Cole auszusagen.
»Ihr macht den Weg frei für sein Wiederaufnahmeverfahren«, sagte Mason.
»Das ist nicht deine Sache. Deine Sache ist nur …«
»Ich weiß. Ich knall ihn ab und verschwinde.«
»Denk ja nicht an Letzteres, bevor du Ersteres erledigt hast.«
Mason ging hinaus in den Flur und packte den jungen Marshal am Kragen, der sich immer noch in Fötusstellung den Bauch hielt. Er schrie vor Schmerz auf, als Mason ihn in das Zimmer zerrte und die Tür schloss.
»Wo ist er?«
Der US-Marshal antwortete nicht. Mason setzte ihm den Gewehrlauf an die Schläfe.
»Erste Chance: Wo ist er?«
»Leck mich«, sagte der Marshal.
Mason bewegte den Lauf hinunter zu seinem Bein, drückte ab und jagte das Silikongeschoss mit Schallgeschwindigkeit in seinen Oberschenkel. Der Junge zuckte durch den Aufprallschock krampfhaft zusammen. Eine halbe Sekunde später signalisierte die Verletzung eine klare Botschaft an sein Gehirn, und er begann zu schreien.
Mason ließ ihm ein paar Sekunden Zeit, um sich zu verausgaben. Dann setzte er den Lauf erneut an seine Schläfe.
»Zweite Chance: Wo ist er?«
»Oben«, keuchte der Marshal.
»Wo oben?«
»Zehn Etagen. Dreiundfünfzigste.«
»Apartmentnummer?«
»Weiß ich nicht.«
Mason drückte den Lauf fester gegen seine Schläfe.
»Fünf-drei-null-sieben.«
Mason nahm die Handschellen vom Gürtel des Mannes, schloss eine um sein rechtes Handgelenk und zog ihn ein paar Meter weit zu dem Küchentresen, der eine altmodische Fußstütze aus Messing hatte. Er fesselte ihn daran und warf danach das Haustelefon auf dem Tresen in die Spüle. Als er sich bückte, um dem Marshal das Handy abzunehmen, flüsterte er ihm ins Ohr: »Wenn er nicht dort ist, wirst du dir wünschen, ich hätte dich umgebracht.«
Mason hob das Zimmerservice-Tablett auf dem Weg nach draußen auf, ging zurück zur Treppe und stieg die zehn Etagen zur dreiundfünfzigsten hinauf. Dort öffnete er die Tür zuerst wieder nur einen Spalt.
Der Gang war leer.
Keinen Mann draußen abgestellt – noch so ein Kniff, um das Zimmer geheimzuhalten.
Er eilte zu Nummer 5307, nahm den Stift heraus und öffnete das Schloss. Wieder überraschte es ihn, dass die Tür nicht durch den Riegel innen blockiert wurde, doch er kam nicht mehr dazu zu überlegen, wie der Marshal ihn reingelegt hatte, denn plötzlich wurde die Tür des Zimmers hinter ihm aufgerissen.
»Keine Bewegung!«
Mason drehte sich um, sah noch das Mündungsfeuer und fühlte den Stoß gegen seine Brust. Die Kugel wurde von der Weste abgehalten, aber die Wucht des Aufpralls erschütterte seinen ganzen Körper, als wäre er von einem Zementsack getroffen worden. Im Rückwärtsfallen drückte er den Abzug, verzog aber nach oben. Der Marshal kam auf ihn zu und wollte gerade zum zweiten Schuss ansetzen, da feuerte Mason erneut. Diesmal traf er ihn in der Leistengegend, woraufhin der Mann zusammenbrach und auf ihm landete.
Mason schob ihn von sich. Dieser Mann war deutlich älter, hatte ergrauende Haare und ein zerfurchtes Gesicht, war wahrscheinlich schon seit mindestens dreißig Jahren Marshal. Hatte geschworen, seine Schutzbefohlenen mit seinem Leben zu verteidigen. Er hielt sich den Schritt mit beiden Händen, die Augen zusammengekniffen, und atmete stoßweiße durch die zusammengebissenen Zähne. Mason nahm ihm die Glock und das Funkgerät ab und schleifte ihn in das Apartment gegenüber.
Die Räume waren nur spärlich möbliert. Sofa, Fernseher, Couchtisch, viel Leere und keine Versteckmöglichkeiten. Er ging in die Küche, ins Schlafzimmer, sah unters Bett, in den leeren Kleiderschrank. Dann ins Bad, wo er den Duschvorhang zur Seite riss.
Verdammt, wo ist McLaren?
Er kam zurück in den Wohnbereich, stand einen Moment ruhig da, überlegte, wo er war, was das Aqua zum Aqua machte: die Balkone auf jedem Stockwerk, bis hinauf zum obersten. Er ging auf den Vorhang vor der Fensterfront zu und zog ihn beiseite.
Der Buchhalter stand draußen, drückte sich in der hintersten Ecke ans Eisengeländer. Er sah nicht so aus, wie Mason erwartet hatte, keine sesselfurzende Vogelscheuche, sondern einer, der offensichtlich viel Zeit im Fitnessstudio verbrachte, auch wenn die Bizepse, die sein Oberhemd aufspannten, bloß zum Angeben da waren. Mason schob die Balkontür auf und fühlte den kalten Luftzug im Gesicht. Er hörte den Verkehr auf der Columbus, dreiundfünfzig Etagen weiter unten. Sirenen in der Ferne, wahrscheinlich schon zu diesem Hochhaus unterwegs, während ringsherum die Millionen Lichter der Stadt funkelten. Unter anderen Umständen wäre es wunderschön gewesen hier oben.
