Ich bin ein Kind der Aare. Sie ist der schönste Fluss der Schweiz, unscheinbar, aber lieblich anzuschauen. Sie entspringt den Gletschern des Berner Oberlandes, fließt durch das westliche Mittelland und erreicht bei Murgenthal den Aargau. Bei Aarburg durchbricht sie den ersten Jurariegel. Sie streift die alten Städte Olten, Aarau und Brugg, bis sie sich bei Koblenz mit dem Rhein vermengt. Obschon sie mehr Wasser mitbringt, verliert sie hier ihren Namen.
Ich habe mich stets gewundert, dass der Rhein männlich sein soll. Rhenus, Vater Rhein. Die Aare kann ich mir nicht männlich vorstellen. Sie ist weiblich, eine Mutter. Deshalb wohl muss sie ihren Namen hergeben.
Das Zentrum des Aargaus ist jenes goldene Gebiet, in dem die Lenzburg, die Brunegg, die Habsburg, die Wildegg und Wildenstein stehen. Wobei Wildegg und Wildenstein nicht ihrer Wildheit wegen so heißen, sondern nach der uralten Göttin Wil. Das ist altes, stolzes Minnesanggebiet, mit dem Römerlager Vindonissa zu Füßen, wo Reuss und Limmat in die Aare münden. Mit der Klosterkirche Königsfelden, die von der Königin Elisabeth in Erinnerung an den ermordeten König Albrecht gebaut wurde. Mit der Kirche auf dem Staufberg, wo die wunderschönen Glasfenster hängen. Mit dem heiligen Baum des Aargaus, der Linde von Linn auf dem Bözberg oben. Ihr Alter wird auf 800 Jahre geschätzt. Aber wer kennt schon ihr wahres Alter.
Diese Gegend ist ein Frauenland, regiert von der Göttin Verena, die später zur Heiligen erklärt wurde. Sie hatte die Macht, die physischen Gesetze aufzuheben. Sie ist von Solothurn auf einem Stein die Aare hinuntergeschwommen bis nach Koblenz und dort einige Kilometer den Rhein hinauf nach Zurzach, wo sie begraben liegt unter dem Verena-Münster. Die mächtigste, hilfreichste Göttin beidseits des Rheins. Noch heute wird sie von frommen Leuten besucht und um Hilfe angefleht. Ihre Insignien sind ein Kamm und ein Krüglein.
Eine der schönsten Sagen, die der 1833 in die Schweiz geflüchtete Bayer Ernst Ludwig Rochholz im Aargau gesammelt hat, erzählt von der Königin des Landes, die von ihrem bösen Bruder am Leben bedroht wurde. Sie hat sich von ihrer Burg, bei Auenstein direkt über der Aare gelegen, hinuntergestürzt in die Flut, um zu sterben. Aber die Aare hat sie aufgefangen, derart sanft, dass sie nicht ertrank, sondern über das Wasser gehen und das Land Richtung Rhein verlassen konnte.
Die frühchristlichen Kulturzentren der Schweiz sind Saint-Maurice im Wallis und Chur in Graubünden, die beide von Süden her über die Alpen christianisiert worden sind. Und St. Gallen, wo der Ire Gallus seine Einsiedelei hatte. Aber lange vorher waren schon die Römer da. Einige Kilometer unterhalb von Koblenz haben sie die Stadt Augusta Raurica gebaut. Und bei Brugg das Legionslager Vindonissa. Sie haben nicht nur ihre Legionäre mitgebracht, sondern auch ihre Kultur, ihre Mythen.
Der römische Autor Ovid hat die Metamorphosen verfasst, was man mit »Verwandlungsmythen« übersetzen könnte. Darin wimmelt es von Nymphen und Nixen, die das Wasser nicht nur bevölkern, sondern eins sind mit ihm. Denn die Römer wussten, dass alles Leben aus dem Wasser kommt.
Vor einiger Zeit bin ich zu einer Lesung ins Kloster Wettingen gefahren. Eine Zisterzienser-Abtei an der unteren Limmat, gegründet 1227, 1841 vom jungen, liberalen Kanton Aargau aufgehoben und enteignet. Es wurde ein Lehrerseminar darin untergebracht, das dann auch mein Vater besucht hat.
