Das pure Leben
spüren
Warum wir nicht viel brauchen,
um glücklich zu sein
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-834-4
ISBN epub: 978-3-95623-705-8
Lektorat: Anna Ueltgesforth | www.arsvocis.de
Umschlaggestaltung: Stephanie Böhme, Strategische Konzeption und Design, Neuwied
Titelfoto: Eldar Nurkovic / Shutterstock
Fotos: Barbara Messer
Autorenfoto: Uwe Klössing
Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg |
www.buch-herstellungsbuero.de
© 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
Das E-Book basiert auf dem 2018 erschienenen Buchtitel "Das pure Leben spüren" von Barbara Messer, © 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach
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»Die eigentlichen Entdeckungsreisen bestehen
nicht im Kennenlernen neuer Landstriche, sondern darin,
etwas mit anderen Augen zu sehen.«
MARCEL PROUST
Ich widme dieses Buch meiner Katze Hexe, die ganz nach dem Motto »Über den Napfrand hinaus« lebt und mich in diesem Jahr im Wohnmobil so treu begleitet hat.
Prolog
Libellen an der Naab – Auszug aus dem Sommerglück
Eiskalter Winter – Enttäuschung am zweiten Advent
Wie alles begann – du musst es ihr sagen!
Taufe
Loslassen und weggeben
Und nun? Annehmen des Schicksals
Der Wunsch nach Leichtigkeit
Solange noch Zeit ist – wann, wenn nicht jetzt!
Das geht nicht! Doch, das geht!
An Bord
Das Wohnmobil-Jahr in Zahlen
Weniger ist mehr – gelebter Minimalismus
Eine Pfanne für alles!
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Der Zauber der kleinen Momente
Ein Einblick mit dem Namen Pausenglück
Wollen Sie mehr?
Leben in Echtzeit
Die Natur als Lebensort
Ein Gewitter am Chiemsee
Unterwegs-sein
Vom Wohnzimmer auf die Straße – offen und ungeschminkt
Weihnachten – Demut und Dankbarkeit
Routine war gestern – wir brauchen neue Gewohnheiten
Das Miteinander
Allein sein
Köstliche Stille
Freundschaften
Hilfe annehmen
Was ist das, das gute Leben?
Gedanken
Ankommen?
Danksagung
Literatur
Die Autorin
Dies ist eine Geschichte zum Augenöffnen, zum Innehalten und Nachdenken.
Ein Jahr im Wohnmobil – kein Sabbatical, sondern ein Leben als Nomadin in Deutschland, vier Jahreszeiten mit allem Wesentlichen dabei, was es für das tägliche (Arbeits-)Leben braucht. Ein Jahr Minimalismus, persönliche Klarheit, Power und Resilienz.
Ein Jahr im Aufbruch, voller Verantwortung und mit einem ganz normalen Arbeitsalltag als Rednerin, Trainerin und Coach.
Ein Jahr voller ganz besonderer, einmaliger Momente.
Ein Jahr, welches mich gelehrt hat,
•kostbare Momente im Alltag zu schaffen, die unvergesslich sind,
•den Tagen (und Nächten) mehr Leben zu geben,
•ortsunabhängig Heimat und Zuhause zu leben,
•dass ich mit wenig viel bewirken kann,
•kleine und große Abenteuer im Alltag zu erleben,
•ein neues Verständnis für Rechtschaffenheit und andere Tugenden zu bekommen,
•eine neue Sicht auf das Leben zu erhalten,
•den eigenen Ängsten in die Augen zu schauen und das Gold darin zu finden,
•Minimalismus zu leben,
•dass ich ungeschminkt am ehesten ich selber bin,
•klarer zu sein, einfacher zu sein, intensiver und glücklicher zu sein.
Dies ist kein weiteres Buch unter dem Motto »So machen Sie Ihr Leben besser« oder »Lebe Deinen Traum«. Dieses Buch kann ein kleiner Anstoß sein, über die Verantwortung für das eigene Leben nachzudenken, sich der eigenen Werte und Möglichkeiten bewusst zu werden und klarer zu werden. Und dieses Buch kann viele Impulse liefern, mit weniger Zuviel mehr Freude und Glück zu erfahren, verwundbarer zu sein und zufriedener zu leben.
