Sylvia Englert
Das dunkle Wort
Roman
Knaur e-books
Sylvia Englert hat Anglistik, Amerikanistik und Germanistik studiert und schrieb als Journalistin unter anderem für die Süddeutsche Zeitung. Ihre Fantasy-Romane für Jugendliche unter dem Pseudonym Katja Brandis stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, nun hat sie mit »Das dunkle Wort« einen Roman für Erwachsene vorgelegt. Wenn sie nicht gerade um die Welt reist, lebt sie mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2018 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Michelle Gyo
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Coverabbildung: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von iStock und Thinkstock
ISBN 978-3-426-44406-1
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Für Michelle
Inyra wusste, wie Furcht schmeckte. Wie Asche, bitter und heiß – so heiß, dass sie sich durch den ganzen Körper brannte. So fühlte sich ihr Inneres an, als sie einen Fuß vor den anderen setzte, auf dem kaum sichtbaren Pfad durch das stachelige Crizzra-Gestrüpp. Es schien sich an sie zu krallen, sie zurückzuhalten. Hatte er es verhext?
Sie warf einen besorgten Blick zu ihrer Tochter Vinja, die bewegungslos in dem Tragetuch auf dem Rücken ihres Neffen hing. Ihr Kopf war zu Seite gesackt, ein dünner Speichelfaden rann aus ihrem Mundwinkel. Inyra ging einen Moment lang schneller, um ihren Neffen einzuholen, nahm einen Tuchzipfel und wischte den Faden behutsam weg. Immerhin, Vinnie wirkte nicht verängstigt. Sie konnte nicht wissen, wohin ihre Mutter sie brachte. Zu wem.
»Wie weit noch?«, ächzte ihr Neffe Mig. »Der Weg ist verdammt steil! Wir müssten doch bald oben sein.«
»Nicht mehr weit«, sagte Inyra.
»Was ist, wenn der Kerl uns nicht sehen will? Schließlich lebt er auf diesem Berg, weil er allein sein will, hat Pap gesagt … und immerhin hat er jemanden umgebracht, sagen alle – seine Frau und sein ungeborenes Kind gleich dazu!« In Migs Stimme klang Besorgnis mit. »Das stimmt doch, oder?«
»Es stimmt«, sagte sie knapp. Mig war zu jung, um sich zu erinnern – vor vier Jahresläufen hatte er sich noch mit den jungen Hunden auf der Erde gewälzt und für ein halbes Mon pro Stück Feuerwanzen gefangen, bevor sie irgendetwas in Brand stecken konnten. Doch Inyra erinnerte sich gut, es war ein großer Skandal gewesen. Der junge, brillante Erste Magus des Regenten, angeblich der talentierteste Magier seiner Generation, alle hatten über seine neusten Erfolge gesprochen … und dann das. Dunkle Magie habe er entfesselt, um seine Frau nach einem Streit auf grausame Weise zu töten, hieß es.
Dunkle Magie! Ein eiskalter Schauer überlief Inyra. Aber sie zwang ihre Füße voran, einen Schritt und dann noch einen und noch einen. Sie musste versuchen, mit ihm zu reden, ihn um Hilfe zu bitten, das schuldete sie Vinnie.
»Er hat niemandem geschadet, seit er hier ist«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen.
»Es hat ihn ja auch niemand wütend gemacht«, keuchte Mig und blieb stehen, um zu verschnaufen oder sich nach Schmetterlingen umzusehen. Er war vernarrt in die Viecher, in jedem freien Moment beobachtete und zeichnete er sie.
Gerade bewegte Vinnie sich und wimmerte leise. Inyra strich ihr beruhigend über das Köpfchen, gab ihr einen Kuss und zupfte das Lederblatt zurecht, das sie vor der grellen Sonne der Trockenzeit schützte.
»Aber wer ist er denn nun? Warum glaubst du überhaupt, dass er Vinnie …« Mig konnte den Mund nicht halten. Das war schon so gewesen, als sie ihn in der Dorfschule unterrichtet hatte – gnädige Ostra Namina, wie gern sie jetzt dort gewesen wäre, vor einer Klasse von Kindern, die sie mit leuchtenden Augen anblickten! Aber diese Zeit war vorbei, vielleicht für immer, schließlich musste sie sich um Vinja kümmern.
»Das habe ich dir längst gesagt, schon vor Tagen.« Sie schaffte es nicht, die Ungeduld aus ihrer Stimme zu tilgen. »Er ist ein Magier. Du hast schon mal einen Magier gesehen, oder?«
Doch der Sohn ihres Bruders antwortete nicht – er schwieg erschrocken. So wie sie selbst.
Sie waren angekommen. Vor ihnen auf einem felsigen, mit dürrem Gras bewachsenen Plateau stand die ehemalige Schäferhütte. Besonders groß war sie nicht. Grob behauene Steine und Holzbalken trugen ein Dach aus Schieferplatten.
Inyra spürte ihr Herz in der Brust flattern. Doch unverhofft trat Mig neben sie und schenkte ihr ein schiefes Lächeln, das half ein wenig.
»Gehen wir«, sagte Inyra entschlossen.
Als sie die Hand hob, um an die verwitterte Holztür zu klopfen, fuhr ihr der Schreck bis ins Mark. Denn in diesem Moment bog mit langen Schritten ein Mann um die Ecke der Hütte – ein schlanker, breitschultriger Mann mit kurz geschorenen, weißen Haaren. Schweigend blickte er ihnen entgegen. Er trug einfache Kleidung, nicht den weißen Umhang eines Magiers, und doch wusste sie sofort, dass er es war. Terwyn del Cresta.
Warum hatte sie eigentlich jemanden erwartet, der gebeugt und erloschen war? Dieser Mann wirkte intensiv und kraftvoll. Er war kaum älter als sie selbst, und sie hatte gerade einmal achtundzwanzig Jahresläufe erlebt.
»Was wollt ihr hier?«, fragte der Mann schroff. Seine Stimme klang rau, als habe er sie lange nicht benutzt. »Habt ihr nicht gehört, dass ich keinen Wert auf Besuch lege?«
Er hängte ein Bündel Pfeilwurzeln, das er in der Hand gehalten hatte, zum Trocknen an einen Haken. Dabei rutschte der Ärmel seines Hemdes zurück, und zum Vorschein kamen die Wellen-Ornamente, die jeder Magier in Skaidar trug. Reines Silber, so tief mit der Haut verbunden, dass es ein Teil von ihr geworden war.
Aus dem Augenwinkel sah Inyra, wie sich Migs Lippen bewegten, er zu zählen begann … und seine Gesichtszüge erstarrten. Denn es waren nicht zwei Wellen, die dieser Mann trug, so wie der Magier ihres Dorfes, und auch nicht drei oder vier. Es waren sieben – er hatte alle Sieben Ströme gemeistert. Noch nie hatte Inyra jemanden gesehen, der den Siebten Strom beherrschte, und wahrscheinlich würde sie auch nie wieder einen solchen Magier sehen.
