Kate Moore
Felix – Die Bahnhofskatze
Aus dem Englischen von Jochen Schwarzer
Knaur e-books
Kate Moore ist Lektorin, Ghostwriterin und Bestsellerautorin aus England.
Felix lebt als Bahnhofskatze in Huddersfield. Bei ihrer Geburt wurde sie als Kater identifiziert, und erst nachdem sich der Name etabliert hatte, erfuhren die Bahnhofsangestellten, dass Felix in Wahrheit ein Mädchen ist. Neben ihrer Tätigkeit als Schädlingsbekämpferin interessiert sie sich für die Taubenjagd, Nickerchen während der Arbeitszeit und freut sich, wenn sie am Bauch gekrault wird.
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Felix – The Railway Cat« bei Penguin Books.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
Text copyright © First TransPenine Express Limited, 2017 Written by Kate Moore www.kate-moore.com
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Annika Domainko
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München nach einem Entwurf von Michael Joseph / Penguin
Coverabbildung: Al Richardson
Illustrationen im Innenteil:
Bahnhof: Aluna1/Shutterstock.com
Katze: istockphoto/GoceIlievski
Pfotenabdruck: Michaela Lichtblau
Digitale Bearbeitung: Michaela Lichtblau
ISBN 978-3-426-45176-2
Wenn Sie den Bahnhof von Huddersfield in Yorkshire betreten, steht Ihnen womöglich eine große Überraschung bevor … Denn vielleicht erwartet Sie am Auskunftsschalter nicht etwa eine freundliche junge Dame oder ein hilfsbereiter älterer Herr in der Dienstuniform von TransPennine Express.
Vielmehr könnte es sich bei dem Mitarbeiter, der Sie dort empfängt, auch um Felix handeln, die Bahnhofskatze von Huddersfield.
Stolz sitzt sie auf dem Pult, die Ohren längst an die Kakofonie der Bahnhofsgeräusche gewöhnt, und blickt Ihnen aus grünen Augen klug und aufmerksam entgegen. Ihr flauschiger schwarzer Schwanz mit der weißen Spitze schnellt rhythmisch hin und her, sie wedelt beinahe, als wäre sie hocherfreut, Sie zu sehen.
Felix ist allerdings keine gewöhnliche Hauskatze, sondern die Leitende Schädlingsbekämpferin des Bahnhofs, und nachdem sie jahrelang von Fahrgästen getätschelt, aber auch gestupst wurde, ist sie Fremden gegenüber gelegentlich ein wenig misstrauisch. Wenn sie Sie aber kennt, weil Sie zum Beispiel ein Kollege oder Berufspendler sind, dann kann sie überaus zutraulich sein.
Mit einem einzigen anmutigen Satz springt sie dann vom Auskunftsschalter auf den Boden der Bahnhofshalle und streicht Ihnen um die Beine, und ihre langen weißen Schnurrhaare zucken, während sie erkundet, ob Sie möglicherweise ein Leckerli dabeihaben. Felix lebt für Leckerli, und auch wenn sie anfangs manchmal abweisend wirkt, kann unter den richtigen Umständen selbst eine wildfremde Person für sie schon bald zu einem Freund fürs Leben werden.
Doch eine Katze lebt ja nicht von Leckerli allein, und zu Felix’ leiblichem Wohl tragen ebenso ihre Abenteuer bei. Denn obwohl sie meist auf dem Bahnhof anzutreffen ist – beim Dienst am Auskunftsschalter, bei Patrouillengängen auf den Bahnsteigen und gelegentlich auch als Aushilfe bei der Fahrscheinkontrolle an den Zugangssperren –, führen ihre Streifzüge sie auch weit über die Grenzen des Bahnhofsgeländes hinaus. Sehen Sie, dort huscht sie davon: Sie lässt die Bronzestatue auf dem St George’s Square hinter sich, nicht ohne ihr im Vorbeigehen noch einen freundlichen kleinen Schwanzhieb zu verpassen; oder sie schleicht um den blühenden Garten an Bahnsteig 4 herum; oder sie verschwindet, unterwegs nach wer weiß wohin, in der Dunkelheit der Bahntunnel. Wenn sie die Gleise überquert, dann tut sie das nicht ohne eine gewisse Großspurigkeit – sie weiß, wie man stolziert und sich in Szene setzt. Das war nicht immer so, doch während Felix mit ihren Aufgaben wuchs, nahmen auch ihr Mut und ihr Selbstvertrauen zu.
Sosehr Felix ihre Führungsposition auf dem Bahnhof auch genießt – denn eines ist sicher: diese Katze ist hier eindeutig der Chef –, sei nicht verschwiegen, dass sie durchaus die Angewohnheit hat, regelmäßig bei der Arbeit einzuschlafen. Denn ebenso oft, wie man sie in der Bahnhofshalle die Fahrgäste empfangen sieht, findet man sie zusammengerollt in der Jacke eines Kollegen in der Personalumkleide. Sollte sie gerade nicht im Dienst sein, wenn Sie vorbeikommen und auf einen kleinen Plausch mit Huddersfields berühmtester Bahnangestellter hoffen, so verzeihen Sie ihr bitte die Abwesenheit, denn wahrscheinlich holt sie gerade ein bisschen Schlaf nach … um dann wieder loszuziehen und ein paar Mäuse zur Strecke zu bringen – eine ihrer Hauptaufgaben in ihrer offiziellen Funktion als Kammerjägerin.
Fürs Erste aber lassen wir sie dort am Auskunftsschalter sitzen, wie sie mit ihren smaragdgrünen Augen, denen nichts entgeht, ihr kleines Reich überblickt, während ihr schickes violettes Halsband in der Morgensonne leuchtet. Auf einer kleinen goldfarbenen Plakette vorne dran sind ihr Name und ihre Heimatadresse eingraviert:
Dies ist die Geschichte der Bahnhofskatze von Huddersfield.
1
Was dieser Bahnhof braucht«, verkündete Gareth Hope eines Morgens im Sommer 2008, »ist eine Bahnhofskatze.«
Sein Kollege Andy Croughan lachte laut auf. Wenn die beiden Freunde beisammensaßen – wie sie es fast immer taten, nachdem der morgendliche Berufsverkehr vorbei war, um während der ruhigeren Phasen ihrer Schicht ein wenig zu plaudern –, kamen sie oft auf verrückte Ideen, aber diese hier schoss den Vogel ab. Eine Bahnhofskatze? Das wäre natürlich eine spaßige Sache, aber dazu würde es im Leben nicht kommen.