Vor der Lesung hat mich ein freundlicher Mann durch die alte Klosteranlage geführt. Wir kamen in eine hohe, von der Klosterkirche abgetrennte Seitenkapelle, in der Statuen der Wettinger Äbte standen. Auf die Rückwand ganz oben war in Rot eine zweischwänzige Wassernixe gemalt. Ich fragte den Mann, woher denn an diesem frommen Ort diese Seejungfrau komme. Er druckste herum und antwortete, diese Frauenfigur sei da oben, um die Mönche zu versuchen und ihre zölibatäre Standhaftigkeit dem Weibe gegenüber zu prüfen.
Später zeigte er mir in der Klosterkirche das Chorgestühl. Auf einmal bemerkte ich, wie er vorsichtig um sich schaute, ob die Luft rein sei. Dann leuchtete er mit einer Taschenlampe auf eine faustgroße Figur im Gestühl. Es war eine wunderschön herausgearbeitete zweischwänzige Wasserjungfer.
Das Kloster Wettingen, das wasserumflossen auf einer Halbinsel liegt, ist der Maria geweiht. Und zwar, so die fromme Theorie, der Maria der Seefahrer. Der Stella maris, dem Meeresstern. Womit die katholische Kirche offensichtlich die uralte Wassergöttin, die dort gewohnt hat, eingemeindet hat.
Ich habe mich damals über diese Wasserfrau erkundigt. Es war nichts über sie zu erfahren. Außer dass die Blechmusik Wettingen ihre Fahne, die sie bei ihren Aufmärschen vor sich herträgt, mit einer zweischwänzigen Wassernixe schmückt.
Jenes goldene Gebiet hat mächtige Adelsgeschlechter hervorgebracht. Die Frohburger, die Lenzburger, die Habsburger, die Rheinfelder. Das war noch vor den Städtegründungen. Vielmehr wurden die Städte von den Adelsgeschlechtern gegründet. Mein Heimatstädtchen Zofingen zum Beispiel von den Frohburgern. Lenzburg von den Lenzburgern. Brugg war die Garnisonsstadt der Habsburger, Rheinfelden die der Rheinfelder. Aber obschon ich im Geschichtsunterricht stets gut aufgepasst habe, habe ich von diesen Adelsgeschlechtern fast nichts erfahren. Außer von den Habsburgern, die waren als Feinde der Eidgenossen Schulstoff. Von den andern habe ich bloß gehört, dass sie ausgestorben seien. Weshalb, hat mir niemand gesagt. Weil es niemand wusste. Von der Frohburg, oberhalb von Olten auf einem Jurarücken gelegen, steht nur noch eine Ruine. Wir sind oft hinaufgestiegen, besonders in den Wintermonaten, wenn das alte Gemäuer im Sonnenlicht stand, während über Aare und Wigger Nebel lag.
Die Lenzburg steht noch. Eine mächtige Anlage mit großem Innenhof, fast eine kleine Stadt, mit tausendjährigem Palas. Auch die Habsburg gibt es noch immer. Wenn man auf der Autobahn von Basel nach Zürich fährt, sieht man sie auf einem bewaldeten Hügel direkt über der Aare aufragen, als wäre sie ein riesiger erratischer Block. Sie war der Stammsitz mehrerer deutscher Könige und Kaiser.
Von der Burg in Rheinfelden, die auf einer Insel im Rhein stand, ist kein Stein mehr zu sehen. Und dies, obschon die Rheinfelder als Herzöge von Schwaben eines der mächtigsten Fürstengeschlechter des deutschen Reiches waren. Ende des 11. Jahrhunderts wurde Rudolf von Rheinfelden zum deutschen König gewählt. Allerdings gab es noch einen Gegenkönig, den Sachsen Heinrich. Folglich mussten die beiden zum Kampf antreten. Das geschah im Jahre 1080 in der Schlacht an der Elster, die Rudolf gewann. Allerdings verlor er dabei seine rechte Hand, worauf er starb. Und Heinrich wurde rechtmäßiger König.
Rudolfs abgetrennte Hand wurde aufgehoben und einbalsamiert. Man kann sie im Domschatz von Merseburg bewundern.
Ich frage mich, warum ich von diesen alten Geschichten, die doch den Aargau geprägt haben, so wenig erfahren habe. Die Antwort ist klar. Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Und das waren nicht die Aargauer. Verlierer haben kein Anrecht auf eine eigene Geschichte. Untertanen schon gar nicht.
