Für Anne Marie, in Liebe.

Zwölf‌te Woche

Martin Toppy ist der Sohn eines bekannten Travellers und Vater meines ungeborenen Kindes. Er ist siebzehn, ich bin dreiunddreißig. Ich war seine Lehrerin. Wenn ich mutig genug wäre, hätte ich mich schon lange umgebracht. Ich glaube nicht, dass das Baby leiden würde. Sein kleines Herzchen würde gleichzeitig mit meinem aufhören zu schlagen. Er würde gar nicht merken, wie er aus einer Dunkelheit in eine andere übergeht und sein Geist sich von mir löst.

 

Mit ungefähr sieben Wochen fängt ein Fötus an, sich zu bewegen. Nicht wahrnehmbar, sagt man, aber ich schwöre, ich habe gestern eine Regung gespürt, eine winzige Drehung, ein Schattengewicht. All die Wochen habe ich still und starr dagesessen und nach ihm gehorcht. Bei zugezogenen Vorhängen warte ich vor dem lautlos gestellten Fernseher auf irgendein Zeichen im matten Leuchten der Explosionen, der blutenden Menschen, der in Flaggen gehüllten und von dunkeläugigen Männern fortgetragenen Leichen, der streitenden und sich küssenden und Auto fahrenden Menschen, deren Münder sich tonlos bewegen.

Ich habe seine Existenz exakt von der Minute der Empfängnis an gemessen, nicht vom ersten Tag meiner letzten Periode, wie es ein Arzt bei einer Frau tun würde, die normalen Sex hat, ein normales Leben, in dem sich ein Augenblick nicht vom anderen unterscheidet. Aber meine Augenblicke unterscheiden sich jetzt alle deutlich, ich kann sie einzeln abzählen, sie liegen im schonungslosen Licht vor mir und warten darauf, seziert zu werden.

 

Pat kam gestern Abend zurück, er war wochenlang auf Montage im ganzen Land unterwegs und hat Wasserzähler installiert. Sie mussten in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, erzählte er; gearbeitet wurde rund um die Uhr. Als er fuhr, hat er sich zu mir heruntergebeugt und mich auf die Wange geküsst. Seine Lippen waren kalt; er hielt kurz inne, bevor er sich wieder aufrichtete. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn angesehen habe. Es war der zweite Tag der siebten Woche.

Gestern stand ich dann in der Tür zum Wohnzimmer und sah ihn an, wie er da in Jogginghose und Liverpool-Trikot auf der Couch lag, barfuß, unrasiert, dickbäuchig, wehrlos. Ich bin schwanger, sagte ich. Er riss den Kopf herum, und in seinen Augen blitzte etwas auf – Freude etwa? –, das sofort verlosch, als er sich erinnerte. Ich erklärte ihm, der Vater sei ein Mann aus dem Internet, mit der Stimme, die ich immer benutze, wenn es mir ernst ist. Leise und fest.

Er fuhr hoch, baute sich vor mir auf und schrie, SCHEISSE!, nur das eine Mal. Er hob die Fäuste, als würde er mich schlagen wollen, aber er zog nicht ganz durch und boxte stattdessen in die Luft vor meinem Gesicht. Er zischte, Ich bring dich um, ich sag’s dir, doch schließlich ballte er die nutzlosen Fäuste vor den Augen und heulte ungehemmt los, die Zähne gebleckt, die Augen zusammengekniffen, wie ein kleiner Junge, der sich weh getan hat.

Danach gab es nicht mehr viel zu tun oder zu sagen, also ging er. Er war kreidebleich, als er mit seiner Sporttasche zur Tür ging, einen kleinen, wutroten Kreis auf jeder Wange. Ein Mal schaute er mich noch an. Er sah gespenstisch aus, umgeben vom blassorangen Licht der Dämmerung.

Sind wir jetzt quitt? Seine Stimme war leise, fast ein Flüstern. Ich gab ihm keine Antwort.

Ich habe dich immer geliebt, Melody Shee, sagte er.

Ich sagte nur, Mach’s gut, Pat.

 

Letzte Nacht habe ich tief geschlafen, zumindest für eine Weile. Geträumt habe ich nichts, oder wenn, dann erinnere ich mich nicht. Mein Körper kümmert sich um sich selbst, er tut, was getan werden muss. Es sind jetzt zwölf Wochen und zwei Tage. Wie es üblich ist, habe ich meine Schwangerschaft am Anfang der zwölf‌ten Woche offenbart. Dann ist die größte Gefahr vorbei, das Kind hat gelernt zu sein, sich festzuhalten, es wächst und wächst. Um diese Zeit herum entwickelt sich auch sein Geschmackssinn. Am liebsten würde ich Zucker löffeln, um ihm seine Welt zu versüßen. Ich habe es heute mit Eis probiert, aber es fühlte sich zu kalt in der Brust und zu heiß im Bauch an, und ein paar Minuten später kam es wieder hoch. Jetzt würde ich gern Schinken essen, auf Weißbrot, mit Butter und Ketchup. Er mag es also lieber herzhaft.