Die beiden wussten, dass das Halten von Katzen auf Bahnhöfen früher einmal Tradition gewesen war: Zu Zeiten der staatlichen Eisenbahngesellschaft British Rail hatten viele Bahnwärter vierbeinige Begleiter, und Gareth, der noch verhältnismäßig neu in dieser Branche war, bekam von seinen älteren Kollegen ständig erzählt, dass es früher in jedem Bahndepot Katzen gegeben habe, die sogar allmonatlich einen Lohnabrechnungszettel bekommen hätten. Soweit Gareth und Andy wussten, war diese Tradition jedoch inzwischen Geschichte, sie war der unaufhaltsamen Modernisierung der Bahn zum Opfer gefallen. Winston Churchill hatte man einmal dabei fotografiert, wie er mit der damaligen Bahnhofskatze der Liverpool Street Station in London schäkerte, und die Vorstellung, dass der Huddersfielder Bahnhof eine eigene Miezekatze bekam, schien ebenso der Vergangenheit anzugehören wie jener verehrte ehemalige Premierminister.
Doch obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Vorstellung so weit hergeholt schien, wurde sie für Gareth und Andy im Lauf der nächsten Monate zu einem Lieblingsgesprächsthema, zumal in jenen Schichten, in denen die Zeiger der Bahnhofsuhr quälend langsam vorwärtsrückten und das Besprechen verrückter Ideen das Einzige zu sein schien, was die Zeit schneller vergehen ließ.
Die Arbeit bei der Bahn entsprach nicht Gareths ursprünglichen beruflichen Plänen. Er hatte zunächst einige Semester Informatik studiert, dann aber festgestellt, dass Programmieren nichts für ihn war. Da er einen Job brauchte, fing er Ende 2006 am Huddersfielder Bahnhof an, und zwar bei dem Team, das den Bahnsteigzugang kontrollierte – musste aber bald feststellen, dass auch diese Arbeit ihm nicht behagte. Damals gab es dort keine richtigen Bahnsteigsperren, sodass die Bahnmitarbeiter selbst die einzigen Barrieren bildeten, die die Leute am Schwarzfahren hindern konnten. Und öfter als er sich daran erinnern mochte, musste Gareth erleben, dass er, der gertenschlank und eher konfliktscheu war, im Zuge einer heftigen Auseinandersetzung von einem aggressiven Bahnkunden zu Boden gestoßen wurde. Er war daher erleichtert, als man ihn nach einem knappen Jahr von der Front abzog und stattdessen zum Bahnhofsansager ernannte (der seiner Tätigkeit hinter einer dicken Glasscheibe in der Geborgenheit eines Büros nachging). Aber die Arbeit auf dem Bahnhof empfand er immer noch als Übergangslösung – etwas, das er tat, während er sich darüber klar wurde, was er denn nun wirklich mit seinem Leben anstellen wollte. Allzu große Sorgen machte er sich darum allerdings nicht; mit seinen gerade mal einundzwanzig Jahren hatte er noch viel Zeit, sich das alles zu überlegen.
Bis es so weit war, arbeitete er jedoch wirklich gern auf dem Bahnhof. Die Atmosphäre unter den Kollegen hatte etwas Familiäres und erstreckte sich über Huddersfield hinaus auf das gesamte Streckennetz. Eisenbahner taten wirklich alles füreinander – so eine Branche war das. Als Gareth einmal in Südengland gestrandet war, musste er am nächsten Bahnhof lediglich seinen Dienstausweis vorzeigen, und die Kollegen rissen sich förmlich darum, ihn wohlbehalten wieder nach Hause zu befördern. Viele der sechsundzwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Huddersfield waren seit über zwanzig Jahren dort beschäftigt; sie kannten einander besser als die meisten Geschwister. Ja, wer noch nicht mindestens seit einem Jahrzehnt dort tätig war, galt immer noch als »Neuling«.
Gareth und Andy fielen beide in diese Kategorie. Andy war Schichtleiter, ebenfalls noch Anfang zwanzig und seit 2006 am Bahnhof tätig. Er war ein dynamischer, stets zu Streichen aufgelegter Mann von langgliedriger Gestalt. Angesichts der Tatsache, dass die Mitarbeiter mehr Zeit miteinander verbrachten als mit ihrer Familie – und manchmal auch nachts arbeiteten, denn der Bahnhof war rund um die Uhr besetzt –, war es nicht weiter verwunderlich, dass zwischen vielen Kollegen enge Freundschaften entstanden. Andy und Gareth hatten sich auf Anhieb blendend verstanden, und ihr Lieblingszeitvertreib bestand in gemeinsamen Gedankenspielen und Fantastereien; dafür waren sie geradezu bekannt. Die Bahnhofskatze war nur eine ihrer vielen verrückten Ideen. Eine andere bestand darin, TransPennine Express (TPE), das Unternehmen, das den Bahnhof betrieb, solle Mr T aus der Fernsehserie Das A-Team als Ansager für die Sicherheitsdurchsagen engagieren (»Schön hinter der gelben Linie bleiben, du Volltrottel …«), während Gareth außerdem vehement dafür eintrat, man solle sämtliche Treppen des Bahnhofs durch Rutschen und Flaschenzüge ersetzen, um die Zahl der Stürze durch Ausrutschen oder Stolpern zu minimieren.
Paul, der Dienststellenleiter und Bahnhofschef, ein Vorgesetzter, der sich ziemlich streng an die Vorschriften hielt, war ihre auf ihn einprasselnden absurden Vorschläge inzwischen gewöhnt. Er war ein gut aussehender junger Mann, der in Worten meist nicht allzu viel verlauten ließ, dessen Augenbrauen aber Bände sprechen konnten. Sie hoben sich, wenn Gareth ihm mal wieder einen seiner skurrilen Einfälle unterbreitete, und seine Ablehnung und Fassungslosigkeit waren seinem Gesicht dann deutlich abzulesen.
Den ganzen Herbst 2008 kamen Gareth und Andy bei ihrem Plausch während quälend langsam vergehender Schichten immer wieder auf den Vorschlag mit der Bahnhofskatze zurück – sie spielten mit der Idee wie kleine Kätzchen mit einer Spielmaus an einer Schnur, pingpongten den Gedanken immer wieder zwischen sich hin und her, begeisterten sich mehr und mehr dafür und dachten sich immer noch ausgefeiltere Begründungen dafür aus, weshalb der Bahnhof schlicht und einfach eine Katze brauchte. Gareth war besonders vernarrt in die Vorstellung, dass eine Bahnhofskatze aufgebrachte Kunden beschwichtigen könnte.
»Eine Katze macht doch wirklich jeden froh. Wenn sich jemand über irgendwas beschwert, könnte man ihm die Katze zeigen, und er würde sich augenblicklich wieder einkriegen!«, schwärmte er und dachte dabei an seine Zeit an der Zugangskontrolle, die noch nicht allzu lange zurücklag. »Und stell dir bloß mal vor, wie toll es wäre, wenn diese Katze dann hier rumlaufen würde, und sie wäre für alles zuständig und würde überall für Unordnung sorgen und jedem im Weg sein, wie Katzen halt so sind!«
Wie die Kinder stachelten sie sich gegenseitig an. »Du solltest Paul fragen!«, meinte Andy dann immer im Scherz.
Und eines Tages, als der Dienststellenleiter durchs Büro des Ansagers spazierte, wo die beiden gerade am Schwatzen waren, nutzte Gareth die Gelegenheit.
