Howard Linskey

Mädchen Nr. 5

Kriminalroman

Aus dem Englischen von
Karl-Heinz Ebnet

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Howard Linskey

Howard Linskey, geboren 1967 in der nordenglischen Grafschaft Durham, hat schon als Barkeeper, Catering Manager und Marketing Manager sowie als Journalist gearbeitet. Er schreibt für verschiedene britische Tageszeitungen, Zeitschriften und Websites. Mit seiner Familie lebt er in Hertfordshire nördlich von London. Sein Debüt, Crime Machine, wurde von der Kritik in Großbritannien, den USA und Deutschland hoch gelobt. Auch mit seinem zweiten Thriller, Gangland (»so düster und kalt wie eine Nacht in Newcastle«, 3Sat-Kulturzeit), stand er auf der KrimiZeit-Bestenliste.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel

»No Name Lane« bei Penguin Books, London.

 

© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2015 Howard Linskey

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Claudia Alt

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic/shutterstock

ISBN 978-3-426-43918-0

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Erin & Alison

Prolog

Mädchen Nummer 4

County Durham – 1993

Er beobachtete sie, bis er wusste, dass sie genau die Richtige war. Erst dann wagte er sich dem Mädchen zu nähern. Es war immer ganz leicht, sie zum Mitgehen zu bewegen. Schwieriger war es schon, die Ruhe zu bewahren, denn sein Herz schlug so heftig, dass er meinte, sie müssten es hören.

Er fuhr sie an eine ruhige Stelle, hielt an und wartete, bis er sich überzeugt hatte, dass sie wirklich allein waren. Manchmal packte er das Mädchen auch in den Kofferraum und schaffte sie ein paar Kilometer weit fort, aber hier war es für seine Zwecke abgelegen genug. Er machte sich auf der Rückbank über sie her, gänzlich taub für ihr Flehen. Streckte ihr nur den Kopf nach hinten, damit ihr schmaler Hals offen vor ihm lag, umfasste ihn und drückte zu, immer fester. Sie wehrte sich verzweifelt. Er schloss die Augen. Es war besser, wenn er ihr Gesicht nicht sah. Sie verstand es ja nicht. Wie sollte sie auch nur ansatzweise begreifen, was er für sie tat? Er drückte fester zu, immer fester, und ließ erst wieder los, als sie sich nicht mehr wehrte und ihr Körper ganz schlaff war.

Er sah zu dem leblosen Mädchen in seinen Armen und flüsterte, was er immer flüsterte, wenn er wieder eines errettet hatte:

»Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht.«

1

Wie so oft begann es mit einem Anruf.

»Hallo«, meldete sich Tom. Es folgte eine Pause, als hätte derjenige am anderen Ende der Leitung plötzlich kalte Füße bekommen. »Hallo?«, wiederholte er.

»Ich hab eine Story«, platzte die Frau heraus. Er lauschte angestrengt im Dauerlärm der klingelnden Telefone und der Dutzend Journalisten, die auf ihre Tastaturen einhackten oder vor sich hin quasselten.

»Okay«, sagte Tom. »Was für eine Story?«

Wieder eine Pause. »Eine verdammt große«, antwortete sie schließlich. Irgendetwas in ihrer Stimme veranlasste Tom Carney, sie ernst zu nehmen.

Boulevardstorys fangen immer damit an, dass man einen Tipp bekommt. In diesem Fall hatte sich eine Frau das größte Sensationsblatt des Landes ausgesucht, um ihre Version der Geschichte loszuwerden. Jeden Tag riefen in der Londoner Redaktion unzählige Leute an, denen was auf dem Herzen lag. Manchen war Unrecht zugefügt worden, andere waren einfach nur verzweifelt, wieder andere völlig plemplem. Tom Carney war für die sogenannte »Triage« zuständig, wie das sein berühmt-berüchtigter Chefredakteur Alex »Doc« Docherty genannt hatte; das, war ihm gesagt worden, stamme vom französischen Verb trier und bedeute so viel wie »auslesen, aussortieren«. »Dein Job ist es, die gequirlte Kacke vom Sahnetörtchen zu trennen.«

Die Anrufer meinten ja immer, ihre Story wäre ein Heidengeld wert. Aber nur selten schaffte es das, was sie zu erzählen hatten, in den Druck. Das Blatt, für das Tom Carney arbeitete, hatte eine Tagesauflage von vier Millionen. Jeder wollte rein: Politiker aller Couleur, Models, Schauspieler, Rockbands; die, die was werden wollten, die, die schon was waren, und dann noch die, die niemals was gewesen waren. Nicht zu vergessen der große Haufen, den ihr wenig galanter Chefredakteur nur »den Pöbel« nannte und womit er schlicht die allgemeine Öffentlichkeit meinte. Aber nur die wirklich packenden Sachen schafften es ins Blatt. Und manchmal stellte sich heraus, dass ein Anrufer weder mit Sahnetörtchen noch mit gequirlter Kacke hausieren ging, sondern mit echtem Gold.

Die anonyme Anruferin an diesem Morgen wurde nach dem Zufallsprinzip mit einem der vielen Journalisten verbunden, die an den Schreibtischen saßen. Später würde sich Tom Carney oft fragen, welche Richtung sein Leben genommen hätte, wenn er an diesem Morgen nicht in der Redaktion gesessen und statt seiner ein Kollege den Anruf entgegengenommen hätte. Denn mit diesem Anruf änderte sich alles für ihn, auch wenn er das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht wusste.

»Worum geht es?«, fragte er, als er ihr erneutes Zögern spürte. »Bei dieser Geschichte?«

»Um einen sehr bekannten Mann, ziemlich weit oben.«

»Gut«, erwiderte er in neutralem Ton. »Können Sie mir Ihren Namen sagen, Miss?«

»Keine Namen, noch nicht. Hören Sie zu.«

Er hätte es auf die harte Tour angehen und ihr sagen können, dass sie ihm jetzt entweder ihren Namen nannte, oder er würde auflegen, aber falls sie tatsächlich eine Story hatte, wollte er sie später nicht bei der Konkurrenz lesen.

»Gut, was hat dieser sehr bekannte Mann also angestellt?«

»Etwas, was er lieber hätte bleiben lassen«, gluckste sie, wurde aber gleich wieder ernst. »Er ist verheiratet, müssen Sie wissen, aber er kommt zu uns, und das sollte er nicht, nicht in seiner Position.«

»Wer ist ›uns‹?«, fragte er, obwohl ihn schon so eine Ahnung beschlich.

»Ich und ein paar andere«, sagte sie zurückhaltend.

»Verstehe. Sie und ein paar andere«, erwiderte er nachdenklich. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mit diesem Herrn bei der Ausübung Ihres Gewerbes zu tun haben?« Er wollte nicht undezent sein.

»Sie meinen, ich gehe anschaffen?«

»Ja«, antwortete er ganz direkt.