Der Buchhalter richtete sich gerade auf und sah ihm ins Gesicht, als er die Pistole aus dem Gürtel zog.
Mit nicht tödlicher Gewalteinwirkung war es nun vorbei.
Als Mason die Waffe anlegte, sah er etwas in McLarens Blick aufzucken, drehte sich den Bruchteil einer Sekunde zu spät um und bekam einen Schlag auf den rechten Unterarm. Die Pistole fiel scheppernd auf die Balkonfliesen und wurde weggekickt, worauf Mason sich dem wieder einsatzfähigen Marshal gegenübersah. Ich hätte mich vergewissern müssen, dass er k.o. ist, schoss es ihm noch durch den Kopf, als der Mann ihn auch schon wieder ins Visier nahm und ihm einen Hieb gegen die Kinnlade versetzte. Doch er kam schnell wieder hoch, stieß dem Marshal den Fuß zwischen die Beine und warf ihn nieder.
Gerade wollte er nach dem Elektroschockstab an seinem Gürtel greifen, als der Buchhalter ihn von hinten attackierte, wobei der Schwung sie vorwärts ins Wohnzimmer trug.
Von McLarens Armen fest umschlossen, landete Mason flach auf dem Couchtisch, der unter ihm zusammenkrachte. Er wand sich herum und langte nach dem Hals seines Gegners, doch der war gut zwanzig Kilo schwerer und begann, wie wild auf seinen Kopf einzuschlagen. Er spürte McLarens Ehering über seine Wange schaben, spürte einen weiteren Hieb knapp neben dem Auge, aber als McLaren mit der Faust auf seine Rippen zielte, stieß der plötzlich einen Schmerzensschrei aus und krampfte die Hand in seine Schutzweste.
Mason, den Schockstab noch in der Hand, legte ihn seitlich an den Kopf des Buchhalters und rollte sich mit ihm herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Marshal das Gewehr vom Boden aufheben wollte. Schnell packte er es und entwand es ihm, brach ihm dabei mindestens einen Finger und löste einen Schuss aus. Er fühlte die Hitze durch seine Handschuhe, als der Fernsehbildschirm explodierte, drückte die Taste an dem Metallstab und rammte ihn in den Hals des Marshals, schickte zwölf Millionen Volt durch seinen Körper. Der Mann war schockstarr, bis er den Stab wegnahm und ihm damit auf den Kopf schlug, so dass er endgültig liegen blieb.
Mason rappelte sich hoch, sammelte seine Waffen ein und wischte sich das Blut von der Wange.
»Sorg dafür, dass er Bescheid weiß«, sagte Quintero. »Dass er weiß, wer dich geschickt hat.«
»Meinst du, er wird da irgendeinen Zweifel haben?«
»Ich bezahle Sie«, sagte McLaren. Er stand langsam auf, eine Hand an die Schläfe gelegt, wo Mason ihn getroffen hatte. »Egal, was Cole Ihnen bezahlt, ich zahle das Doppelte.«
»Es geht nicht immer ums Geld«, erwiderte Mason und legte erneut die Pistole an.
Das war der eine Schritt, den er nicht zu planen brauchte. Den er nicht planen wollte, an den er nicht einmal flüchtig denken wollte. Er wusste, dass dieser Moment kommen würde, wusste, dass alles andere grau in grau verblassen würde, dass die Zielperson vor ihm stehen und er schießen würde, alles auf bloße Technik reduziert: aufs Korn konzentrieren, das Opfer zu einem verschwommenen Schemen werden lassen. Noch ein Atemzug, dann ein entschlossenes Abdrücken.
»Bitte«, sagte der Buchhalter. Und Mason schoss dreimal.
Brust, Brust, Kopf.
Der tote Körper schlug auf dem Boden auf.
Mason sah auf seine Armbanduhr. Es war einundzwanzig Uhr siebenundfünfzig. Das Köderzimmer hatte ihn wertvolle Zeit gekostet.
Nur noch drei Minuten, bevor Quinteros Bombe hochging.
Mason ließ den toten Buchhalter in seiner Blutlache liegen, stieg über den bewusstlosen Marshal hinweg und machte die Tür auf. Da er von links Schritte und Stimmen hörte, lief er nach rechts.
Er zog die Tür zur Treppe auf und rannte nach unten, die Flinte immer noch in der Hand, die halbautomatische Pistole wieder in den Gürtel gesteckt. Die Sturmhaube hatte er noch übers Gesicht gezogen, schob sie jetzt aber bis zur Nase hoch, um besser atmen zu können, während er eine Treppenflucht nach der anderen abwärtshechtete.
Zehn Stockwerke. Dann zwanzig. Die Nummern flogen an ihm vorbei, er sah auf die Uhr und stellte fest, dass ihm weniger als zwei Minuten blieben, um rauszukommen. Im siebenundzwanzigsten Stock blieb er kurz stehen, um Atem zu schöpfen.