In einer Welt, die einerseits jederzeit in wenigen Stunden zerstört sein kann und die zugleich voller Wunder und Schönheit ist, suchen wir Menschen unseren individuellen Weg, um ein sinnvolles Leben zu führen.
Immer unsteter werden die Parameter, an denen wir unsere Definition eines guten Lebens festmachen können, die Welt wandelt sich ständig, und die Zukunft ist ungewiss.
Materielles ist vergänglich, die Aussicht auf eine Rente zu vage, um ein Sicherheitspolster fürs Alter sicherzustellen, da bekommt unser Selbst einen neuen Fokus.
Alles Materielle ist nur auf Lebenszeit geborgt, teilweise sogar auf Pump gekauft. Materielles kann schnell zum Klotz am Bein, zur Unfreiheit und zum Ballast werden. Neue Erfahrungen, kleine und große Abenteuer, neue Einsichten und Erkenntnisse, sich von sich selber überraschen lassen, das lässt uns zum Lebensende hin zufrieden auf das eigene Leben schauen.
Meist geht es doch darum, aus dem, was wir haben, etwas Neues zu kreieren, was uns glücklich macht, was uns erfüllt und was uns später im Rückblick auf unser Leben wissen lässt, dass es gut war. Oft genug gilt es, die Veränderungen, die das Leben fordert, anzunehmen und etwas Neues daraus zu schaffen – wenn nicht sogar die eigene Person neu zu erfinden.
Oder es sogar abenteuerlich, aufregend, erfüllend, spektakulär zu gestalten – und es gilt, noch mehr Aspekte im Auge zu haben, um getrost in dieser sich wandelnden Welt den eigenen Kurs zu bestimmen.
Und das ist nicht immer einfach, denn unsere Weltordnung fordert uns heraus – täglich kommen neue Schreckensmeldungen, die uns erschüttern. Flüchtlinge, die an Spaniens Urlaubsstränden landen, durch Massenvergewaltigung gekennzeichnete Frauen in Afrika, Kinder, die zu Prostitution und Heirat gezwungen werden und auf Müllhalden leben, Konsumwahn auf Kosten anderer. Restaurants werfen Lebensmittel weg, von denen andere Menschen sich tagelang ernähren könnten, und Atomraketen stehen parat, die jeden Moment gestartet werden können. Wie kann das gelingen, mit diesen und anderen Nachrichten zurechtzukommen und dabei das eigene Leben genießen zu können? Geht das überhaupt noch? Ich sage: Ja.
Was für Menschen möchten wir sein? Wie möchten wir uns selber betrachten? Würdevoll oder lieber uns abwendend, weil wir uns selbst nicht gerecht werden? Das sind Fragen, denen ich mich – auch in diesem ganz besonderen Jahr – gestellt habe.
Ich frage mich täglich, was das richtige Maß ist, die Welt der Nachrichten in meine Welt hineinzulassen. Mich erschüttern diese Nachrichten, manches Mal bringen sie mich zum Weinen. Doch dennoch wage ich mich an den Gedanken heran, was ein Mädchen erlebt, das Zwangsheirat durchmacht, oder eine Frau, die eine Vergewaltigung über sich ergehen lassen muss, oder ein Künstler, der unverhofft inhaftiert wird. Ich kann es mir nicht vorstellen, doch ich mag es auch nicht von mir wegschieben – und suche nach einer Lösung. Natürlich kann ich nicht die Welt retten, aber ich weiß, dass ich in meiner kleinen Welt für Verbesserungen sorgen kann. Und täglich bin ich dankbar für die Freiheit und die Möglichkeiten, die ich habe und erleben darf.
Oft genug wissen wir, was gut wäre, um zumindest den Schaden des eigenen Handelns zu reduzieren, doch wir tun es nicht immer – denn die Welt da draußen ist weit weg.