»Paul, wäre es eventuell möglich, dass wir eine Bahnhofskatze bekommen könnten?«, fragte er betont beiläufig. Die Antwort seines Vorgesetzten erwartend, strich er sich leicht nervös das schulterlange, glatte braune Haar hinter die Ohren.
Lange musste er nicht darauf warten, denn der Dienststellenleiter zögerte keinen Moment.
»Nein, kommt nicht infrage«, antwortete Paul glattweg, ohne sich im Mindesten aus dem Tritt bringen zu lassen.
Gareth sank enttäuscht auf seinem Stuhl zusammen.
Aber nur für einen kurzen Moment. Eine weitere seiner verrückten Ideen bestand darin, die Betonflächen auf den Bahnsteigen durch den federnden Bodenbelag zu ersetzen, der (um Verletzungen vorzubeugen) auf Kinderspielplätzen zum Einsatz kommt, und Gareth richtete sich in null Komma nichts wieder auf, als wäre sein Sitz aus ebendiesem Material. Plan A – Paul einfach direkt zu fragen – hatte nicht funktioniert, doch Gareth hatte sich inzwischen viel zu sehr in die Idee einer Bahnhofskatze verbissen, um einfach so aufzugeben. Seine Kampagne musste einen Gang zulegen.
Es wurde Zeit für Plan B.
»Unsere Bahnhofskatze wird vermisst«, stand auf dem handschriftlichen Plakat, das an Pauls offiziellem Schwarzem Brett hing. Mit einem gequälten Lächeln nahm er es ab und ließ den Blick durch das Büro schweifen, an dessen Wänden noch etliche weitere Exemplare des Posters prangten. Alle selbstverständlich Gareths Werk. Paul knüllte das Plakat zusammen und warf es mit einem überdrüssigen Kopfschütteln in den Papierkorb.
Der junge Ansager war bei seinem verrückten Anliegen wirklich mit Leib und Seele bei der Sache. Ließ Paul das Schwarze Brett länger als eine Woche aus dem Blick, weil ihn dringende Angelegenheiten anderswo auf dem Bahnhof in Beschlag nahmen, war das Brett, wenn er wiederkam, von oben bis unten mit Zetteln zu Gareths Fantasiekatze bepflastert, sodass die offiziellen Aushänge darunter komplett verschwanden. Auf einigen dieser Zettel waren miserable, selbst gezeichnete Katzenbilder zu sehen; andere hingegen waren textlastiger. Erst kürzlich, im Sommer 2009, hatte Paul die Belegschaft aufgefordert, ihm Vorschläge einzureichen, wie man verhindern könnte, dass es zu Stürzen in der Bahnhofshalle kam, weil Leute stolperten oder ausrutschten – eine seiner größten Sorgen als Leiter des Bahnhofs und etwas, worum er sich dringend kümmern wollte. Wie kaum anders zu erwarten, hatte Gareth ihm eine ganze Liste von Vorschlägen präsentiert.
»Man statte alle Kunden mit einem speziellen Gurtzeug aus, das mit einem Netzwerk von Seilrutschen verbunden ist«, stand auf dem Blatt, das er einreichte. Und weiter:
Man installiere jede Menge Laufbänder, damit die Kunden nirgendwohin zu Fuß gehen müssen.
Man bringe draußen vor dem Bahnhof ein großes Schild mit der Aufschrift »Betreten auf eigene Gefahr« an (eventuell zusätzlich mit dem Bild eines Totenschädels mit gekreuzten Knochen).
Man lege den gesamten Boden mit einem fünfzehn Zentimeter hohen Shaggy-Teppich aus.
Man stelle an Sturzschwerpunkten Trampoline auf, damit umfallende Kunden gleich wieder in die Senkrechte befördert werden.
Man engagiere eine Bahnhofskatze …
Immer diese Bahnhofskatze. Gareth zufolge war eine Bahnhofskatze die Lösung für so ziemlich jedes Problem. Zu seiner Verteidigung sei allerdings erwähnt, dass er zahlreiche Beispiele für entsprechende Erfolgsgeschichten herbeizitieren konnte – wie etwa den Kater Stubbs, der seit über einem Jahrzehnt Bürgermeister der Ortschaft Talkeetna in Alaska war, oder Tama, die berühmte japanische Bahnhofskatze, die das Schicksal ihrer zuvor notleidenden Bahngesellschaft gewendet und ihr einen Jahresumsatz von 1,1 Milliarden Yen (etwa 7,5 Millionen Euro) beschert hatte.
Nein, Gareth ließ in seiner Bahnhofskatzenkampagne keinerlei Ermüdungserscheinungen erkennen. Der Mann war geradezu besessen! Und zu Pauls Leidwesen war er dabei auch nicht mehr allein.
Denn Gareths selbst gemachte Plakate waren nicht seine einzigen Waffen in der Operation Bahnhofskatze. Gareths Arbeitsplatz war ja nun einmal – zu seiner großen Freude – im Büro des Ansagers. Damit hatte er nicht nur insofern einen Coup gelandet, als er den Zugangssperren entronnen war, sondern wie der Zufall wollte, war dies auch der geselligste Ort des ganzen Bahnhofs. Es war ein großes Zimmer, das etwas von einem Gemeinschaftsraum hatte und in dem einige gemeinschaftlich genutzte Bürogeräte standen, wie etwa der Fotokopierer. Ein Durchgang führte von dort weiter zum Fahrkartenschalter. Sämtliche Mitarbeiter kamen im Lauf ihrer Schicht irgendwann einmal hier vorbei, und daher wurde im Ansagerbüro unablässig geschwatzt. Vielleicht auch deshalb herrschte in diesem Raum eine ausgesprochen gemütliche Atmosphäre, zu der auch der weinrote Teppichboden beitrug, der die Schritte der Leute dämpfte, die hier den ganzen Tag ein und aus gingen.
Da Gareth oft mit Andy an seinem Schreibtisch gesessen und über ihre gemeinsame Begeisterung für eine Bahnhofskatze geplaudert hatte, hatten vorbeigehende Kollegen das zwangsläufig mitbekommen und sich gelegentlich auch am Gespräch beteiligt. Es war inzwischen über ein Jahr her, dass Gareth den Vorschlag das erste Mal angebracht hatte, und in diesen zwölf Monaten hatten alle, die auf dem Bahnhof arbeiteten, die beiden darüber reden hören – und viele aus dem Team hatten sie mit ihrer Idee angesteckt. Huddersfield war seit Langem ein Bahnhof mit einem Herz für Tiere – in der Kantine gab es eine Pinnwand, an der die Mitarbeiter Fotos ihrer Hunde und Katzen aufhängten –, und inzwischen stand die Mehrheit der Belegschaft hinter der Kampagne. Einige hatten sogar ihren eigenen Beitrag zur Scherzkampagne geleistet: Der neueste Gag war der Vorschlag, die Katze solle als Schädlingsbekämpferin engagiert werden, um etwas gegen die nicht vorhandene »Mäuseplage« auf dem Bahnhof zu unternehmen. Dabei wussten natürlich alle, wie es wirklich war: Um Mäuse ging es hier nicht. Sie wollten eine Katze, weil das Spaß machen würde und weil es großartig wäre, zur Arbeit zu kommen und seine Schicht an der Seite eines flauschigen Freunds zu absolvieren.