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, antwortete sie schließlich. »Aber ja, klar, damit verdienen wir unser Geld.«

»Und wer ist dieser Verheiratete, der seine Zeit mit Ihnen verbringt?«

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich weiß, wie viel für mich herausspringt.«

»Wie soll ich Ihnen das sagen, wenn ich nicht weiß, wer er ist?«

Eine lange Pause, in der sie ihr offensichtliches Dilemma abwog. »Er ist, wie gesagt, wichtig, und ich erzähle Ihnen alles, wenn der Preis stimmt.«

»Verstehe.« Wenn das alles wirklich zutraf, könnte es sich um eine dieser Bettgeschichten handeln, an denen die Zeitung so interessiert war. Nur, wen juckte es groß, wenn irgendein x-beliebiger Stadtrat, irgendein lausiger Schauspieler oder Fernsehmoderator aus dem Nachmittagsprogramm seinen Schniedel irgendwo reinschob, wo er nichts verloren hatte? »Ist das jemand, von dem ich schon mal gehört habe?«

»Jeder hat von ihm gehört.«

»Aber doch kein Politiker?« Politiker wurden in der Öffentlichkeit notorisch schlecht erkannt, außer es handelte sich um den Premierminister oder um einen völlig Abgedrehten mit reaktionären Ansichten, die ihn erst zu einer »Persönlichkeit« und irgendwann zu einem Nationalheiligen machten.

Allmählich schienen ihr seine Fragen auf die Nerven zu gehen. »Er sitzt bloß in der verfluchten Regierung, okay?«, herrschte sie ihn an. »Im Kabinett. Also, wie viel ist Ihnen das wert?«

Tom Carney richtete sich auf. Er griff sich seinen Stift und ließ ihn über dem Notizblock schweben. Wenn diese Frau die Wahrheit sagte und dafür Beweise vorlegen konnte, dann war das Dynamit. In der Tory-Regierung mit ihren konservativen Familienwerten sollte ein Kabinettsmitglied sitzen, das Nutten fickte? Besser ging es gar nicht. »Eine ganze Menge, würde ich sagen«, antwortete er sehr viel ruhiger, als er in Wirklichkeit war. »Wenn Sie es beweisen können. Also, warum treffen wir uns nicht und reden dann weiter?«

»Wie viel, hab ich gefragt«, sagte sie barsch, wohl in dem Versuch, ihre Angst zu überspielen.

Tom wollte ihr keinesfalls seinen Status beim Blatt auf die Nase binden – er war bloß für ein halbes Jahr auf Probe angestellt, damit der Chefredakteur sehen konnte, ob er »es draufhatte«, also mogelte er sich drum herum. »Hoher fünfstelliger, vielleicht sogar sechsstelliger Betrag, aber Sie müssen es beweisen können.« Schweigen in der Leitung, was wohl hieß, dass sie nach wie vor interessiert war. »Also, sagen Sie mir, wo Sie sich mit mir treffen wollen, und ich komme. Das wollen Sie doch, oder? Ihre Story verkaufen?«

Vielleicht war es das Wort verkaufen, das sie schließlich überzeugte.

»Also gut«, sagte sie.

2

Mädchen Nummer 5

Sechs Wochen später

Michelle Summers hatte fünfzehn lange und einzigartig ereignislose Jahre dazu gebraucht, aber an diesem Abend, als sie zitternd in der Dunkelheit des vergammelten Buswartehäuschens stand, auf dessen Dach im gleichmäßigen Stakkato der Regen niederprasselte, erkannte sie die traurige und simple Wahrheit: Sie hasste ihre Mutter. Hasste … hasste … hasste sie … diese dumme, fette Kuh.

Wenn ihre Mum ihr mittlerweile was sagte, begann das immer mit »Früher …«. »Früher bist du immer so nett gewesen … früher bist du immer so gut drauf gewesen … früher bist du so ein hübsches Ding gewesen«, womit sie natürlich sagen wollte, dass sie das alles jetzt nicht mehr war. Michelle Summers, sowieso schon nicht mit dem größten Selbstbewusstsein ausgestattet, konnte getrost auf eine Mutter verzichten, die ihr ständig erzählte, dass sie jetzt nicht mehr nett, hübsch oder amüsant war.

Michelle stierte auf die Wasserrinnsale, die an den Innenwänden des Häuschens herabliefen und auf dem zerfurchten grauen Betonboden Pfützen bildeten. Da diese Pfützen immer größer wurden, war Michelle irgendwann gezwungen, aus der hintersten Ecke des Wartehäuschens nach vorn zu treten; der Wind pfiff durch den Holzunterstand. Michelles Ansicht nach wohnte sie in einem elendigen Dorf mitten im Nirgendwo, am nordöstlichen Arsch von England, wo es nichts gab, was nicht mindestens eine Busfahrt entfernt war. Das traf sogar auf ihr Zuhause zu. Wenn sie endlich alt genug wäre, würde sie Great Middleton für immer verlassen, weil an dem Kaff absolut nichts »great« war. Jeder kannte jeden, die Eltern kannten alle anderen Eltern, und keiner scherte sich um seinen eigenen Kram. In Great Middleton blieb nichts verborgen.

Michelle hatte das Häuschen gerade noch rechtzeitig erreicht, um den vorletzten Nachtbus asthmatisch den Hügel vor ihr hinaufschnaufen zu sehen, während er hinten schwarze Rauchwolken furzte und sich langsam über die Kuppe mühte wie die kleine blaue Lokomotive. Jetzt war sie froh, doch auf ihre Mutter gehört zu haben; die hatte nämlich darauf bestanden, dass sie einen Mantel anzog, auch wenn der ihr cooles Top und ihren Körper verdeckte, der sich, vielen Dank auch, ganz prächtig entwickelte. Sogar ihre Mum war eifersüchtig. »Hey, ich wünschte, ich hätte auch noch so einen flachen Bauch wie du, Schell«, hatte sie gesagt. »Und so einen kleinen Hintern. Wie ein Pfirsich!«

Denny, diesem perversen Drecksack, war es nicht entgangen, wie sie sich im letzten Jahr verändert hatte. Michelle hasste ihren Stiefvater fast so sehr wie ihre Mum und konnte es gar nicht leiden, wenn sie von den beiden »Schell« genannt wurde, als wäre sie eine Tankstelle. Mit ein bisschen Glück war ihr Stiefvater schon wieder in seinem Lkw unterwegs. In letzter Zeit übernahm er mehr und mehr Nachtfuhren, »um dem Verkehr zu entgehen«, wie er sagte, aber vielleicht hatte er nur genau wie Michelle von zu Hause einfach die Schnauze voll. Ihre Mum würde wahrscheinlich wieder auf der Couch eingepennt sein, auf dem Tisch ein lauwarmer Gin und ein klebriger orangefarbener Likör, den ihre angesäuselte Mutter nur noch zur Hälfte geschafft hatte. Michelle könnte sich leise nach oben in ihr Zimmer schleichen.