Es gibt schon viele gute Projekte und Ideen, doch reichen sie nicht aus, damit alle Menschen auf diesem Planeten in Sicherheit und Frieden leben können.
Und dennoch – jedes kleine Projekt kann einen Unterschied machen.
Worauf richten wir jedoch den Fokus? Auf die Anti-Faltencremes, die diversen Angebote von Selbstoptimierung und kontinuierlichen Weiterentwicklungsmöglichkeiten der eigenen Persönlichkeit oder eine noch gesündere Ernährungsform oder eine Yoga-App?
Wie mag ein glückliches Leben gelingen? Welche Parameter lassen wir gelten? Gelingt uns da noch eine Ehrlichkeit, uns und anderen gegenüber? Ich vermute, dass das nur noch möglich ist, wenn wir den Blick nicht allzu sehr heben, denn sonst müssten wir unweigerlich vieles unseres Lebensstils in Frage stellen und unser Leben komplett umkrempeln. Doch eine »Ist-mir-egal«-Haltung geht nicht, dass wissen Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ganz genau.
Den Mittelweg finden? Das könnte ein Schlüssel sein. Einen eigenen Weg finden. Nicht nur nach der Leichtigkeit suchen, sondern lernen, auch das Schwere, wie Probleme und Herausforderungen, anzunehmen, um damit in Frieden und Akzeptanz zu sein.
Das Internet ist voller Tipps, wie wir glücklich leben können. Jede Buchhandlung hat Hunderte von Büchern, die uns lehren wollen, wie wir ein positives Leben führen können. Für mich ein Zeichen, dass die Sehnsucht der Menschen danach groß ist.
Doch gehört für mich auch dazu, ehrlich, demütig und rechtschaffen zu leben und den Schwierigkeiten nicht auszuweichen, sondern sie anzunehmen, bevor sie sogar noch schwerer wiegen.
Ein eigenes Bild von sich und dem eigenen Leben zu entwickeln, ist eine starke, wirksame Möglichkeit, auch in dieser sich so schnell wandelnden Welt das Steuerrad in der Hand zu halten.
Und »Aus allem das Beste machen!« ist meine Ergänzung dazu. Auch aus einer vermeintlichen Schwierigkeit zu lernen und reifer herauszugehen – gelöste Probleme, überwältigte Hürden und durchlebte Schicksalsschläge machen unser Leben reicher. Nicht materieller Art, aber sie schenken uns Erfahrungen, die uns reich machen.
»Ändere doch deine Einstellung!« oder »Steig doch einfach aus dem Hamsterrad aus!« sagen die einen, andere werden womöglich krank, bekommen einen Burn-out oder jagen einem optimierten Selbst hinterher. Und es gibt Menschen, die brechen komplett aus, nehmen ihre noch nicht schulpflichtigen Kinder auf eine Weltreise mit dem VW-Bus mit. Andere leben mit ihren zwei Kindern im Fertighaus auf Pump und zwei Autos davor. Es gibt so viele Möglichkeiten, das Leben zu gestalten.
Meine Geschichte ist die Geschichte eines Mittelweges: der liebevollen, humorvollen und verantwortungsvollen Annahme des Schicksals, ohne das Steuerrad aus der Hand zu geben. In einer herausfordernden Situation aktiv zu bleiben, um sie zu nutzen für einen Aufbruch zu einem neuen Ufer, hat etwas mit Lebenskunst zu tun. Das Leben als Kunstwerk zu betrachten, selber darin zu schaffen, zu wirken; Möglichkeiten zu sehen und zu nutzen; Vernünftiges und Unvernünftiges zu tun. Und ein wenig Pfadfinderin sein, denn das Prinzip »Jeden Tag eine gute Tat« habe ich schon mit acht Jahren verstanden. Und nicht zuletzt kleine und große Abenteuer zu erleben, denn das wollen ja nicht nur die Pfadfinder. Viele Menschen lieben Abenteuer, warum also nicht.
Und nun lade ich Sie herzlich ein, mir über die Schulter zu schauen und sich das daraus zu entnehmen, was für Sie Sinn ergibt.