Selbst die Gruppenleiter unterstützten die Idee. Sie unterstanden zwar Paul, was aber nicht unbedingt bedeutete, dass er immer das Sagen hatte. Viele der Gruppenleiter waren seit Jahrzehnten am Bahnhof tätig und hatten das entsprechende Wissen und die entsprechende Berufserfahrung vorzuweisen. Ihr liebevoller Spitzname für den Chef lautete »Babyface«, denn Paul war, zumal verglichen mit ihnen, noch relativ jung.
Der vielleicht einflussreichste dieser Gruppenleiter war die unnachahmliche Angie Hunte. Die warm- und offenherzige Schwarze mit dem ansteckenden Lachen und dem einnehmenden Wesen hatte über zwanzig Dienstjahre am Bahnhof auf dem Buckel und sich im Lauf der Zeit dort als wirkmächtige Matriarchin erwiesen. Selbst Paul hatte einsehen müssen, dass es für ihn von Nutzen war, wenn er Angie bei neuen Ideen auf seiner Seite hatte, denn weil sie so angesehen war, verfügte sie auf dem Bahnhof über einen enormen Einfluss. Als Gareth und Andy das erste Mal mit ihr über das Thema Bahnhofskatze gesprochen hatten, war Gareth sehr angespannt gewesen. Wenn sie es ablehnt, dachte er beklommen, noch während er die Vorzüge seiner Katzenidee pries, wird nie was draus.
Doch auf Angies Gesicht hatte sich ein strahlendes Lächeln breitgemacht, denn die Idee kam gut bei ihr an. Das war mehr, als Gareth hatte erhoffen können. »Als Angie sich für die Katzenidee begeisterte, bedeutete das grünes Licht«, erinnerte er sich später. »Ich weiß noch, dass ich dachte: Jetzt könnte was draus werden.«
Gruppenleiterin Angie Hunte: »Felix war schon immer etwas Besonderes. Ich liebe sie sehr. Ein Leben ohne sie kann ich mir nicht vorstellen.«
Angie war jedoch am Huddersfielder Bahnhof nicht die einzige einflussreiche Person. Es gab dort sechs Gruppenleiter, die alle Schichtdienst leisteten und während ihrer Dienstzeit jeweils die volle Verantwortung für den Bahnhof und die Belegschaft trugen. Zu ihnen zählte auch ein Mann namens Billy, der seit Jahrzehnten an Angies Seite tätig war. Er hatte sein gesamtes Berufsleben bei der Bahn verbracht, war zunächst Schaffner gewesen und später zum Gruppenleiter aufgestiegen. Inzwischen Ende fünfzig, war er der Elder Statesman des Bahnhofs und bekannt für seine großväterlich-brummige Art. Angie kannte ihn schon so lange und kam so gut mit ihm klar, dass sie ihm augenzwinkernd den Spitznamen »Mr Grumpy« verpasst hatte. Er war eher klein, hatte schütteres Haar, und seine Griesgrämigkeit hatte sich mit den Jahren in sein faltiges Gesicht eingekerbt.
Billy nahm, das wusste man, meist kein Blatt vor den Mund. Stimmte er mit dem, was man ihm sagte, nicht überein, so entgegnete er unumwunden, man rede totalen Schwachsinn. War er der Meinung, dass sich jemand idiotisch verhielt, so ließ er ihn das wissen, und zwar nicht auf die nette, höfliche Tour.
Als Billy erstmals von der Kampagne für eine Bahnhofskatze hörte, erschien ihm das als Blödsinn. Er wollte nichts davon wissen; und schließlich schien es Paul, dem Chef, ja immer noch genauso zu gehen. Trotz Angies Begeisterung und Gareths kreativer Plakatkampagne blieb der Dienststellenleiter vollkommen ungerührt.
Gareth aber ließ sich nicht beirren, und während die Monate ins Land gingen und die Idee immer mehr Befürworter fand, versuchte Gareth auf direktem Weg an Pauls Geschäftssinn zu appellieren. Da er wusste, dass sein Vorgesetzter ein Mann der Fakten, Zahlen und Tabellen war, nahm sich Gareth die Zeit, eine umfassende Liste der Vor- und Nachteile einer Bahnhofskatze zusammenzustellen:
Nachteile gab es offensichtlich keine …
Doch auch die Tabelle ging den gleichen Weg wie all die Plakate zuvor. Als das Jahr 2010 und dann das Jahr 2011 begann, war Gareth der Verwirklichung seines Traums noch immer kein Stück nähergekommen – und trotz aller Beteuerungen, seine Arbeit auf dem Bahnhof sei nur eine Übergangslösung, war er noch immer dort tätig.
Im Frühjahr 2011 erreichten ihn schließlich interessante Neuigkeiten, überbracht von Kollegen, die das Ansagerbüro passierten. Paul, hieß es gerüchteweise, werde zeitweilig auf einen Posten andernorts versetzt. Also würde in seiner Abwesenheit jemand anderes die Leitung des Bahnhofs übernehmen – und dieser Jemand hatte dann die Macht, die Sache mit der Bahnhofskatze entweder weiter zu blockieren oder zu genehmigen.
Als Gareth erfuhr, wer diesen Stellvertreterposten bekleiden würde, konnte er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Schnell lief er zu Andy, seinem langjährigen Mitverschwörer – und dem Mann, der gerade zum kommissarischen Leiter des Bahnhofs ernannt worden war. Andy grinste ebenso breit.
»Das ist die Gelegenheit!«, rief der Ansager freudestrahlend. »Jetzt besorgen wir uns eine Katze!«
2
Angie Hunte rückte ihre gelbe Signalweste zurecht, ließ den Blick über die Pendler schweifen, die durch die Zugangssperren strömten, und unterdrückte ein Gähnen. Es war inzwischen April, wurde also zumindest morgens wieder früher hell, aber für die Frühschicht um Viertel vor fünf aus dem Bett zu müssen, war auch nach all den Jahren noch eine Qual. So gern sie auch auf dem Bahnhof arbeitete: Manche Schichten wollte man einfach nur hinter sich bringen.
An diesem Morgen verspürte sie jedoch ein ungewohntes Kribbeln gespannter Erwartung in der Magengegend, während sie die Gesichter der durch den Bahnhof eilenden Leute musterte. Sie hielt Ausschau nach einem ganz bestimmten Gesicht: dem von Belinda Graham.
Belinda war Managerin in der Firmenzentrale von TPE in Manchester und pendelte täglich von Huddersfield aus dorthin. Das traf sich gut, denn Angie hatte eine überaus wichtige Frage, die sie ihr stellen wollte – bezüglich einer gewissen Bahnhofskatze. Nachdem der kommissarische Dienststellenleiter Andy Croughan die Idee endlich abgenickt hatte, brauchten die Huddersfielder nur noch das »Ja« der Zentrale. Das aber, das war Angie bewusst, womöglich schwierig zu bekommen war.
