Für Ann Hallenberg
The law condemns, but love will spare.
Das Gesetz verurteilt, die Liebe verschont.
Georg Friedrich Händel, Esther
Da er eine Verabredung mit seinem Vorgesetzten hatte, war Brunetti pünktlich von zu Hause aufgebrochen, saß nun im Heck des Vaporetto Nummer eins und blätterte müßig im Gazzettino.
Sie fuhren gerade, wie er auch ohne hinzusehen wusste, von der Station Salute nach Vallaresso hinüber, da schaltete der Motor plötzlich in den Rückwärtsgang. Brunettis venezianischer Orientierungssinn sagte ihm, dass sie noch weit vom linken Kanalufer entfernt waren, das Geräusch kam also zu früh: Musste der Kapitän einem Hindernis ausweichen?
Brunetti ließ die Zeitung sinken, richtete den Blick nach vorn und sah – nichts. Eine Nebelbank versperrte ihm die Sicht. Er traute seinen Augen kaum, war der Himmel doch ganz klar gewesen, als er vor zwanzig Minuten aus dem Haus kam. Während ihn die jüngste Verzögerung beim Bau des MOSE-Hochwasserschutzprojekts beschäftigte – geplant und unterschlagen wurde nun schon dreißig Jahre –, war vor dem Vaporetto ein dicker grauer Vorhang heruntergegangen.
Es war November, seit einer Woche kühl und mit Nebel daher durchaus zu rechnen. Brunetti sah zu seinem Nachbarn hinüber, aber der war so sehr in sein Smartphone vertieft, dass er nicht einmal mitbekommen hätte, wenn Engel vom Himmel herabgestiegen und in geschlossener Formation neben dem Boot hergeflogen wären.
Wenige Meter vor der grauen Wand kam das Boot zum Stehen, der Motor tuckerte im Leerlauf. Eine Frau hinter dem Commissario flüsterte »Oddio«, nicht ängstlich, nur überrascht. Das Hotel Europa und der Palazzo Treves waren noch zu erkennen, von Ca’ Giustinian fehlte jede Spur hinter dem dichten Nebel auf dem Canal Grande.
Der Mann neben ihm blickte von seinem Handy auf, dann stur geradeaus, dann wieder auf das Display. Brunetti faltete die Zeitung zusammen und schaute zum Bug. Durch die hintere Tür und die Fenster sah er Boote entgegenkommen, andere fuhren Richtung Rialto-Brücke. An der Accademia legte eine Nummer zwei ab, hielt auf ihr Vaporetto zu, stoppte aber noch rechtzeitig.
Darauf umkurvte ein Taxi hupend die stehende Nummer zwei, um geradewegs auf ihr Vaporetto zuzurasen. Der Bootsführer sprach mit der Blondine hinter sich, als sich der Mund der Frau zu einem Schrei öffnete. Schnell schaute der Fahrer nach vorn, riss geistesgegenwärtig das Steuer herum und jagte vor Brunettis Vaporetto mitten hinein in die Nebelwand.
Brunetti zwängte sich an seinem Nebenmann vorbei und eilte an Deck, um zu hören, ob es weiter vorne krachte, doch nur das leiser werdende Geräusch des Taxis verebbte in der Ferne. Ihr eigener Motor wurde lauter, und das Boot setzte sich langsam in Bewegung. Brunetti konnte nicht erkennen, ob das Radar auf dem Dach der Kajüte sich drehte, aber ohne Radar würden sie sich jetzt doch wohl nicht auch nur einen Zentimeter in diesen Nebel hineinwagen?
Plötzlich, wie von Zauberhand, schwang der graue Vorhang beiseite, und sie glitten ins helle Sonnenlicht. Der Matrose lehnte vollkommen entspannt am Fenster der Führerkabine, der Kapitän blickte gelassen geradeaus, und die versammelten Palazzi glitten still vorüber, während das Vaporetto auf die Haltestelle Vallaresso zuhielt.
Hinter Brunetti ging die Tür auf, und die Passagiere drängten zum Ausgang. Das Boot legte an, der Matrose schob das eiserne Geländer zur Seite, Leute stiegen aus und ein, der Durchlass schloss sich wieder, und sie legten wieder ab. Auch Richtung Accademia vom Nebel keine Spur. Boote fuhren hin und her: Vor ihnen lag das bacino, zur Linken standen die Basilica, die Marciana und der Dogenpalast unverrückbar an ihren Plätzen, und die Morgensonne vertrieb die letzten Schatten der Nacht.
Brunetti schaute in die Kabine und fragte sich, ob es für das, was er gesehen hatte, Augenzeugen gab, wusste aber nicht mehr, wer von den Anwesenden schon an Bord gewesen war. Er hätte sie gerne ausgefragt, konnte sich jedoch vorstellen, was für ein Gesicht sie machen würden, und ließ es lieber sein.
Mit der Hand strich er über das Geländer, doch das war genauso trocken wie das Deck. In seinem dunkelblauen Anzug wärmte ihm die Sonne die rechte Schulter, ja sie brannte geradezu; die Luft war frisch und trocken, der Himmel wolkenlos.
Bei San Zaccaria stieg er aus; die Zeitung ließ er ebenso zurück wie die Hoffnung, einen Zeugen jenes Nebelspuks zu finden. Er ging langsam die riva entlang, verscheuchte den Spuk aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das, was ihn in der Questura erwartete.
Gestern Nachmittag hatte ihn sein Vorgesetzter, Vice-Questore Giuseppe Patta, für heute früh zu einer Unterredung bestellt. Genaueres stand nicht in der Mail, das war normal; nicht normal war Pattas höfliche Ausdrucksweise.
Im Grunde benahm sich Vice-Questore Patta wie der typische Karrierist in Staatsdiensten. Er gab sich geschäftiger, als er war; er beanspruchte jedes Lob für sich, und er besaß einen schwarzen Gürtel in der Kunst, Schuld oder die Verantwortung für Misserfolge auf andere Schultern abzuwälzen. Einzig, dass er jahrzehntelang am selben Ort geblieben war, mochte verwundern. Die meisten Männer seines Rangs bewegten sich bei ihrem Aufstieg im Zickzack von einer Provinz und einer Stadt zur nächsten, bis sie am Ende nach Rom befördert wurden, wo sie wie Klumpen in der Dickmilch hockten und allen unter sich Licht und Luft und jede Chance auf Gedeihen wegnahmen.