Es war nicht sehr schön, wenn man sich eingestehen musste, dass man seine Mutter hasste. Das war Michelle schon klar. Seine Mutter sollte man lieben, man sollte mit ihr zum Shoppen gehen, mit ihr herumalbern, über Jungs und so reden, ihr am Muttertag Schokolade kaufen, solche Sachen eben. Sie kannte Mädchen, die so eine Beziehung zu ihrer Mutter hatten.

»Meine Mum ist ziemlich cool«, sagten diese Mädchen, »man kann mit ihr über Sex und alles reden, und sie besorgt mir die Pille, wenn ich älter bin.« Aber Michelle würde niemals mit ihrer Mum über Sex reden, nicht in diesem Leben. Alles, was von ihr zu diesem Thema gekommen war, nachdem sich ihre Tochter jetzt ziemlich regelmäßig mit Darren »Daz« Tully traf, war ein gemurmeltes »Vergiss nicht, Schell, nichts unterhalb der Gürtellinie«.

Sie wollte auch nicht mit ihrer Mum zum Shoppen, die fette Kuh hätte es wahrscheinlich sowieso bloß auf Schokocrisp-Riegel und Gin abgesehen. Die Frau hatte sich völlig aufgegeben. Sie fragte sich, was Denny an ihr noch fand. Im Ernst, machten die es überhaupt noch? Immerhin waren sie beide über vierzig. Vielleicht interessierte sie das beide nicht mehr. Vielleicht war das so, wenn man älter wurde.

Das würde auch erklären, warum Denny so ein Perversling war; hing immer vor dem Badezimmer rum und grinste sich dämlich einen ab. Das erste Mal, nicht lange nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, war sie nur in ein Handtuch gewickelt aus dem Bad gekommen, und er hatte da auf dem Treppenabsatz gestanden, als wäre er gerade die Stufen hochgekommen. Aber sie wusste es besser. »Huch«, hatte er gesagt, als wäre alles ein großer Zufall, nur hatten seine Augen ihn verraten: Sie hatten geleuchtet, als wäre Weihnachten auf Ostern gefallen, und er hatte sie ganz genau so angesehen wie die Jungs im Jugendklub. Sein Blick war von oben nach unten gewandert: Gesicht, Titten, dann alles Übrige. Michelle hätte am liebsten gekotzt. Sie war an ihm vorbei in ihr Zimmer geeilt und auf sein »Schlaf schön, Kleine« nicht weiter eingegangen, bevor sie die Tür hinter sich zugeknallt hatte. Männer waren Schweine, alle. So viel wusste sie jetzt schon.

Jetzt wagte sie sich nicht mehr ins Bad ohne einen bis oben zugeknöpften Schlafanzug und Frotteemantel. Was aber egal war, weil das Haus kälter war als eine Leichenhalle. Wie so vieles konnten sie sich auch das Heizen nicht mehr leisten.

Sie hatte Suze alles über Denny erzählt.

»Wahrscheinlich denkt er an dich, wenn er mit seinem Pimmel rummacht«, hatte ihre beste Freundin wissend erklärt.

»Suze!«, hatte Michelle geantwortet. »Du bist echt eklig!« Dabei hatte sie lachen müssen.

Suze hatte sich gar nicht mehr eingekriegt. »Ich wette, das macht er, und zwar ständig. Ich wette, das ist alles, was er macht.« Sie hatte ihr nicht widersprechen können. Es war schon lange her, dass Michelle nachts durch das Geruckel von Mum und Denny gestört wurde. Das erste Mal, als das vorkam, war sie noch ganz klein gewesen. Sie war aus dem Schlaf geschreckt und hatte sich um ihre Mum Sorgen gemacht, weil das dumpfe Pochen an der Wand von einem Stöhnen begleitet wurde. Schlaftrunken war sie ins Schlafzimmer gegangen. Denny war auf ihrer Mutter gelegen, die laut loskreischte, als sie Michelle bemerkte. Denny hatte was gebrüllt, dann geflucht, und Michelle hatte sich umgedreht und war geflohen. Kurz darauf war ihre Mutter in ihrem schäbigen alten Bademantel in ihr Zimmer gekommen, hatte sich neben ihr auf die Bettkante gesetzt und erklärt, dass sie keine Angst zu haben brauche, denn Onkel Denny habe Mami bloß ganz besonders fest umarmt, und sie hätten beide geschrien, weil Michelle sie so erschreckt habe. Nicht lang danach bekam sie das kleinere, zugigere Zimmer im hinteren Teil des Hauses, »Onkel Denny« zog ganz bei ihnen ein, und dann stand auch schon die Hochzeit an. Davor war es mit Denny ganz okay gewesen, da hatte er sich bei ihrer Mutter einschleimen wollen und war mit ihr und Michelle ins Kino oder in den Zoo gegangen, hatte Michelle Eis und kleine Puppen gekauft. Das alles hörte auf, als er »seine Füße unter dem Küchentisch« hatte, wie ihre Großmutter immer sagte. Keine Ausflüge mehr, nur noch selten Geschenke, und das Eis wurde auch immer weniger und seltener. Das Geld war »knapp«, wie ihre Mutter und ihr Stiefvater ihr wiederholt erklärten, obwohl sie vermutete, dass es vor allem an ihrem neuen Stiefvater lag, der sie knapphielt.

 

Ein plötzlicher Wasserschwall aus der windgepeitschten Dachrinne platschte vor Michelle zu Boden und riss sie aus ihren Gedanken. Warum war sie nicht woanders auf die Welt gekommen, in London vielleicht oder wenigstens im dreißig Kilometer entfernten Newcastle? In einer Stadt konnte man was unternehmen. In einem Dorf gab es nichts, dort konnte man nur rauchen und sich hinter dem Gemeindesaal befummeln lassen. Mehr wollte Darren Tully sowieso nicht. Sie waren jetzt etwas mehr als zwei Monate zusammen, und schon jetzt konnte sie sich nur noch undeutlich an ihre Aufregung und ihr Herzklopfen erinnern, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Sogar Suze hatte bestätigt, dass Darren Tully »geil« war, und wenigstens einmal in ihrem Leben hatte sie sich besonders und begehrt gefühlt. Aber in Wirklichkeit hatte die Beziehung mit Daz nicht viel mit dem zu tun, was sie sich vorgestellt hatte. Der heutige Abend war mal wieder typisch gewesen. Es gab ein bisschen Geknutsche, immerhin dazu konnte er sich noch aufraffen, aber wenn er ihr hinter dem Gemeindesaal immer nur die Zunge in den Rachen schob und sie mit seinem Tabakatem küsste, dann war das nicht unbedingt das, wovon ein Mädchen träumte. Sein umständliches Gefummel endete immer damit, dass sie seine Hände wegschob und er murmelte, »Mann, bist du zugeknöpft«, als wäre sie die letzte Jungfrau im Dorf, bevor er sie darüber in Kenntnis setzte, dass er sowieso bald keinen Bock mehr auf sie hätte, sofern »nicht bald mal was lief«.