Er hörte das Krächzen eines Funkgeräts auf der anderen Seite der Gangtür und wollte gerade weiterlaufen, als die Tür aufging und er sich plötzlich einem anderen maskierten Gesicht, einem der US-Marshals, gegenübersah. Der Mann erholte sich rasch von seinem Schreck und schrie: »Stehen bleiben!«
Mason schoss ihm auf den unbedeckten Bauch unterhalb der Schutzweste. Das Silikongeschoss faltete den Mann in der Mitte zusammen, so dass er die Waffe fallen ließ. Mason warf sich hinter die Deckung der Tür, hob das Gewehr und kam mit einer geschmeidigen Bewegung hervor, um einen zweiten Marshal auszuschalten. Dann zog er sich wieder hinter die Tür zurück, legte das Gewehr erneut an und spürte diese kaum merkliche Hohlheit einer leeren Waffe.
Scheiße. Alle sechs Schuss verbraucht.
Er blieb hinter der Tür und ließ den dritten Marshal näher kommen, bis er den Lauf seiner Glock sah. Dann knallte er die Tür gegen seinen Arm, entriss ihm die Pistole und schlug ihn damit ins Gesicht. Er nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte zusätzlich von hinten gegen seinen Nacken. Zehn Sekunden unverminderter Druck auf die Halsschlagader, wodurch die Blutzufuhr abgeschnitten wurde. Danach ließ er ihn zu Boden gleiten.
Er sah auf die Uhr.
Noch eine Minute.
Laute Stimmen über ihm und noch mehr Schritte. Er rannte weiter die Treppe hinunter, Stockwerk für Stockwerk. Bis er jemanden etwas brüllen hörte, dann eine halbe Sekunde später das Krachen eines Schusses und das metallische Klirren einer Kugel, die nur wenige Zentimeter von seiner Hand entfernt vom Geländer abprallte. Er warf sich gegen die Wand und zog die Pistole aus seinem Gürtel. Jetzt blieb keine Zeit mehr, über tödliche Gewalteinwirkung kontra nicht-tödliche kontra sonst irgendwas nachzudenken.
Er stellte sich vor, was passieren würde, wenn er zauderte: Die Marshals, die ihn in die Enge trieben, ihm befahlen, die Waffe fallen zu lassen, ihn in Handschellen abführten – bloß die erste Stufe einer Prozedur, die er schon einmal durchgemacht hatte. Nur dass er diesmal für den Rest seines Lebens einsitzen würde.
Dazu würde er es nicht kommen lassen, egal, was es kostete.
Jetzt kamen auch Stimmen von unten herauf, wie ein Echo der von oben, die noch dazu lauter wurden. Er stieß die Gangtür auf und rannte durch den Flur. Er hatte keine andere Wahl.
Mitten im Gang bemerkte er, wo er war.
Im einundzwanzigsten Stock.
»Und wie zum Teufel soll ich da rauskommen?«, hatte er Quintero gefragt. »Diese Waffen sind nicht eben leise.«
»Der einundzwanzigste Stock wird gerade renoviert, so dass er nachts leersteht. In einem der Zimmer ist Sprengstoff deponiert, der um Punkt zweiundzwanzig Uhr detonieren wird. Sieh zu, dass deine Uhr richtig geht.«
»Und was ist, wenn ich zufällig gerade in dem Stockwerk bin?«
»Das Haus hat zweiundachtzig beschissene Stockwerke, Mason, du brauchst dich nur von einem einzigen fernzuhalten. Sei einfach um zehn auf dem Weg nach unten, dann kommst du raus.«
Er machte sich nicht die Mühe, auf die Uhr zu sehen. Er wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben.
»Waffe fallen lassen!«
Mason drehte sich um und feuerte, um sich selbst Deckung zu geben, spürte jedoch gleich darauf einen weiteren Aufprall, diesmal an seiner Schulter. Der Schmerz war völlig anders als bei dem Schuss, der ihn auf die Weste getroffen hatte, scharf statt dumpf und auf eine kleine, höllisch brennende Stelle konzentriert.
Ich bin getroffen. Der Satz hallte hohl und wie von fern durch seinen Kopf, nicht dringlich, bloß eine Feststellung. Ein Problem, um das er sich jetzt nicht kümmern konnte. Er feuerte erneut, woraufhin der Schütze sich hinter die Tür zurückzog, und wirbelte dann gerade noch rechtzeitig herum, um einen weiteren Polizisten aus der anderen Richtung auf sich zukommen zu sehen.
»Auf den Boden! Sofort auf den Boden!«
Mason schoss auf den nächstbesten Türknauf, trat die Tür auf und rannte durch das leere Zimmer. Nahm die kahlen Wände und die Farbeimer kaum wahr, schoss im Laufen das Balkonfenster heraus, das in tausend Scherben zerbrach, und hechtete hinaus und über das Geländer.
Der nächste Augenblick bestand nur aus Hitze, Licht und Knall, alles andere wurde davon ausgelöscht. Die Wucht der Explosion sprang ihn an wie ein riesenhaftes Raubtier, das ihn in die kalte Nacht hinaus verfolgte. Er klammerte sich mit einer Hand an das Geländer und fühlte sich schon abrutschen, während einundzwanzig Stockwerke tiefer die Straße auf seinen fallenden Körper wartete.