Patta war wie ein kambrischer Trilobit in der Questura von Venedig versteinert und längst zu einem lebenden Fossil geworden. Neben ihm, in derselben Gesteinsschicht, ruhte sein Assistent, Tenente Scarpa, der ebenfalls aus Palermo stammte und in diesen neuen Jagdgründen heimisch geworden war. Commissari kamen und gingen, drei verschiedene Questori hatten während Pattas Zeit in Venedig das Zepter geschwungen, sogar die Computer waren zweimal durch neue ersetzt worden. Patta aber blieb – eine Napfschnecke, die sich an ihren Felsen so festgesaugt hatte, dass die Fluten ihr nichts anhaben konnten –, den treuen Tenente immer an seiner Seite.
Und doch hatten weder Patta noch Scarpa sich je für Venedig erwärmt. Wenn jemand sagte, die Serenissima sei schön – oder sich gar zu der Bemerkung verstieg, es sei die schönste Stadt der Welt –, tauschten Scarpa und Patta vielsagende Blicke. Ja, schienen sie zu denken, aber haben Sie schon einmal Palermo gesehen?
Pattas Sekretärin, Signorina Elettra Zorzi, begrüßte Brunetti im Vorzimmer. »Ah, Commissario«, sagte sie. »Eben hat der Vice-Questore angerufen und mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass er sich um ein paar Minuten verspäten wird.«
Hätte sich Vlad der Pfähler für die Stumpfheit seiner Pflöcke entschuldigt, wäre dies kaum verblüffender gewesen. »Stimmt was nicht mit ihm?«, fragte Brunetti unwillkürlich.
Signorina Elettra neigte grübelnd den Kopf zur Seite, ein Lächeln erschien auf ihren Lippen und verschwand wieder. »Er hat in letzter Zeit viel mit seiner Frau telefoniert«, sagte sie. »Schwer zu beurteilen: Er antwortet ihr immer nur sehr einsilbig.« Irgendwie war es Signorina Elettra gelungen, eine Art Abhörgerät im Büro ihres Vorgesetzten zu installieren, aber Brunetti tat lieber so, als wisse er nichts davon.
»Wenn er mit Scarpa redet, stellen die beiden sich immer ans Fenster.« Dann wusste Patta also von der Wanze auf seinem Schreibtisch? Oder zog sich der Vice-Questore zu geflüsterten Unterredungen mit seinem Assistenten aus gesundem Misstrauen ans Fenster zurück? Oder gefiel ihnen einfach nur die Aussicht?
»Was hat er bloß?«, fragte Brunetti. Ihre Bluse war so dunkel wie Rote Bete, mit weißen Knöpfen vorne und an den Ärmeln, und umschmeichelte ihre Schultern wie Seide.
Signorina Elettra legte die gespreizten Finger beider Hände vor sich hin. »Ich habe keine Ahnung.« Brunetti spürte ihre Ratlosigkeit. Doch wer, wenn nicht sie, konnte wissen, was mit Patta los war? Ohne aufzublicken, fuhr sie fort: »Er wirkt nicht gereizt, wenn er mit seiner Frau spricht. Er hört ihr zu und sagt, sie soll tun, was sie für richtig hält.«
»Und bei Scarpa?«
»Bei ihm schon.« Und nach kurzem Nachdenken: »Offenbar gefällt ihm nicht, was Scarpa ihm zu melden hat. Er fällt ihm ins Wort. Einmal hat er ihn regelrecht angefahren, er soll ihn endlich in Ruhe lassen«, erzählte sie und vergaß dabei ganz, wie unwahrscheinlich es war, dass sie dergleichen durch die geschlossene Tür hören konnte.
»Ärger im Paradies«, meinte Brunetti trocken.
»Sieht ganz so aus. Möchten Sie in seinem Büro auf ihn warten, oder soll ich Sie anrufen, wenn er kommt?«
»Ich warte oben.« Er konnte sich eine letzte Bemerkung nicht verkneifen: »Der Vice-Questore soll schließlich nicht auf die Idee kommen, ich könnte seinen Schreibtisch durchwühlen.«
»Was Sie nicht sagen«, ertönte eine tiefe Stimme auf der Schwelle.
»Ah, Tenente«, säuselte Brunetti und drehte sich lächelnd zu dem Mann am Türpfosten um. »Wieder einmal sprechen wir wie mit einer Zunge, wenn es um das Wohl des Vice-Questore geht.«
»Soll das ironisch sein? Oder eher sarkastisch, Commissario?«, fragte Scarpa. »Diejenigen unter uns, die nicht studiert haben, kennen den Unterschied nicht so genau.«
Brunetti machte ein nachdenkliches Gesicht: »In diesem Fall, würde ich sagen, ist es lediglich eine Hyperbel, Tenente, wobei die offenkundige Übertreibung dazu dient, die gesamte Aussage als falsch und unglaubwürdig zu entlarven.« Und da Scarpa nichts entgegnete: »Es handelt sich um ein rhetorisches Stilmittel, das eine komische Wirkung erzielen soll.« Scarpa schwieg weiterhin, und Brunetti fuhr lächelnd fort: »In der Philosophie – mit der wir uns an der Universität beschäftigt haben – spricht man von einem ›argumentum ad absurdum‹.« Die Bemerkung, dass dieser Kunstgriff sich im Umgang mit dem Vice-Questore geradezu aufdrängte, verkniff er sich lieber.
»Das soll also komisch sein?«, fragte Scarpa schließlich.
»Ganz recht, Tenente. Die Vorstellung, ich könnte das Vertrauen des Vice-Questore missbrauchen, ist derart absurd, dass der leiseste Gedanke daran nur Heiterkeit hervorrufen kann.« Brunetti grinste so breit, als habe sein Arzt ihn gebeten, ihm die Vorderzähne zu zeigen.
Scarpa stieß sich mit der linken Schulter vom Türpfosten ab und richtete sich zu seiner ganzen Größe auf. Sein laxes Getue war schlagartig vergessen. Wie bei jenen Schlangen, die Brunetti einmal im Fernsehen gesehen hatte: Solange man sie nicht behelligte, lagen sie eingerollt da, wie tot; doch beim geringsten Anlass schnellten sie hoch wie eine Peitsche und vergrößerten so ihren Aktionsradius für Angriff oder Verteidigung.
Noch breiter lächelnd als zuvor, wandte Brunetti sich an Signorina Elettra: »Ich bin in meinem Büro. Rufen Sie mich doch bitte an, wenn der Vice-Questore eintrifft.«
»Selbstverständlich, Signor Commissario«, sagte Signorina Elettra und dann, an Scarpa gewandt: »Was kann ich für Sie tun, Tenente?«
Brunetti ging zur Tür. Scarpa, der ihm im Weg stand, rührte sich nicht. Die Zeit blieb stehen. Signorina Elettra senkte den Blick.
Schließlich ging der Tenente auf Signorina Elettras Schreibtisch zu, und Brunetti verließ das Büro.