»Da muss doch mal was laufen. Was soll das denn, wenn nichts passiert?«, hatte er zu ihr gesagt, fast so, als wäre das ein so unglaublich romantischer Vorschlag, dass sie ihm einfach nicht widerstehen könnte.

Jungs waren eben auch Schweine.

Daz sah sie noch nicht mal richtig an, als er in den Wagen der Mum von einem Freund stieg. Das Angebot, mit ihnen nach Hause in die Nachbarstadt zu kommen, konnte er bei dem Scheißwetter einfach nicht ausschlagen. Sie sah ihm nach und überlegte, ob sie ihm endlich nachgeben sollte, damit er bei ihr blieb, oder ob er die Mühe nicht wert war.

Michelle sah auf ihre Uhr. Der letzte Bus müsste bald kommen – wenn er denn kam. Er fiel oft unangekündigt aus, aber das Wetter war schlecht, und es würde doch ziemlich dauern, wenn sie zu Fuß nach Hause gehen musste. Außerdem stand in letzter Zeit in den Zeitungen dauernd was über vermisste Mädchen. Manche waren später irgendwo gefunden worden. Ihr schauderte, wenn sie daran dachte, wie es für sie kurz vor dem Tod gewesen sein musste. Ihre Mutter ging ihr ständig auf die Nerven damit. »Geh nie allein nach Hause, Michelle, das ist nicht sicher, nimm den Bus oder lass dich von deinem Freund …« Sie nannte Darren nie beim Namen. »… nach Hause begleiten, wenn er sich schon mit dir trifft.« Was für ein schlechter Witz. Es gab kaum etwas Gefährlicheres, als sich von Daz Tully nach Hause begleiten zu lassen.

Gedankenverloren zupfte Michelle am Christophorus-Medaillon, das sie an einer Silberkette um den Hals trug. Der Regen nahm noch zu und wurde vom heimtückischen Wind gegen das Holzdach des Häuschens gepeitscht, was die Schritte des Mannes übertönte. Das erste Zeichen seiner Anwesenheit war eine nahezu unmerkliche Veränderung des Lichts, ein leichter Schatten, der vor ihr auf den Boden fiel, als er in den Schein der Straßenlaterne trat. Bis sie aufsah, war er bereits unter dem Häuschen. Im Licht der Straßenlaternen, die ihn von hinten anstrahlten, konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen. Michelle erschrak, sie fühlte sich unwohl, wusste aber nicht, was sie machen sollte. Als er sie ansprach, zuckte sie zusammen. Seine Stimme war tief und sehr männlich, unweigerlich hielt sie den Atem an und schwankte zwischen Angst und Aufregung.

»Hallo«, sagte er.

3

Michelles Mutter Fiona Summers schnarchte so laut, dass sie davon wach wurde. Der Kopf fiel ihr auf die Schulter, abrupt riss sie die Augen auf, blinzelte hektisch und versuchte sich zu orientieren. Verdammt, wieder auf der Couch eingenickt. Sie sah zu der kleinen Messingreiseuhr auf dem Kaminsims. Fast eins, scheiß drauf. Sie hätte ins Bett gehen sollen, statt sich noch ein letztes Gläschen Wein zu gönnen. Morgen würde sie wieder einen Brummschädel haben, und die Arbeit würde eine noch größere Plackerei werden als sonst.

Eigentlich hatte sie es für eine ganz gute Idee gehalten, von Gin auf Wein umzusteigen. So würde sie die Finger von dem harten Zeugs lassen, und ihr abendliches Gepichel wäre eher harmlos. Es sollte ja keiner einen falschen Eindruck bekommen, zum Beispiel ihr geliebter Göttergatte oder ihre entzückende Tochter, die beide der Ansicht waren, dass ihr, Fionas, Daseinszweck auf Erden einzig und allein darin bestand, ihnen zu Diensten zu sein. Die Flaschen lieblichen deutschen Weißweins hatten dazu noch den Vorteil, dass sie billiger waren als Gin, außerdem, redete sie sich ein, würden sie ihrem Körper auf lange Sicht weniger schaden. Immerhin wurde Wein aus Trauben gemacht, und Trauben waren Obst, konnte also nicht so schlimm sein, wenn man Obst trank. Und falls jemand fragte – was sowieso keiner tat –, dann könnte sie sagen, sie habe sich doch bloß ein, zwei Gläschen gegönnt, und das auch nur an zwei, drei Abenden in der Woche. Aber natürlich wusste sie ganz genau, dass sie jeden Abend wesentlich mehr trank. Da sie das Glas nie ganz leerte, sondern immer nur nachschenkte, wusste sie nie genau, wie viele Gläser sie schon hatte – aber so genau wollte sie es eh nicht wissen. War ja auch nicht so, dass sie jeden Abend einen Drink brauchte, nur, das Leben gestaltete sich deutlich stressfreier, wenn sie erst mal ein, zwei intus hatte.

Langsam drehte sie sich im Alkoholnebel und stieß mit dem Bein gegen die halb leere Weinflasche, die ins Wackeln geriet und dem Glas einen Schubs gab. Wie durch ein Wunder blieben beide heil, nur ein paar Tropfen Wein wurden auf dem Teppich verschüttet, bevor Fiona die Flasche zu fassen bekam. Sie fluchte, dann ging sie in die Küche und stellte den Rest in den Kühlschrank. Schon jetzt hatte sie einen dicken Kopf. Lieber nicht an den morgigen Tag denken, einfach ins Bett gehen.