Eine zweite Explosionswelle traf ihn stärker als die erste, und er musste loslassen. Im Fallen streckte er instinktiv die Hände aus, bis sein linker Arm gegen das nächste Eisengeländer knallte und er ihn schnell darum hakte. Er hing jetzt eine Etage unterhalb der Detonation, die Kälte wie ein Eintauchen in den Ozean, aber während er sich krampfhaft festhielt, merkte er, wie seine Finger schon wieder abglitten. Mit letzter Kraft versuchte er, sich hochzuziehen, hörte dabei den Brand in der Etage über sich wüten. Noch ein Fenster zerbarst.
Das Sirenengeheul kam näher. Als er kurz nach unten blickte, sah er ganz klein die blinkenden Blaulichter mehrerer Streifenwagen.
Alles kam ihm so weit weg vor, alles außer dem Schmerz in seiner rechten Schulter und dem Stück kalten Metall, das er durch den Handschuh an seiner Linken spürte, ein letzter Anker, um ihn vor dem Fall zu bewahren.
Mason gab sich einen Ruck und versuchte, den rechten Arm zu heben.
Nichts. Der Arm war tot.
Er fühlte Blut an ihm herunterrinnen. Der rechte Handschuh war schon durchtränkt, und das Blut troff von seinen Fingerspitzen. Seine linke Hand wurde mit jeder Sekunde tauber, sein Griff schwächer. Er konnte sich vielleicht noch eine Minute halten, höchstens zwei.
Nach allem, was er durchgemacht hatte, jetzt so zu sterben …
Er dachte an seine Tochter, sah ihr Gesicht vor sich, sah sie über den Fußballplatz rennen. Rief laut ihren Namen – »Adriana!« –, dem heulenden Wind zum Trotz, der um ihn herumwirbelte. Dann versuchte er noch einmal, den rechten Arm zum Geländer hinaufzuschwingen.
Geschafft.
Jetzt hing er mit den Achselhöhlen über dem Eisengeländer, und seine strampelnden Füße fanden auf dem vorspringenden Balkon Halt, so dass er sich abstoßen und hinüberhieven konnte. Kraftlos ließ er sich auf den Boden sinken und holte, auf dem Rücken liegend, in tiefen Zügen Atem. Noch mehr Sirenen lärmten unten auf der Straße, wobei sich unter das an- und abschwellende Geheul der Streifenwagen nun auch die hupenden Basstöne der Feuerwehrwagen mischten. Innerhalb von einer Sekunde war das Aqua zum Mittelpunkt der Welt geworden. Als er sich herumrollte, um auf die Beine zu kommen, betastete er seine rechte Schulter. Er fühlte kein Blut durch den Handschuh, aber kaum hatte er ihn weggenommen, sah er glänzendes Rot.
Mason drückte gegen die Balkontür, die unverschlossen war. Er ging durch das Apartment und hielt nur kurz inne, um einen Wäschekorb zu durchwühlen, in dem er ein rotes Hemd fand. Es war kurzärmelig und drei Nummern zu groß, aber er zog es über seinen schwarzen Pulli, dessen rechte Seite nun blutdurchtränkt war. Das Zimmer drehte sich um ihn, und er musste sich einen Moment an der Wand abstützen. Dann trat er hinaus in das Chaos im Flur. Der Feueralarm plärrte ohrenbetäubend, Warnlichter tasteten zu beiden Seiten die Wände ab, und ein Dutzend Menschen hastete auf die Treppe zu. Mason schloss sich ihnen an, die Balaklava wieder zu einer Mütze aufgerollt. Überlegte, ob irgendeine Chance bestand, sich unerkannt unter die Menge zu mischen.
Im Treppenhaus drängten sich mindestens weitere hundert Leute jeden Alters und jeder Hautfarbe, aber mit einer Gemeinsamkeit: der blinden Panik vor etwas Echtem. Sie spürten es alle: Das war kein Übungsalarm. Viele Etagen weiter oben stolperten andere Leute gerade über die außer Gefecht gesetzten Marshals, was wahrscheinlich zusätzliche Panik verursachte, doch hier unten im zwanzigsten Stock ging es schlicht ums Überleben, darum, die Treppe hinunter und raus auf die Straße zu kommen.
Mason lief mit der Menge mit, bis er kurz stehen bleiben und sich an die Wand lehnen musste. Als eine ältere Frau ihn am Arm fasste und fragte, ob ihm nicht gut sei, sah er schnell weg und ging weiter.
Das Gedränge wurde immer größer, da auf jeder Etage mehr Menschen ins Treppenhaus strömten wie Nebenflüsse in einen großen Fluss, der sich schließlich unten ins Foyer ergoss.
»Es gibt einen Ausgang direkt gegenüber dem Treppenhaus.« Quinteros Anweisungen fielen ihm wieder ein. »Fünfzehn Meter, und du bist draußen.«
Mason ließ sich ein Stück zurückfallen und spähte durch die Türöffnung zum Haupteingang. Mehrere Marshals standen dort, die zwar niemanden anhielten, aber allen, die das Gebäude verließen, forschend ins Gesicht blickten. Er beobachtete, wie einer einen Mann seines Alters und seiner Größe stoppte, ihn durchsuchte und befragte, bis er ihn endlich gehen ließ.