Pats Vater kam irgendwann kurz nach Sonnenaufgang und schloss sich selbst auf. Ich rappelte mich hoch und lief hinter ihm her wie ein Geist. Er stopf‌te eine Tasche mit Klamotten aus dem begehbaren Kleiderschrank voll, den er uns zum ersten Hochzeitstag gebaut hatte. Er nahm Pats Hurlingsachen mit, Helm, Trikot, Schuhe, seinen Laptop und den Stapel Ordner und Papiere neben seinem Schreibtisch in unserem kleinen Gästezimmer. Die Haustür ließ er offen, damit er das Leben seines Sohnes leichter wegschaffen konnte, Armvoll um Armvoll. Er hatte das Ladekabel für Pats Laptop vergessen, also stöpselte ich es aus, rollte es ordentlich auf und gab es ihm. Da sah er mich zum ersten Mal an. Sein Gesicht war rot vor Wut und Scham, und er atmete schwer und gehetzt. Ich wollte ihm eine Tasse Tee machen, ihm den Arm streicheln und sagen, er solle sich keine Sorgen machen, ich wollte hören, wie er mich Herzchen und Liebes nannte, und sehen, wie er mich gutmütig anlächelte, so wie sonst immer.

Es tut mir leid, Paddy, sagte ich. Ich konnte fast spüren, wie sein Herz klopf‌te, wie sich die Luft zwischen uns kräuselte. Ich wollte ihm sagen, er solle langsam machen, an sein Herz denken.

Ach, weißt du, sagte er. Weißt du. Und mehr Worte hatte er nicht, und ich auch nicht.

Sein Auto stand mit offenem Kofferraum und laufendem Motor rückwärts vor der Tür. Die Abgase schlängelten sich durch den Flur ins Haus. Ich dachte: So könnte ich es machen. Er fuhr los, hielt jedoch gleich wieder an, um auszusteigen und das Tor hinter sich zu schließen. Wie ein fürsorglicher Großvater, wie ein Mann, der sagen würde, Halt das Tor lieber geschlossen, nicht, dass das Kind noch vor ein Auto läuft.

 

Das gestrige leichte Kräuseln von Übelkeit ist heute eine Woge, die alle paar Minuten heranrollt und über mir zusammenschlägt. Am Morgen hat mich eine bleischwere Müdigkeit überkommen, und ich habe den Großteil des Tages mit einem Bottich vor mir auf der Couch verbracht. Hin und wieder spüle ich ihn in der Küche aus. Meine Muskeln schmerzen bei jedem Schritt, mir wird schwindelig, wenn ich aufstehe und wenn ich mich hinsetze, und meine Gänsehaut sticht wie tausend Nadeln. Ich erinnere mich nicht daran, etwas gegessen zu haben, aber das muss ich wohl, denn es liegen Krümel auf der Anrichte in der Küche, und eine Orangenschale.

Von wegen morgendliche Übelkeit. Das Erbrechen hört erst in den frühen Abendstunden auf. Heute Nacht habe ich im Bademantel in einem Kokon aus Bettdecken geschlafen, denn in unserem Schlafzimmer ist es immer kalt, bis auf ein paar Wochen im Hochsommer. Pat hat die Kälte immer geliebt: Er fand, es sei dann viel gemütlicher und umso schöner, im Bett zu liegen. Ach, Pat. All die Streitereien und hässlichen Worte, all die Kratzer und klaffenden Wunden, die wir uns über die Jahre zugefügt haben, und all die vergeudeten Tage, an denen wir einander so grausam zerfleischt haben. Und das ist es jetzt also, was ich getan habe, um dem ein Ende zu setzen. Ich habe von der Tür zum Wohnzimmer aus verkündet, ich hätte einen anderen Mann tun lassen, was du nicht konntest. Unzählige Stunden habe ich seitdem kotzend auf Händen und Knien verbracht. Das ist mehr, als ich ertrage, und weniger, als ich verdient habe. Aber bald werden wir in der Dunkelheit verschwinden und dort weiterleben, nur das Baby und ich, sobald ich noch ein paar Dinge erledigt habe.