Auf seinem Schreibtisch fand Brunetti, was er lieber nicht gefunden hätte: eine Akte, die seit ihrem ersten Auftauchen in der Questura immer weiter angeschwollen war. Das letzte Mal hatte er sie vor etwa zwei Monaten gesehen, als sie eine Woche in seinem Eingangskorb gelegen hatte und einfach nicht von selbst verschwinden wollte – wie ein ungebetener Gast, der zu viel trinkt, beim Essen schweigt und immer noch da ist, wenn alle anderen Gäste längst gegangen sind. Brunetti hatte die Akte nicht angefordert, sie betraf ihn nicht weiter, und jetzt fiel ihm nichts ein, wie er sie loswerden könnte.
Die dunkelgrüne Mappe versammelte Gesetzesverstöße im Zusammenhang mit Autos: Raserei, Fahrerflucht, Beschädigung von Radarfallen, Alkohol im Straßenverkehr, Telefonieren oder, viel gefährlicher, Simsen am Steuer. Mit Vergehen dieser Art hatte die Questura in einer Stadt ohne Autos eher selten zu tun.
Die Mappe enthielt jedoch auch Fälle, in denen es um illegale Beschaffung von Dokumenten ging: Fahrzeugbriefe, Versicherungsnachweise, Führerscheine, Fahrprüfungsergebnisse. Selbst wenn für diese Dokumente die Zentrale in Mestre zuständig war, wurde jeder Versuch, sie illegal zu erwerben, wie überhaupt jede Straftat, die in den eng verbundenen Kommunen begangen wurde, auch der Polizei in Venedig gemeldet.
Zurzeit füllte ein Vorfall auf dem Festland die Spalten der Presse. Schon seit dem ersten Bericht, den er darüber gelesen hatte, konnte Brunetti die unerschöpfliche Kreativität seiner Mitmenschen nur bewundern. Aufgeflogen war das Ganze im Krankenhaus von Mestre, wo sich innerhalb von zwei Tagen fünf Männer in der Notaufnahme meldeten, alle mit winzigen Funkempfängern in den Ohren, die ihnen so tief eingepflanzt worden waren, dass sie sie selbst nicht mehr herausbekamen. Die Ärzte entdeckten dann bei allen außerdem am Bauch befestigte Sender und an der Brust Minikameras, deren Objektive durch die Knopflöcher spähten.
Da vier dieser Männer Pakistani waren und nur ein paar Brocken Italienisch sprachen, wurde zunächst ein Dolmetscher und schließlich die Polizei hinzugezogen. Wie sich herausstellte, waren sie alle bei derselben Fahrschule in Mestre mehrmals durch die mündliche Prüfung gefallen, weil sie die Bedeutung einiger Straßenschilder nicht kannten. Daher, so fand die Polizei bald heraus, hatten Mitarbeiter der Fahrschule ihnen die Sender und Empfänger verpasst. Während der Prüfung übertrugen die Knopflochkameras die abgefragten Verkehrszeichen an außerhalb sitzende Helfer, die den Kandidaten wiederum die Lösungen zuflüsterten. Und schon hatten sie ihren Führerschein.
Der Service kostete zwei- bis dreitausend Euro und verhalf, bis man dahinterkam, Hunderten unqualifizierter Fahrer ans Steuer nicht nur von Autos, sondern auch von Lastwagen und Sattelzügen.
Da es weit und breit niemanden gab, der die Akte nicht bereits abgehakt hatte, behielt Brunetti die Mappe einfach auf seinem Schreibtisch – vielleicht würde sich ja von der Standspur aus eine Ausfahrt auftun?
Oder sollte die Akte Brunetti nur daran erinnern, wie clever die Menschen waren, zumindest wenn es darum ging, an Geld zu kommen?
Sein Telefon klingelte. »Der Vice-Questore ist eingetroffen, Commissario«, erklärte Signorina Elettra mit der Stimme, die sie benutzte, wenn Patta in der Nähe war.
»Ich komme sofort«, antwortete Brunetti und machte sich auf den Weg.
Patta, herbstlich gebräunt, stand vor Signorina Elettras Schreibtisch und besprach mit ihr die Termine für den Nachmittag. Heute trug er einen dunkelgrauen Anzug, den Brunetti noch nicht kannte. Während er wartete, besah er sich den Anzug genauer. Wie vorteilhaft das Jackett mit der aufspringenden Falte für Pattas massige Schultern war. Sein Blick wanderte zu den Knopflöchern an den Ärmeln. Ja, sie waren zweifelsohne handgenäht.
Auch Pattas schwarze Schuhe waren offensichtlich maßgefertigt, die winzigen Zierlöcher an den Schuhspitzen unterstrichen die Weichheit des Leders. Und dann noch die feinen Quasten. Brunetti wagte sich kaum einzugestehen, wie sehr er ihn um diese Schuhe beneidete.
»Ah, guten Morgen, Commissario«, sagte Patta liebenswürdig. »Kommen Sie doch bitte in mein Büro.« Pattas Aussprache passte sich stets der Stellung seiner Gesprächspartner an, wie Brunetti im Lauf der Jahre herausgefunden hatte. Mit dem Questore sprach Patta in lupenreinem Italienisch, toskanischer als jeder Toskaner. Ebenso mit Signorina Elettra. Ein weniger bedeutendes Gegenüber bekam seinen palermitanischen Akzent hingegen deutlich zu spüren. Seltsame Buchstaben schlichen sich ein; weibliche Substantive endeten plötzlich auf »i«, »ll« wurde zu »dd«, aus der »Madonna« wurde eine »Maronna«, und »bello« wurde zu »beddu«. Gelegentlich tauchte am Wortanfang ein »i« unter, nur um beim Anblick einer Person von höherem Rang wieder an seinen Platz zu hechten. Durch das reine Italienisch, mit dem Patta ihn begrüßt hatte, fühlte Brunetti sich ein paar Sprossen nach oben befördert – freilich nur vorübergehend, wie ihn sein gesunder Menschenverstand warnte.
Patta schritt voran und überließ es Brunetti, die Tür hinter ihnen zu schließen. Der Vice-Questore ging auf seinen Schreibtisch zu, drehte jedoch wieder ab und nahm auf einem der Stühle vor dem Schreibtisch Platz; Brunetti durfte sich neben ihn setzen.
»Ich möchte offen mit Ihnen sprechen, Commissario«, begann Patta. Brunetti fragte tunlichst nicht, wie er denn sonst mit ihm sprach, nickte nur und machte ein freundlich interessiertes Gesicht. Immerhin hielt Patta sich nicht mit Vorgeplänkel auf.
»Es geht um eine undichte Stelle«, sagte Patta.