»Falls es ein Problem gibt, hast du einen zweiten Ausgang rechts von dir. Etwa dreißig Meter entfernt.«
Er blickte in die Richtung und sah eine weitere Gruppe von Marshals auch diesen Nebenausgang bewachen.
»Deine dritte Option ist der Tunnel. Aber wenn du dort runtergehst, gibt’s keine andere Möglichkeit mehr.«
Mason sah zu der gläsernen Doppeltür hin, die den Zugang zu einem Netz aus Fußgängerunterführungen bildete, diesem Rattenlabyrinth aus Tunneln, das sich unter dem größten Teil des Loop erstreckte. Ein einzelner Stadtpolizist stand dort und schickte die Leute weg, lenkte sie zurück zum Haupteingang.
»Nimm den Tunnel nur, wenn dir nichts anderes übrigbleibt.«
Er schob sich mit der Menge langsam hinaus ins Foyer und hielt sich dabei dicht an der Wand, bis er den Cop mit einem Paar mittleren Alters sprechen sah. Die Sturmmütze wieder übers Gesicht gezogen, ging er rasch auf die Glastür zu. Der Polizist drehte sich genau in dem Augenblick um, als er ihn erreichte, und zuckte noch mit den Händen an sein Holster, doch er streckte ihn mit einem linken Haken nieder. Er stieg über ihn hinweg, riss die Tür auf und rannte hinunter in den Tunnel.
»Lauf nordwärts, dann westwärts. Dort sind Ausgänge zur Water Street, Columbus Avenue, Stetson.«
Seine Schulter stand jetzt in Flammen, und er hörte jemanden hinter sich die Treppe hinunterkommen.
»Danach halt dich bei jeder Abzweigung links. Wenn die Kacke richtig am Dampfen ist, lauf in den stillgelegten Tunnel kurz vor der Michigan Avenue.«
Er versuchte verzweifelt, sich den Tunnelplan vor Augen zu halten, aber vor ihm drehte sich alles, einschließlich des Plans.
Neue Stimmen, hämmernde Schritte, die laut von den gekachelten Wänden widerhallten. Er begann zu laufen. Alles wirkte blaustichig in dem kalten, künstlichen Licht, Cops scheinbar überall in diesem verdammten Labyrinth. Sein Herz pumpte, und immer mehr Blut sickerte in seinen Pullover.
Scheiße, ich hab mich verirrt. Ich hab keinen blassen Schimmer, wo ich …
Da!
Vor sich sah er die Sperrholzplatten, mit denen der Eingang zu dem alten Tunnel verrammelt war. Eine Tür war in das Sperrholz geschnitten und mit einem Vorhängeschloss versehen. Er schoss darauf, verfehlte es, fokussierte seinen Blick und schoss noch einmal. Dann trat er die Tür auf und suchte sich einen Weg durch die Dunkelheit dahinter. Hier und da tropfte Wasser, Ratten huschten um ihn herum, und es roch nach Staub aus einer anderen Ära. Er tastete nach dem Schockstab, um sich mit der Taschenlampe an dessen Spitze zu leuchten, doch die funktionierte nicht mehr.
Taumelnd und stolpernd kämpfte er sich auf den alten Eisenbahnschienen voran, bis er weiter vorn ein schwaches Licht ausmachte. Höchstens einen Häuserblock entfernt, aber es wirkte wie ein ferner Stern am Himmel. Holz knarrte hinter ihm, wieder Stimmen und dann ein dünner Lichtstrahl, der nach ihm suchte.
Mason raffte sich ein wiederholtes Mal vom Boden auf, sah das Licht heller werden und fand endlich eine Holztreppe, die nach oben führte. Er schaffte es hinauf und drückte unüberlegt mit der rechten Schulter gegen die Tür dort, woraufhin eine Welle von Schmerz und Übelkeit durch ihn hindurchschwappte und ihn beinahe in Ohnmacht fallen ließ. Schließlich bekam er die Holztür auf und wurde vom plötzlichen Schein einer Straßenlaterne geblendet.
Danach nahm er alles nur noch verschwommen wahr. Er schleppte sich durch die Straßen, wandte sich dabei immer wieder von den vorbeisausenden Sirenen und Blaulichtern ab. Irgendwie fand er zu seinem Auto, mittels motorischem Gedächtnis und purer Tollkühnheit. Setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an, streifte um ein Haar mehrere aufeinanderfolgende Wagen, als er sich in den Verkehr einfädeln wollte.
Und dann beging er seinen größten Fehler in dieser Nacht.
Er fuhr nach Norden.
Als Lauren ihre Tür aufmachte, sah sie Blut.
Sie versuchte noch, Nick aufzufangen, als er auf der Schwelle zusammenbrach, doch er schlug hart auf dem Boden auf. Der Hund, der in einem der Zimmer eingeschlossen war, begann zu bellen.
»Oh Gott! Was ist passiert?«
Er antwortete nicht. Sie fühlte, wie durchnässt seine Sachen waren, sah Blut auf ihre Hartholzdielen tropfen. Ein Handy klingelte in einer seiner Taschen. Lauren schloss die Tür hinter ihm und zog ihn in die Wohnung, lehnte ihn gegen die Wand. Er stöhnte, als sie ihm langsam das Hemd und den Pullover auszog.
»Wer hat dir das angetan?«
Sie stutzte, als sie die schwarze Schutzweste sah.
Doch ihre Überraschung dauerte nur einen Moment, schließlich hatte sie immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.