Im Jahre 1415 hatte der Habsburger Herzog Friedrich, genannt Friedrich mit der leeren Tasche, Streit mit König Sigismund. Es ging dabei um die Wahl des rechtmäßigen Papstes. Jedenfalls hat König Sigismund über den Habsburger die Reichsacht verhängt. Was hieß, dass seine Ländereien, zu denen das Gebiet des heutigen Aargaus gehörte, vogelfrei waren und ungestraft geraubt werden durften.
Das ließen sich die lieben, getreuen Eidgenossen nicht zweimal sagen. Die Berner besetzten den westlichen Teil des heutigen Kantons Aargau bis nach Brugg hinunter, samt den Jurapässen ins Fricktal hinüber. Die Innerschweizer und Zürcher eroberten die Täler der Reuss und der Limmat und die ehemalige Grafschaft Baden. Nur das Fricktal wollte niemand haben, vermutlich war es zu abgelegen, zu waldig.
Das ist heute mehr als 600 Jahre her, und 2015 musste irgendwie gefeiert werden. Obschon es niemandem ums Feiern war. Das Jubiläumsmotto lautete: »Die Eidgenossen kommen!« Was wohl irgendwie aufmunternd gemeint war.
Im Grunde wissen es alle: 1415 war für den Aargau eine Katastrophe. Denn die Aargauer wurden nicht als Eidgenossen aufgenommen, sondern als Untertanen unterjocht und ausgeplündert.
Und zwar bis 1798, als die Franzosen einmarschierten und der Alten Eidgenossenschaft ein Ende bereiteten. Damals wurden im Aargau Freiheitsbäume aufgestellt, es wurde getanzt. In Bern räumten die Franzosen den Gnädigen Herren die Schatzkammern aus. Sie beluden fünf schwere, fünfspännige Pferdewagen mit Silber und Gold und fuhren damit ins französische Garnisonsstädtchen Hüningen bei Basel. Aarau wurde für kurze Zeit Hauptstadt der Helvetischen Republik. Und der Aargau 1803 ein selbständiger Kanton.
In jenen Jahren wurde das ehemalige Untertanenland zu einem Zentrum des geistig-politischen Fortschritts. Das hatte schon mit der Gründung der Helvetischen Gesellschaft 1761 in Bad Schinznach angefangen, wo sich revolutionäre Geister regelmäßig zu Diskussion, Tanz und Badevergnügen trafen. Jetzt, nach Ende des ancien régime, kamen bedeutende Geister nach Aarau. Heinrich Pestalozzi aus Zürich, Remigius Sauerländer aus Frankfurt am Main, Heinrich Zschokke aus Magdeburg. Sie alle waren revolutionäre Volksaufklärer, die für das einfache Volk schreiben wollten. Dieser volksaufklärerische Zug ist dem Aargau bis heute eigen geblieben. Denn der Aargau hatte einen enormen Nachholbedarf in Sachen Bildung und Theorie. Wissen macht frei. Und genau das hatten die eidgenössischen Vögte fast vierhundert Jahre lang verhindert. Es gibt noch heute im großen, reichen Kanton Aargau keine Universität.
Pestalozzi gab im Dienste der Helvetik das Helvetische Volksblatt heraus. 1825 erhielt er das aargauische Ehrenbürgerrecht. Er wurde im aargauischen Birr begraben.
Heinrich Remigius Sauerländer führte ab 1803 in Aarau eine Buchhandlung samt Verlag. Er verlegte Pestalozzis Wochenschrift für Menschenbildung und Zschokkes Schweizerboten und die Stunden der Andacht. 1822 baute er in der Klus bei Küttigen eine Papiermühle. Heute wohnt dort eine Künstlerkolonie.
1941 hat der Sauerländer Verlag Die rote Zora und ihre Bande von Kurt Held herausgegeben. Eigentlich hieß der Autor Kurt Kläber und war in jungen Jahren Kommunist gewesen. Deswegen hätte er aufgrund der Schweizer Zensur nicht publizieren dürfen. Daher das Pseudonym. Weil der Krieg ausbrach, fand das geniale Jugendbuch vorerst keine große Beachtung. Erst in den fünfziger Jahren wurde die Zora zum Bestseller. Mehrere Verlage rissen sich um den Autor. Doch Kurt Held blieb Sauerländer treu. Die schwarzen Brüder sind übrigens auch von ihm, obschon er sie unter dem Namen seiner Ehefrau Lisa Tetzner publiziert hat.