Dieses Jahr war gewiss nicht leicht – aber es war einmalig, aufregend, abenteuerlich, schön und eindrucksvoll, und es hat mein Leben nachhaltig verändert. Vieles betrachte ich seitdem anders, reifer und gelassener. Der Satz »Das geht doch nicht« gehört der Vergangenheit an. Ich weiß nun, dass so vieles mehr möglich ist, als ich jemals dachte.
Das Jahr im Wohnmobil ist jedoch nur der rote Faden, das Raster, in dem ich meine Gedanken einordne. Eine sehr persönliche Zäsur und Erfahrung, die mein Leben tiefgreifend verändert hat.
Kunst und damit auch die Lebenskunst hat mit dem Abschneiden alter Zöpfe zu tun, mit Aufbruch, mit etwas Neuem. Wild sein, frei sein, das sind Begriffe, die den meisten Menschen dazu einfallen. Doch Kunst hat einen Auftrag, sie folgt einer Botschaft, einer Mission, und wenn sie das Aufbrechen selber ist. Und Kunst hat auch etwas damit zu tun, dem Material und dem Objekt eine neue, vorher nicht gekannte Interpretation und einen Ausdruck zu geben.
Intensität. Ein pures, klares Leben oder Lebensgefühl gelingt, wenn wir klarer sind und uns weniger vormachen. Purheit und Reduktion statt Multitasking und Überfluss. Folgen Sie mir mit dem Gedanken, sich weniger vorzumachen – ganz wörtlich betrachtet! Wenn man sich etwas vormacht, nimmt man sich die Sicht – kann also nicht (uneingeschränkt) erkennen, was eigentlich da ist. Der Blick ist verstellt – man sieht die Bäume statt des Waldes. Blicken Sie neu in Ihre Welt. Dieses Jahr im Wohnmobil war eine Art Lebenskunstwerk. Schaffen Sie Ihre eigenen Kunstwerke!
»Gleich setzt sich die Libelle auf mein Knie!« Mit angehaltenem Atem sitze ich an der grünen Böschung des Flusses und hoffe, dass sich eine der vielen blauen Libellen mir nähert. Das tut sie aber nicht, ich bin ihr wohl fremd und ein wenig suspekt. Das ist verständlich – bin ich doch um ein Vielfaches größer als sie. Und dufte sicher anders als dieses für sie so vertraute Biotop.
Sie flattert an diesem milden Sommerabend mit den anderen Libellen am Flussufer entlang, und ich liebe es, ihnen dabei zuzuschauen und die Zeit zu vergessen. Wie gut, dass ich nicht fernsehe, sonst würde vielleicht der »Tatort« diese Idylle unterbrechen. Ich bin glücklich. Alles wirkt geradezu perfekt auf mich. Als säße ich inmitten eines Gemäldes.
Meine kurzen Haare sind trocken gerubbelt, und ich habe mich in das große Handtuch mit dem roten Fischmuster gewickelt, welches ich vor vielen Jahren in Dänemark kaufte.
In einem unbekannten Fluss zu schwimmen, ist für mich ein kleines Abenteuer, die Strömung, die Tiefe und die Beschaffenheit des Wassers sind unklar, und dann gibt es dieses Nicht-von-der-Stelle-Kommen«, wie bei einer Gegenstromanlage, die in manche kleine Swimmingpools eingebaut ist.
Ich beginne zu lachen, denn mir wird bewusst, dass ich eben wirklich gegen den Strom geschwommen bin.
Gleich picknicken wir. N. hat bereits die Tische auf die kleine Wiese gestellt.
Es ist ein Sommersonntag Ende Juni, irgendwo in der Nähe von Regensburg – nur ein kleiner, kaum erkennbarer Fleck auf der Landkarte – aber so etwas wie ein Paradies. Ich spüre mich und auch meine kindliche Freude am Da-Sein – da sein, wo ich bin.
Und wie so oft hat mich meine Intuition diesen Platz finden lassen, ein Platz für die kommenden drei Tage vor dem nächsten öffentlichen Termin.