»Undichte Stelle?«, fragte Brunetti und schaute lieber nicht zur Decke hinauf.
»In der Questura«, fuhr Patta fort.
Ah, das war es also, aber was genau?, fragte sich Brunetti. Weder im Gazzettino noch in La Nuova di Venezia war in letzter Zeit etwas Unliebsames erschienen. Folglich hatte er keine Ahnung, was aus der Questura nach außen gedrungen sein könnte.
Unsicher, wie er auf Pattas Bemerkung reagieren sollte, konzentrierte Brunetti sich erneut auf die handgenähten Knopflöcher seines Vorgesetzten. Wenn man Augen für Schönheit hat, ist sie immer ein Trost.
»Was ist, Commissario?«, fragte Patta, jetzt wieder in gewohnt schroffem Ton.
Unumwunden antwortete Brunetti: »Die Knopflöcher an Ihrem Jackett, Signore.«
Alarmiert winkelte Patta den Arm an und fixierte die Manschette, als fürchte er, Brunetti wolle ihm die Knöpfe stehlen. Schließlich fragte er: »Ja?«
Brunetti strahlte. »Ich bewundere sie, Vice-Questore.«
»Die Knopflöcher?«
»Ja.«
»Sie erkennen den Unterschied?«
»Der springt doch ins Auge«, sagte Brunetti. »Handarbeit solcher Qualität ist die reine Augenweide. Ähnlich wie die Crema auf dem Kaffee: Man schenkt ihr weiter keine Beachtung, doch wenn, dann mundet der Kaffee desto besser.«
Pattas Züge entspannten sich. Brunetti hatte das eigenartige Gefühl, der Vice-Questore sei erleichtert, in feindlicher Umgebung plötzlich einen Freund entdeckt zu haben.
»Ich habe in Mogliano einen Schneider entdeckt«, vertraute Patta ihm an. »Wenn Sie möchten, gebe ich Ihnen die Adresse.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Patta zupfte seine Manschetten zurecht und lehnte sich zurück.
Es war das erste persönliche Gespräch, merkte Brunetti, das sie je miteinander geführt hatten – zwei Männer, die sich von gleich zu gleich unterhielten: über Knopflöcher!
»Die undichte Stelle, Signore: Könnten Sie mir Genaueres dazu sagen?«
»Ich wollte Sie sprechen, Brunetti, weil Sie mit den Leuten hier Kontakt haben«, sagte Patta. Und schon war er wieder der Alte, der das Innenleben der Questura wie einen Geheimkult behandelte.
Brunetti machte eine vage Handbewegung, die das dunkle Geheimnis ebenso gut abtun wie aus der wüsten Tiefe hervorholen mochte.
»Die Leute nehmen Ihnen gegenüber kein Blatt vor den Mund«, sagte Patta – eine Behauptung, die Brunetti erleichtert aufatmen ließ: Die alten Fronten waren wiederhergestellt. Er dämpfte seine aufkeimende Sympathie für Patta und rief sich zur Vernunft.
»Was glauben Sie denn, worüber die Leute reden, Vice-Questore?«
Patta räusperte sich kaum vernehmlich. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, manche hier äußerten Unmut über Tenente Scarpa«, sagte er und schaffte es gerade noch, nicht entrüstet zu klingen. Ruhiger, als hielte er das für weniger wichtig, fügte er hinzu: »Und außerdem ist offenbar der Name einer zur Vernehmung vorgeladenen Person an die Öffentlichkeit gedrungen.«
Was Scarpa anbelangte, ermahnte sich Brunetti zur Vorsicht. Er verachtete den Tenente, misstraute ihm und gab sich kaum Mühe, dies zu verbergen, doch Patta schien dafür so blind zu sein wie für manches andere in der Questura. Am besten Überraschung zeigen – Empörung wäre zu viel. Vielleicht eine Prise Neugier? Doch was hatte es mit der undichten Stelle auf sich?
»Können Sie mir sagen, woher Sie diese Informationen haben, Signore?«
»Beides wurde mir vom Tenente selbst berichtet«, antwortete Patta.
»Hat der Tenente seine Quelle genannt?«
Patta meinte zögernd: »Er sagt, er habe es von einem seiner Informanten.«
Brunetti ließ sich mit der Antwort viel Zeit, betastete mit der Linken nachdenklich seine Unterlippe und bemerkte schließlich: »Ich finde es merkwürdig, dass ein Informant etwas über die Questura erfahren haben soll, wovon hier niemand etwas weiß.« Dann schlug er vor: »Sie könnten Signorina Elettra fragen.«
»Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen«, sagte Patta schnell.
Brunetti nickte verständnisvoll: Wozu Signorina Elettra unnötig beunruhigen? »Kann man diesem Informanten Glauben schenken?«, fragte er.
»Woher soll ich das wissen?«, fuhr Patta auf. »Ich gebe mich nicht mit Informanten ab.«
Brunettis Überlebensinstinkt mahnte ihn zur Zurückhaltung. Er hob beschwichtigend die Hand und nickte zustimmend. »Jemand könnte dieses Gerücht erfunden haben, um Unfrieden zwischen dem Tenente und seinen Kollegen zu stiften. Schließlich hat der Tenente einen gewissen Ruf bei seinen Mitarbeitern.« Während Patta sich über den genauen Sinn dieser Bemerkung den Kopf zerbrach, fügte Brunetti hinzu: »Ich würde das mit größter Vorsicht behandeln, Signore. Wenn Sie mich fragen.«
War Patta bei diesen Worten leicht zusammengezuckt? Brunetti wartete höflich, ob noch etwas kam, dann erhob er sich. »Wenn weiter nichts ist, Vice-Questore, gehe ich jetzt in mein Büro.«
Brunetti schloss die Tür hinter sich und sah erwartungsvoll zu Signorina Elettra, von der er sich genauere Auskünfte erhoffte. Zu seiner Überraschung stand Vianello neben ihr vor dem Computer. »Ah, verstehe«, sagte der Ispettore ehrfürchtig. »So einfach ist das.« Er nickte anerkennend und trat einen Schritt beiseite. »Ich habe es zweimal versucht, doch darauf wäre ich nie gekommen.«
Signorina Elettra drehte sich zu Brunetti um und hob fragend die Brauen. Der schüttelte lächelnd den Kopf. »Was es nicht alles gibt.« Als er ihrer Aufmerksamkeit sicher war, fuhr er fort: »Dottor Patta hegt den Verdacht, in der Questura sei eine undichte Stelle.« Er ließ Vianello dabei nicht aus den Augen. Doch der reagierte nicht. »Vielleicht hat der Vice-Questore zu viele Agentenfilme gesehen. Oder der Tenente. Der hat es ihm nämlich geflüstert.«
Signorina Elettra, die sich wieder ihrem Computer zugewandt hatte, rief den Gazzettino auf, warf Brunetti nur einen kurzen Blick zu und vertiefte sich in die Titelseite. Brunetti fragte sich, warum sie so unbeteiligt tat: Für Klatsch und Tratsch war sie doch sonst immer zu haben. Oder verging ihr das, sowie Scarpa im Spiel war?