*

Heute Morgen stand ich barfuß auf der Terrasse und habe Tee getrunken. Die Übelkeit war verflogen. Ich überlegte, eine Zigarette zu rauchen. In mir fühlte ich gar nichts, bis auf eine Zuckung hier und da im Bauch, als würden Elektronen ziellos von irgendeiner verwirrten Hirndrüse herumgeschossen, die bislang geschlafen hatte. Die Luft war klar und sauber, und es roch nach gemähtem Gras. Es machte wohl gerade jemand seinen ersten Schnitt. Ich sah zu dem Tontopf am anderen Ende der Terrasse hinüber, den Pat jahrelang als überdimensionalen Aschenbecher benutzt hatte, ohne auch nur daran zu denken, ihn jemals auszuleeren, und der überquoll vor Kippen und schwarzer Suppe. Mir wurde ein bisschen flau.

Ich stellte mir die Terrasse als Galgen vor, die Holzbohlen unter meinen Füßen als Falltür. Disteln und Grasbüschel wären das Publikum. Ich fasste an den Gürtel meines Bademantels und dachte an den Haken an der Wand im Badezimmer. Wie lange es wohl dauern und wie sehr es wohl weh tun würde. Ich fragte mich, ob Pat in seinem jungfräulichen Werkzeugkasten drüben im Schuppen wohl ein Teppichmesser hätte. Ich dachte an ein langes Bad in kochend heißem Wasser. Warum kommt mir automatisch das Badezimmer in den Sinn? Wasser und Seife und Desinfektionsmittel, leicht zu reinigende weiße Fliesen an Boden und Wänden, Dampfwolken, die alles verschleiern. Diese zynische Umkehrung, die Welt zu verlassen, indem ich mich an einem warmen, beengten Ort zusammenrolle, hat etwas.

Gegessen habe ich: ein gekochtes Ei und trockenen Toast. Es ist unten geblieben. Ich habe geschlafen.

Dreizehnte Woche

Meine Tage sind jetzt in Quadranten eingeteilt. Ich wache pünktlich um acht Uhr auf wie schon mein ganzes Leben. Die erste Stunde jedes Tages bin ich überzeugt, dass ich mich tatsächlich umbringen werde. Erleichterung macht sich breit. In der Stunde danach male ich mir aus, was es für Konsequenzen hat, wenn ich mich umbringe. Die Erleichterung verfliegt. Die nächste Stunde bin ich mir sicher, dass ich mich nicht umbringen werde. Erleichterung. In der Stunde danach male ich mir aus, was es für Konsequenzen hat, wenn ich mich nicht umbringe. Die Erleichterung verfliegt. Dieser Kreislauf wiederholt sich noch dreimal, und dann gehe ich ins Bett. Ich schlafe acht Stunden.

Was hält mich auf dieser Erde? Die Angst vor den Schmerzen. Und die Panik, die ich mir im Blick meines Vaters vorstelle, wenn er den Streifenwagen mit Pfarrer Cotter auf dem Beifahrersitz vorfahren sieht. Seine Hände zittern, während er am Schloss herumfuhrwerkt, er muss sich am Türpfosten festhalten, um überhaupt aufrecht stehen zu können. Seine Knie geben plötzlich nach, und der dicke Jim Gildea kommt ihm zur Hilfe, freundlich, stark, beschämt, oder ein junger Polizist, rotgesichtig und unbeholfen, der verzweifelt hofft, dass diese Tortur bald ein Ende hat. Er fängt meinen Vater auf und bringt ihn ins Haus und setzt ihn in einen Sessel. Ich sehe ihn allein an meinem Grab stehen, einen kalten Wind im Gesicht, Unverständnis im Blick, ich sehe die Scham, mit der er die Beileidsbekundungen von Freunden und kaum noch erinnerten Bekannten entgegennimmt, wie er Worte sagt, die in seinen Ohren nicht richtig klingen. Danke; sehr nett, dass du gekommen bist; wenigstens hat es nicht geregnet; sie ist jetzt an einem besseren Ort; jetzt ist sie bei ihrer Mutter. Der Gedanke an seine Einsamkeit, die Vollkommenheit seines Leids, die Vorstellung, dass seine Welt dann nur noch aus Kummer besteht.

 

Letzte Nacht habe ich geträumt. Einen dieser Träume, die so lebhaft sind, dass man nach dem Aufwachen eine Weile im Bett liegt und sich fragt, was wirklich ist. Ich war auf einem Treffen des Kurt-Cobain-Klubs. Breedie Flynn saß barfuß und in Shorts im Schneidersitz, und ich saß ihr im Schneidersitz gegenüber und sah sie an. Tränen strömten über ihre Wangen, wurden kurz aufgehalten in den von Akne gegrabenen Vertiefungen, bevor sie zu Boden fielen. Ihr ganzes Gesicht war rot und von diesen Narben übersät, aber so schön, dass ich sie manchmal hasste. In meinem Traum waren wir in Breedies Zimmer, und über unseren Köpfen hatten wir ein Laken zwischen Sessellehne und Breedies Bett gespannt, mit Kissen und den Stofftieren aus Breedies Kindheit hatten wir uns gegen die Welt abgeschottet.