Egal jetzt, rief sie sich zur Ordnung, warf einen Blick zu Vinnie hinüber und neigte dann den Kopf. »Shaquar schütze Euch, Terwyn del Cresta. Entschuldigt, dass ich Euch störe, aber ich komme wegen meiner Tochter Vinja.« Rasch, bevor er sie davonjagen oder verwünschen konnte, befreite sie Vinnie aus dem Tragetuch auf dem Rücken ihres Neffen und hielt sie dem Mann entgegen, ein jämmerliches Bündel, das wieder begonnen hatte, leise zu wimmern.
Terwyn del Cresta seufzte und deutete auf eine Holzbank vor der Hütte. »Wie alt ist sie? Wie lange ist sie schon so?«
Steif vor Angst setzte sich Inyra mit Vinnie auf die Bank, und der Mann ging vor ihnen in die Hocke. Als Inyra sah, wie sanft seine kräftigen Hände ihre Tochter untersuchten, schwand ihre Furcht ein wenig. »Bei der Geburt vor einem Jahreslauf ist etwas schiefgegangen. Wir haben uns so auf sie gefreut, aber seither ist sie wie in sich selbst gefangen.« Sie erwähnte nicht, dass ihr Mann deswegen gegangen war, sie nicht einmal mehr wusste, wo er war. Das interessierte ihn sicher nicht.
»Was sagt der Magus Eures Dorfes?«
Inyra verzog verächtlich den Mund. »Er ist ein Stümper und richtet genauso viel Unheil an, wie er behebt! Beherrscht nur den Zweiten Strom, stolziert aber durch den Ort, als sei er der Beschützer aller Orchideen höchstpersönlich. Er hat gesagt, da kann man nichts machen und auch der Magus im nächstgrößeren Ort könne nicht richten, was mit ihr nicht stimmt.«
»Ich fürchte, in diesem Fall hat er recht«, sagte del Cresta. »Fünfter Strom mindestens.«
Sie schwiegen alle einen Moment. Inyra musste nicht aussprechen, was das bedeutete. Magier des Fünften Stroms gab es nur wenige in Skaidar, sie arbeiteten am Hofe des Regenten oder in den großen Handelsstädten. Wenn es ihr überhaupt gelänge, den langen, beschwerlichen Weg zu unternehmen und zu einem von ihnen vorzudringen, wäre es teuer, ihn zu beauftragen. Viel zu teuer.
Die sieben Wellen glänzten auf Terwyn del Crestas Unterarm, einen Moment lang nur, dann schob er den Ärmel wieder darüber. »Ich selbst kann es nicht tun«, sagte er.
»Bitte«, sagte Inyra leise und spürte, wie Verzweiflung in ihr hochstieg. »Wenn es um das Geld geht, dann … wir …«
Einen Moment lang war sein Gesicht ausdruckslos. Dann meinte er: »Darum geht es nicht. Ich habe geschworen, nie mehr Magie einzusetzen. Es tut mir wirklich leid.«
Mit großen Augen starrte Mig ihn an. »Aber … das ist Verschwendung!«, platzte er lautstark heraus, und Inyra erstarrte erneut vor Schreck.
Terwyn del Cresta wandte Mig das Gesicht zu, und einen Moment lang stand in seinen Augen etwas, das Inyras Knie noch weicher werden ließ. Eine furchtbare Dunkelheit. »Bist du sicher?«, fragte der Mann, der bis vor vier Jahresläufen der Erste Magus des Regenten gewesen war. Unter seinem Blick schien Mig auf die Größe eines Noynoys zu schrumpfen. Schweigend schüttelte er den Kopf.
Vinnie bewegte sich auf Inyras Schoß, strampelte ein wenig, als versuchte sie, sich aufzurichten, und hob den Kopf. Erstaunt merkte Inyra, dass die Kleine den Mann vor ihr anblickte. Dabei verzog sich das Gesicht ihrer Tochter, als wolle sie lächeln.
Del Crestas Züge entspannten sich ein wenig. Er holte tief Luft, richtete sich auf und verschwand einen Moment lang im dämmrigen Inneren seiner Hütte. Mit einem Stück Lederblatt in der einen Hand und einem kleinen Beutel in der anderen kam er wieder heraus. »Das hier ist Sibellkraut, das sollte helfen, ihre Muskeln etwas zu entspannen«, sagte er, reichte Inyra den Beutel und anschließend das dünne gegerbte Lederblatt. »Und das hier ist eine Nachricht an Idassa del Nelmon, die Erste Magus im Orchideenpalast. Wenn Ihr damit zu ihr geht, kann es sein, dass sie Euch hilft. Sagt ihr auch, dass sie den Stümper in Eurem Dorf ablösen lassen soll.« Er wandte sich zum Gehen, doch dann hielt er noch einmal inne und blickte Mig an. »Ach ja, und du, geh mal zu einer Sichtung. Du hast magisches Talent. Tu uns allen den Gefallen und lass dich ausbilden.«
»Wer … ich?« Migs Gesicht hatte die Farbe saurer Milch angenommen.
»Ja, du!«
»Aber wie …«
»Kann man spüren.« Die Tür knallte ins Schloss.
Inyra stieß den angehaltenen Atem aus. Die Enttäuschung schmeckte ebenso bitter wie zuvor die Furcht. Er hätte ihnen helfen können, so leicht und so schnell. Siebter Strom! Ein Magier, der den Siebten Strom beherrschte, konnte wie einst die Große Xunday im Ostfels-Krieg eine zerstörte Festung in einer einzigen Nacht wieder aufbauen. Oder einen kürzlich Verstorbenen wieder zum Leben erwecken, wie Teranz es bei der Tochter eines früheren Regenten geschafft hatte. Dieser Einsiedler hätte Vinnies Körper und Geist erneuern können … und er hatte es nicht getan. Wegen eines dämlichen Schwures!
Inyra fühlte sich furchtbar müde, als sie sich wieder erhob. Eine Botschaft an die Erste Magus, ha! Terwyn del Cresta hatte, soweit sie es mitbekommen hatte, den Orchideenpalast damals, nach dieser furchtbaren Sache mit seiner Frau, in Ungnade verlassen müssen. Diese Erste Magus würde sicher mit größtem Vergnügen jemandem helfen, der mit der Botschaft eines verbannten Mörders zu ihr kam! Außerdem war es weit bis zum Palast in Ordaal, sehr weit.
Da war es ein kleiner Trost, dass Mig die Begabung hatte. Vielleicht reichte es nur für den Ersten Strom. Das würde ihm zwar das Wahlrecht einbringen, aber viel anfangen konnte man mit dem Ersten Strom nicht. Höchstens Krötenkrätze kurieren, Flöhe aus dem Haus tanzen lassen oder eine Geldbörse gegen Diebstahl sichern. Aber vielleicht würde sein Vater Mig dann wieder in der Schmiede helfen lassen, vielleicht konnte er Metall härten oder so etwas.