Vianello stöhnte genervt auf. »Als ob es ein Geheimnis wäre, was wir hier machen.«
Den Blick unverwandt auf den Bildschirm gerichtet, fragte Signorina Elettra beiläufig: »Hat er gesagt, was hier durchgesickert sein soll?«
Brunetti sah zu Pattas Tür und machte eine abwiegelnde Handbewegung. »Nur die Andeutung, Tenente Scarpa sei wohl nicht der Beliebteste hier.« Auf die undichte Stelle ging er nicht näher ein.
Beim Stichwort Scarpa drehte sich Signorina Elettra zu Brunetti um. »Eine abwegige Vorstellung«, bemerkte sie mit einem Lächeln.
»Genau das habe ich dem Vice-Questore gesagt«, bekräftigte Brunetti.
»Haben wir nichts Besseres zu tun, müssen wir uns wirklich mit dem Tenente und seinen Phantomleaks abgeben?«, fragte Vianello.
Brunetti wollte schon gehen, aber seine Neugier hielt ihn zurück. »Was habt ihr da am Computer gemacht, als ich reinkam?«, fragte er.
Vianello und Signorina Elettra tauschten einen Blick, und der Ispettore sagte: »Nur zu. Erzählen Sie es ihm. Ich verkrafte das. Ich bin ein Mann.«
»Es ging um eine Hausaufgabe seines Sohns«, sagte Signorina Elettra.
»Luca macht einen Fortgeschrittenenkurs in Computertechnik«, erklärte Vianello. »Der Lehrer hat ihnen eine Aufgabe gestellt, und Luca kam damit nicht zurecht, also wollte ich es heute mal selbst versuchen, weil wir hier doch viel bessere Programme haben. Ich dachte, vielleicht komme ich auf die Lösung.«
»Und?«, fragte Brunetti, obwohl er die Antwort ahnte.
»Ich habe es nicht geschafft«, sagte Vianello achselzuckend.
Signorina Elettra schaltete sich ein. »Auch ich habe lange geknobelt. Hat Luca es denn inzwischen herausbekommen?«
»Ich habe ihn beim Frühstück danach gefragt. Er sagt, nachts ist ihm eine Erleuchtung gekommen, und da ist er aufgestanden und hat so lange probiert, bis er es raus hatte.« Vianello seufzte lächelnd.
»Hat er dieselbe Lösung wie wir?«, fragte Signorina Elettra. Brunetti rechnete ihr die Freundlichkeit dieses »wir« hoch an.
»Weiß ich nicht«, sagte Vianello. »Er hatte es eilig. Er versprach, es mir beim Abendessen zu erzählen.«
Sie wurden in ihrem Gespräch von Alvise unterbrochen, der auf der Schwelle erschien: »Oh, da sind Sie ja, Commissario.« Er salutierte eilig, fuhr sich mit der Hand ans Herz und lehnte sich keuchend an den Türpfosten, als sei er die Treppe hinaufgerannt. Alvise war der Kleinste in der Questura: Ob die Stufen für ihn höher waren?
»Unten ist eine Frau, die Sie sprechen will, Commissario«, brachte er mühsam heraus.
»Wäre es nicht einfacher gewesen, mich anzurufen, Alvise?«, meinte Brunetti.
Alvises Miene erstarrte, er ließ die Hand vom Herzen sinken und hörte auf zu keuchen. Da stand er im Rampenlicht der praktischen Vernunft und brauchte einige Sekunden, ehe er stammeln konnte: »Selbstverständlich, Dottore. Aber die Signora sollte sehen, dass ich weiß, es handelt sich um etwas Wichtiges.«
»Dann gehen Sie, und bringen Sie die Frau bitte in mein Büro«, war alles, was Brunetti zu erwidern vermochte. Alvise, der nun wieder keuchte und nur noch ein Nicken zustande brachte, stolperte rückwärts auf den Flur hinaus und verschwand.
Die drei schwiegen, bis Alvises Schritte verklungen waren. »Warum sind Sie immer so geduldig mit ihm, Signore?«, fragte Signorina Elettra.
Brunetti sah erstaunt auf: Er hatte noch nie darüber nachgedacht. »Weil er es braucht«, sagte er schließlich.
»Ah«, machte Signorina Elettra vielsagend.
»Ich bin in meinem Büro«, fügte der Commissario noch hinzu.
Oben angekommen, stand er eine Weile am Fenster und betrachtete das Weinlaub an der Villa auf der anderen Seite des Kanals. Ab und zu rissen Windstöße ein paar Blätter los, die von den Fluten davongetragen wurden. Ach, wie die Dichter doch dieses Bild der Vergänglichkeit liebten.
Er hörte Schritte, drehte sich um und sah Alvise in der Tür, gefolgt von einer Frau, die mindestens zehn Zentimeter größer war. »Commissario«, sagte der kleine Polizist, salutierte zackig und trat zur Seite, »das ist Signora Crosera. Sie möchte mit Ihnen sprechen.«
Die Frau war keine Unbekannte, auch wenn Brunetti sich nicht gleich erinnern konnte, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Dann fiel es ihm ein: Sie lehrte an der Universität, zwar nicht an derselben Fakultät wie Paola, aber die beiden kannten sich, und Paola hielt große Stücke auf sie. Vor Jahren hatte sie ihn ihr vorgestellt, und dann waren sie sich – in Venedig nicht ungewöhnlich – immer wieder mal in der Stadt begegnet; die Professoressa oft in Begleitung eines großen Mannes, dessen Haar zwar grau, aber – anders als auf Brunettis sich lichtendem Hinterkopf – beneidenswert dicht und kräftig war.
»Ah, Professoressa Crosera«, sagte Brunetti, während er ihr die Hand gab und hoffte, er höre sich an, als habe er sie sofort erkannt. Fast so groß wie er, hatte die Signora schulterlanges, dunkelbraunes Haar und ebenso dunkle Augen. Ihre Lippen waren voll: Sie versuchte zu lächeln, schaffte es aber nur, die Mundwinkel ein wenig nach oben zu ziehen.
»Kommen Sie herein, nehmen Sie Platz.« Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, und postierte sich dann hinter seinem Schreibtisch, um klarzumachen, dass sie nicht mit dem Mann einer Kollegin plauderte, sondern ihn als Polizisten aufgesucht hatte.