Heinrich Zschokke kam 1798 nach Aarau. Hier wurde er von Philipp Albert Stapfer aus Brugg, der in der helvetischen Regierung Minister der Künste und Wissenschaften war, zum Chef des Bureaus für Nationalkultur berufen. Er verfasste Romane und fromme Traktate, er war ein sehr populärer Schriftsteller. Seine noch heute lesenswerte Autobiographie trägt den Titel Eine Selbstschau.
Er hat so viel Geld verdient mit seiner Literatur, dass er eine prächtige Villa bauen konnte. Sie liegt auf einer Anhöhe gleich ennet der Aarauer Aarebrücke. Sie heißt Blumenhalde und ist heute ein Kulturzentrum.
Ich will hier noch eine Autorin und einen Autor erwähnen, die für mich persönlich sehr wichtig waren und sind. Beide sind eingeborene Aargauer und haben ihre besten Texte in Mundart geschrieben. Es sind dies Sophie Haemmerli-Marti und Paul Haller.
Sophie Haemmerli-Marti (1868–1942) kam aus Othmarsingen und lebte als Frau eines Arztes in Lenzburg. Sie war Schulkameradin von Frank Wedekind, der oben auf dem Schloss aufwuchs. Obschon ich bloß zwei Gedichte von ihr auswendig kann, behaupte ich, dass sie eine großartige Lyrikerin war. Das eine ist der Text zum Lied von den zwei Kätzlein, das andere der Text zum Weihnachtslied von den drei Engeln. Ersteres ist in Schulbüchern abgedruckt und im Schweizerlande weit herum bekannt.
Ich habe kürzlich gelesen, dass der Zürcher Altbundesrat Christoph Blocher in der Mehrzweckhalle Zofingen über einige wichtige Aargauer geredet hat. Über die Habsburger, Heinrich Pestalozzi und Sophie Haemmerli-Marti. In einem Interview vorab hat er vom Lied von den zwei Kätzlein geschwärmt und gesagt, er singe es seinen Enkeln vor. Auf die Frage, ob er es auch in der Mehrzweckhalle Zofingen singen werde, hat er geantwortet, vielleicht, vielleicht auch nicht. Vielleicht hat er es tatsächlich gesungen, vor tausend Leuten. Eine seltsame, eigentlich unerträgliche Vorstellung für mich. Denn ich habe das Gefühl, dieses Lied gehöre uns Aargauern. Was offenbar eine Qualität von Mundart ist.
Das Weihnachtslied von den drei Engeln, die an Heiligabend auf die Erde herabfliegen, um zu schlichten und zu helfen, rührt mich stets so sehr, dass aus meinen Augen das Aargauer Augenwasser hervordrückt. Das kommt daher, dass es mich an unsere Weihnachten zu Hause in meiner Kindheit erinnert. Wir sangen jeweils Oh du fröhliche und Stille Nacht. Dann, zum Schluss, sang mein Vater dieses Lied. Und zwar allein. Obschon er im Zofinger Männerchor war, habe ich ihn sonst nie singen hören. Er sang es leise, achtete genau auf den Text, als wollte er nichts anderes als eine Geschichte erzählen.
Ich wusste lange nicht, von wem dieses Lied war. Erst viel später, als ich ihn bat, mir doch den Text auf ein Blatt Papier zu schreiben, habe ich es erfahren.
Als ich selber zwei Kinder hatte, habe auch ich ihnen dieses Lied vorgesungen, ebenfalls allein.
Neuerdings feiern wir Weihnachten bei meiner Schwester, die in der Nähe von Schinznach Bad wohnt. Da ich Weihnachtslieder nicht mehr ohne Tränen ertrage, verziehe ich mich während des Singens jeweils ins Schlafzimmer. Ich höre ihnen zu, wie sie versuchen, das Lied von den drei Engeln zu singen. Den Text können sie, aber die Melodie kennt niemand mehr genau.
Paul Haller (1882–1920) wuchs in Rein bei Brugg auf, im Pfarrhaus direkt über der Aare. Er studierte Theologie und wurde Pfarrer auf Kirchberg bei Aarau. Von Glaubenszweifeln geplagt, legte er sein Amt nieder und begann ein zweites Studium in Germanistik, Geschichte und Psychologie. Er schrieb eine hervorragende Dissertation über Pestalozzis Dichtung, wobei ihn vor allem Pestalozzis Volkssprache interessierte. Er wurde Lehrer am aargauischen Lehrerseminar in Wettingen. 1920 schied er freiwillig aus dem Leben.