Dies ist einer der Momente dieses Jahres, von denen ich bereits während des Erlebens weiß, dass ich sie nie vergessen werde. Sie sind einmalig.
Keine palmengesäumten weißen Strände in fernen Ländern, die nur mit dem Flugzeug zu erreichen sind, stattdessen eine kleine grüne Miniwiese an einer kleinen Straße direkt an der Naab. Nicht wirklich ein offizieller Weg, sondern so eine Art Verbindungsweg, der nur den Einheimischen bekannt ist und der viel von Radfahrern genutzt wird. Das Wohnmobil fällt nur ein bisschen auf, vermutlich wird sich keiner daran stören. Freude und Glück auf einem einfachen Weg.
Vor uns liegt ein Abend mit Picknick, Frieden, langen Gesprächen über Gott und die Welt, der Möglichkeit, friedlich zu schweigen, und dem Sternenhimmel über uns.
Nichts Spektakuläres, ganz im Gegenteil. Doch für mich das Paradies.
Es braucht für mich nicht viel, um glücklich zu sein. Sorgfältig speichere ich auch an diesem Abend meine wertvollen Momente des Tages ab. Momente, für die ich dankbar bin, die mich berührt haben, in denen ich etwas gelernt habe, in denen ich jemand anderem etwas Gutes tun konnte, in denen ich ein klein wenig für die Welt tun konnte.
Eisig fegt der Wind über die weite Asphaltfläche, der Schneeregen peitscht von der Seite, das Wohnmobil ruckelt bei jeder Windböe. Von Landschaft oder so keine Spur. Ein grauschwarzer Himmel geht nahtlos in die Düsterkeit über, die über dem dunklen Wasser der Elbe liegt. Ein Wetter, bei dem man keinen Hund hinausschicken würde, sagen die Menschen. Und von genau diesem Wetter trennt uns nur die dünne Kunststoffschicht des Wohnmobils. Der eisige Regen pladdert aufs Dach, hinterlässt ein Rauschen, was ich angesichts der Kälte und Intensität als bedrohlich empfinde. Noch haben wir nicht genug Wasser und noch keinen Strom. Denn wir sind soeben auf diesem Platz angekommen.
N. läuft zur Höchstform auf, sie schafft es noch mit eisigen Fingern und Händen, die 50-Cent-Stücke für den Stromkasten einzuwerfen, das Grauwasser abzulassen und das Stromkabel inklusive Verlängerung an die Außensteckdose anzuschließen. Ohne die Miene zu verziehen, tut sie das einfach. Sie hat meine tiefe Bewunderung, bei dieser unwirtlichen Kälte und Nässe hinauszugehen und diese für uns jetzt hier so elementaren Aufgaben zu erledigen. Andere Menschen verbringen jetzt den zweiten Advent zu Hause auf dem Sofa, schauen in den Kamin und freuen sich an allem, was sie umgibt. Ich hingegen breche fast in Tränen aus. Müde, frierend und enttäuscht sitze ich stattdessen einfach nur noch auf meiner angestammten Seite des Tisches. Eingehüllt in meinen blauen Fleecemantel, den ich im Winter so gerne trage. Unser Plan vom Winterquartier für die kommenden vier bis sechs Wochen hat sich gerade zerschlagen.
Aber wir haben es selber so gewählt – ausprobieren, es zu tun statt es nicht zu machen. Wie viel einfacher wäre es jetzt, mit dem Wohnmobil nach Spanien oder in andere südliche Gefilde zu fahren. Aber nein, das wäre nicht meines. Ich gehe den Weg mit den Steinen, nicht den leichten. Denn aufgeben kann ich immer noch.
N. kommt nass und durchgefroren herein, wir umarmen uns lange, doch dann muss sie sich die Finger wärmen. Wir machen Tee, trinken einen Grappa auf diesen zweiten Advent. Nähe tut gut.
Leben ist Veränderung – in jedem Moment, also auch in diesem.