Breedie Flynn und ich gründeten den Kurt-Cobain-Klub im April 1994. Breedie hielt ihn für einen Gott; ich nur für supersüß. Kurt Cobain litt sein ganzes kurzes Leben unter chronischen Magenschmerzen. So auch meine schöne Freundin. Sie sprach mit seinem Poster, als wäre er selbst im Raum; ich hörte verschämt zu und sah sie nicht an, wenn sie wie geistesabwesend meine Hand hielt. Dabei mochte ich es, wenn sie das tat. Der Kurt-Cobain-Klub war im Besitz folgender Dinge: ein Ouija-Brett, mit dem wir den Geist von Kurt Cobain heraufbeschwören wollten; eine Literflasche Wodka, aus der wir mit angstverzerrtem Gesicht kleine Schlucke tranken; ein Kassettenrekorder mit Mikrophon, auf dem wir Breedie Flynns wilde Geschichten aufnahmen und ihre imaginären Gespräche mit den coolen Mädchen, den Jungs, den Lehrern und unseren Eltern, dabei imitierte sie ihre Stimmen so perfekt, dass man im Hintergrund immerzu mein schallendes Gelächter hörte.

Breedie sah mich im Traum an und fragte, Melody, warum hast du mich im Stich gelassen? Und sie nahm meine Hand und drückte sie, und sie trug einen Heiligenschein aus gleißendem Licht, und ihre Hand war glühend heiß, und dann wachte ich auf, die Worte Breedie, o Breedie, es tut mir so leid auf den Lippen, und lag schwitzend in der Kälte und spürte, wie die schleichende Übelkeit auf einmal mit großen Schritten auf mich zukam.

 

Mein Vater ruft mich jeden Tag an und erzählt mir Dinge, von denen er meint, ich müsse sie wissen.

Heute hat er Altglas weggebracht. Jemand hatte Müll in den Container geworfen. Ist das nicht eine Schande? Die Überwachungskameras waren natürlich wieder kaputt. In einer kurzen Redepause schnalze ich missbilligend mit der Zunge, und er fährt fort, Ich hab Mossy Shanley gestern Abend am Hurlingfeld getroffen. Die zweite Mannschaft hat gegen Kildangan verloren. Mossy hat kein gutes Haar am alten Jack-Matt-und-dann gelassen. Er hat ihn beschimpft mit allem, was du dir nur vorstellen kannst, und noch mehr. Das bringt Unglück, hab ich zu ihm gesagt, wenn du so von den Toten redest. Ach, leck mich, sagt er und spuckt auf den Boden. Dasser tot ist, heißt noch lange nich, dasser kein Scheißkerl war. Das hat Mossy gesagt, stell dir vor. Gott, der arme Jack. Hatte nicht einen bösen Knochen im Leib. Er hat doch nie was anderes gewollt, als zu trinken und seine Geschichten zu erzählen. Vorhin, auf dem Weg von der Andacht nach Hause, da ist einer an mir vorbeigefahren und hat sich mit einer Hand das Handy ans Ohr gehalten, und mit der anderen hat er sich die Haare gemacht, und keine Hand am Lenkrad. Vielleicht gibt’s das jetzt, dass man sich irgendwo eine dritte Hand wachsen lassen kann, aber wenn er eine hatte, dann hab ich die jedenfalls nicht gesehen. Nix.

Und er hält inne und wartet, dass ich etwas darauf erwidere, und er horcht nach Kummer in meiner Stimme, das weiß ich. Kommst du mich denn die Tage mal besuchen?

Mach ich, Dad.

Ich weiß ja, dass du so viel zu tun hast mit deinem Unterricht und allem.

Habe ich tatsächlich, Dad.

Immer noch für den kleinen Zigeunerjungen?

Traveller, Dad.

Ach, ja ja, Traveller. Gott, heutzutage sind alle so kleinlich, was das angeht.

 

Ich werde bald aus dem Haus müssen. Die Zeit vergeht als Kribbeln auf meiner Haut, vom Scheitel bis zu den Sohlen und wieder hinauf. Ich muss etwas zu essen kaufen, damit ich beim Warten auf den Tod am Leben bleibe, und ich brauche etwas gegen diese Übelkeit. Anfang des zweiten Trimesters: Ende der morgendlichen Übelkeit. Das habe ich in einem Buch gelesen, so stand es da, ganz beiläufig, unanfechtbar, unumstößlich, unter dem Foto einer wunderschönen, lächelnden, makellosen werdenden Mutter. Und was, wenn die beschissene morgendliche Übelkeit erst am Ende des ersten Trimesters angefangen hat? Ich bin inzwischen fast so weit, eine Handvoll Valium zu schlucken, nur um mal eine Weile Ruhe zu haben, einfach dazuliegen und wegzudriften. Im Badezimmerschrank ist ein volles Fläschchen. In der Hausbar steht Wodka, Tonic ist im Kühlschrank und Eis im Kühlfach. Das gäbe eine richtige Party. Machen wir es so, kleiner Mann? Ich weiß gar nicht, warum ich mir so sicher bin, dass es ein Junge wird. Ich stelle mir das Kind vor wie seinen Vater, nur in Klein: rotwangig und blauäugig und dunkelhaarig und schön. Sollte ich noch am Leben sein, wenn diese Übelkeit endlich abflaut, besuche ich meinen Vater.