Ihr Blick huschte im Zimmer umher, während sie, die Knie zusammengepresst, auf der Stuhlkante Platz nahm. Sie trug schwarze Hosen und eine dunkelgrüne Jacke und schien in letzter Zeit nicht viel geschlafen zu haben. Ihre Handtasche stellte sie neben dem Stuhl ab, und als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie sich etwas gefasst.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Professoressa?«, fragte Brunetti ruhig, als sei es das Normalste der Welt, dass eine Universitätsprofessorin nervös vor einem commissario di polizia auf dem Stuhl herumrutschte.
Als klar war, dass Brunetti nichts weiter sagen würde, erklärte sie: »Ich dachte, es wäre einfacher, mit jemandem zu sprechen, den ich kenne«, korrigierte sich aber sogleich: »Nicht dass ich Sie näher kenne, Commissario. Paola hat nie etwas erzählt, jedenfalls nichts über Ihren Beruf. Kein Wort über Ihre Arbeit. Sie könnten ebenso gut Notar oder Elektriker sein.«
Brunetti lächelte. »Wahrscheinlich möchte sie uns damit Zeit und Ärger ersparen.«
»Verzeihung?«, fragte Professoressa Crosera verwirrt.
»Wenn sie ihren Kollegen erzählen würde, dass ich Polizist bin, würden die uns womöglich Tag und Nacht die Tür einrennen, weil irgendein Nachbar ohne Genehmigung ein neues Badezimmer einbaut, oder nachts um drei anrufen, weil die Studenten in der Wohnung über ihnen eine wilde Party feiern«, scherzte er und lächelte erneut, worauf Professoressa Crosera sich ein wenig entspannte.
»O nein, um derlei geht es nicht.« Sie bückte sich und schob ihre Handtasche ein paar Zentimeter nach hinten. »Es ist etwas Ernstes.« Die Signora überkreuzte die Beine, stellte sie wieder nebeneinander und wandte den Blick ab. Im Licht vom Fenster her wirkte ihre Wange eingefallen. Professoressa Crosera legte die Hände zusammen und studierte sie eingehend. »Ich weiß, Sie und Paola haben Kinder«, sagte sie und blickte kurz auf.
»Ja, zwei.«
»Im Teenageralter?«
»So gerade noch«, meinte Brunetti leichthin.
Den Kopf wieder gesenkt, nickte die Signora nachdrücklich. »Wir auch. Zwei. Ein Junge und ein Mädchen.«
»Genau wie wir. Ein Junge und ein Mädchen«, erklärte Brunetti, obwohl sie das bestimmt schon wusste. »Und in ein paar Jahren sind sie erwachsen«, baute er ihr eine Brücke. »Eine ernüchternde Vorstellung.«
»Aber es sind doch wohlgeratene Kinder?«, fragte Professoressa Crosera. Brunetti hätte eher eine Bemerkung über ihre eigenen Kinder erwartet, aber manche Leute brauchten lange, bis sie sich in Gegenwart eines Polizisten entspannten, auch wenn sie aus freien Stücken gekommen waren. Sie wollten sich erst absichern, bevor sie es wagten, über das zu sprechen, was sie hergeführt hatte.
»Ich denke schon«, antwortete Brunetti. »Paola auch.« Er gab so etwas selten zu, um nur ja nichts zu beschreien. Eilig fügte er an: »Aber wir beide sind leider keine zuverlässigen Zeugen.« Noch war es zu früh, sie nach ihren Kindern zu fragen, auch wenn Professoressa Crosera vermutlich deswegen gekommen war.
»An welcher Fakultät lehren Sie, Professoressa?«, fragte Brunetti. Sie sollte wissen, dass Paola in jeder Hinsicht diskret gewesen war.
»Architektur. Momentan allerdings nur in Teilzeit, weil ich zusätzlich als Beraterin für urbanes Design arbeite. Hauptsächlich in der Türkei. Aber ich habe auch zwei Projekte in Rumänien und Ungarn. Ich bin viel auf Reisen.«
Beide verfielen in Schweigen. Brunetti wartete einfach ab – eine Taktik, die sich meist auszahlte. Schließlich hatten die Leute etwas auf dem Herzen. Wenn man sie nicht mit Fragen bedrängte, machten sie früher oder später von selbst den Mund auf.
Nach einer ganzen Weile bemerkte Professoressa Crosera: »Auch meine Kinder sind nicht missraten. Aber mein Sohn hat … hat sich verändert.« Sie beugte sich vor, und im ersten Augenblick dachte Brunetti, sie wolle nach ihrer Handtasche greifen und ihm ein Foto ihrer Tochter, die ihr keine Sorgen machte, zeigen, oder ihres Sohns. Doch sie setzte sich nur auf dem Stuhl zurecht und saß dann wieder still da.
»Ich mache mir Sorgen …«, begann sie, dann versagte ihr die Stimme. Sie schloss die Augen, schlug die Hände vor den Mund, und ihr Kopf ging auf und nieder.
Brunetti wandte sich taktvoll ab und sah aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen, ein unbeständiges Geniesel, das die Passanten ärgerte und den Bauern nichts nützte. Obwohl in der Stadt geboren, dachte Brunetti, egal zu welcher Jahreszeit, bei Regen als Erstes immer an die Bauern und hoffte, jener möge ihnen eine reiche Ernte einbringen. Wie oft hatte er sich seine Schuhe ruiniert, die Mäntel durchnässt – einmal sogar wurde eine Zimmerdecke bei ihm daheim beschädigt –, und doch war ihm der Regen stets willkommen, in seinen Augen war er ein Geschenk des Himmels.
Das Nieseln wurde stärker, und er fragte sich, ob Professoressa Crosera ihren Mantel beim Pförtner abgegeben hatte. Brunetti hatte für alle Fälle zwei Schirme in seinem armadio und könnte ihr einen ausleihen, wenn sie hier fertig waren. Aber wie sollten sie fertig werden, wenn sie nicht endlich zur Sache kam?
»Seinetwegen bin ich hier«, setzte Professoressa Crosera an. Als Brunetti sich umdrehte, hielt sie die Augen immer noch geschlossen, die Hände aber ruhten nun gefaltet in ihrem Schoß.
Es prasselte an die Fenster, und Brunetti wandte sich wieder der Betrachtung des Regens zu.