Inyra hob sich ihre Tochter auf den Rücken. Dann winkte sie ihrem Neffen, ihr zu folgen, und machte sich auf den Weg zurück zum Dorf am Fuße des Berges.
Manchmal fühlte sich dieses Einsiedlerleben an wie der Tod. So, als wäre sein Ich auf diesem Berg dabei, sich aufzulösen, als wäre nichts von ihm übrig als ein Nein!, das langsam in der Ferne verklang. Aber er lebte noch, und es war jedes Mal furchtbar schwer, dieses Nein auszusprechen. Wann begreifen die Leute endlich, dass ich ihre Probleme nicht aus der Welt zaubern werde? Dass ich ihnen nicht mehr helfen kann, auch wenn ich es gerne täte?
Reglos lehnte Terwyn an der Innenwand der Hütte, lauschte in der Dunkelheit darauf, wie die Schritte sich entfernten, und spürte, wie mühsam sein Atem durch seine Lungen strömte. Als die Geräusche draußen endlich verklungen waren, stieß er die Tür auf und steuerte mit langen Schritten den Pfad an, der bergauf führte. Manchmal half es, wenn er sich bewegte, wenn er seinem Körper alles abforderte, bis seine Muskeln schmerzten und er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. An anderen Tagen war es gut, wenn er etwas fand, das echt war, echt und wirklich. Eine Blüte, die das Wetter hier oben überlebt hatte. Ein fein geäderter Stein, der sich warm anfühlte in seiner Hand. Die stetige, ruhige Bewegung der Sonne, die dem Horizont entgegenstrebte.
Diesmal wirkte beides nicht.
Wahrscheinlich ist es eine miese Idee gewesen, dieser Frau die Nachricht an Idassa mitzugeben. Was ist, wenn sie mitsamt Tochter im Palast ankommt und gleich wieder hinausgeworfen wird, weil mein Name auf diesem Pergament steht? Heilige Orchidee!
Die dunklen Augen des kleinen Mädchens gingen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Taleas Augen hatten genau diese Farbe gehabt, nur nicht so traurig, sondern sprühend vor Lebenslust, vor Intelligenz, vor Vergnügen daran, ihn zu necken und herauszufordern.
Cruzarks Hölle, er brauchte dringend Nachschub an Cordym-Kerzen, am besten die rote Sorte, deren Rauch die Gedanken dämpfte. Auf anderem Weg würde er heute nicht schlafen können, selbst wenn er diesen verdammten Berg dreimal hoch- und runterlief.
Erst als der zweite Mond schon hoch am Himmel stand, war er zurück an seiner Hütte. Terwyn holte an der Quelle einen Krug Trinkwasser, ging hinein, bekam ein Feuer in Gang und bereitete das zu, was er in der Umgebung gefunden hatte: ein paar Holzpilze, zwei Handvoll wilde Bohnen und die eine oder andere gelbe Kaschugge, fast reif. Zusammen mit den Pfeilwurzeln würde das kaum reichen, um satt zu werden, aber es war ihm gleichgültig. Noch vor wenigen Jahren hätte er sich einfach ein wenig Kraft aus dem Zweiten Strom geholt und das hier in ein Festmahl verwandelt. Tja.
Was ist, wenn diese Frau doch zum Orchideenpalast reist? Wird Idassa ihr helfen? Eine Erste Magus hat jede Menge zu tun, und eine so komplexe Heilung kostet einen nicht wenig Lebenszeit. Aber diese Frau wird ihre Tochter sowieso nicht nach Ordaal schleppen. Ihr Blick! Sie hatte nicht nur Angst vor mir, zum Schluss hat sie mich auch für verrückt gehalten.
Vielleicht war er ja verrückt. Es war verrückt gewesen, dass er damals weitergemacht hatte, immer weiter, obwohl er gewusst hatte, wie riskant es war. Wieso habe ich nicht aufgehört, wieso, wieso? Ich habe so viel Entsetzliches angerichtet damit!
Ebenso verrückt war, dass er sich diesen kargen Berg für sein Exil ausgesucht hatte. Manchmal träumte er davon, durch einen Orchideenwald zu laufen wie damals so oft als Kind. Lautlos, auf bloßen Füßen durch das dämmrige grüne Licht. Hin und wieder anzuhalten und sich zu strecken, um behutsam eine der Blüten auf einem Ast zu berühren. Alea mirialis, gelb-blau gefleckt, blühte nur alle fünf Jahre. Ein paar Schritte weiter eine Chira ondulas, hellgelb und in der Mitte rosa angehaucht. Ihre Namen kannte er aus einem zerfledderten Buch, das er dem Primus des Dorfes abgebettelt hatte. Manchmal hatte er es mitgenommen, wenn er in den Wald lief. Ohne die Spur eines schlechten Gewissens, obwohl seine Eltern und seine Brüder über ihn fluchten, weil er sich wieder einmal vor der Arbeit auf dem Hof drückte.
Am besten hatte es ihm gefallen, wenn seine Eltern ihm eine bestimmte Aufgabe zuwiesen. Dann brauchte er nur, sobald sie ihm den Rücken zugekehrt hatten, tief einzuatmen und »Jaros« zu flüstern, den Namen des Zweiten Stroms, den er dem alten, schlecht gelaunten Magus des Ortes von den Lippen abgelesen hatte. Kurz darauf hatten die furchtbar empfindlichen Violettschafe eingeölte Hufe und die Ostländer Strauße ihr Futter.
Terwyn atmete tief durch. Ich könnte einfach loswandern. Der nächste Orchideenwald ist nur einen halben Tag zu Fuß entfernt. Sehnsucht zerrte an ihm. Doch er wusste, dass er hier bleiben würde, genau hier. Weil er nichts anderes verdient hatte. Nein, er war leider nicht verrückt. Das hätte alles viel einfacher gemacht und wäre Taleas Verwandten sehr recht gewesen. Verrückte Magier wurden in Skaidar entweder in tiefen, lichtlosen Verliesen untergebracht, die mit Statinum ausgekleidet waren – das absorbierte jeden Zauber, den sie womöglich wirkten. Oder man tötete sie. Wieso hatten die anderen Magier des Regenten nicht versucht, ihn auszuschalten nach dem, was passiert war? Nur weil sie ihn gefürchtet hatten? Nein. Er hatte den Verdacht, dass Idassa ihn geschützt hatte – sie hatte ihn ja auch vom Tod zurückgeholt, als er versucht hatte, sich umzubringen.
Schließlich bemühte sich Terwyn trotz allem, einzuschlafen. Er legte sich aufs Bett, zog die muffig riechende Decke über sich und schloss die Augen. Doch Taleas Bild schwebte vor seinem inneren Auge, nein, diesmal lachte sie nicht, ernsthaft und forschend blickte sie ihn an. Fragend. Was hast du getan, Terwyn? Was hast du getan?
Hilflos ballte er die Fäuste. Vier Jahresläufe, und der Schmerz war immer noch grell und tief. Wird das jemals besser werden? Wahrscheinlich nicht, und das geschieht mir recht. Meine Schuld wird ja auch nicht kleiner, nur weil die Zeit vergeht.