Wir schauen aus dem Fenster; auf der anderen Elbseite ist oben an der Kirche ein riesiger Weihnachtsbaum aus Lichterketten angebracht. Das ist unser zweiten Advent – doch halt, wir machen auch eine zweite Kerze an. Wir sind allein und haben unsere Ruhe. Frieden in mir, in uns und unserem kleinen Universum. Weit und breit kein Mensch. Sicher ist dieser Platz im Sommer schön, doch jetzt gehen die Windböen peitschend über uns nieder. Gut, dass wir zu zweit sind. Alleine zu sein, scheint mir schwerer zu sein.
Meine Mutter fehlt mir, gestehe ich mir ein. Wahrscheinlich könnte sie gerade nichts verbessern, aber allein der Gedanke, dass sie da wäre, ist tröstlich. Sie lebt aber nicht mehr, ich kann mir ihre Nähe nur in Gedanken herbeizaubern. Und das tut gut.
Da wir Strom haben, hole ich meinen Laptop aus dem Schrankfach und mache Musik. Dies ist ein Ritual, das uns schon oft über schwierige Momente hinweggeholfen hat: Wir tanzen im Wohnmobil. Auch wenn kaum Platz ist, tut es gut, die Musik voll aufzudrehen und zu tanzen. Mindestens eine Viertelstunde lang wählen wir einen Lieblingstitel nach dem anderen aus und tanzen, mal ruhig, mal wild, trotzen dem Wetter draußen und vergessen die Welt um uns herum.
Morgen schlafen wir aus, morgen früh sehen wir weiter, stimmen wir zusammen an, als wir eine Flasche Wein aufmachen und diesen Tag innerlich begraben.
Und während der kleine Elektropüster leise klickt, schlafen wir später ein. Und werden immer wieder wach.
Dieses Wetter in der Nacht zeigt uns wieder einmal unsere Zerbrechlichkeit und Nähe zur Natur und zu den Elementen. Mit beginnendem Hagel wird es noch schlimmer. Laut prasselt er aufs Dach, wir liegen quasi wenige Zentimeter unter den auftreffenden Hagel- und Eiskörnern und hören ihr Hüpfen und Springen. Wetter hautnah – an Schlaf ist nicht zu denken. Denn nur die dünne Kunststoffhaut schützt uns vor den Wettern.
Solch eine Nacht macht müde. Der fehlende Schlaf zieht sich – erfahrungsgemäß – in den nächsten Tag.
Aber Nächte wie diese gehören eben dazu. Sie lassen mich die Kostbarkeit der anderen Nächte noch mehr schätzen.
»Du musst es ihr sagen, sonst ist es unfair!« Mahnend sieht mich meine beste Freundin Christina an.
Ich schüttele den Kopf. »Nein, das macht sie ganz verrückt, wenn ich es ihr jetzt schon erzähle.«
Christina lässt nicht locker. »Barbara, sag es ihr. Du musst mit ihr reden, auch wenn du denkst, sie versteht dich nicht. Sie wird wissen, was du meinst.«
»Christina, ja, lass mal gut sein, ich weiß schon, wie ich das mache.«
Erst auf dem Rückweg nach Hause merke ich, dass mich ihre Worte berührt haben. Wie das Klopfen in einem hohlen Zahn mahnen sie mich. »Christina hat recht«, denke ich. »Es ist an der Zeit, mit ihr zu reden.« Also fasse ich mir gleich noch an diesem frühen Sommerabend ein Herz und stelle mich darauf ein, meiner Katze heute die Wahrheit zu sagen.
Noch bevor ich die Haustür ganz aufmache, streicht Hexe mir schon um die Beine. Sie folgt mir durch den Flur ins Esszimmer, setzt sich erwartungsvoll auf den Tisch und wartet, als ob sie wüsste, dass jetzt etwas kommt. Ihr siebter Sinn eben.
Ich fasse allen Mut zusammen, schaue sie an und beginne zu erzählen: »Hexe, wir reisen bald. Wir packen viele unserer Sachen in ein großes Auto, alles andere wird aussortiert, verstaut, verkauft und verschenkt. Und dann verlassen wir das Haus hier. Für ein paar Monate, vielleicht auch für länger. Auf unbestimmte Zeit eben.«
Meine Katze starrt mich an – ich habe keine Ahnung, was sie denkt. Empfindet sie Abenteuerlust oder eher Wehmut, vielleicht sogar Angst? Dass sie mich versteht, daran habe ich – genauso wie Christina – allerdings nicht den geringsten Zweifel.