»Ich denke, ich kann jetzt sprechen.« Ihre Stimme klang gefasster. »Mein Sohn …« Sie sah zu Brunetti, der sich endlich zu ihr umdrehte. Ihre Blicke trafen sich. »… ist fünfzehn. Er geht aufs Albertini. Beide gehen da hin.« Dorthin hätte Brunetti seine Kinder ebenfalls geschickt, wäre es ihm nicht so wichtig gewesen, dass sie eine staatliche Einrichtung besuchten. In einem Palazzo unweit des Campo SS Giovanni e Paolo gelegen, genoss diese teure Privatschule, an der fast alle Fächer in Englisch unterrichtet wurden, verdientermaßen einen guten Ruf: Die meisten Absolventen besuchten anschließend die Universität, viele von ihnen erhielten Stipendien für ein Studium im Ausland.
»Eine sehr gute Schule«, bemerkte er.
Es dauerte, bis Professoressa Crosera sich zu einem bestätigenden Nicken durchringen konnte.
»Seit wann sind Ihre Kinder dort?«, fragte Brunetti, der sie nicht direkt auf den Sohn ansprechen wollte.
»Sandro seit zwei Jahren. Er ist im zweiten Jahr auf dem liceo.«
»Und Ihre Tochter?«, fragte Brunetti freundlich, als dränge diese Frage sich auf.
»Die ist im vierten Jahr.«
»Kommen die beiden gut zurecht?«, erkundigte sich Brunetti so neutral, wie er nur konnte.
»Aurelia schon«, antwortete sie, dankbar für die Anteilnahme. »Sandro …« Sie zögerte einen Moment, als müsse sie sich zwingen, es auszusprechen. »… nicht. Nicht mehr.«
»Lernt er nicht genug?«, fragte Brunetti aus purer Höflichkeit, während er schon überlegte, was für Probleme der Junge haben mochte.
»Er lernt überhaupt nicht«, gab sie zögernd zu. »Früher, ja. Als er anfing. Aber dieses Jahr …« Ihre Hände spannten sich um die starren Armlehnen des Stuhls. Sie starrte Brunettis Schreibtisch an, als türmten sich dort Zeugnisse mit schlechten Noten und Rügen wegen ungebührlichen Betragens.
»Hmmm«, brummte Brunetti besorgt, wie man es bei schlechten Nachrichten tut. Ihm lag nichts daran, sie mit geschickten Fragen zum Reden zu bringen, sie sollte von alleine auf ihr Problem zu sprechen kommen. Natürlich kamen ihm Drogen in den Sinn, die übelste Frucht im Füllhorn der elterlichen Sorgen.
In letzter Zeit verkrampften sich Brunettis Hüftmuskeln, wenn er eine Treppe hinunterging. Die Anstrengung fiel ihm erst auf, als er eines Tages nach der letzten Stufe, während sein Körper sich entspannte, unwillkürlich aufstöhnte. Nicht viel anders ging es ihm, wenn er von Teenagern hörte, die den Gefahren des modernen Lebens ausgesetzt waren: Alles zog sich in ihm zusammen, und er wehrte sich mit ganzer Kraft gegen den Alptraum, auch seine Kinder könnten vom Weg abkommen.
»Voriges Jahr war Sandro der Zweitbeste. Doch in diesem Schuljahr – das erst vor zwei Monaten begonnen hat – höre ich von den Lehrern nur Schlechtes über ihn. Für Noten ist es noch zu früh, aber er bringt keine Bücher mit nach Hause, und Hausaufgaben macht er auch nicht mehr.«
»Aha«, sagte Brunetti leise. Was für ein Gegensatz zu seinen eigenen Kindern, die sich ständig mit Freunden trafen, um gemeinsam zu lernen oder sich auf Prüfungen vorzubereiten, zufrieden mit der Schule und immer begierig darauf, Neues zu erfahren.
Professoressa Crosera legte das rechte Bein auf das linke, und dann das linke auf das rechte. »Mein Mann wollte nicht …«, begann sie, korrigierte sich aber sofort: »Ich hielt es für richtig, hierher zu kommen, um Genaueres in Erfahrung zu bringen.«
Eigentlich hätte Brunetti vielmehr von ihr Informationen erwartet, doch er schwieg. Viele Leute fühlten sich als Verräter, wenn sie zur Polizei gingen. Würde es ihm selbst etwa leichtfallen, einem Fremden von den Privatangelegenheiten seiner Kinder zu erzählen? Dass Professoressa Crosera sich an die Polizei gewandt hatte – nicht an einen Arzt, das Jugendamt oder einen Priester –, ließ tief blicken. »Was möchten Sie wissen, Professoressa?«
»Ich weiß, es ist strafbar, Drogen zu verkaufen.« Ihre Stimme klang gepresst. »Aber ist es auch strafbar, Drogen zu nehmen?«
Das also plagte sie. Brunetti war froh, ihr sagen zu können: »Nein. Der Konsum nicht. Aber der Handel damit schon, insbesondere wenn man sie vor einer Schule an Minderjährige abgibt.«
Ihre Miene entspannte sich. »Ich wollte mich vergewissern«, sagte sie schließlich. Nachdenklich fuhr sie fort: »Wenn man sie also nur konsumiert, ist das harmlos, bekommt man keine Schwierigkeiten?« Sie merkte selbst, wie absurd diese Bemerkung war, ihre Miene umwölkte sich, und hastig fügte sie hinzu: »Mit der Polizei, meine ich.«
»Solange man nicht damit handelt, nein.«
»Finden Sie diese Gesetzeslage gut?«, brach es aus Professoressa Crosera heraus.
Brunetti fühlte sich weder verpflichtet noch dazu aufgelegt, eine Debatte über Gerechtigkeit und den Sinn von Gesetzen zu führen. »Was wir von den Vorschriften halten, ist nicht entscheidend«, erklärte er.
»Was denn dann?«
»Dass unschuldige Menschen geschützt werden. Dafür sind die Gesetze da«, behauptete er. Im tiefsten Innern glaubte Brunetti nicht daran: Gesetze, erlassen von Leuten, die an der Macht waren, dienten diesen dazu, an der Macht zu bleiben. Wenn sie nebenher auch noch Unschuldige schützten, schön und gut, aber das war nur ein willkommener Nebeneffekt.
»So habe ich das noch nie gesehen«, sagte Professoressa Crosera.
Brunetti, dem es nicht anders ging, zuckte die Achseln. »Ich nehme an, kaum jemand denkt über den Sinn von Gesetzen nach.«
»Leute bestrafen. Ich dachte immer, dafür sind Gesetze da.« Sie überlegte kurz und meinte lächelnd: »Ich glaube, Ihre Interpretation ist mir lieber, Commissario.«
Brunetti nickte nur und schwieg. Dann konnte er seine Ungeduld nicht länger unterdrücken: »Wir sprachen von Ihrem Sohn, Professoressa.«
Seine Schroffheit erschreckte Professoressa Crosera. »Ja, ja. Natürlich.« Den Blick auf den Schreibtisch gesenkt, erklärte sie schließlich: »Ich glaube, er nimmt Drogen.« Dann verfiel sie in Schweigen, als sei damit alles gesagt und sie könne jetzt gehen.