Wenn er fortging, wollte er ihr nie sagen, wohin er ging oder was er vorhatte … Sie wusste nur, dass er hasste, was er zu tun hatte. Und jetzt würde das, was er heute Nacht getan hatte, was es auch war, ihn umbringen. Er würde hier auf ihrem Fußboden sterben.
»Ist nicht so schlimm. Das wird wieder«, sagte sie, was ihr zugleich wie eine Lüge und wie ein Gebet vorkam.
Sie zog die Klettriemen der Weste auf und nahm sie ihm vorsichtig ab. Er stöhnte, und dann sah sie die Schulterwunde. Ein gezacktes Loch knapp über dem Schlüsselbein, dicht am Hals. Das Blut floss wieder, strömte ihm über die Brust. Lauren schnappte nach Luft, beinahe von Übelkeit und Panik überwältigt, aber sie unterdrückte beides. Sie lief in die Küche, um Tücher und das schnurlose Telefon zu holen, rutschte auf dem blutglitschigen Boden aus, fiel aber nicht. Wieder zurück, drückte sie Lappen und Geschirrtücher mit einer Hand auf die Wunde und wählte mit der anderen eine Nummer.
Mason hob den Arm und schlug ihr das Telefon aus der Hand, dass es über die Dielen schlitterte.
»Nein«, ächzte er. »Keine Anrufe.«
»Du verblutest.«
»Nicht den Notruf. Lass mich einfach …«
»Bist du verrückt?«
Mason packte sie am Handgelenk.
»Nick, bitte …« Sie wollte sich losreißen.
Mason hielt sie fest. Er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
Sein Handy klingelte erneut.
Diesmal zog Lauren es aus seiner Hosentasche und sah auf den Bildschirm.
UNBEKANNTER ANRUFER.
»Geh nicht ran«, nuschelte er, während seine Lider sich flatternd schlossen.
Niemals sein Telefon anfassen: Auch das hatte sie ihm versprechen müssen. So wie nie zu fragen, wo er war oder was er getan hatte.
»Ich muss aber«, protestierte sie und machte sich los. »Du stirbst sonst, und das lasse ich nicht zu.«
Mason trieb durch ein Meer aus Dunkelheit. Fern von Licht, fern von Klang. Als er langsam wieder an die Oberfläche kam, hörte er irgendwo weit weg eine Stimme. Worte, die noch ohne Bedeutung waren.
Hallo, hier ist Lauren. Nick ist angeschossen worden. Er will nicht, dass ich neun-elf anrufe. Was soll ich tun?
Er tauchte von der Oberfläche zurück in die Dunkelheit. Dort blieb er eine Minute, eine Stunde oder einen Tag, bis er sich wieder nach oben treiben fühlte. Verschiedene Geräusche – ein Klopfen an der Tür, gedämpftes Hundebellen, die aufgebrachte Stimme einer Frau – zogen ihn hinauf ans Licht. Beim Auftauchen sah er ein Gesicht auf sich herabstarren.
Quintero kniete vor ihm auf dem Boden und hatte eine braune Plastikflasche in der Hand. Als er das Peroxid auf die Wunde goss, schoss neuer Schmerz durch Masons Körper, und jeder Muskel spannte sich so abrupt an, dass es fast wie ein Krampfanfall war.
»Was … machst du … da? Wie … bin ich … hierhergekommen?«, fragte er mit unstetem Blick.
»Keine Ahnung, Mann. Aber du hast Scheiße gebaut.«
Quintero schüttete etwas von der klaren Flüssigkeit in eine Rührschüssel aus Edelstahl. Die Goldketten um seinen Hals schwangen bei jeder Bewegung hin und her, und das Spiel seiner Muskeln belebte die Welt aus Tattoos auf seinen Armen.
»Lauren«, sagte Mason, als es ihm wieder einfiel.
»Ich bin hier.«
Ihre Stimme kam von irgendwo hinter ihm. Er reckte sich, um sie zu sehen, doch Quintero hielt ihn mit einer Hand auf seiner Brust ruhig.
Warum bin ich hierhergekommen?, fragte Mason sich. Diese Wohnung ist doch mein Zufluchtsort. Vom ersten Abend an, als sie mich mit zu sich raufgenommen hat, war das der einzige Ort, an dem ich mich verkriechen und so tun konnte, als ginge der Rest meines Lebens mich nichts an.
Und jetzt habe ich das kaputt gemacht.
»Komm mal her. Halt das«, sagte Quintero zu Lauren und wedelte mit einem Mulltupfer. »Drück das auf seine Schulter.«
Sie kam herum, rührte aber keinen Finger.
»Er verblutet, wenn du mir nicht hilfst«, sagte er, lauter zwar, aber immer noch ruhig.
Mason sah es in ihrem Blick: Sie kannte diesen Mann. Er war ihr Alptraum, er war der Mann, der ihm im Nacken saß. Ihm Befehle gab. Sie beide daran hinderte, ein normales Leben zu führen.
Sie bewegte sich nicht.