Diesen Schritt jedoch zu überspringen oder einfach heimlich, still und leise eine Katze anzuschaffen, kam nicht infrage. Sie alle wollten, dass die Angelegenheit formal korrekt über die Bühne ging. Zwar hatte alles eher scherzhaft begonnen, aber viele aus der Belegschaft waren Katzenliebhaber und selbst Katzenhalter und nahmen die damit einhergehende Verantwortung überaus ernst. Angie, Gareth, Andy und die anderen waren bereits übereingekommen, dass die Katze, sollten sie die erhoffte Genehmigung denn bekommen, vom gesamten Mitarbeiterstab gleichberechtigt betreut würde. Selbst Billy hatte sich – wenn auch auf die für ihn typische wortkarge Art und Weise – bereit erklärt, sich daran zu beteiligen.
Im Lauf der Katzenkampagne hatte sich Billy irgendwann mit der Idee angefreundet – womöglich hatte die unerschütterliche Begeisterung seines Freundes Gareth ihn letztlich zermürbt. Inzwischen ließ er manchmal sogar ein Lächeln aufblitzen, wenn Gareth auf die Fantasiekatze zu sprechen kam, und ein Lächeln war bei Billy eine Rarität.
»Ist ja gut, Junge, ist ja gut«, hatte er sich schließlich geschlagen gegeben, wobei sich seine Mundwinkel auf eine für ihn unnatürliche Weise zu einem angedeuteten Lächeln hoben, während er für eine Raucherpause nach draußen ging, eine Schachtel seiner Lieblingszigarillos schon in der Hand. »Ich geb’s ja zu: Eine Bahnhofskatze wäre eine tolle Sache.«
Billy hatte selber Katzen, darunter eine rote namens Jaffa. Als eingefleischter Eisenbahner wohnte er mit seiner Frau in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude, und seine Katzen hielten gelegentlich, wenn sie über die Gleise schlenderten, den Bahnverkehr auf. Katzenliebe war also noch etwas, das ihn mit Gareth verband, denn Gareth war stolzer Besitzer von Cosmo, einem flauschigen schwarz-weißen Kater mit einem enormen Schwanz. Doch eine Katze genügte Gareth nicht – und nun schien die Bahnhofskatze endlich in greifbare Nähe zu rücken.
Zuvor aber musste Angie noch ihre wundersamen Kräfte zum Einsatz bringen. Angie konnte ausgezeichnet mit Menschen umgehen. Zu ihren Aufgaben als Gruppenleiterin gehörte auch die Menschenführung, und wenn ein Problem zu lösen war oder sie dafür zu sorgen hatte, dass etwas Bestimmtes geschah, schien sie immer genau zu wissen, mit wem sie reden musste – und vor allem, wie. Angie hatte den Vorschlag gemacht, Belinda wegen der Genehmigung anzusprechen. Die beiden kannten sich schon lange, und Angie wusste, dass Belinda eine Macherin war: jemand, der bereit war, die Ärmel hochzukrempeln und Dinge voranzubringen. Sie schien jeder Herausforderung gewachsen zu sein. Angie musterte erneut die vorbeiströmenden Pendler, aber es war noch ein bisschen früh, und Belindas unverwechselbarer Blondschopf war noch nicht zu sehen.
Noch einmal ging Angie also in Gedanken durch, was sie sagen würde, wobei sie sich ein beinahe schuldbewusstes Lächeln nicht verkneifen konnte. Die Belegschaft hatte nämlich beschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen, sondern alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Sache mit der Katze unter Dach und Fach zu bringen. Daher war das Gespräch, das Angie nun gleich führen würde, in mancher Hinsicht ebenso kreativ wie die selbst gestalteten Plakate, die Gareth in den vergangenen drei Jahren überall aufgehängt hatte.
Ein weiterer Schwung Fahrgäste eilte durch die Bahnhofshalle, und mit einem Mal erblickte Angie unter ihnen Belindas zierliche Gestalt.
»Belinda!«, rief sie in eindringlichem Ton und eilte mit routinierter Miene zu ihr, wobei sie geschickt dem steten Strom der Pendler auswich.
»Alles in Ordnung, Angie?«, begrüßte die Managerin sie herzlich.
»Hast du gehört, was hier passiert ist?«, setzte Angie an und senkte diskret die Stimme, wie um zu verhindern, dass die vorbeieilenden Fahrgäste mithören konnten, was sie nun sagen würde.
Belinda runzelte besorgt die Stirn. »Nein, was denn?«, fragte sie, irgendeinen Notfall erwartend. Angie war eine sehr erfahrene Gruppenleiterin, und daher musste die Lage schon sehr ernst sein, wenn sie jemanden von der Firmenzentrale um Unterstützung bat.
»Stell dir vor: Bei uns in der Kantine gibt es eine Maus«, flüsterte Angie theatralisch und brachte ihr Entsetzen angesichts des vermeintlichen »Schädlingsbefalls« mit beeindruckender Ernsthaftigkeit zum Ausdruck. »Sharon, eine von den Mädels aus dem Büro, hat gesagt, sie habe eine Maus gesehen.«
Belinda schüttelte mitfühlend den Kopf; sie hatte für Angies Besorgnis vollstes Verständnis.
»Also, das geht einfach nicht an!«, fuhr Angie fort und schaltete gekonnt wie eine Oscar-Preisträgerin von Entsetzen auf Empörung um. »Wir essen schließlich in diesem Raum!« Sie atmete tief durch und fragte viel beiläufiger, als es sich für sie anfühlte: »Belinda, könnten wir nicht eine Katze bekommen?«
Belinda hielt einen Moment lang inne, blieb kühl und ließ sich die formelle Anfrage ihrer Kollegin durch den Kopf gehen. Dann nickte sie entschieden. »Ja, da könnten wir schon was machen«, sagte sie. »Die Kosten könnten wir unter Schädlingsbekämpfung verbuchen oder so. In Windermere haben sie, glaube ich, auch eine Katze, und wir zahlen das Futter. Mach dir keine Sorgen: Wir kriegen das hin.«
Angie war verblüfft, das zu hören. Zwar war unter Eisenbahnern allgemein bekannt, dass die frühere staatliche Bahngesellschaft British Rail ihren damaligen Bahnhofskatzen im Scherz sogar Lohnzettel ausgestellt hatte, aber sie hatte noch nie davon gehört, dass eine der neuen Bahngesellschaften, die aus der Privatisierung hervorgegangenen waren, etwas in dieser Richtung unternahm und sogar die Kosten für die Katzenhaltung erstattete. Wie sich herausstellte, war die Bahnhofskatze von Windermere nicht mal die Einzige ihrer Art: Im ganzen Land gab es solche Miezen, die von den Bahnmitarbeitern ebenso liebevoll umsorgt wurden wie in vergangenen Zeiten. Oxford Road Station in Manchester hatte angeblich früher mal gleichzeitig dreizehn Bahnhofskatzen gehabt, war in den vergangenen Jahren aber, nachdem man einige von ihnen weggegeben hatte, bei nur noch vier Tieren angelangt: Jumper, Tom, Jerry und Manx. Rabbit, eine schwarz-weiß gescheckte Katze, und ihr Nachfolger, der ebenfalls schwarz-weiße Quaker, residierten in der restaurierten Kirkby Stephen East Station in Cumbria, im Nordwesten Englands. Im Süden war der Bahnhof Southend Victoria früher die Heimat der kleinen Jojo gewesen, während man am Bahnhof von Tonbridge in Kent vor einigen Jahren Gedenktafeln für Jill und Louis angebracht hatte, die beiden dortigen Bahnhofskatzen, die nach jahrelangen treuen Diensten verstorben waren. Das Halten von Bahnhofskatzen gehörte offensichtlich gar nicht ausschließlich der Vergangenheit an – und der Bahnhof Huddersfield war nun dabei, Teil einer illustren Tradition zu werden.