Schließlich kapitulierte er, stand wieder auf und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Vor einem Jahreslauf hatte Idassa ihm mal wieder eine Kiste voller Bücher schicken lassen, jedes einzelne sorgfältig ausgewählt – sie kannte ihn so gut! – und dazu einen Stapel leerer Schreibblätter sowie Kohlegriffel. Vielleicht hatte das ein Wink sein sollen, dass es an der Zeit war, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Für wen? Keine Ahnung. Es konnte sowieso kaum jemand seine kleine, ungebärdige Handschrift lesen – er hatte früher so wenig Zeit wie möglich in der Schule verbracht.
Das Dämliche war, er hatte es tatsächlich getan. Alles aufgeschrieben an diesem selbst gezimmerten Schreibtisch, der ein bisschen wackelte. Was auf diesen Seiten stand, war die ganze Wahrheit. Aber eben weil es die Wahrheit war, musste er die Blätter möglichst bald verbrennen, sie waren zu gefährlich … niemand, der auch nur die geringste Ahnung von Magie hatte, durfte das lesen!
Terwyn entzündete eine Kerze und stellte sie so, dass der gelbe Schein auf sein Manuskript fiel. Seine Finger glitten über das fein gegerbte Blattpergament.
Ich verbrenne das Ding. Vielleicht heute noch. Aber einmal lese ich noch darin.
Er vertiefte sich in seine eigenen Worte, die zu Anfang noch so hell und friedlich waren.
Schon Wochen zuvor war ich aufgeregt, weil es als Erster Magus nun meine Aufgabe war, die Hauptzeremonie beim Drachenfest zu leiten. Favinius der Fünfte amüsierte sich nicht wenig darüber, wie nervös ich war. »Selbst wenn Ihr es nicht schafft, einen Wasserdrachen zu rufen, wird Skaidar weiterhin gedeihen«, sagte er zu mir, strich sich über den dunklen Bart und begutachtete ein Dokument, das ich ihm zur Unterschrift vorgelegt hatte.
Ich schaffte es irgendwie, keine Miene zu verziehen. »Zum Glück. Es werden zwar alle denken, dass der neue Erste Magus unfähig ist und den Zorn von Shaquar auf uns gezogen hat. Aber das ist ja nicht Euer Problem, Regent.«
»Genau – ich lasse Euch einfach ersetzen«, entgegnete Favinius süffisant. Dann wandelte sich seine heitere Miene zu einem Stirnrunzeln. »Sorgt Euch lieber, ob alle, die dabei sind, die Zeremonie überleben werden, Terwyn.«
»Stimmt«, gab ich zu. Vor sechs Jahresläufen waren mehrere Todesopfer zu beklagen gewesen, weil der gepanzerte Schwanz des Drachen wie eine Peitsche zwischen die Menschen geschnellt war, als er sich herumgedreht hatte. Und ein paar Jahresläufe davor war ein Erster Magus getötet worden, als das Wesen ihn unvermittelt angegriffen hatte, aus welchen Gründen auch immer.
Ich zog mich in meine Arbeitsräume zurück, um noch einen weiteren Stapel alter Schriftrollen aus der Bibliothek, in denen die Zeremonie erwähnt war, zu entziffern. Auch in den Büchern gab es bedrückend wenig Wissen über die Wasserdrachen, nur eine Menge ziemlich alberner Mythen und Legenden über ihren angeblichen Vater, den meistens schlecht gelaunten, tief im Meer lebenden Gott, an den ich manchmal glaubte und manchmal auch nicht.
Ich war froh, als es endlich losging. Es war früher Morgen, und die Bürger Skaidars, von denen die meisten seit dem letzten Abend durchgefeiert hatten, versammelten sich in andächtigem Schweigen am Ufer des Flusses. Ich sah in der bunten Menge auch Hunderte von weißen Umhängen – wie üblich waren Magier aus dem ganzen Land angereist. Um diese Zeit war es noch kühl, und über den Wassern der Xilda schwebte Nebel, den die ersten Sonnenstrahlen aufglühen ließen. In der Luft hing ein Geruch nach brackigem Flusswasser, Rindenbier und dem Tau auf den Wiesen.
Eine Eskorte von Favinius’ Leuten bahnte mir einen Weg zu der prachtvoll geschmückten Plattform am Ufer, und schweigend wichen die Menschen zur Seite, um mich und meine Helfer durchzulassen. Ich hatte mir nur ein einziges Rindenbier gegönnt, um einen klaren Kopf zu haben, aber durch all die Freude und Aufregung fühlte ich mich, als flösse goldener Wein durch meine Adern. All meine Sinne waren geschärft, die Müdigkeit hatte ich mit einem schnellen Abstecher in den Ersten Strom verscheucht.
Ich gab den Trommlern das Signal, das Ritual zu beginnen, und der monotone, hypnotische Klang hallte über den Fluss hinweg. Im gleichen Moment sprach ich die Formel für den Sechsten Strom – Glyphus – und wappnete mich gegen das Eintauchen. Ein Vergnügen ist es nicht, mit dem Sechsten Strom zu arbeiten, seine Kraft ist brutal. Wäre er ein echter Fluss, dann ein breiter und schneller mit tückischen Strömungen, die auch den erfahrenen Schwimmer auf eine harte Probe stellen. Doch in Wirklichkeit war dieser Strom unsichtbar, auch für mich, und niemand bekam etwas von meinem Kampf mit, nicht von ihm weggerissen zu werden. Nach ein paar Atemzügen hatte ich vorerst gewonnen und schickte meinen unhörbaren Ruf aus, so stark ich es vermochte, einmal, zweimal, dreimal.
Hunderte von Gesichtern blickten neugierig zu mir auf, helle Ovale in der Dämmerung, dann wandten sich aller Augen dem Fluss zu. Dort, wo vielleicht bald der Kopf eines Wasserdrachen erscheinen würde.
Nichts passierte.
Noch einmal rief ich. Wieder nichts. Ich hatte fast vergessen, wie quälend das Warten sein konnte, wenn man jeden einzelnen Moment vergeblich vorbeiziehen sieht.
Natürlich spielt auch Glück bei der ganzen Sache mit. Wenn die Wasserdrachen, die in dieser Jahreszeit unsere Flüsse hinaufschwimmen, zu weit weg sind, dann können sie einfach nicht rechtzeitig zur Stelle sein, so schnell sie auch unter den Wellen entlanggleiten. Doch es ist trotzdem ein schlechtes Omen, wenn kein Drache erscheint. Favinius’ Worte waren nur halb im Scherz gemeint gewesen. Es gab genug andere mehr oder weniger talentierte Magier im Land, die auf meinen Posten lauerten.