 

Ich liege noch immer hier. Mir ist nicht mehr so übel, aber ich bewege mich trotzdem nicht vom Fleck. Dabei habe ich noch Glück. Vor vierzig Jahren hätte man mich weggeholt und zur Arbeit an den schmutzigen Gewändern rechtschaffener Leute gezwungen, Hemden und Hosen und Röcke und Roben jener zu waschen, die noch gut standen mit dem Allmächtigen, mein Baby wäre mir entrissen und verkauft und bei Nacht und Nebel fortgebracht worden, um unverdorben von meiner Gottlosigkeit aufzuwachsen. Die Freiheit fühlt sich an wie eine Last, eine lähmende Weite; seit Stunden sitze ich jetzt hier und kann weder aufstehen noch diesen Raum verlassen, weil ich nicht weiß, welche Richtung ich an der Tür einschlagen soll: den Flur entlang ins Bett oder zur Tür hinaus und zum Auto? Wo sollte ich hinfahren? Ich habe genug Geld, um mich ein Jahr lang über Wasser zu halten, vielleicht sogar mehr, aber die Stille, nach der ich mich so gesehnt habe, wird bald vorbei sein, alles, was ich aus meinem Leben verbannen wollte, wird mit großem Getöse wieder über mich hereinbrechen: Pat wird an die Tür hämmern und betteln und von mir hören wollen, dass ich ihn nur angelogen habe, und ich werde mit vorgelegter Kette aufmachen, und er wird weinen und versuchen, mich durch den Spalt anzufassen, und sagen, Bitte, Melody, bitte. Ich brauche dich doch, Melody. Weil er mich immer gebraucht hat, und bis heute habe ich keinen blassen Schimmer, warum.

Noch könnte ich nach London fliegen und dem Ganzen ein Ende machen und zurückkommen und sagen, Stimmt, Pat, ich habe gelogen, und er könnte sich einreden, dass er mir glaubte und wir könnten übers Wochenende wegfahren und uns gemeinsam massieren lassen und Hand in Hand an einem Fluss spazieren gehen und an einem Wasserfall stehen und die Gischt auf unseren Gesichtern spüren und lachen und über die Höhle hinter dem herabstürzenden Wasser sinnieren, abgeschnitten vom Rest der Welt, und über den tosenden Frieden, den man dort finden würde, und nach dem Abendessen könnten wir auf einen Drink an die Bar und dann ins Bett gehen und uns auf der Suche nach Wärme dem anderen zuwenden, aber nur Kälte dort finden und keine Geborgenheit, keine Vergebung der Sünden; und hinterher würden wir uns voneinander abwenden und an die Decke schauen und Worte in den Äther schicken, über nie geborene Babys und unerfüllte Bedürfnisse und Prostituierte und Internetsex und grauenhafte, unverzeihliche Sünden und unendliche Strudel aus Schuldzuweisungen und fruchtlosen Vergeltungsschlägen, und während die Sonne heraufkroch, würden wir langsam innehalten und in vertrauter Erschöpfung auf tränenfeuchten Kissen schlafen, bis die Zeit zum Auschecken gekommen war.

Die Gedanken wetzen sich aneinander und bohren sich wie Messer in meinen Bauch, tief versenkt und herumgedreht. Dass es uns nicht gelingen wollte, uns zu erinnern. Dass wir uns liebten, Pat und ich. Hätten wir doch nur einen Augenblick lang völlig objektiv sein können, unbeteiligte Zuschauer, die über allem schweben, unsere Körper verlassen können wie Geister.

Er hat sich kaputtgemacht, mein Pat, unter dem Gewicht fremder Erwartungen: denen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Schwester, seiner Freunde, seines zwanghaften Hurlingtrainers und meinen. Als wir noch zu Vernunft fähig waren, vor nicht allzu vielen Jahren, hat er mir einmal erzählt, er habe sich nicht ein einziges Mal minderwertig gefühlt, bis er wahre Männer getroffen habe. Er lachte, aber er machte keine Witze. Ich sah die Tränen in seinen Augen. Es zerriss mir das Herz; ich litt körperliche Schmerzen. Aber mir fehlten die richtigen Worte, ich konnte nur flüstern, dass ich ihn liebte, das sei doch etwas, das würde ihm immer bleiben. Und trotzdem, obwohl ich ihm seinen Schmerz so gern abgenommen und ihn zu meinem gemacht hätte, verwendete ich schon bald meine Tage darauf, dass er sich minderwertig fühlte. Ich führte Krieg gegen ihn, und er führte Krieg gegen mich.