Unsere Kommunikation war bisher immer einkanalig. Ich spreche mit Hexe, sie hört zu und antwortet dann in Katzensprache.
Ich selber bin ja innerlich ganz gemischt – weiß ich doch noch nicht, was das alles bedeuten soll. »Vorher weiß man’s nie,« tröste ich mich.
Pünktlich zum Ende des Trainingstages sehe ich das erste Mal das »große Schiff«, unser zukünftiges Zuhause, die Straße entlangfahren. Jetzt ist es genug – meine Geduld hat ihre Aufgabe ausreichend erfüllt. Als wäre ich über Stunden festgehalten gewesen, laufe ich aus dem Seminarraum auf den Hofplatz vor dem Hotel. Lachend und stolz zugleich sehe ich N. am Steuer des neuen Wohnmobils sitzen, sehe, wie sie auf mich zufährt.
Was für ein besonderer, aufregender Moment.
Alle sind plötzlich da, die Teilnehmer, meine Trainerkollegin für diese Woche und auch die Mitarbeiter der Hotelrezeption, die schon eingeweiht waren. Da stehen wir nun und betrachten mein neues, rollendes Zuhause.
Wir holen Sekt, ich ergreife noch mein neues Buch, welches heute auch mit der Post vom Verlag kam, und dann wird alles zusammen begutachtet, betrachtet, angeschaut und mit Sekt begossen – das neue Buch und die neue Heimat! Doppelte Freude.
Das Ende des Trainingstages verlegen wir alle gemeinsam in das Wohnmobil. Es wird schnell eng, die Teilnehmer dieser Seminarwoche kommen aus aller Herren Länder, und alle wollen dabei sein. Die Männer interessieren sich vorzugsweise für die Technik an Bord – Motor, Pumpen, Dusche etc. N. gibt eine Führung, Badezimmer, Küche und Gepäckraum. Alle berichten von ihren Assoziationen, zwischendrin lese ich etwas aus dem Buch vor, mit einfachen Worten übersetze ich ins Englische, unsere gemeinsame Sprache. Wie einfach es uns allen miteinander gelingt, diese Zeit so intensiv zu erleben. Jeder bringt etwas mit und trägt dazu bei:
»Das ist aber wirklich eng!«
»Aufregend, das möchte ich auch – einfach weg!«
»Wow, so viel Platz für dein Trainingsmaterial!«
»Und wo schläft die Katze?«
»Die Dusche ist doch super.«
»Ich würde am liebsten mitkommen.«
»Kommt ihr bei uns vorbei?«
Ein wunderbarer Abend, der sich in mein Erinnerungsalbum des Lebens tief eingräbt. Mich berührt es, wie leicht es ist, die Menschen so nah in mein Leben zu lassen – da brauche ich nichts vorzumachen. Es entsteht schnell Nähe im Miteinander, was ich mag.
Danach nehmen N. und ich uns einen Moment Zeit. Das Wohnmobil steht mittlerweile an der Straße vor dem Hotel, wir setzen uns daneben und schreiben all die Wünsche auf, die wir uns damit erfüllen möchten. Ein DIN-A-3-Blatt voller Wünsche und Träume. Und dann taufen wir das Wohnmobil auf den Namen Maggy. Maggy – der zweite Vorname meiner Tochter ist Margarete, wie der zweite Vorname meiner Mutter. Und somit wird dieser Name, der die Bedeutung Perle hat, noch einmal weitergeführt. Eine zweite Flasche muss an diesem Tag herhalten, aber der meiste Sekt läuft eh über die Fronthaube.
Ich löse meinen Haushalt auf, verabschiede mich von zahllosen Dingen. Nicht einfach, aber es hilft mir, Dinge an Menschen zu geben, die ich mag. So habe ich das Gefühl, sie können dort gut weiterleben.