Fiona stieg die Treppe hinauf, und als sie fast oben war, entdeckte sie das verräterische Licht im Spalt unter Michelles Tür. Was um alles in der Welt trieb ihre Tochter noch? Lag um diese Zeit noch wach, obwohl sie morgen in die Schule musste? So ging das nicht. Fiona hatte schon die Hand erhoben, um anzuklopfen, aber dann ließ sie es bleiben. Klar, sie sollte ihrer Tochter den Marsch blasen, aber Fiona wusste auch, dass sie nicht unbedingt mit gutem Beispiel voranging, ein Punkt, den ihre Tochter zweifellos zu ihrem Vorteil nutzen und damit ihre sowieso schon bröckelnde Autorität noch weiter untergraben würde. Außerdem bestand die Gefahr, dass sie in ihrem verschlafenen Zustand Mühe mit der Aussprache hatte. Welchen bissigen Kommentar würde sie von Michelle zu hören bekommen, nachdem sie schon wieder auf der Couch weggepennt war? Ihre Tochter musste sie beim Nachhausekommen bemerkt haben, musste sie gesehen haben, wie sie, alle viere von sich gestreckt, dort gelegen und bestimmt kein allzu vorteilhaftes Bild abgegeben hatte. Fiona fühlte sich zu kaputt, um sich schon wieder mit Michelle zu streiten. Das Mädchen wurde mit jedem Tag schnippischer und undankbarer. Dabei war sie früher so ein süßes, herziges Kind gewesen. Fiona stand auf dem Treppenabsatz so nah am Zimmer ihrer Tochter, dass sie das Ohr fast an die Tür legen konnte. Von drinnen war nichts zu hören. Wahrscheinlich war Michelle über einer ihrer dämlichen Fanzeitschriften eingeschlafen und hatte das Licht brennen lassen. Die Wände waren mit Take-That-Postern zutapeziert – eine von Michelles Teenie-Bands, die heute groß rauskamen und morgen vergessen sein würden wie die Osmonds oder die Bay City Rollers zu Fionas Zeiten. Sie war verrückt nach Jungs, ihre Tochter.

Zu Fionas wiederkehrenden Albträumen gehörte es, dass ihre Tochter schwanger wurde, bevor sie aus den Teenagerjahren raus war. Das würde ihr gerade noch fehlen, in ihrem Alter Oma zu werden. Allein bei dem Gedanken wurde ihr ganz anders. Sie war schon jetzt immer völlig erschöpft, finanziell kamen sie gerade so über die Runden, auch ohne Baby, das dann mit durchgefüttert, eingekleidet und mit verdammten Spielsachen versorgt werden müsste. Sie hoffte bloß, ihre überdrehte Tochter hatte noch so viel Grips in der Birne, um ihren pickeligen Freund nicht machen zu lassen, worauf der es zweifelsohne abgesehen hatte. Aber sicher war sie sich da nicht.

Fiona wandte sich von der Tür ab und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Wenigstens saß Denny schon in seinem Laster, sie musste sich daher weder sein Missfallen anhören noch sein halbherziges Gefummel über sich ergehen lassen. Und Michelle ging es gut. Sie würde die Nacht bei angeschaltetem Licht durchschlafen und morgen dann ihre übliche miese Laune haben und alles und jeden hassen, so wie jeden Morgen.

 

Fiona würde sich immer Vorwürfe machen, dass sie an diesem Abend nicht angeklopft hatte. Diese Schuld würde sie nie loswerden. Hätte sie das Zimmer ihrer Tochter betreten, hätte sie bemerkt, dass Michelle nicht da war. Dann hätte sie sie viel früher als vermisst melden können, und die Polizei hätte wertvolle Stunden gewonnen, vielleicht hätte man dann vieles früher in die Wege leiten können. Und für alle wäre es vielleicht ganz anders gekommen.

4

Erster Tag

Der Zug der Jubilee Line rumpelte um die Kurve, während Tom Carney ganz auf die Titelseite und ihre Schlagzeile vertieft war: »Grady und das Flittchen«. Auf dem Bild dazu versuchte sich ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters in einem blauen Nadelstreifenanzug mit ausgestreckter Hand einer Kamera zu erwehren. Der Abgebildete vermittelte den Eindruck von Wohlstand und hohem gesellschaftlichen Rang.

Tom war sehr viel früher als sonst aufgestanden und hatte es kaum erwarten können, seine erste Titelgeschichte – nicht nur irgendeinen Artikel – im landesweiten Boulevardblatt zu bestaunen. Himmel noch mal, das war die Story des Jahres. Für Tom war es ein wichtiger Moment, der Moment der Genugtuung. Jahrelang hatte er sich die abschätzigen Kommentare seiner Freunde anhören müssen, wenn er ihnen erzählte, dass er Journalist werden wollte. Die Zeitung brachte die Story exklusiv. Tom und seine Kollegen beim Blatt hatten alle anderen ausgestochen. Er stellte sich vor, wie die Story im ganzen Land verschlungen würde, in jedem Bus, in jedem Zug. Sie war bereits jetzt das alles beherrschende Thema im Radio und Frühstücksfernsehen. In der Downing Street sorgte Toms Artikel schon seit dem Morgen für Kopfzerbrechen. Ein Gedanke, der ihm richtig gute Laune machte.

Die Zeitung wurde von den bei ihr angestellten Journalisten nur »Das Blatt« genannt. Eine wichtige Regel; würde man sie nämlich beim richtigen Namen nennen, würde man ja eingestehen, dass sie nicht die einzige Zeitung war und es eventuell noch andere, zugegeben weniger würdige Konkurrenten um die Gunst der arbeitenden Bevölkerung gab. Bereits in seiner ersten Redaktionssitzung hatte sich Tom einen heftigen Anschiss des Chefredakteurs eingehandelt. Alex »Doc« Docherty hatte zu Toms Leidwesen zufällig mitbekommen, dass er die Zeitung bei ihrem richtigen Namen genannt hatte; da war Tom noch nicht klar gewesen, dass das streng verboten war.

»Wer zum Teufel bist du?« Tom war zu Tode erschrocken, als der legendäre Alex Docherty ihn mit angewiderter Miene niederstarrte. »Der Neue, was?«, beantwortete er die Frage gleich selbst. »Und das ist anscheinend auch der Grund, warum du in meiner Redaktion gerade eine Blasphemie begangen hast. Bist du ein Proll?«

»Wie bitte?«, war alles, was Tom herausbrachte.

»Gehörst du zum niederen Volk? Zu denen da draußen?« Der Doc deutete zu den riesigen Fenstern mit Blick auf die Skyline von Wapping. »Zu den Leuten, die nicht wissen, wen sie wählen oder was sie denken, wen sie lieben, wen sie hassen oder wen sie ignorieren sollen, zu den Typen, die noch nicht mal wissen, mit welcher Hand sie sich den Arsch abwischen sollen, bis wir es ihnen sagen? Wenn du zu denen gehörst, dann kannst du meine Zeitung bei ihrem Namen nennen. Wenn du aber die nächsten fünf Minuten hier überleben willst, dann tu mir den Gefallen und bezeichne die Zeitung als ›Das Blatt‹, wie das alle hier tun.«

Der Doc beugte sich zu Tom hinunter, bis sein Gesicht auf gleicher Höhe mit seinem war, so, als wollte er ihm ein großes Geheimnis anvertrauen. »Weil mein Blatt nämlich ›Das Blatt‹ ist. Es gibt kein anderes.« Tom machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Docherty hob nur die Hand. »Ja, ich weiß, du meinst, da draußen gibt es noch andere Zeitungen, vielleicht leidest du sogar unter der irrigen Vorstellung, dass das ernsthafte Konkurrenten wären, aber das sind sie nicht. Tatsache ist: Wir werden auf jeder Baustelle, auf jedem Fußballplatz, in jedem Büro, auf jedem Bahnhof, in jeder Stadtratskantine und in jedem Lehrerzimmer des Landes gelesen, das heißt, wir sind wichtig. Ich kann Karrieren zerstören, Leute ins Gefängnis bringen, ich kann Minister über die Klinge springen lassen, Premierminister stürzen, das Abstimmungsverhalten in engen Wahlkreisen mit ein paar wohlgesetzten Worten in meinem Leitartikel um zehn, sogar zwanzig Prozent beeinflussen, und das alles macht uns zu ernst zu nehmenden Spielern.« Er ließ den Blick über die versammelte Mannschaft schweifen, die ihm jetzt gebannt lauschte, und wandte sich dann an seinen Schlussredakteur. »Wie hoch ist die Auflage unseres ärgsten Rivalen, Terry?«

»Unter aller Sau, Chef«, kam es prompt von Terry.