Für eine, die andauernd auf Diät ist, hast du ’nen ganz schön fetten Arsch, sagte er zum Beispiel.

Jedes zurückgebliebene kleine Kind trifft den Topf besser als du, wenn ich mir angucke, wie viel Pisse bei dir danebengeht, sagte ich zum Beispiel.

Er sagte, Ach, weil du ja so viel Ahnung von Kindern hast, zurückgeblieben oder nicht.

Ich sagte, Dein Samen muss echt beschissen sein, so wie der aufgeht.

Er sagte, Schreib doch ein Gedicht drüber. Und schick es an die Zeitung. Dann haben unsere Nachbarn auch endlich mal wieder was zu lachen. Die Jungs unten bei Ciss werden sich auf die Schenkel klopfen. Wusstest du, dass die sich deine Gedichte da gegenseitig vorlesen und sich vor Lachen bepissen?

Ich sagte ihm, er sei kein Mann, er sei nie einer gewesen.

Er sagte mir, ich müsse eine elende Eisfotze haben, dass kein Kind in mir wachsen wolle.

Ich nannte ihn abartig und ekelhaft und pervers und einen Scheißkerl, und ich brüllte mir die Seele aus dem Hals. Ich sagte ihm, ich hätte ihn nie geliebt.

Er sagte mir mit tonloser, fester Stimme, er hasse mich.

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte die Erinnerung an unsere Liebe uns so vollständig verlassen? Was wir sagten, was wir dachten. Mein armer Pat, mein geliebter Mann, mein funkeläugiger Junge, mein Held. Ach, ich grausames, grausames Weib, nie hätte ich gedacht, dass ich zu so etwas fähig wäre.

Morgen habe ich all diese Einsichten wieder vergessen.

Vierzehnte Woche

Ich verliebte mich in Pat an dem Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal Hurling spielen sah. An jenem Tag erhielt er einen Platzverweis, und als er vom Feld ging, sah er zu mir herüber und zeigte auf mich, wie um zu sagen, Das war für dich, und der Kerl, den er gerade niedergeschlagen hatte, lag noch immer am Boden, und es gab Rangeleien um den Schiedsrichter und den gefallenen Spieler herum, einen Typ, mit dem ich Monate zuvor in einer Jugenddisco eng getanzt hatte, der mich jedoch hinterher ignoriert und im Bus auf dem Nachhauseweg mit irgendeiner anderen geknutscht und am Montag darauf in der Schule irgendetwas Fieses über mich in Umlauf gebracht hatte, ich weiß bis heute nicht, was, und Pat nahm seinen Helm in einer einzigen gekonnten Bewegung ab, und seine Haare waren schweißnass nach hinten gestrichen, und die Sonne schien ihm ins Gesicht, und seine blauen Augen funkelten wie verrückt und hielten meinen Blick, und während er durch die kühle Abendluft zur Seitenlinie schritt, zeigte er auf sein Herz, und meine Knie waren auf einmal so weich, dass ich glaubte, gleich umfallen zu müssen, und Breedie Flynn zerrte an meinem Arm und rief, O Gott, Melody, der zeigt ja auf dich!, und ich war so, so sehr verliebt.

Pat war der erste Junge, den ich je geküsst habe, mit dem ich je Händchen gehalten habe, und bis vor dreizehn Wochen und ein paar Tagen war er auch der einzige Junge, den ich je geküsst hatte. Ich hatte nie die Hand eines anderen Mannes auf meiner Wange gespürt oder dieses durchdringende Verlangen in anderen als in Pats Augen aufflackern sehen. Mit der Zeit verschmolzen wir zu einem einzigen Menschen, glaube ich, und zu sich selbst grausam zu sein, ist einfach. Ich empfinde mich erst als Individuum, seit wir räumlich getrennt sind. Selbst während der Jahre, in denen wir uns hassten, waren wir einander immer nah.

Als wir uns das erste Mal küssten, glaubte ich, alles falsch zu machen. Breedie Flynn und ich hatten es geübt, aber immer ohne Zunge, weil wir meinten, sonst lesbisch zu werden, und wir lachten sowieso viel zu viel, um wirklich etwas zu lernen. Einmal löste Breedie ihre Lippen von meinen und legte ihre Hand an meine Wange, und ich legte meine Hand an ihre, und wir sahen einander in die Augen, und die Zeit floss zäh auf eine Weggabelung zu, und dann lachte ich und sie auch, genau da, wo sich der Weg gabelte. Das Universum erschafft sich in jedem Augenblick selbst, und in jedem Augenblick erschafft es sich neu. Manchmal spüre ich diese anderen Leben um mich herum ablaufen.