1911 erschien sein Versepos s’Juramareili, 1916 sein Theaterstück Marie und Robert. Es wurde 1917 vom Aarauer Dramatischen Verein uraufgeführt. Eine Berufsbühne, wie in allen größeren Städten üblich, gab es im Aargau nicht.
Diese beiden Texte gehören, neben einer Handvoll Gedichte, zum Besten, was die Schweizer Literatur zu bieten hat. Trotzdem kennt sie fast niemand. Denn sie sind in Brugger Mundart verfasst. Marie und Robert wurde zwar mehrfach von professionellen Bühnen nachgespielt, vom Zürcher Schauspielhaus zweimal. Dennoch gilt Haller als zweitrangiger Autor, da Mundart bis heute als zweitrangig gilt. Wenn es ernst wird, so die landläufige Meinung, muss es Hochdeutsch sein.
Aber Mundart ist eben auch eine schöne, poetische Sprache. Wir Deutschschweizer drücken alles, was wir sagen wollen, in Mundart aus. Und wenn ein begnadeter Autor kommt und seine Geschichten in Mundart erzählt, entsteht auch aus Mundart Literatur. Im Theater geht das gut, weil man die Wörter hört und nicht langsam entziffern muss. Muss man aber Mundart lesen, wird es mühsam. Besonders wenn man einen anderen Dialekt spricht. Deshalb gilt Paul Haller noch heute als lokaler Aargauer Autor.
Es gab zu Hallers Zeiten eine ganze Reihe von Mundartautoren wie Alfred Huggenberger und Meinrad Lienert. Sie wurden in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg geehrt und gepflegt. Denn sie besangen eine heile Schweiz, wie es sie nie gegeben hat. Bodenständige Schweizer Freiheit von altem Schrot und Korn gegen Großdeutschlands Blut und Boden. Ich staune immer wieder darüber, wie sehr sich die Schweiz damals durch die deutschen Nazis auf das Niveau des Nationalkitsches herunterdrücken ließ. Offenbar war man der Meinung, es brauche einen eigenen, alle Bereiche umfassenden Nationalismus, um die Nazis abwehren zu können.
Paul Haller war anders. Er war ein hochbegabter Intellektueller, der dem christlichen Sozialismus des Theologen Ragaz nahestand. Er hat nicht die Bauernsame verherrlicht, sondern sehr genau die entwurzelte, verarmte Arbeiterschaft seiner Umgebung beschrieben. Das Juramareili zum Beispiel stammt aus der ärmsten Gesellschaftsschicht. Es wächst in Not und Elend auf und hat keine Chance auf ein erfülltes Leben. Es stirbt jung an Schwindsucht. Robert in Marie und Robert ist ein Arbeiter kurz vor dem Generalstreik von 1918, der die Schweiz erschüttert hat. Er kämpft um sein altes Haus, in dem er zusammen mit seiner Mutter lebt. Er fragt sich, ob er mitstreiken oder nach Amerika auswandern soll. Er tut beides nicht, er ist nicht mehr fähig zur entschlossenen Tat. Er ist und bleibt ein Untertan.
Paul Haller hat auch hochdeutsche Texte geschrieben. Sie sind allerdings zweitrangig. Dass er zur eigenen Mundart griff, um seine eigene Wahrheit auszudrücken, grenzt an ein Wunder. Er musste doch wissen, dass er damit seinen Wirkungsbereich einschränkte. Zudem hatte er in seiner Mundart keine adäquaten Vorbilder. Und mit dem Juramareili auch noch ein Versepos in klassischen Blankversen, kaum zu glauben. Offenbar hat er quälend lange nach einer eigenen Sprache gesucht, nach einer Volkssprache. Als er sie in der eigenen Mundart fand, sprudelte es aus ihm heraus, bis die Quelle versiegt war. Er hat, ähnlich wie Johann Peter Hebel, nur kurze Zeit in Mundart geschrieben.
Vielleicht hängt die Schmalheit von Paul Hallers Werk aber auch mit seinem Aargauer Wesen zusammen. Wer schreibt und dies bei kühlem Verstande tut, erzittert vorerst einmal vor Angst. Denn er weiß, dass er sich damit in eine kühne Ahnenreihe stellt. Dass er den Anspruch erhebt, mit der eigenen Feder Literatur herzustellen. Dieser Anspruch lässt manchen schon vor dem ersten Wort erlahmen. Nicht viele haben die Kraft, sich dieser Hybris zu stellen. In Zürich gab es Gottfried Keller, im Emmental Jeremias Gotthelf, in Basel Jakob Burckhardt. Wen gab es im Aargau? War es im Aargau überhaupt gestattet, Literatur herzustellen? Erlaubten die Gnädigen Herren solch eine Anmaßung?