»Unter aller Sau.« Der Doc nickte und wandte sich Tom zu. »Wenn du hier also wegwillst, um für eine dieser großformatigen Zeitungen zu arbeiten, die sowieso keiner liest außer ein paar Colonels im Ruhestand aus Tewksbury, dann geh zum Torygraph. Soll es eher eine Zeitung mit Vergangenheit, aber ohne Zukunft sein, dann kommt für dich auf jeden Fall die Times infrage. Willst du jeden Morgen lieber im Stechschritt in die Arbeit marschieren, wird dich die Daily Mail mit offenen Armen empfangen. Der Guardian nimmt dich mit Kusshand, wenn du dir deine Sandalen selber stricken kannst. Aber wenn du für eine richtige Zeitung schreiben willst, dann gibt es nur eine, und das ist meine. Nur ich darf sie mein Blatt nennen, du nennst sie ›Das Blatt‹, und wenn ich von dir in Zukunft irgendwas anderes hören sollte, bist du hier so schnell wieder draußen, dass du auf dem Weg durch die Tür von deinem eigenen Arsch überholt wirst, ist das klar?«

»Ja, Boss.« Tom nickte nachdrücklich. Ab liebsten wäre er im Erdboden versunken.

»Dann überlasse ich das jetzt euch«, murmelte der Doc und zog ab. »Ich habe ein Land zu regieren.«

»Wie lang bist du schon hier?«, fragte ihn einer der älteren Mitarbeiter kurz darauf. »Dein erster Tag, oder?« Verwundert schüttelte er den Kopf. »Wir hatten schon Anfänger, die haben in der ganzen Probezeit kein einziges Wort von ihm zu hören bekommen«, flüsterte er ihm zu. »Gut gemacht, Junge.«

 

Nachdem Tom mit knapper Not den ersten Tag überlebt hatte, lernte er von seinen Kollegen das Journalistenhandwerk von Grund auf. Schnell erfuhr er, dass man beim »Blatt« in Euphemismen schrieb und dachte. »Alleinerziehend« bedeutete Gesindel, »alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin« bedeutete Abschaum, »alleinerziehende Sozialhilfeempfängerin im Teenageralter« bedeutete »nichtsnutziges, faules Abschaum-Gesindel, das sich die Sozialwohnungen unter den Nagel reißt«.

Frauen mit Affären waren »Liebesschwindlerinnen«, die mit ihren Liebhabern in »Liebesnestern« ihren außerehelichen Affären nachgingen, die im Interesse der öffentlichen Moral in Enthüllungsartikeln aufgedeckt werden mussten – von Journalisten, die ein übler Haufen von koksenden, saufenden, herumvögelnden Drecksäcken waren, wie Tom es nicht für möglich gehalten hätte. »Das Blatt« war die Geißel der unverheirateten Mütter, der Sozialhilfeempfänger, der Fußballfans, Europafreunde und Pädophilen; letztere beiden begingen in den Augen des Doc so abscheuliche Verbrechen, dass sie sich fast immer die Titelseite miteinander teilen durften.

Von da an hatte sich Tom Carney so weit wie möglich vom Doc ferngehalten. Als er ihm das nächste Mal unter die Augen trat, hatte er was zu erzählen. Er hatte sich mit der Nutte getroffen, einer Trudy Nighton, deren Künstlername »Mistress Sparkle« lautete, und war überzeugt, dass sie die Wahrheit sagte. Der Doc musste erst überredet werden, aber dann stellte er höchstselbst das Team zusammen, das sich mit der Sache befasste, unter der Voraussetzung, dass Beweise geliefert würden, hieb- und stichfeste Beweise, Fotos von Grady mit frei schwingender Latte, so in der Art.

Die Überwachungsaktion zeichnete das Kommen und Gehen und vor allem das Kommen des überanständigen und sehr verheirateten Verteidigungsministers Timothy Grady auf, der bis zu diesem Zeitpunkt in weiten Kreisen als der zukünftige konservative Premierminister gehandelt wurde. Sein Eintreten für »Familienwerte«, derer er sich häufig brüstete, hielt Grady nicht davon ab, sich in seiner Londoner Wohnung mit »Mistress Sparkle« und ihren Freundinnen zu treffen, deren Dienste mit dreihundert Mücken pro Stunde zu Buche schlugen, obwohl er natürlich Rabatt ausgehandelt hatte. Timothy Grady war in der Politik nicht umsonst als »Der Löwe« bekannt, ein Spitzname, den er sich bei der Neuverhandlung der britischen EU-Beiträge erworben hatte. So unnachgiebig hatte er auf einen britischen Nachlass gepocht, dass französische und deutsche Politiker ihn bald abfällig als den »Löwen von London« bezeichneten, und als die rechte Presse das aufgriff und ihn zum »Löwen von Brüssel« ausrief, ließ sich Grady das gern gefallen.

Obwohl Tom Carney jedes anzügliche Wort so gut wie auswendig kannte, las er mehrmals die von ihm mitverfasste Story während der gesamten Fahrt auf der Jubilee Line. Zum ersten Mal betrat er das Zeitungsgebäude mit dem Gefühl, tatsächlich dazuzugehören. Und als er an den Tischen der altgedienten Kollegen vorbeischlenderte, gab er sich hoffentlich so cool und lässig, als wäre es für ihn ein Klacks, die Karriere des zukünftigen Premierministers zu ruinieren und dabei auf der Titelseite zu landen. Zwei Kollegen murmelten so was wie eine Begrüßung. Eine hübsche junge Frau, mit der er einmal erfolglos am Wasserspender geflirtet hatte, lächelte ihm sogar zu.

»Der Chef will dich sehen«, sagte Terry, der Schlussredakteur, als Tom bei seinem Tisch ankam, und sah dabei aus, als missgönnte er Tom die Glückwünsche, die er gleich in Empfang nehmen würde.