»Ist schon gut«, sagte Mason. »Du kannst ihm helfen.«
Er fokussierte seinen Blick auf ihr Gesicht, ihre Lippen, ihre braunen Augen, in denen jetzt Angst und Sorge standen. Ihre kurzen braunen Haare hatten ihn sofort angezogen, als er in die Tierhandlung gekommen war, um Max zu kaufen, die Jugend und Unabhängigkeit, die sie signalisierten. Das sorglose Leben. Doch es waren ihre Aufrichtigkeit und ihr gutes Herz, die ihn letztlich für sie eingenommen hatten, Charaktereigenschaften, die für all das standen, was er selbst nicht haben konnte.
Quintero hielt ihr den Mulltupfer hin. »Nimm das. Drück es auf seine Schulter.«
Sie nahm den Tupfer, hockte sich aber nicht hin, sondern starrte auf die Wölbung unter Quinteros heraushängendem T-Shirt.
Mason sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Sie kannte sich nicht mit Waffen aus, hasste sie. Dennoch …
»Tu einfach, was er sagt«, bat er sie. Und mach bloß keinen Quatsch.
Damit war der Bann gebrochen, und jeder Gedanke daran, sich Quinteros Pistole zu schnappen, verflog. Sie kniete sich hin und presste den blütenweißen Baumwollmull auf die Wunde, der sich sofort vollsog und rot färbte.
»Fester«, befahl Quintero.
Mason sah zum Fenster hinaus in die Dunkelheit und auf die einsame Straßenlaterne, die hoch über dem Pflaster leuchtete. Ein blauer Widerschein flackerte über die Wand, ein vorbeifahrender Streifenwagen. Dem Schein mit den Augen folgend, rekonstruierte er seine Fahrt hierher, vom Aqua bis zu diesem Wohnhaus, das gleich um die Ecke vom Baseball-Stadion Wrigley Field lag.
»Mein Wagen«, sagte er. »Er ist wahrscheinlich gesehen worden.«
Quintero schüttelte den Kopf. »Du solltest ihn in die Werkstatt bringen.«
Mason widersprach nicht. Er schob Laurens Hand sachte weg und versuchte, sich die Wunde anzusehen, aber sie war zu dicht an seinem Hals.
Lauren warf den blutdurchweichten Tupfer auf den Boden.
Quintero sah sie an, kalt und drohend. »Nimm dir mehr Mull und mach weiter.«
»Ich werd bestimmt wieder«, sagte Mason zu ihr. »Bleib ganz ruhig. Er weiß schon, was er tut.«
Quintero kippte noch mehr von dem Peroxid in die Schüssel und warf eine Pinzette und ein Schablonenmesser hinein.
»Du.« Er zeigte auf Lauren. »Vergiss den Verbandsmull. Hol mir deine Nähnadeln. Und Faden. Starken Faden.«
Das war zu viel. Lauren stand auf. »Das ist doch Schwachsinn. Ich rufe jetzt neun-elf an.«
Sie zog Nicks Handy aus ihrer Hosentasche, aber bevor sie die erste Ziffer tippen konnte, war Quintero auf den Beinen.
»Sieh mich an«, sagte er und zeigte mit zwei Fingern auf seine Augen. »Du kannst entweder helfen oder ihn hier auf deinem Fußboden verrecken lassen. Liegt bei dir. Aber eins wirst du nicht tun, nämlich den Krankenwagen rufen. Verstanden?«
Lauren nickte, hatte jedoch das Telefon noch in der Hand. Drei Ziffern, dachte sie. Sie könnte sie mit dem Daumen tippen. Neun … eins …
Jemand schnippte mit den Fingern. Als Lauren aufsah, richtete Quintero die Pistole auf sie. Ihr stockte der Atem.
Er schnippte wieder. »Das Handy.«
»Gib es ihm«, sagte Mason und versuchte, sich aufzurichten.
Lauren gab Quintero das Telefon.
»Nadel und Faden. Sofort.«
»Nick …« Sie sah ihn an, kämpfte mit den Tränen, gab ihnen aber nicht nach.
»Hol ihm das Nähzeug«, sagte Mason. »Wird schon gutgehen.«
Kopfschüttelnd verließ sie das Zimmer. Quintero half ihm, sich aufzusetzen, und nahm die Pinzette aus der Flüssigkeit.
»Was war heute Nacht los?«, fragte er.
»Ich habe die Zielperson erledigt. Hatte ein bisschen Probleme rauszukommen.«
»Du hättest nicht hierherkommen sollen.«
»Mach dir keine Gedanken wegen ihr.« Mason wollte nicht einmal Laurens Namen vor diesem Mann aussprechen. »Bring mich einfach hier raus.«
»Du kannst noch nicht gehen.«
Quintero zog die Ränder der Schusswunde auseinander und bohrte mit der Pinzette darin herum. Die Schmerzen bewirkten, dass Mason wieder in die Dunkelheit abtauchte. Quintero presste eine Hand von hinten auf seine Schulter.
»Keine Austrittswunde. Die Kugel ist noch drin. Die Weste hat sie offenbar gebremst.«
»Dann hol sie raus.«
»Was du nicht sagst. Meinst du, ich mache so was zum ersten Mal? Halt einfach die Klappe und beweg dich nicht.«
Quintero tauchte die Pinzette in die Schüssel. »Das wird jetzt höllisch weh tun.«
Mason kniff die Augen zusammen und wartete. Er spürte kaltes Metall und dann wieder den gleichen brutalen, elektroschockartigen Schmerz, nur verdoppelt jetzt, dann verdreifacht. Ein Schweißgerät schnitt durch seine Nervenenden und streute Funkenregen in alle Richtungen.