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, unablässig gespannt auf die Wasseroberfläche zu starren, und ich senkte den Kopf. Niemand achtete darauf – fast niemand. In der Nähe der Plattform stand zwischen anderen Menschen eingekeilt eine junge Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren und ausdrucksvollen Augen. Sie allein beobachtete mich, nicht den Fluss … und einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Das aufmunternde Lächeln, das sie mir schenkte, tat mir gut. Gib nicht auf, sagte dieses Lächeln. Das wird schon.
Einen Moment lang sah ich nur noch sie … und konnte plötzlich wieder daran glauben, dass es mir gelingen würde. Ich musste nicht lange überlegen, ob ich ein weiteres Mal rufen sollte. Zwar kostete mich die Arbeit mit einem so hohen Strom einiges an Lebenszeit, aber wenn ich hier versagte, nützte mir ein hohes Alter sowieso nichts mehr.
Und das Wunder geschah. Nach dem dritten Ruf spürte ich eine wortlose Antwort, eine fremdartige Energie, die nicht von einem menschlichen Wesen stammte. Sie war so stark, dass ich wahrscheinlich einen Moment lang taumelte, alarmiert hielten die Trommler inne. »Weiter!«, brüllte ich sie an, und verblüffte Blicke trafen mich. Es war wohl nicht schwer, meinen Gesichtsausdruck zu deuten, denn ein Raunen lief durch die Menge.
Kurz darauf erhob sich ein riesiges, bläulich schimmerndes Haupt aus dem Fluss, so groß wie ein kleines Schiff. Wasser strömte am schuppigen Leib und dem schweren, gepanzerten Kiefer des Wasserdrachen herab, eine Kaskade silberner Reflexe. Mein Herz klopfte, als wollte es mir die Brust sprengen. Noch nie hatte ich etwas so Schönes gesehen, und ich wusste, dass ich es nicht vergessen würde, solange ich lebte.
Es war ein ausgewachsener männlicher Drache, der sich zu mir emporreckte und übermütig den Kopf in die Luft warf wie ein junger Hengst. Ein paarmal tauchte er ganz in unserer Nähe ab und kam wieder zum Vorschein, beim letzten Mal mit einem großen Fisch im zähnegespickten Maul, den er beiläufig verschlang. Noch einmal spürte ich, wie unser Geist in Kontakt trat, es war eine Art Abschied. Dann stürzte er sich in die Fluten und war verschwunden.
Der Jubel, der aus der Menge aufstieg, war unglaublich, eine Woge aus Klang. Fremde Menschen umarmten sich und weinten vor Freude. Selten kam ein Wasserdrache so nahe ans Ufer, selten bot er einen so eindrucksvollen Anblick. Und wir hatten keinen Blutzoll zahlen müssen. Ein besseres Omen für den nächsten Jahreslauf konnte es nicht geben!
Über das ganze Gesicht strahlend nickte ich Favinius zu, der auf einer anderen Plattform landeinwärts stand, dann suchte ich nach der jungen Frau, um mich bei ihr zu bedanken. Auf einmal war mir das sehr wichtig. Dieser kurze Moment hatte uns verbunden, und ich wollte unbedingt wissen, wer sie war. Natürlich hätte ich, wenn ich den Fünften Strom bemühte, ihre Gedanken lesen und auf diese Art herausfinden können, wer sie war, aber das ohne ihr Einverständnis zu tun, wäre undenkbar gewesen.
Ich sah nur noch, wie ihre Begleiter – zwei gut gekleidete junge Männer – sie davonzogen und sie im Gewimmel der Menschen verschwand. Verdammt! Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich sie schon mal bei Hofe gesehen hatte. Ich schärfte mein Gehör, für den Fall, dass ihre Begleiter sie mit Namen ansprachen. Doch ich bekam nur mit, wie einer der Männer meinte: »Für einen Bauerntrampel hat er das nicht schlecht gemacht.«
Oh, wie nett.
Schließlich fiel mir ein, wo ich sie schon einmal gesehen hatte. Auf einem dieser glanzvollen Bälle, die hin und wieder im Orchideenpalast stattfanden und auf denen ich mich immer überflüssig fühlte. Sie war von Verehrern umringt gewesen, mit denen sie ausgelassen flirtete und über die Tanzfläche wirbelte. Ich hatte ihr damals nur einen flüchtigen Blick zugeworfen, weil ich keinerlei Lust hatte, mich in eine Schar von Junggesellen einzureihen, die eine Frau umschwärmten. Außerdem war ich damals erst Dritter Magus gewesen, und sie hatte eine aus den Gärten des Regenten stammende Orchidee im Haar getragen, das hieß, sie kam aus einer der Edlen Familien.
Wie egal mir das jetzt war. Ich wollte mit ihr sprechen, wenigstens ein Mal.
Schon am Tag darauf ging mein Wunsch in Erfüllung, denn sie klopfte an die Tür meiner Arbeitsräume in Taracondé. Mich zu finden war sicher nicht schwer gewesen – spätestens seit dem Drachenfest kannte mich jeder: diesen großen, breitschultrigen jungen Mann, der wie ein Holzfäller ausgesehen hätte, wenn seine seltsamen weißen Haare – skandalös kurz! – nicht gewesen wären und sein Magierumhang nicht von anderen Fähigkeiten erzählt hätte. Der Kerl, dem Favinius gegen den Rat seiner Vertrauten eins der höchsten Ämter in seiner Regierung anvertraut hatte.
Mich traf beinahe der Schlag, als ich sie draußen stehen sah, sie war unfassbar schön an diesem Tag. »Sie wünschen, Vistra?«, brachte ich irgendwie heraus und verwünschte mich dafür, dass ich so förmlich geklungen hatte.
»Ach, nur ein kleines Anliegen – darf ich reinkommen?«, fragte sie, und ein leichter Hauch von Rot überzog ihre Wangen.
Da ich gerade nachforschte, was unsere Vorfahren über die Magie des Siebten Stroms – und ein anderes, heikleres Thema – zu sagen hatten, war der Stuhl für Besucher von einem riesigen, unordentlichen Stapel Bücher und Schriftrollen belegt. Als ich versuchte, ihn frei zu räumen, landete die Hälfte davon auf dem Boden. Die junge Frau lachte und half mir, den ganzen Kram aufzusammeln. Bevor ich richtig begriffen hatte, was passierte, krochen wir zusammen auf dem Boden herum, weil einige Werke unter den Tisch gerollt waren. Es schien sie kaum zu interessieren, dass ihr dunkelrotes Kleid aus Seidenbrokat dabei dreckig wurde.