»Vorsicht«, begrüßte ihn Jennifer, die Sekretärin des Doc, als er in dem riesigen Glasbüro einlief, das die weitläufigen Redaktionsräume beherrschte. »Er ist nicht gut drauf.«

»Na«, sagte Tom, »das kann aber nichts mit mir zu tun haben.«

Sein frommer Wunsch erfreute sich nur einer kurzen Lebensspanne und wurde von der bekannten dröhnenden, nur mit noch mehr Groll beladenen Stimme jäh zerschmettert. »Carney, rein mit dir!«

Ungläubig trat Tom ins Büro.

»Chef?«, fragte er vorsichtig.

»Du verdammter Trottel!«, schrie der Doc und schleuderte Tom die zusammengefaltete Morgenausgabe des Blatts entgegen. Nur weil Tom noch rechtzeitig den Kopf einzog, segelte die Zeitung über ihn hinweg durch die offene Tür hinaus in die Redaktionsräume. »Du dreimal verfickter Volltrottel!«

5

DC Ian Bradshaw starrte wieder an die Decke. In letzter Zeit, nach seiner Rekonvaleszenz, hatte er in den langen Nächten seiner Schlaflosigkeit oft an die Decke gestarrt. Und tagsüber starrte er stundenlang lustlos vor sich hin und konnte in seiner Depression nicht mal die Energie aufbringen, um die Hand nach der Fernbedienung auszustrecken und den Sender zu wechseln. Also ließ er das nervtötende Gequatsche der Talkshows, die betäubenden Gameshows und das klebrig süße Kinderprogramm über sich ergehen. Mittags in Bradshaws Apartment verließ »Mr Benn« über die Zaubertür in der Umkleidekabine eines Kostümladens regelmäßig die Gegenwart und kehrte irgendwann mit einem Souvenir in der Tasche in seine Wohnung in der 52 Festive Road zurück, und Bradshaw lag auf der Couch, sah ihm dabei zu und überlegte sich, ob er nicht ebenso aus der Wirklichkeit verschwinden könnte und wie um alles in der Welt er es geschafft hatte, im Alter von dreißig Jahren seine gesamte Existenz auf so grandiose Weise zu schrotten.

Es war ein langer, langsamer Weg zur Genesung, der in kleinsten Trippelschritten und mit kleinen Siegen markiert war. In der Lage zu sein, sich am Morgen ein richtiges Frühstück zuzubereiten, zwei Scheiben Toast mit zwei Spiegeleiern oben drauf, das galt als wichtiger Meilenstein. Als Bradshaw wieder in der Arbeit erschien, Monate nach dem »Vorfall«, wie sein Therapeut das zu nennen pflegte, wurde er von seinen Kollegen mit anderen Augen gesehen. Es ging nicht um das, was sie sagten, denn in der Zeit redeten sie nur selten mit ihm. Es war subtiler: was für Blicke sie ihm zuwarfen, wie sie ihn mieden, wenn er einen Raum betrat, als könnte sein Pech oder seine Unfähigkeit auf sie abfärben, wenn er ihnen zu nahe kam. Er war am Arsch. So sahen sie ihn, und alles in allem hatten sie recht, wie er sich eingestehen musste, wenn er in den langen Stunden seines An-die-Decke-Starrens, wenn er in seiner Schlaflosigkeit über sein Schicksal nachdachte. Er hatte es verbockt, und deswegen war er jetzt am Arsch. Ohne Wenn und Aber. Er hatte Mist gebaut, und jemand anderes hatte für seinen Fehler sehr teuer bezahlen müssen. Dabei hatte er die beste Ausbildung von allen seinen Kollegen – was allerdings alles nur noch schlimmer machte. Wie hatte er nur so dämlich sein können?, fragte er sich immer und immer wieder. In der Schule war ihm der Erfolg immer in den Schoß gefallen. Bradshaw, groß, attraktiv, intelligent, hatte unter den Mädels aussuchen können, er war Kapitän der Fußballmannschaft und der beste Schwimmer gewesen. Er hatte gute Noten gehabt und einen Universitätsabschluss und war zum Poster-Boy der Durham Constabulary geworden, als er in der Anfangszeit unter dem Slogan »Komm mit auf die Überholspur« in einer Werbekampagne für Rekruten von der Uni auftrat.

Und jetzt – jetzt hing er immer noch als Detective Constable rum. Ian Bradshaws frühe Erfolge hatten ihn nicht darauf vorbereitet, mit dem grandiosen Scheitern seiner Polizeikarriere zurechtzukommen. Die akademischen oder sportlichen Lorbeeren zählten nicht, wenn sich herausstellte, dass man nicht mehr weiterwusste. Immer war ihm erzählt worden, er könne alles werden, was er wolle, aber wenn es darauf ankam, konnte er noch nicht mal das eine werden, was ihm wirklich am Herzen lag: Polizist oder, besser noch, ein fähiger Polizist.

Jetzt starrte er erneut an die Decke, lag auf der weichen Ledercouch, während sein Therapeut, Doktor Mellor – empfohlen und bezahlt von der Durham Constabulary, die damit zeigte, dass sie sich als sein Dienstherr nicht ganz aus der Verantwortung stahl –, erneut eine auf Mitgefühl basierende Beziehung zu schaffen versuchte.

»Das ist jetzt unsere fünfte Sitzung.« Doktor Mellors weiche und leicht hypnotische Stimme waberte im stickigen Raum, in dessen Mitte der Therapeut saß, zu Bradshaw herüber. »Wir haben meines Erachtens genügend Vertrauen aufgebaut, um das Thema Ihrer Selbstachtung angehen zu können, richtig?« Der gute Doktor hatte die Angewohnheit, seine Äußerungen oft mit dem Wörtchen »richtig« zu beenden, ein nerviger Tick, bei dem seine Stimme am Ende des Satzes nach oben schnellte. Mellor war das ganz offensichtlich nicht bewusst, aber Bradshaw hatte es sich angewöhnt, alles wörtlich zu nehmen, um ihn damit zu irritieren.

»Nicht richtig.«

»Wie bitte?«

»Die sechste«, antwortete Bradshaw. Er konnte den Arzt nicht sehen, weil er immer noch die Holzflügel des Deckenventilators anstarrte, aber er wusste, dass der Arzt die Stirn runzelte und keine Ahnung hatte, was der Patient meinte. »Das ist unsere sechste Sitzung.«

»Wirklich?«, fragte er ungläubig.

»Ja wirklich.« Wer sollte es besser wissen als er?

»Sie haben sicherlich recht«, erwiderte Mellor mit äußerster Liebenswürdigkeit, aber wenn er noch nicht mal eine so einfache Tatsache auf die Reihe kriegte, wie sollte er dann Bradshaw helfen, seine »Dämonen« zu überwinden, wie sie sie beide nannten?

»Hab ich«, bestätigte Bradshaw.