Der vier Jahre ältere Robert Walser hat, so nehme ich an, die Angst vor dieser Hybris ebenfalls gekannt. Deshalb hat er sich so kleingemacht, kleiner geht nicht. Und ist gerade deshalb so groß geworden.
Der vierzehn Jahre jüngere Friedrich Glauser hat sich ebenfalls kleingemacht, indem er vor allem Kriminalromane und ähnlich unseriöses Zeug schrieb. Auch er ist dadurch groß geworden.
Vielleicht hat Paul Haller deshalb zur Mundart gegriffen, weil er sich ebenfalls kleinmachen wollte. Mundart war doch wohl noch gestattet. Mundart ging nur die Leute etwas an, die diese Mundart sprachen. Gerade diese Bescheidenheit hat Haller groß gemacht.
Wir alle, die wir aus dem Aargau kommen und schreiben, lieben und verehren Paul Haller. Wie ich aus Gesprächen weiß, galt dies auch für Herrmann Burger.
Herrmann Burger (1942–1989) kam aus Menziken im oberen Tal der Wyna und schied auf der Brunegg freiwillig aus dem Leben. Er war lebenslang hin- und hergerissen zwischen jubelndem Größenwahn und himmeltrauriger Todessehnsucht. Er hat den Aargau bloß während des Studiums verlassen. Anschließend ist er zurückgekehrt. Er hat mit Vorliebe Gebäude der oberen Stände bewohnt. Das Pfarrhaus auf Kirchberg, wo Paul Haller Pfarrer gewesen war. Ein Nebengebäude auf Schloss Brunegg, wo der Historiker von Salis residierte. Burger wollte alles zugleich sein, Autor, Privatdozent, Feuilletonchef und Rennfahrer im Ferrari. Es war eine Lust, ihm zuzuschauen, mit welch kindlicher Freude er in sein prachtvolles Gefährt stieg und davonbrauste.
1976 hat er mit Schilten seinen ersten Roman veröffentlicht, und der ist eine Wucht, eine Pracht, eine Schönheit sondergleichen. Er handelt vom gescheiterten Pädagogen und Volksaufklärer Armin Schildknecht, der im hintersten Krachen des Aargaus langsam und konsequent dem Wahnsinn anheimfällt. Vorbild ist das Ruedertal, wo Burger eine Zeitlang unterrichtet hat. Der Roman ist eine einzige Abrechnung, ein sprachlicher Racheakt an der Realität. An den komplizierten Verkehrsverbindungen, am Schulsystem, am Ruedertal, an der Welt schlechthin. Eine hinreißende Sprachorgie aus aberwitzigen Vorwürfen und Klagen.
Nach dem Zusammenbruch der kurzlebigen Helvetischen Republik versuchte Bern, seine ehemaligen Untertanengebiete zurückzubekommen. Der bereits erwähnte Philipp Albert Stapfer, der bevollmächtigter Minister der Schweiz in Paris geworden war, hat dies verhindert. Die Mediationsverfassung von 1803, die mit Napoleon ausgehandelt wurde, bestimmte, dass der Aargau ein eigenständiger Kanton blieb. Das gilt bis heute.
Ein seltsames Gebilde, dieser Kanton. Zusammengesetzt aus verschiedenen Teilen, jeder mit eigener Geschichte und Kultur. Kein eigentliches Zentrum, keine große Hauptstadt, die alles in ihren Bann gezogen hätte. Selbstverständlich hatten die einzelnen Teile während der Religionswirren des 16. Jahrhunderts die Konfession ihrer Herren annehmen müssen. Das Untertanengebiet der Berner wurde reformiert, die andern Teile blieben katholisch. Man kann die konfessionelle Zugehörigkeit noch heute an den Namen der Wirtshäuser ablesen. In den Ortschaften des ehemals bernischen Aargaus gibt es einen Bären, in den Gemeinen Herrschaften ein Kreuz. Im Fricktal einen Habsburger Adler.