»Ach ja, ich bin übrigens Talea Favinius«, meinte sie, während sie Staub von einer dicken Schwarte aus dem Dritten Jahrhundert blies. »Cousine von … Ihr wisst schon.«
Auch das noch. Eine Verwandte des Regenten. »Terwyn del Cresta vai Lyann Bendigo«, stellte ich mich reflexartig vor und ärgerte mich sofort über mich selbst. Erstens wusste sie offensichtlich, wer ich war, und warum genau hatte ich ihr meinen vollen Namen genannt? Diese komplizierte Bezeichnung aus Heimatort und Abstammung, die sich eingebürgert hatte, weil Menschen aus dem Volk keinen richtigen Nachnamen hatten. Doch sie ließ sich nichts anmerken, und etwas mutiger fuhr ich fort: »Übrigens … danke für das Lächeln. Ihr wisst schon, das bei der Zeremonie.«
Vorsichtig stapelte sie zwei alte magische Atlanten zurück auf den Tisch. »Ihr habt in dem Moment ausgesehen, als könntet Ihr es gebrauchen.«
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Wie peinlich, dass man mir das so deutlich angemerkt hatte – ich musste dringend eine unbewegte Miene einstudieren. »So war es auch«, gab ich zu. »Und es hat geholfen.«
»Dieser Drache, er war einfach unglaublich.« Ein ferner Blick trat in ihre Augen. »Hat er … auf Euren Ruf geantwortet? Wie hat sich das angefühlt?«
Ich überlegte kurz, wie ich es ausdrücken sollte. »Als würde ein Gott mit mir sprechen – aber einer, der unsere Sprache nicht kennt.«
Als wir schließlich auf den Stühlen saßen, lächelten wir uns einen Moment lang einfach nur an. Schon war die Verbindung zwischen uns wieder da, die ich während der Feier gespürt hatte. »Also mal ehrlich, ganz schön staubig unter Eurem Tisch«, sagte Talea und schnickte irgendetwas Unschönes, Graues vom Kleid.
»Ich lasse hier keine Hausmädchen rein«, erklärte ich ihr, und das fanden wir beide aus irgendeinem Grund so witzig, dass wir einfach loskicherten. Wie schön es war, dass wir miteinander lachen konnten, mir wurde es warm und wärmer ums Herz.
Doch irgendwann fiel ihr leider wieder ihr Anliegen ein.
»Es betrifft diesen Jungen, der neu in Eurem Zirkel ist«, erklärte sie. »Dieser Junge – wie heißt er noch? – hat ein Pony aus der Zucht meiner Familie, das ihm anvertraut wurde, auf magische Weise verändert. Ich möchte, dass Ihr das rückgängig macht.«
Heilige Orchidee, das hatte mir gerade noch gefehlt. »Was hat Roán denn damit gemacht?«, fragte ich alarmiert.
»Schaut es Euch selbst an«, sagte Talea und stand auf, um voranzugehen. Während wir nebeneinander herliefen, konnte ich kaum klar denken. Sie war so nah neben mir, dass sich unsere Arme beinahe streiften, so nah, dass ich ihren Duft nach Rosenholz und Äpfeln riechen konnte.
Als wir an der Koppel angekommen waren, sah ich sofort, was sie meinte. »Na wunderbar«, sagte ich und betrachtete die braune Stute. Jemand hatte ihr sechs Paar Spatzenflügel auf den Rücken gezaubert, die jetzt wild flatterten. Reiten konnte man sie so nicht mehr. Offenbar hatte das Pony einen richtigen Pegasus beobachtet, der in einer Koppel nebenan lebte, denn es versuchte in großen Sprüngen, aber vergeblich mit seinen Spatzenflügeln abzuheben. »Pegasi zu erschaffen ist nicht einfach, wahrscheinlich hat Roán es erfolglos versucht«, stellte ich überflüssigerweise fest.
Talea schnaubte. »Ich glaube nicht. Das sieht eher nach einem schlechten Witz auf Kosten der armen Nici aus. Also, macht Ihr das jetzt bitte rückgängig?«
»Das geht leider nicht«, erklärte ich ihr, und ihre Lippen wurden schmal. »Warum nicht? Ich dachte, Ihr beherrscht den Sechsten Strom?«
Eins war klar, von Magie hatte sie keinen Schimmer. Ich versuchte ihr zu erklären, dass die Ströme nur in eine Richtung flossen, was verhinderte, dass Zauber rückgängig gemacht werden konnten. Manchmal war es möglich, sie mit einem zweiten, ausgleichenden magischen Eingriff zu neutralisieren oder zu verändern. Aber das hier sah eher nach einem Problem von der Sorte aus, wegen dem ich und Favinius uns gerade in den Haaren lagen: Er wollte, dass ich die leicht reizbaren Einhörner kurierte, denen durch einen missglückten Zauber vor fünfzig Jahresläufen eine Klinge statt eines Horns wuchs. Ich hatte mich bisher geweigert, denn diese Einhörner wurden wir nur los, wenn wir sie ausrotteten und ich dann eine Variante mit einem ordentlichen Horn neu erschuf. Nicht nur, weil ich auf Schutzmagie spezialisiert war, betrachtete ich mich als nicht zuständig für Massenmord, und außerdem mochte ich die Biester irgendwie.
»Heißt das, Nici muss so weiterleben? Sie kann mit diesen Dingern nicht mal fliegen.« Betroffen sah ich, dass Taleas Augen feucht geworden waren. Verlegen wischte sie sich über das Gesicht. »Entschuldigt. Ich kenne sie seit dem Tag ihrer Geburt, da ist es schwer …«
Wieso hatte sie nicht mit einer einfachen, unkomplizierten Sache zu mir kommen können, bei der ich glänzen konnte? Ich seufzte und sagte: »Verstehe ich. Moment.«
Gleich darauf dekorierten die Flügel nicht mehr Nicis Rücken, sondern ihren Hals und wirbelten ihre Mähne durcheinander. Verwirrt versuchte das Pony, sich umzublicken und festzustellen, was mit ihm geschehen war. Doch nach einer Weile gab es auf, faltete seine kleinen braunen Flügel zusammen und begann zu grasen. »Jetzt kann man Nici wenigstens reiten«, sagte ich lahm.
Auf die oberste Stange der Koppel gestützt blickte Talea die Stute an, dann wandte sie sich mir zu. »Danke«, sagte sie einfach.
Sie bedankte sich bei mir, obwohl mein Adept ihre Stute ruiniert hatte? Das war mir furchtbar peinlich. »Wofür? Viel gebracht hat meine Hilfe ja nicht.«
»Der letzte Erste Magus hätte selbst dafür keine Zeit gehabt, wenn er gehört hätte, dass es nur um ein Pferd geht.« Talea stieß sich vom Zaun ab und begann, davonzugehen. »Richtet Eurem Adepten schöne Grüße von mir aus!«
Genau das tat ich noch am gleichen Abend vor dem Treffen unseres Zirkels. Allerdings in etwas schärferer Formulierung.
Der Junge konnte nicht ahnen, was er mir verpatzt hatte. Noch nie hatte ich mich zu einer Frau so stark hingezogen gefühlt. Und ich fragte mich, ob ich nach dieser Pleite noch eine Chance bei ihr hatte.
Wenige Tage später reiste sie ab, zurück zum Landgut ihrer Familie.
Erst mehrere Monde später sah ich sie unter seltsamen Umständen wieder.