Der Arzt räusperte sich. »Hätten Sie gern eine Tasse Tee?«

Immer dieselbe Frage, immer dieselbe Antwort. »Nein.«

»Aber ich, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Warum sollte ich was dagegen haben?«

Er hörte den Arzt über den Teppich schlappen, dann das Klacken des Schalters, mit dem er den Wasserkocher anstellte. »Also, wie dachten Sie über sich selbst, als Sie noch jung waren, Ian? Wollen Sie mir das sagen? Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

»Wie Sie wollen.« Ian Bradshaw ließ das alles kalt. Er wollte nur, dass die Sekunden vor sich hin tickten und zu Minuten wurden und die Minuten sich so schnell wie möglich anhäuften, bis die sechzig voll waren und die Sitzung beendet war, worauf der Arzt jedes Mal verkündete: »Leider, leider ist unsere Zeit schon wieder vorbei«, bevor er sich auf sein nächstes Opfer stürzte – der geldgeile alte Sack.

Bradshaw dachte lange nach, bevor er antwortete, so lange, dass er den Kocher erst zischen und dann blubbern hörte, als das Wasser allmählich zu brodeln begann, aber dann fanden die Worte ihren Weg, scheinbar ohne sein Zutun. »Als Junge habe ich immer gedacht, die Welt wäre ein Film über mein Leben und ich wäre der Star.«

»Interessant«, sagte der Arzt und schenkte sich ein.

»Ja?«

»Ja wirklich.« Bradshaw hörte das Kling, Kling, Kling des Löffels, mit dem in der Porzellantasse umgerührt wurde. »Und jetzt, Ian«, hörte er den Arzt behutsam fragen, »wie kommen Sie sich jetzt vor?«

Wieder eine lange Pause.

»Wie ein Komparse, ohne Text.«

Mellor dachte einige Zeit über diese Antwort nach.

»Soll ich Ihnen sagen, was ich mir denke?«, fragte der Arzt schließlich.

»Geht es nicht genau darum bei dieser ganzen Sache?«

»Die Therapie, Ian, ist keine Einbahnstraße. Sie reden mit mir, wir bauen mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis auf. Und ich denke mir, es ist nur fair, wenn ich Ihnen Ihr Vertrauen zurückgebe.«

»Dann erzählen Sie mir jetzt also von Ihrer Kindheit?«, fragte Bradshaw.

»Nein, nein, Ian.« Der sonst so unerschütterliche Doktor wirkte nun doch ein bisschen irritiert. »Das werde ich nicht tun, und ich glaube, das wissen Sie auch. Nein, ich sage Ihnen, was ich mir denke. Was wir hier haben, ist der klassische Fall eines Lebens, das den ziemlich unrealistischen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Ich halte Sie für jemanden, der im Grunde seines Herzens ein Romantiker ist, Ian, mit einer durch und durch romantischen Sicht auf die Welt, und das meine ich nicht bloß in Hinblick auf das zarte Geschlecht, auch wenn Sie im Moment alleinstehend sind«, erinnerte ihn der Arzt unnötigerweise. »Wir haben uns über Ihren lange gehegten Wunsch unterhalten, der Polizei beizutreten, was meiner Ansicht nach den Comics Ihrer Kindheit, in denen Helden die ganze Welt retten, am nächsten kommt. Sie haben erwartet, dass die Aufgaben eines Polizisten Ihnen ganz leichtfallen würden, und somit waren Sie auf die Enttäuschungen, die diese Arbeit mit sich bringt, nur unzureichend vorbereitet.«

»Aber wollen Sie denn nicht sehen, dass mit Ihnen persönlich überhaupt nichts falsch ist?«, verkündete der Arzt plötzlich recht fröhlich, »mal abgesehen von dem temporären Schock und der Verzweiflung, die vom Trauma dieses … äh … Vorfalls ausgelöst wurden, über den wir uns bereits ausführlich unterhalten haben. Aber abgesehen davon entspricht das Leben, wie es sich Ihnen Tag für Tag präsentiert, eben nicht Ihren Erwartungen.« Der Arzt klang, als hätte er soeben eine Heilmethode für Krebs oder zumindest für die spezielle Tumorart entdeckt, die Bradshaw befallen hatte. Diesmal zog sich das Schweigen so sehr in die Länge, dass sich der Arzt abermals genötigt sah, den Detective Constable mit einem »Richtig?« auf die Sprünge zu helfen.

»Das weiß ich«, sagte Bradshaw und setzte sich auf der Couch auf. »Das weiß ich, verdammt noch mal. Mein Gott, sechs beschissene Stunden, bis Sie endlich auf das kommen, was auf der Hand liegt! Das Leben hat meine Hoffnungen und Erwartungen, die ich mal gehabt habe, nicht erfüllt. Gut, so geht es mir wie neun Zehnteln der Menschheit, oder? Ich nehme auch nicht an, dass Sie das hier machen wollten, als Sie noch klein waren, oder?«

»Beruhigen Sie sich, Ian.«

»Beruhigen? Scheiß drauf! Es reicht mir.« Er stand auf und zog sich in die Jacke an.

»Aber, Ian«, protestierte der konsternierte Doktor, »es sind doch erst vierzig Minuten um, wir haben noch zwanzig.«

»Behalten Sie den Rest«, rief Bradshaw und war schon auf dem Weg zur Tür.

Er war nur ein paar Meter weit gekommen, als die Sprechstundenhilfe ihn abfing. Sie hatten es beide eilig, sodass sie fast zusammenstießen.

»Detective Constable«, sagte sie, »Sie haben einen Anruf. Es ist dringend.«

Sie kehrten zur Rezeption zurück. Bradshaw griff sich den Hörer. Peacock war in der Leitung.

»Schaffen Sie Ihren Arsch hierher, Bradshaw«, befahl der Detective Inspector. »Und zwar zackig. Der Boss will in einer halben Stunde alle hierhaben.«

»Was ist denn los?«, fragte Bradshaw, und als Peacock antwortete, fühlte sich sein Magen an wie ein Stein.

»Das nächste Mädchen ist verschwunden.«

6

Großer Gott, dachte Tom Carney, was zum Teufel musste man bloß tun, um diesen Typen zufriedenzustellen? »Was ist denn los?«, fragte er kleinlaut. Das Alphamännchen in ihm hatte sofort den Schwanz eingezogen, sobald der Doc losgebrüllt hatte, und jetzt klang Tom wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter mit den Fingern in der Keksdose ertappt worden war.

»Er verklagt uns!«, brüllte Docherty. »Und laut unseren Anwälten wird er verdammte Scheiße auch gewinnen!«

Tom entspannte sich. »Natürlich wird er uns verklagen. Was bleibt ihm denn anderes übrig? Zugeben wird er es ja wohl kaum, oder? Sonst wäre er am Ende. Timothy Grady ist Politiker, also muss er uns verklagen oder wenigstens sagen, dass er uns verklagt – aber er wird nicht gewinnen. Er kann nicht gewinnen!«