Pat schien ein ziemlich guter Küsser zu sein. Er biss mir nie in die Lippen, wie ich es von anderen Mädchen und ihren Freunden gehört hatte, er kniff mir nie in die Brustwarzen oder versuchte allzu grob, mir die Hand unter den Rock oder in die Hose zu schieben. Zuerst war mir das Küssen unangenehm, weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte, aber schon bald wurde es das Normalste auf der Welt, ich tat es einfach, wie ich beim Gehen im Kopf vor mich hin sang oder die Blautöne des Himmels betrachtete oder nachts dem flüsternden Wind lauschte und die Stimme meiner Mutter darin hörte.

 

Meine Mutter und mein Vater passten nicht zueinander. Sie war etwa drei Zentimeter größer als er und hatte lange, schmale Hände. Seine waren grob mit Stummelfingern. Sie war Ästhetin und Altphilologin; er wusste nicht, was das war. Sie wollte immer als Akademikerin arbeiten und tat es nie. Er war Vorarbeiter für die Gemeindeverwaltung, meist im Straßenbau. Meine Mutter duftete nach französischem Parfüm und teurem Leder; mein Vater roch nach Schweiß und irgendetwas Stechendem, Schwerem, vielleicht nach Teer oder was für schwarze, klebrige Substanzen seine Tage auch immer ausfüllten. Er schien meine Mutter weder zu interessieren noch zu stimulieren. Er rieb sie nicht auf, wie es ein anderer Mann vielleicht getan hätte, einer, der ihr Schweigen hätte lesen, ihre Algorithmen entziffern können. Ich glaube, das war ihr Problem.

Du solltest längst Projektleiter sein, hörte ich sie eines Morgens zu ihm sagen.

Ich bin nicht gemacht für so einen Job, sagte er.

Ich hörte sie schniefen, und ich hörte ein langes Schweigen, und ich hörte, wie ein Stuhl vom Tisch weggeschoben wurde, und dann sagte die sanfte Stimme meines Vaters, Gut, also dann, und ich hörte, wie er seinen Schlüsselbund nahm, und dann hörte ich sie sagen, Wofür bist du denn gemacht? Wofür, hm? Was kannst du eigentlich? Bist du überhaupt zu irgendwas gut, Michael?

Keine Ahnung, sagte mein Vater. Ich muss dann auch mal los, bis später. Und er ging zur Hintertür hinaus und schlug sie nicht einmal zu, und aus der Küche kam keine Regung, aber ich roch Zigarettenrauch, und die Luft im Flur, wo ich stand und lauschte, fühlte sich kalt an.

Mein Vater schien mir verändert, als er an jenem Abend nach Hause kam. Ich war gerade zehn, und ich hatte ihn immer nur voller Liebe angesehen. Doch jetzt war diese kindliche Trübung meines Blicks verschwunden; das Licht, das immer von ihm ausgegangen war, flackerte und war kurz davor zu verlöschen. Ich taxierte ihn kühl. Was konnte er eigentlich?

Wenn ich heute daran denke, wie ich die Dinge damals sah und die Wut meiner Mutter in mich aufnahm, habe ich das dringende Bedürfnis, mich zu entschuldigen, wiedergutzumachen, was ich ihm an Schmerz zugefügt haben muss, als ich mich von ihm zurückzog, als ich zuließ, dass meine unschuldige Liebe für ihn befleckt, ausgehöhlt, zersetzt wurde von der Kälte einer Frau, die ich nicht einmal wirklich mochte. Und doch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als so zu sein wie sie.

An jenem Abend stürmte ich ihm nicht wie sonst entgegen, er wusste also, dass etwas anders war; ich kam zur Tür, und auf einmal gab es zwischen uns eine Steifheit und Verlegenheit, er muss gespürt haben, dass ich plötzlich kein Kind mehr war, sondern eine weitere Frau in seinem Haus, eine Verlängerung der Frau, die bereits da war und die ihn zu brauchen und zu verachten und manchmal, oft, zu hassen schien.