Als er erwachte, merkte Terwyn, dass er mit dem Kopf auf seinem Manuskript eingeschlafen war. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er nun Kohlespuren an den Fingern hatte. Die Kerze war heruntergebrannt und hatte einen Wachskrater auf dem Holz des Schreibtischs hinterlassen. Blinzelnd, mit verkrampften Schultern hob er den Kopf, rieb sich die Stirn – sie schmerzte auf einmal – und sah sich um, verwirrt, weil er nicht wusste, was ihn geweckt hatte.
Es war wie ein Ruck gewesen, als habe jemand ihn an der Schulter gerüttelt. Doch hier war niemand.
Terwyn lauschte in sich hinein. Irgendetwas war geschehen. Es überlief ihn eisig. Bin ich während des Lesens zu tief in meine Erinnerungen eingetaucht, habe ich unbewusst die Lippen bewegt? Habe ich etwas ausgelöst damit? Nein, das kann nicht sein, ich habe ja eine harmlose Passage gelesen! Aber ich muss vorsichtig sein bei den anderen Stellen.
Draußen war längst die Sonne aufgegangen. Nichts wie raus, dachte er. Er hatte das Gefühl, hier drinnen zu ersticken. In der Hütte roch es nach gekochten Pilzen, altem Pergament und Kleidung, die dringend eine Wäsche nötig hatte. Terwyn ließ die Tür der Hütte offen, um durchzulüften, als er wie jeden Morgen zur Quelle ging. Mit beiden Händen spritzte er sich das eiskalte Wasser ins Gesicht, das half ihm manchmal auf nichtmagische Weise gegen Kopfschmerzen. Eigentlich wäre es jetzt Zeit für eine Meditation oder körperliche Übungen gewesen, doch er schaffte keins von beidem. Während die Sonne immer höher stieg, lag er Stunde um Stunde kraftlos im Schatten eines Felsvorsprungs und spürte, wie die Gedanken durch ihn hindurchbrannten.
Als die Sonne am höchsten stand, hörte Terwyn ein weiches, zischendes Geräusch, das immer lauter wurde. Er stutzte und lauschte aufmerksam. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, dieses Geräusch kannte er. Ein Pegasus. Und es gab nur sehr wenige Menschen, die einen Pegasus besaßen – die meisten von ihnen waren hohe Magier im Orchideenpalast des Regenten.
Hastig kam er auf die Füße und blickte sich um. Shaquar sei mir gnädig, hat das was mit meiner Nachricht an Idassa zu tun? Hat die sie irgendwie gegen mich aufgebracht? Aber wie kann das sein?
Seit vier Jahresläufen hatte niemand aus dem Gefolge des Regenten gewagt oder sich die Mühe gemacht, ihn hier aufzusuchen. Doch jetzt glänzte die Sonne auf großen schwarzen Schwingen, als der Pegasus – ein Vollblutrappe – näher kam und sein Reiter ihn zur Landung zügelte. Das Tier war gut ausgebildet, es streckte in tadelloser Haltung die Vorderhufe aus und federte nach dem Bodenkontakt mit allen vier Beinen ab, sodass sein Reiter kaum durchgeschüttelt wurde.
Während der Pegasus die Flügel zusammenfaltete, den Kopf senkte und begann, ein paar Grashalme zu rupfen, sprang ein junger Mann von seinem Rücken. Der Kleidung nach war der Kerl eindeutig ein Magier, aber warum trug er ein Schwert? Seltsam!
Der Fremde nahm sich nur einen Moment Zeit, um seinen weißen Umhang mit der silbernen Wasserdrachen-Schließe zu richten, dann ging er hastig auf die Hütte zu. Er hatte Terwyn, der im Schatten eines Felsvorsprungs stand, nicht bemerkt.
Na dann, dachte Terwyn grimmig und setzte sich in Bewegung, um den Mann abzufangen.
Der Wagen, der direkt vor Rhis Füßen hielt, war nur zur Hälfte beladen mit neuen magischen Waren für ihren Handelsposten. Rhi hatte nicht gewagt, mehr zu bestellen – solange sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte, war das genug.
»So.« Mit einem unsicheren Lächeln stieg Bojak, der junge Magus des Dorfes, vom Kutschbock und zeigte auf den Stapel. »Alles wie bestellt. War ganz schön anstrengend, so viele Sachen! Sollen wir abladen?«
»Ja, bitte – bezahlt habe ich schon beim Primus«, sagte Rhi und verschränkte die Arme. Sollen wir? Wie nett. Warum ein paar Sekunden Lebenszeit verschwenden, um alle Waren ins Lager schweben zu lassen, wenn diese junge Händlerin doch kräftig genug aussah, um sie mit eigenen Händen reinzuschleppen? Egal. Sie war keine zarte Lilie, sie würde das schon schaffen, wenn Bojak wenigstens mit den Händen anpackte.
Als alles hineingetragen und verstaut war, schwitzte Rhi – die Hitze der Trockenzeit setzte ihr diesmal wirklich zu. Erfreut musterte sie ihre neuen Waren. Es wäre doch gelacht, wenn ich nicht schaffe, unseren Handelsposten wieder richtig in Gang zu bekommen! Nein, nicht unseren, MEINEN Handelsposten. Es ist jetzt meiner, ob ich will oder nicht. Eine Welle von Traurigkeit setzte ihr Herz unter Wasser, als sie an ihren Vater dachte. Zwei Monde war er nun schon tot. Wie schnell es gegangen war, zu Beginn der Woche hatte er sich ungewohnt müde gefühlt, und nur vier Tage später hatte er seinen letzten Atemzug getan. Obwohl sie und die Nachbarn rund um die Uhr versucht hatten, ihn wachzuhalten. Aber dann war die Fischhändlerin vor lauter Erschöpfung selbst eingenickt, und ihr Vater war eingeschlafen, um nie wieder aufzuwachen. So war sie, die Schlafsucht, und sie konnte froh sein, dass dieser Fluch selten zwei Menschen in einem Ort erwischte.
Rhi versuchte die Trauer beiseitezudrängen, bat den Gott des Handels um seinen Beistand und wandte sich den neu eingetroffenen Sachen zu. Zwar handelte sie auch mit pflanzlichem Leder, fermentiertem Nektar, Gewürzen und Seesalz von der Küste, aber am begehrtesten waren allerorten die magischen Gegenstände aus Skaidar. Sie hatte zehn verschiedene magische Waren geordert, von denen sie wusste, dass die Bornländer und Calisier scharf darauf waren: Schuhe, die auf magische Weise jedem passten, der sie trug. Steine, die auf Wunsch Kälte ausstrahlten oder Wärme abgaben – in den calisischen Wüstengebieten der Renner. Pergamente mit Wahrheits- oder Bindungszauber für geschäftliche Vereinbarungen. Spiegel, in denen man sich schöner sah, als man war. Schutzhemden aus hauchfeiner Seide, die weder ein Pfeil noch ein Messer durchdringen konnte.