»Halt still«, sagte Quintero leise und ruhig.
Doch Mason hörte ihn nicht mehr. Er hielt die Augen geschlossen und zählte die Sekunden, bis der Schmerz plötzlich nachließ und er Luft holen konnte. Dann fiel die Kugel klirrend in die Schüssel, und er machte die Augen auf.
»Kaliber .40«, sagte Quintero.
»Ich brauche eine bessere Weste.«
»Noch besser: Lass dich nicht treffen.«
»Das Ziel war nicht im richtigen Zimmer«, sagte Mason. Auf einmal ließ die Wut ihn die schlimmsten Schmerzen vergessen. »Eure Quelle hatte die falschen Infos.«
»Und du hast dich der Situation angepasst«, erwiderte Quintero und griff zu dem Schablonenmesser.
»Was machst du da?«
»Ich muss die Ränder säubern, damit ich dich zunähen kann.«
Mason kniff die Augen zusammen und fühlte wieder die brutalen Stromstöße durch sich hindurchschießen, während Quintero schabte und schnitt.
Lauren kam mit einer Spule Nähseide und einer Auswahl an Nadeln zurück, die sie Quintero reichte. »Hier.«
Er nahm sich eine der Nadeln und zog eine Grimasse. »Hast du nichts Besseres?«
»Ich flicke zerrissene Jeans, keine Schusswunden.«
Er ignorierte das und riss einen halben Meter Faden von der Spule.
»Glaub mir, du willst nicht dabei zusehen«, sagte er.
»Ich gehe hier nicht weg«, erwiderte sie.
Quintero zuckte die Achseln und zog eine zusammenklappbare Lesebrille aus seiner Hemdtasche, die er sich tief auf die Nase setzte. Ein merkwürdiger Moment der Stille entstand, als er den Faden mit der Geschicklichkeit einer Schneiderin durch das Öhr fädelte, dieses ehemalige Gangmitglied mit dem grün-weißen »La Raza«-Tattoo auf dem Arm und den drei Ringen in den Ohren.
Mason schloss ein letztes Mal die Augen, während er die Nadel in seine Schulter stechen fühlte. Er versuchte vergeblich, nicht daran zu denken, wie Quintero sie durch sämtliche Hautschichten führte, dann über die offene Wunde hinweg und wieder hinauf durch die Haut am anderen Rand. Gerade, dann diagonal zurück, dann wieder gerade. Er spürte den Ruck, als Quintero den Faden festzog, das neuerliche Brennen, als er das Blut abwischte und die Wunde mit Peroxid übergoss.
»Ich brauche noch mal deine Hilfe«, sagte Quintero zu Lauren, während er begann, Verbandsmull auf die Wunde zu packen. »Schneid dieses Klebeband in dreißig Zentimeter lange Stücke.«
»Tut mir leid«, sagte Mason zu ihr.
Noch nie hat »Tut mir leid« so unzureichend geklungen.
Er glaubte, hundert verschiedene Empfindungen über Laurens Gesicht huschen zu sehen, und hoffte, dass Vergebung eine davon war.
Nachdem Quintero das letzte Stück Tape angebracht hatte, zog er Mason auf die Beine und warf sich seinen linken Arm über die Schulter. »So, jetzt gehen wir.«
»Moment«, sagte Lauren, sich vor der Tür aufbauend. »Wohin?«
»Dahin, wo es sicherer ist.«
»Sicherer für wen?«
»Für uns alle.« Er warf Mason einen Blick zu. »Auf geht’s.«
Lauren schloss die Wohnungstür hinter ihnen und starrte auf die blutige Sauerei in ihrer Diele. Dann sank sie auf die Knie und schlang die Arme um sich. Der Adrenalinstoß war versiegt, und sie fühlte sich schwach und ausgelaugt. Doch das war es nicht, was sie zum Weinen brachte. Sondern der Gedanke daran, dass sie Nick Mason, selbst wenn er diese Sache überlebte …
Möglicherweise sah sie ihn nie wieder.
Quintero führte Mason durch den Hausflur und die Treppe hinunter. Unten sah er sich rasch um und half ihm dann zu seinem schwarzen Escalade, der einen halben Block weiter weg geparkt war.
»Mein Auto …«, sagte Mason.
»Hat sich schon jemand drum gekümmert.«
Quintero fuhr los. Als der SUV an einer Ampel hielt, sauste ein Streifenwagen stumm, aber mit Blaulicht über die Kreuzung.
»Du hast richtig verkackt«, sagte Quintero und fuhr vorschriftsmäßig langsam weiter. »Das wird auf uns alle zurückfallen.«
»Was soll das heißen, auf uns alle?«
»Du kennst die Regeln. Jeder hängt mit drin.«
Nach all dem, was er in dieser Nacht durchgemacht hatte, brauchte Mason einen Moment, um das zu verdauen.
»Dein Job war es, den Buchhalter auszuschalten«, fuhr Quintero fort. »Meiner war es, nach Elmhurst zu fahren. Dort zu warten, bis ich von dir höre … oder auch nicht.«
Mason richtete sich in seinem Sitz auf. Elmhurst bedeutete zweierlei:
Seine Ex-Frau Gina.
Seine Tochter Adriana.