Im neuen Kanton hatten die protestantischen Radikalen die Mehrheit vor den katholischen Konservativen. Diese Mehrheit machte sich sogleich daran, das Volk zu belehren und aufzuklären. Es wurden die Aargauische Kantonsschule und ein Lehrerseminar eingerichtet. Dann ging es gegen die Bildungshoheit des Klerus in den katholischen Gebieten. Das heißt, es ging ums Eingemachte, um die beiden Klöster Wettingen und Muri. Sie wurden 1841 aufgehoben. So lautet die Sprachregelung. Tatsächlich wurden sie enteignet, sprich: gestohlen.
Man muss schon einmal durch das Tal der Bünz südwärts gefahren sein, um zu wissen, was das Kloster Muri für eine Herrlichkeit war. Ein unglaublich mächtiger Bau erscheint dort schon von weitem am Horizont, einer Talsperre gleich, mit den spitzen Türmen der prächtigen Klosterkirche, die sich über der romanischen Krypta erhebt.
Es gab 1841 einen kurzen Aufstand im Freiamt, der schnell niedergeschlagen wurde. Ein Teil der Mönche floh nach Österreich und gründete dort ein Nachfolgekloster. Ein anderer Teil der Klosterbrüder ging nach Sarnen in Obwalden und errichtete dort eine Internatsschule.
Der neue Bundesstaat von 1848, die Confoederatio Helvetica, ist an einem Schützenfest in Aarau mit vaterländischen Reden und Gesängen eingeläutet worden. Man kann dies im Fähnlein der sieben Aufrechten von Gottfried Keller nachlesen.
Selbstverständlich kann man sich fragen, was diese alten Geschichten heutzutage noch sollen, in einer Zeit, in der sich die Welt so schnell verändert, dass ein alter Mann, wie ich einer bin, schlicht nicht mehr mitkommt mit Verstehen und Begreifen. Aber wir werden eben nicht nur von der Gegenwart bestimmt, sondern auch von der Vergangenheit. Selbst wenn uns dies nicht bewusst wird.
Mein Freund und Kollege Pirmin Meier stammt wie ich aus Würenlingen. Im Gegensatz zu mir ist er in diesem katholischen Dorf auch aufgewachsen. Er hat nicht, wie ich, die Kantonsschule in Aarau besucht, sondern die Internatsschule in Sarnen. Er hat nicht, wie ich, eine Dissertation über den literarischen Expressionismus geschrieben, sondern über den katholischen, doch eher konservativen Sonettdichter Reinhold Schneider. Diese unterschiedliche Thematik wurde uns beiden nicht durch die Genetik in die Wiege gelegt, sondern durch die aargauische Geschichte.
Manchmal spielt die Genetik eine überraschend eindeutige Rolle. Es gibt ein Foto von 1893 von meinen mütterlichen Vorfahren. Darauf ist mein Großvater Friedrich Riniker im Alter von etwa zehn Jahren abgebildet. Als meine Tochter dieses Foto gesehen hat, ist sie erschrocken. »Ein Doppelgänger«, hat sie gesagt, »der schaut aus wie du auf deinen Jugendfotos.«
Aber je länger ich mein Leben überdenke, umso mehr scheint es mir, ich sei von den äußeren Umständen bestimmt worden. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass man das eigene genetische Herkommen gar nicht richtig überdenken kann, da es von Anfang an zu einem gehört wie die Luft, die man mit dem ersten Atemzug einatmet. Die äußeren Einflüsse aber kann man überdenken. Und wenn ich es tue, komme ich zum Schluss, dass ich ein Produkt der Aargauer Geschichte bin.
Da ich den Familiennamen meines Vaters trage und nicht den meiner Mutter, beginne ich mit der väterlichen Familiengeschichte. Ich weiß darüber nicht viel, außer dass die Schneiders in Würenlingen heimatberechtigt sind und immer waren. Und dass sie, wie mein Vater einmal erzählt hat, früher Wirte im Würenlinger Rössli waren und das Vorspannrecht für die Pferdewagen über den Berg hinüber nach Zurzach besaßen, wo jedes Jahr am Namenstag der heiligen Verena, am 1. September, die Zurzacher Messe eröffnet wurde.
Die Wirtschaft zum Rössli gibt es immer noch. Idiotischerweise ist sie vor einiger Zeit in Bären umbenannt worden, obschon Würenlingen nie zum Untertanengebiet von Bern gehört hat. Es hat stets zur katholischen Grafschaft Baden gehört.