Angie winkte der davoneilenden Belinda nach und bemühte sich nach Kräften, nicht allzu euphorisch darüber zu wirken, dass Belinda ihre Zustimmung signalisiert hatte. Als die Managerin aber außer Sicht war und Angie ins Ansagerbüro eilte, war ihre Begeisterung kaum mehr zu bremsen. Und als sie schließlich die Tür hinter sich geschlossen hatte und vor Gareth stand, der, die Urteilsverkündung erwartend, nervös auf seinem Stuhl hin und her rutschte, hätte Angie vor Freude schier platzen können.
»Oh, Gott!«, flüsterte sie zugleich freudig und vorsichtig, denn draußen herrschte gerade Stoßzeit, und sie wollte die Kundschaft nicht mit aufgeregtem Geschrei aus dem Büro beunruhigen. »Es ist nicht zu fassen! Gareth, wir kriegen eine Katze! Wir kriegen eine Katze!«
Gareth klappte die Kinnlade herunter. »Ist das dein Ernst?«
Angie nickte, wagte nicht, etwas zu sagen.
Gareth sprang hocherfreut von seinem Stuhl auf. »Wir kriegen also wirklich eine Katze?!«
»Wir kriegen eine Katze.«
»Wir kriegen eine Katze!«
Eine Woge der Euphorie erfasste den ganzen Bahnhof. Nach einer Kampagne, die fast drei Jahre gedauert hatte, war das nun ein wahrhaft emotionaler Moment. Eine Zeit lang gab es nur ein einziges Gesprächsthema: die Katze, die Katze, die Katze.
Falls Huddersfield je eine Bahnhofskatze gehabt hatte, musste es Jahrzehnte her sein. Die letzten Tiere im Dienste der Bahn, von denen man wusste, waren Bess, Dolly und Tommy: die letzten Zugpferde, die der Bahnhof besessen hatte. Sie hatten Waggons auf Rangier- und Abstellgleise gezogen. Diese Pferde waren jedoch 1952 entlassen worden, und seither hatte es auf dem Bahnhof keine offiziell in Dienst gestellten Tiere mehr gegeben. Die verfressenen Tauben, die die Metallstreben unter dem Wellblechdach bevölkerten, gehörten gewiss nicht zum offiziellen Personal der Bahn. Jetzt aber, fast sechzig Jahre später, hatte die Belegschaft sämtliche Hürden genommen, um das benötigte »Ja« zu bekommen – und zwar ganz aus eigener Kraft. Schon in allernächster Zukunft würde nun also, so hoffte das Team, eine Katze den Huddersfielder Bahnhof zu ihrem neuen Zuhause erklären.
Aber welche Katze würde das sein?
3
Psst«, machte Chris Briscoe, seines Zeichens Fahrscheinkontrolleur bei TransPennine Express, »hör mal!«
Es war der 17. Mai 2011, mitten in der Nacht, und in Chris’ Doppelhaushälfte in Rotherham hätte es eigentlich mucksmäuschenstill sein müssen. Dennoch hatte irgendetwas seine Frau Joanne und ihn geweckt – und er glaubte auch zu wissen, was es war.
Joanne und er lauschten in die Dunkelheit hinein. Ja, da war es wieder: ein zaghaftes Quieken, das klang, als käme es aus dem Wäschetrockenschrank. Chris glitt unter der Decke hervor und ging auf Zehenspitzen die Treppe hinab, wobei er sich das bärtige Gesicht rieb, um richtig wach zu werden. Die Tür des Wäschetrockenschranks, die eigentlich hätte geschlossen sein sollen, stand einen Spaltbreit offen, und je näher er kam, desto lauter wurde das mehrstimmige Quieken.
Vorsichtig zog er die Tür ein Stück weiter auf und spähte in den Schrank hinein. Auf dessen Boden lag seine elf Monate alte schwarz-weiße Katzendame Lexi – wie ein Filmstar in einer Parfumreklame, ausgestreckt auf Briscoes besten Handtüchern aus ägyptischer Baumwolle. Als er ins Bett gegangen war, hatte es im Haus nur eine, wenn auch hochträchtige Katze gegeben; nun zählte er rings um die überglückliche Katzenmutter fünf winzige neugeborene Kätzchen.
Lexi war ein zutrauliches Tier, die einzige Katze, die ihn je abgeschleckt hatte, und während ihrer Trächtigkeit war sie sogar noch zutraulicher geworden. In dieser Zeit war sie Chris kaum von der Seite gewichen: Setzte er sich auch nur kurz hin, sprang sie sofort auf seinen Schoß; legte er sich ins Bett, dauerte es nur einen Moment, und er spürte, wie sie sich auf ihm niederließ. Ihm war bewusst gewesen, dass sie bald fällig war, und deshalb hatte er ein kuschlig weiches Katzenbett für sie besorgt und es mit einer alten Wolldecke darin an einer verborgenen Stelle im Haus aufgestellt, sodass sie dort, wenn es so weit war, in aller Ruhe ihre Jungen zur Welt bringen konnte. Lexi hatte aber offenbar andere Pläne gehabt – mit dem Ergebnis, dass sich ihre kleine Familie nun auf den allerweichsten und allerteuersten Handtüchern des Haushalts räkelte.
Chris kniete sich hin und betrachtete seine erschöpft aussehende Katze und ihre Neugeborenen. Er griff in das Kätzchengewusel, untersuchte zunächst Lexi und anschließend ihren Wurf und stellte sicher, dass die Kleinen frei atmen konnten und ihre Mutter die Nabelschnur korrekt abgebissen hatte. Alles war, wie es sein sollte. Lexi fauchte und biss auch nicht, als er mit ihren Kleinen hantierte – so eine Katze war sie nicht. Vielmehr beschnüffelte sie jedes einzelne der kleinen Kätzchen, als sie sie wiederbekam, und vergewisserte sich, dass mit ihnen alles in Ordnung war.