Er war tief betroffen von meiner Veränderung, aber er ließ es sich nicht anmerken. Ich erkannte es nur an der Art, wie er mich mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah, während er mich eine Armeslänge von sich entfernt bei den Schultern hielt und jenes harte Leuchten entdeckte, das er jeden Tag im Blick meiner Mutter sah, und er lachte, als könne er es nicht fassen und als hätte er doch eigentlich die ganze Zeit wissen müssen, dass es irgendwann einmal so weit sein würde. Ich glaube, an jenem Tag, in jenem Moment der Entfremdung, tat er den ersten Schritt auf seinem Weg zum alten Trottel, zu einem alten Mann wie jedem anderen, zu einem in sich gekehrten, langweiligen Menschen, der nur noch vor sich hin lebte und aus einer Art Pflichtbewusstsein weitermachte, weil er das Gefühl hatte, das Ganze jetzt eben durchziehen zu müssen, das Kind aufziehen, die Frau versorgen, Zahlungen leisten, doch für all das würde er am Ende nichts in der Hand halten, auf ihn wartete kein weiches Kissen der Dankbarkeit, auf dem er sich ausruhen konnte, keine Erleichterung darüber, dass seine Arbeit nun getan war und dass er sie gut gemacht hatte, ebenso wenig wie Anerkennung, Liebe und Achtung jener, für die er gearbeitet hatte.

Und dennoch liebte er mich, trotzig und unerschütterlich, und auf die gleiche Weise liebte er sie, denn was blieb ihm auch anderes übrig?

 

Ich war vierzehn, als ich zum ersten Mal die Beherrschung verlor. Es waren die Finger meiner Mutter, die mich explodieren ließen. Ein Rosenkranz war kunstvoll und unnatürlich in sie hineingeflochten. Irgendwie hatte ich ihn vorher übersehen, oder ich hatte ihn gesehen, aber es war nicht zu mir durchgedrungen. Unser Hausarzt hatte mir am Abend zuvor eine Spritze gegeben, damit ich schlafen konnte, dem Schmerz entfliehen. Wir standen auf unserem Posten bei der Beerdigung, Daddy und ich, wie Merkur und Venus vor unserer erloschenen Sonne, Mommys Brüder und Schwestern zu unseren Seiten wie die weiter entfernten Planeten, ein Asteroidengürtel aus Cousins und Cousinen verteilte sich nahe der Türen, aufgereiht entlang der Vorhalle.

Ich sagte, Daddy, was macht der beschissene Rosenkranz da? Sie hat in ihrem ganzen Leben nicht einen einzigen Rosenkranz gebetet! Daddy sah mich nicht an. Er schluckte schwer; in seiner Kehle knackte etwas. Ich erinnere mich an sein bleiches Gesicht, die zusammengebissenen Zähne, das kaum merkliche Zittern seines Kopfes, das nur ich sehen konnte, die zornglühend neben ihm stand.

Ist schon in Ordnung, Liebling, flüsterte er. Das wird immer so gemacht; die haben wohl angenommen, es wäre in ihrem Sinne.

In ihrem Sinne? Ich schrie beinahe, und dann sah ich durch die Rundbogentür am anderen Ende des Aufbahrungssaals einen Cousin, kaum mehr als ein Kleinkind, der in der Vorhalle kicherte. Ich kämpf‌te mich durch den Anstrom der Beileidsbekunder ans Tageslicht. Verwandte, Freunde, Bekannte, alle Trauergäste starrten mich an, ihre Blicke folgten mir auf dem Weg hinaus; plötzlich gab es etwas zu sehen, ein unerwarteter Lichtblick an diesem schwarzen Tag. Ich stürmte auf meinen Cousin zu; er sah mich nicht kommen, oder vielleicht sah er mich, aber ahnte nicht, dass ich es auf ihn abgesehen hatte, und mit der flachen Hand haute ich dem kichernden Jungen eine runter. Meine Hand machte auf seiner Wange ein Geräusch wie ein Peitschenknall. Er kann höchstens acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Dann wirbelte ich herum und packte Frank Doorleys fleischigen Arm. Er hatte am Eingang auf seinem Posten gestanden und die Hospiz-Spendendose bewacht. Los, rein da, nehmen Sie meiner Mutter den Rosenkranz ab. Er regte sich nicht. Machen Sie. Gefälligst. Dass Sie da reinkommen. JETZT!

Auf einen kraftlosen Wink meines Vaters hin tat er wie geheißen. Und die Tür musste für ein paar Minuten geschlossen werden, das Gesicht meines kleinen Cousins, der meine Mutter kaum gekannt hatte, war zu einem jaulenden, atemlosen Schrei verzerrt, und ältere Kinder drückten ihn und versuchten, ihn zu trösten, dann wurde er weggebracht, und die verkürzte Schlange aus Nachbarn und Freunden und Arbeitskollegen meines Vaters und halbvergessenen Verwandten schüttelte die hingehaltenen Hände und entfernte sich dann in stummer Prozession von dieser Peinlichkeit, und Daddy stand still und bleich da und sah Frank Doorley dabei zu, wie er an dem anstößigen Rosenkranz zerrte und zog und ihn Mammy schließlich aus den durchscheinenden Händen schnitt.

 

SHEE