Das waren Dinge, die immer liefen. Doch es kommt auch auf die Besonderheiten an, dachte Rhi und nahm eins der magischen Spielzeuge in die Hand, die sie ebenfalls geordert hatte. Ein kleines Kästchen, mit dessen Hilfe man seinen eigenen Schmetterling bemalen konnte. Gewöhnlicher brauner Falter rein, Farben einstellen, prachtvolles Geschöpf raus. Entzückte alle Mädchen. Oder die Schneedecke – brachte Wüstenbewohner jedes Mal zum Staunen. Auf den ersten Blick gewöhnliche Wolle, doch wenn man die Decke aufspannte, begann es darunter zu schneien. Wen interessierte, dass der Schnee fast so schnell schmolz, wie er den Boden berührte?
Rhi schaffte ein Grinsen, kämmte ihre wilden blonden Locken mit den Fingern durch und nahm eine der Schneedecken, um sich eine kalte Brise zu gönnen. Nichts passierte. Keine einzige Flocke in Sicht. Was bei Cruzark …? Rhi spähte unter die Decke, streckte sie höher in die Luft, klopfte darauf. Nichts. Na wunderbar. Jetzt musste sie sämtliche Waren einzeln überprüfen, ob sie funktionierten. Wahrscheinlich hat dieser blöde Bojak, als er diese Decke verzaubert hat, gerade einem kurzen Rock hinterhergeschaut oder …
»Sieh an, meine liebe Cousine lässt die Verkaufsräume im Stich, um im Lager mit einer Schneedecke zu spielen.« Gadilan schob seinen langen, dürren Körper durch die Tür und schaute mit einem widerlich geduldigen Lächeln auf sie herab, als sei sie ein Kind. Dabei war er nur zwei Jahre älter als sie.
»Ich habe ausprobiert, ob sie funktioniert, was sie nicht tut.« Rhi warf die Decke auf ein Regal für herabgesetzte Artikel. »Und wenn du geklingelt hättest, dann hätte ich dich auch im Verkaufsraum begrüßt.«
Gadilan klackte mit der Zunge. »Klingeln? Wenn du dich auf so was verlässt, kann dich jeder Ganove um deine kostbare Ware erleichtern. Und überhaupt … denkst du eigentlich nie über deine Außenwirkung nach?« Mit offensichtlichem Widerwillen ließ er den Blick über ihr grün-violettes Kleid und ihre orangefarbenen Sandalen gleiten.
»Nein, tue ich nicht«, gab Rhi zurück. Sie mochte ihre bunten Sachen, und es war ihr egal, was andere darüber dachten. Ganz besonders Gadilan, der sich Chancen ausrechnete, den Handelsposten zu übernehmen, seit ihr Vater gestorben war und Rhis Mutter und Bruder auf einer Handelsexpedition ins ferne, geheimnisvolle Saywadee verschollen waren. Aber das war erst einen halben Jahreslauf her, sie würden ganz sicher zurückkehren. Sie mussten zurückkehren, alles andere war undenkbar. Der Handelsposten war so furchtbar still und leer ohne ihre Familie … an manchen Tagen hielt Rhi es kaum aus, dort zu sein. Dann wollte sie einfach weg, diese Räume hinter sich lassen, mit denen sie so viele warme, fröhliche Erinnerungen verband. Doch diese Erinnerungen waren nur noch ein hämisches Echo, wenn die geliebten Menschen, zu denen sie gehört hatten, tot oder verschwunden waren. Allein, allein, allein, ging es Rhi oft durch den Kopf, und in solchen Momenten konnte sie nur hoffen, dass gerade kein Kunde eintraf und ihre Tränen sah.
Alle Götter, jetzt kam auch noch Ivailo rein, ihr zweiter Cousin! Rhi spürte, wie ihr Körper sich versteifte. Gadilan verließ sich darauf, die Leute mit seiner Körpergröße und dem klugen Gerede einzuschüchtern, aber Ivailo war eine andere Sorte Mensch. Er sah Gewalt als eine praktische Sache an, in der er gut war.
»Was is’n hier los?«, sagte er und schenkte Rhi einen kurzen, drohenden Blick aus Augen, die die Farbe von algigem Teichschlamm hatten. »Gad, Mam hat gesagt, wir brauchen neue Teller. Ich such was aus.«
Schon stapfte er in den Verkaufsraum, schnappte sich ein paar Objekte aus bornländischem Eierschalenporzellan und wollte damit das Haus verlassen, sie sah es durch die offene Tür des Lagers. »He, was genau machst du da?«, rief Rhi ihm hinterher. »Ihr bekommt einen Preisnachlass, weil ihr Verwandtschaft seid, aber kostenlos gibt’s nur die Schneedecke hier!«
»Behalt deine Scheißschneedecke«, sagte Ivailo, musterte kurz eine Karaffe aus calisischem Kristallglas und klemmte sich die ebenfalls unter den Arm, wobei er die Teller in der anderen Hand balancierte.
Gadilan sah Rhi tief in die Augen. »Es ist wirklich traurig, dass du hier so allein zurechtkommen musst. Wenn du Unterstützung brauchst, können wir dir als Händler mit Erfahrung gerne helfen, den Handelsposten auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten.« Beiläufig blockierte er die Tür zum Verkaufsraum, sodass sie nicht vorbeikam. »Frag uns einfach jederzeit. Bleibt schließlich alles in der Familie, nicht wahr?«
Rhi spürte, wie ihr sonniges Gemüt sie kurzzeitig verließ. Wer solche Verwandtschaft hat, braucht keine Feinde mehr! Sie wusste, dass sie besser nicht versuchte, Ivailo das Porzellan zu entreißen – er würde es sofort fallen lassen und sie dabei noch angrinsen. Stattdessen wartete sie ab, denn sie war ziemlich sicher, dass ein guter Freund bereits Wind von dem Ärger bekommen hatte.
Und so war es, schon ertönte von drüben ein gereizter Aufschrei. »Au, verdammt – Cruzarks Hölle!«
»Ist es wieder dieses Biest?« Gadilans Stirn furchte sich.
»Heilige Orchidee, ich glaub’s nicht! Diese Hose war ganz neu …!« Ein paar Flüche, in denen über mehrere Götter gelästert wurden, folgten. Rhi nutzte es, dass Gadilan abgelenkt war, drängte ihn aus dem Weg und ging mit langen Schritten zu den Haupträumen. Dort war gerade ihr blauer calisischer Zwergdrache Zad am Werke; seine Krallen hinterließen Spuren in den ohnehin schon ramponierten Bodenfliesen, während er geschickt Ivailos Fußtritten auswich. Dabei fauchte er mit angelegten Flügeln, spreizte drohend die Halsschuppen und schickte bläuliche Flämmchen in Richtung ihres Cousins. Dessen Beinkleider wiesen schon ein halbes Dutzend Brandflecken auf.
Geht nicht ’ne größere Flamme?, feuerte Rhi ihn in Gedanken an.
Nich’ leicht, gab Zad zu.
Unruhig beobachtete Rhi den Kampf. Macht nichts, aber pass bitte mit dem Porzellan auf!