Die Kleinen waren zu fünft: drei gescheckte und zwei schwarz-weiße Katzenkinder. Letztere waren einander so ähnlich, dass man sie kaum auseinanderhalten konnte. Und sie sahen beinahe genauso aus wie ihre Mutter – fast ganz schwarz, aber mit ähnlichen weißen Flecken wie Lexi: ein V-förmiges, weißes Brustlätzchen und weiße Pfoten, die aussahen, als hätten sie ihre Füßchen in weiße Farbe getunkt – oder angesichts der Opulenz ihrer Bettstatt eher, als hätten sie weiße Samthandschuhe an. Alle fünf Jungkatzen hatten diese weißen Pfoten. Da sie eben erst geboren waren, waren ihre Augen noch verschlossen, und sie miauten lediglich nach ihrer Mutter, die sich gewissenhaft um jedes Einzelne von ihnen kümmerte.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, schloss Chris vorsichtig die Schranktür bis auf einen schmalen Spalt, so wie Lexi es gewollt hatte, und dann ließen Joanne und er sie wieder in Ruhe.
Lexis Trächtigkeit war für die Briscoes eine ziemliche Überraschung gewesen. Sie hatten zwei Katzen, Lexi und Gizmo. Beide waren in einer Sozialbausiedlung in der Nähe von Collingwood aufgefunden worden, offensichtlich ausgesetzt, und Joanne und Chris hatten sie zu sich genommen, da sie zwei Katzen gerade gut als Mäusejäger gebrauchen konnten. Ihr Haus hatte einen sehr großen Garten, und in einem Teil davon hielten sie Hühner und in einer Voliere auch einige Goldfasane. Das Getreidefutter für die Vögel hatte bald Mäuse angelockt, und da die Briscoes kein Gift auslegen wollten, stellte ein Katzenduo die naheliegendste Lösung dar.
Gizmo war ein Mordsgeschoss von einem Kater, fast ganz weiß, aber mit schwarzem Kopf (wenn auch weißem Gesicht) und schwarzer Rückenpartie. Lexi war nur halb so groß wie er. Obwohl er als Mäusekiller engagiert war, legte er sich gern rund um die Uhr auf die faule Haut und war darüber hinaus auch noch dumm wie Bohnenstroh. Ein riesiger, flauschiger Kater, geduldig und freundlich.
Da die beiden Findelkatzen waren, wussten die Briscoes, als sie sie bekamen, nichts über ihr Alter. Sie brachten die Katzen zum Tierarzt, um sie impfen zu lassen und, da sie keinen Nachwuchs wollten, mit dem Arzt über eine Kastration beziehungsweise Sterilisation zu sprechen. Doch als der Tierarzt Lexi untersuchte, blickte er auf und sagte unumwunden: »Da kommen Sie zu spät.«
Gut sechzig Tage später hatten sie nun fünf hinreißend süße kleine Kätzchen.
Und da die Kätzchen überraschend gekommen waren, machte sich Chris nun daran, die Nachricht in Umlauf zu bringen, dass sie fünf Katzenkinder abzugeben hatten, die ein neues Zuhause brauchten, sobald sie alt genug waren, um von ihrer Mutter getrennt zu werden. Joanne Briscoe arbeitete ebenfalls bei TPE, im Kundendienst, und so bemühten sich beide, die Nachricht in der gesamten Bahnbranche zu verbreiten. Ihr Sohn erklärte sich bereit, eines der gescheckten Kätzchen zu nehmen, und dann meldete sich eine Fahrdienstleiterin aus Manchester und sagte, sie hätte gern die beiden anderen gescheckten. Nun brauchten also nur noch die beiden schwarz-weißen Kätzchen ein neues Zuhause.
Bis dahin machten sie es sich in ihrem gegenwärtigen Zuhause sehr bequem. Im Lauf der nächsten zehn Tage schlug ein Kätzchen nach dem anderen erstmals die Augen auf. Da in diesem Alter alle Katzen blaue Augen haben, öffnete sich erst ein paar himmelsblaue Kulleraugen, dann ein zweites, dann ein drittes … zum allerersten Mal schauten die Kleinen in die Welt hinaus. Eins der beiden schwarz-weißen Kätzchen – das flauschigere der beiden, was das einzige Merkmal war, woran man sie auseinanderhalten konnte – ließ sich Zeit damit. Es war das allerletzte Tier aus dem Wurf, das seine leuchtend blauen Augen öffnete – doch als es das erst einmal getan hatte, gab es für das Kätzchen kein Halten mehr.
Fast über Nacht, so kam es Joanne und Chris jedenfalls vor, verwandelte sich der Korb voller Kätzchen von einer blinden, hilflosen Menge in fünf wagemutige und zu allerlei Streichen aufgelegte Individuen, die sich nun daranmachten, Chaos zu stiften, wohin sie auch kamen. Sie waren so verspielt! Die Kätzchen jagten einander kreuz und quer durchs ganze Haus: Sie kletterten die Vorhänge hinauf, versteckten sich im Wäschekorb, zupften die trocknenden Socken von den Heizkörpern und nahmen sie als Beutetiere her. Nichts durfte man auch nur einen Moment lang unbeaufsichtigt herumliegen lassen, sonst wurde es sogleich in ein neues Spielzeug verwandelt. Die Kätzchen konnten nach Belieben über das ganze Haus verfügen – und nutzten das weidlich aus: Sie flitzten und purzelten und schlitterten umher, ein fünfköpfiges Chaos-Fellknäuel, wie ein Rummelplatz, der urplötzlich in der Stadt aufgetaucht war.
Ein Lieblingsspiel des Quintetts bestand darin, ihren Vater Gizmo zu terrorisieren. Der war ein derart friedfertiges Tier, dass er sich überhaupt nicht wehrte, wenn sie auf ihm herumtollten und mit ihm machten, was sie wollten. Nach etwa einer halben Stunde hatte er dann aber meist doch die Nase voll und ging ihnen erst mal aus dem Weg, aber er geigte ihnen kein einziges Mal die Meinung.
Bei ihrer Mutter sah das anders aus. Alle fünf Kätzchen hüpften auf ihr herum, wie Kätzchen das halt tun, jagten einander und hechteten über sie hinweg – ein großartiges Spiel –, aber wenn Lexi genug davon hatte, verpasste sie ihren Kindern eine Backpfeife oder packte sie am Genick, um ihnen zu sagen: »Jetzt reicht’s. Schluss damit.« Sie war eine liebevolle Katzenmutter, aber auch sehr auf die Einhaltung gewisser Regeln bedacht, und die Kätzchen lernten schnell, nicht mehr über die Stränge zu schlagen. Sie lernten auch andere Dinge von ihr. Als die Zeit dafür gekommen war, zeigte Lexi – die, was das Thema Hygiene anging, absolut makellos war – den Kleinen, wie sie die Katzentoilette zu benutzen hatten, und zwar so gut, dass die fünf Kätzchen ganz schnell stubenrein wurden.