Brunetti würde etwas Druck machen müssen. »Glauben Sie das, oder wissen Sie es?«
»Ich weiß es«, gestand sie, korrigierte sich aber sofort: »Das heißt, ich glaube es zu wissen. Die Kinder in der Schule reden über Sandro. Ein Klassenkamerad hat zu Aurelia gesagt, Sandro werde noch großen Ärger kriegen, wenn er so weitermacht.«
»Großen Ärger?«, fragte Brunetti. Und als sie nickte: »Hat der Junge gesagt, dass es um Drogen geht?«
Sie sah ihn überrascht an. »Was soll es denn sonst sein? Er hat es von seiner Schwester, die in Sandros Klasse ist.« Und dann mit Nachdruck: »Es kann nur um Drogen gehen.«
»Wann war das?«
»Er hat vor einer Woche mit Aurelia gesprochen. Sie hat es mir vor zwei Tagen erzählt.«
»Warum hat Ihre Tochter so lange gewartet?«
»Sie sagt, sie wollte sich erst selbst ein Bild machen, bevor sie es weitersagt.«
»Und hat sie das getan?«
Professoressa Crosera warf ihm einen scharfen Blick zu und verteidigte ihre Tochter: »Sie hat versucht, mit Sandro zu reden, aber da ist er wütend geworden und hat gesagt, das gehe sie nichts an.«
Brunetti musste daran denken, wie seine eigenen Kinder miteinander umgingen. Seine Skepsis stand ihm offenbar ins Gesicht geschrieben, denn die Professoressa rechtfertigte sich: »Er war ihr gegenüber noch nie so heftig geworden.«
»Was ist Ihnen selbst noch aufgefallen, Professoressa? Wie hat er sich verändert?«, kam Brunetti auf das Thema zurück.
»Er ist launisch und reagiert gereizt, wenn ich ihn nach der Schule frage. Manchmal kommt er zum Abendessen nicht nach Hause, oder er ruft an und sagt, er isst bei einem Freund.«
»Haben Sie das je überprüft?«, fragte Brunetti.
»Ich bin kein Polizist«, fauchte sie, merkte aber sofort, dass sie sich im Ton vergriffen hatte. »Entschuldigen Sie. Das hätte ich nicht sagen sollen.« Dabei ließ sie es bewenden, versuchte nicht sich herauszureden, was sie Brunetti sympathisch machte.
»Da habe ich schon viel Schlimmeres gehört«, meinte er nur. »Stört Ihr Mann sich auch am Verhalten Ihres Sohns?«
Sie nickte mehrmals, sah weg, sah ihn wieder an. »Wie gesagt, ich bin viel auf Reisen.«
Brunetti nickte, und sie fuhr fort: »Manchmal bin ich mehrere Tage unterwegs.«
»Und die Kinder? Wer kümmert sich um die?«, rutschte es Brunetti heraus.
»Die wohnen dann bei meiner Schwester.«
Brunetti wollte nicht so indiskret sein und fragen, wieso nicht ihr Mann für die Kinder da war.
Doch sie erriet seine Gedanken: »Mein Mann arbeitet in Verona und schafft es nicht immer auf den letzten Zug. Dann übernachtet er bei Freunden, aber oft kommt das nicht vor.«
In einem Verhör hätte Brunetti nachgehakt: »Freunde?« oder »Wie oft?« Stattdessen kam er nun doch auf den Mann mit dem kräftigen grauen Haar zu sprechen: »Was macht er beruflich?«
»Er ist Buchhalter.« Und nach einem prüfenden Blick auf Brunetti: »Er sagt, Sandro ist zu mager und lässt sich nichts sagen.«
Typisch Teenager, dachte Brunetti, schwieg aber.
»Von Drogen will mein Mann nichts wissen, er hält es für ausgeschlossen, dass Sandro welche nimmt.« Sie presste die Lippen zusammen und sah zu Boden.
Brunetti ließ auch dies unkommentiert. »Was ist Ihnen sonst noch aufgefallen, Professoressa?«
Sie drehte sich zum Fenster um und sah in den dichten Regen hinaus. Den rechten Ellbogen auf der Armlehne, legte sie die Hand an die Stirn und drückte ein paarmal so fest dagegen, dass die Haut sich furchte. »Er spricht kaum noch ein Wort. Als ob er einen Kopfhörer aufhätte, Stimmen hört, oder Musik. Was weiß ich. Wenn ich ihn etwas frage, muss ich es jedes Mal wiederholen, und dann antwortet er nur widerwillig.« Wieder an Brunetti gewandt, fügte sie hinzu: »Er schläft schlecht, glaube ich, und er verliert schnell die Beherrschung. Früher war er so ein angenehmes Kind.«
Sie mochte Paolas Kollegin oder Freundin sein, und wenn schon, Brunetti wollte nicht noch mehr Zeit mit einem Problem vergeuden, das beim Sozialamt besser aufgehoben war. Um nicht zu brüsk zu wirken, wiegelte er ab: »Wenn ich vor drei Jahren meinen Sohn beschrieben hätte, hätte ich, von den Schlafproblemen abgesehen, ungefähr dasselbe gesagt.«
Professoressa Crosera faltete die Hände im Schoß wie eine Schülerin, die zum Rektor bestellt worden ist und einen Verweis erhalten hat.
Brunetti ließ ein wenig Zeit verstreichen, und noch ein wenig, und sagte dann frei heraus: »Ich verstehe leider immer noch nicht, warum Sie hierhergekommen sind, Professoressa.«
Diesmal antwortete sie prompt: »Ich dachte, die Polizei würde etwas unternehmen.«
»Wie stellen Sie sich das vor? Was sollen wir denn tun?«
»Den Dealer finden, der ihm die Drogen verkauft. Und ihn verhaften.«
Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Brunetti. Verhaften, bis zum Prozess festhalten und dann ins Gefängnis werfen – ihn und alle, die mit ihm und für ihn arbeiten, all die kleinen Dealer, die sich in den Parks zu den Schulkindern auf die Bank setzen oder sie anderswo abpassen, in der Disco oder im Kino oder – Überraschung! – einfach vor der Schule.
Ein Jammer, dass es so nicht lief. Die Wirklichkeit sah anders aus. Sie wurden festgenommen, zur Questura gebracht und verhört, vielleicht verwarnt, auch wenn jeder wusste, dass es sinnlos war, und schließlich wurde ein