Als die Kätzchen ein wenig später nicht mehr von Lexi gesäugt wurden, stellten die Briscoes sie auf die empfohlene Diät um. Katzenfutter aus dem Laden mochten sie ihnen allerdings nicht geben. Für die Kätzchen, die auf Handtüchern aus ägyptischer Baumwolle zur Welt gekommen waren, war nur das Beste gut genug! Also fütterten sie sie mit frischem Hackfleisch von bester Qualität, unter das von Hand rohe Eier gequirlt wurden. Futter für angehende Helden.
Eins der gescheckten Kätzchen – der kleine Kater, der später den Namen Spadge bekam und beim Sohn der Briscoes leben würde – teilte diese Ansicht auf jeden Fall. Er verstand es von Anfang an, sich durchzusetzen, und war stets der Erste am Futternapf. Mit den Worten der Briscoes: »Er war ein verfressener kleiner Rowdy.« Unter dem lautstarken Protest seiner maunzenden Geschwister bestand er darauf, dass er als Erster fraß und sich kein anderer dem Napf auch nur nähern durfte, solange er nicht fertig war.
Die Kätzchen waren eine laute und selbstbewusste Truppe. Sie miauten, wenn sie fressen wollten und Spadge ihnen dabei im Wege war, sie miauten aber auch, wenn sie spielten, und quiekten manchmal im Chor, wenn sie sich einen ihrer lebhaften Boxkämpfe lieferten. Und wenn sie nach dem Abendessen tief schliefen, nach einem weiteren megaaufregenden Tag komplett erschöpft, drang aus dem braun-weißen Velours-Katzenbett der fünf Geschwister immer mal wieder ein leises, süßes Schnurren.
Neben Spadge, der sich als Vielfraß zu erkennen gab, kam nach und nach auch der Charakter der anderen Kätzchen zum Vorschein. Die beiden schwarz-weißen hatten bald den Spitznamen Duo Infernale weg, denn eins ihrer Lieblingsspiele bestand darin, sich wie zwei pelzige Anstecknadeln an Chris’ Hose zu klammern, wenn er in aller Ruhe irgendwo saß. Die Kätzchen verhielten sich ganz still und leise, sodass Chris sie gar nicht bemerkte. Stand er aber auf, um die Treppe hochzugehen, bohrten sich plötzlich zehn (oder zwanzig) spitze Krallen in seine Beine, und die Kätzchen klammerten sich wild entschlossen an seiner Hose fest. Ihre superscharfen Krallen schürften ihm bei jeder Bewegung die Haut auf. »Was zum Teufel ist das?!«, schrie er, und die schwarz-weißen Kätzchen legten den Kopf schief und freuten sich diebisch über seine dramatischen Schmerzensschreie und das schöne Gefühl, an die Hosenbeine geklammert durch die Gegend geschleudert zu werden. Sie kletterten ihm ständig die Hose hinauf. Binnen weniger Wochen sah Chris deshalb aus, als wäre es sein neues Hobby, sich tagtäglich durch Dornengestrüpp zu kämpfen.
Währenddessen verdoppelte er seine Anstrengungen, ein neues Zuhause für das Duo Infernale zu finden. Und zu diesem Zeitpunkt erfuhr er nun endlich, dass Angie Hunte ebenfalls eine Nachricht in Umlauf gebracht hatte: Der Huddersfielder Bahnhof wollte eine Bahnhofskatze engagieren. Kannte jemand irgendwelche jungen Kätzchen, die dieser Aufgabe eventuell gewachsen waren?
Angie und ihre Kollegen wollten für den Job eine Jungkatze haben. Einer älteren ehemaligen Hauskatze gegenüber wäre es nicht fair gewesen, sie unvermittelt dieser Arbeitsumgebung auszusetzen – angesichts der Gefahren, die von den Zügen ausgingen, und angesichts des Lärms und des geschäftigen Treibens in einem stark frequentierten Bahnhofsgebäude. Der Bahnhof Huddersfield verzeichnete pro Jahr circa fünf Millionen Fahrgastbewegungen, und pro Stunde fuhren dort im Schnitt fünfzehn Züge ab – womit er zu den hundert verkehrsreichsten Bahnhöfen des Landes zählte. Einer älteren Katze konnte man all das, was eine Bahnhofskatze draufhaben musste, nicht mehr beibringen. Ein junges Kätzchen hingegen, das auf dem Bahnhof aufwuchs, würde ganz nebenbei alles lernen, was es als Bahnhofskatze wissen und können musste.
Angie und Chris trafen sich bald darauf, um die ganze Sache zu besprechen. Da Chris zu dieser Zeit oft dienstlich in Huddersfield war, ließ sich ein Treffen leicht arrangieren.
Angie empfing ihn mit ihrem berühmten strahlenden Lächeln. »Also, wir wollen die Schädlingsbekämpfungskosten senken«, sagte sie, ein heiteres Funkeln in den Augen, »und aus ökologischen Gründen wollen wir dazu eine Katze engagieren. Wie ich gehört habe, könntest du uns da eventuell behilflich sein … Was sollen die Tierchen denn kosten?«
»Oh, die gibt’s gratis, kein Problem«, beeilte sich Chris zu antworten. Angesichts der Kratzer an seinen Beinen war er – natürlich auf die denkbar netteste Art und Weise – ziemlich erleichtert bei dem Gedanken, die Kätzchen loszuwerden. Dass er sich zumindest schon mal eine Hälfte des Duo Infernale vom Hals schaffen konnte, war eine großartige Neuigkeit. Darüber hinaus, dachte er, sei es sicherlich auch mit einigem Prestige verbunden, dass ausgerechnet seine Katze die Bahnhofskatze von Huddersfield wurde – denn das würde sich ja bestimmt unter den Eisenbahnern herumsprechen. Er war der Katzenopa – das war ein Ruhmesblatt, das er gerne mitnahm.
Vor allem aber waren Joanne und er einfach froh, dass das Kätzchen ein dauerhaftes und liebevolles neues Zuhause finden würde, bei dem sie davon ausgehen konnten, dass gut für das Tier gesorgt würde. Ja, dem strahlenden Lächeln auf Angies Gesicht nach zu urteilen, als er einwilligte, ihr eines der Kätzchen zu geben, würde es dort regelrecht verwöhnt werden.
»Wir hätten gern einen kleinen Kater«, fügte Angie noch hinzu, als fiele es ihr erst verspätet ein, während ihr Gespräch sich schon dem Ende zuneigte. Die Kollegen und sie wollten es schließlich auch nicht übertreiben: Es erschien ihnen wie ein Wunder, dass sich die Firmenzentrale auf die Sache mit der Bahnhofskatze überhaupt eingelassen hatte. Da aber niemand annahm, dass die Chefetage Verständnis dafür hätte, wenn diese Katze Nachwuchs bekäme, würden sich alle sicherer fühlen, wenn es sich bei der neuen Arbeitskraft um ein Männchen handelte.