Die Schneiders waren wohl nie Bauern. Mein Vater hat mir einmal wörtlich gesagt: Wir haben nie gebauert. Er war in solchen Dingen sehr genau. Nur hat er selten von solchen Dingen erzählt.
Nach seinem Tod hat mir meine Stiefmutter einen Briefwechsel zwischen meinem Vater und der Gemeindekanzlei Würenlingen übergeben. Darin erkundigt sich mein Vater nach einem Gerücht, das besage, es habe in der Ahnengalerie der Schneiders vor Generationen einmal ein Meier dazwischengefunkt. Der Gemeindekanzlist antwortet, das sei gut möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. Denn es habe damals eine Frau Schneider nach dem Ableben ihres Ehemannes sehr schnell einen Herrn Meier geheiratet. Ein Sohn sei indessen noch vor dieser Hochzeit geboren worden. Er sei auf den Namen Schneider eingetragen worden, obschon er vermutlich bereits vom späteren Ehemann Meier gezeugt worden sei. Jedenfalls sei man im Dorf einhellig dieser Meinung.
Ich bin einmal, noch bevor ich von diesem Briefwechsel wusste, dem Würenlinger Gemeindeammann vorgestellt worden. Es war anlässlich der Übergabe des Aargauer Literaturpreises an Pirmin Meier. Ich habe die Preisrede gehalten. Der Gemeindeammann hieß Schneider, er war von eher kleiner, untersetzter Gestalt. Ich selber bin ziemlich groß, ähnlich wie Pirmin Meier. Ich habe dem Ammann die Hand geschüttelt, erfreut, einen aus meiner Familie vor mir zu haben. »Dann sind wir also verwandt«, habe ich gesagt. »Nein«, erwiderte er, »das sind andere.« Ein seltsamer Satz, habe ich gedacht, was will er mir damit sagen?
Schneider oder Meier, das ist gehupft wie gesprungen. Beides ist nicht ideal für einen Schriftsteller, der sich einen Namen machen will.
Mein Vater ist in einem Haus mitten im Dorf aufgewachsen. Sein Vater hieß Marin, seine Mutter Marie, mit ledigem Familiennamen Hochstrasser. Marin Schneider war Posthalter.
Würenlingen liegt abseits der Bahnlinie am Rande einer weiten Ebene, durch welche die Aare fließt. Über dem Dorf erheben sich Rebberge, zuoberst steht die Kirche. Als mein Vater klein war, fuhr von der Bahnstation Untersiggenthal regelmäßig eine Postkutsche über Würenlingen nach Lengnau und Endingen hinüber, die man die beiden Judendörfer nannte. Die Familie der Bundesrätin Ruth Dreifuss stammt von dort, und die von Solomon Guggenheim, nach dem das New Yorker Guggenheim-Museum benannt ist. Mein Vater konnte sich noch gut an die Postkutsche erinnern, die an der Würenlinger Poststation kurz anhielt. Er hat erzählt, wie er jeweils die dunkel gekleideten Juden bestaunt hat, die darin saßen.
Er hat ordentlich zu schlucken gehabt, als mein Bruder eine Frau mit jüdischem Familiennamen geheiratet hat. Er wollte sich zwar nichts anmerken lassen. Denn er hat stets versucht, nach seiner Vernunft zu leben. Aber ich als sein Sohn habe es doch gemerkt. Und habe gestaunt.
Die Posthalterfamilie Schneider-Hochstrasser hatte zwei Töchter und zwei Söhne. Mein Vater Ernst war der Jüngste, im Dorf Posthalters Ernst genannt. (Ich selber bin Posthalters Ernst der Jüngste.) Wie es damals üblich war, hielten sie ein Schwein und ein paar Hühner. Dazu noch einige Äcker, Getreide, Kartoffeln, Runkeln für das Schwein. Die eigene Jauche führten sie in einer Benne auf die Äcker und verteilten sie mit einem Chüefi als Dünger.
Eines Tages brachte jemand die ersten Tomaten ins Dorf, und alle haben sich über die herrliche Frucht gewundert. Sie haben bass gestaunt, als der Schuhmacher, der auf die Stör kam, um der Familie neue Schuhe anzufertigen, zum ersten Mal gepaarte Schuhe machte. Also für jeden Fuß eine Extraform. So etwas hatten sie noch nie gesehen.
Die Würenlinger waren mausarm. Es gibt ein Foto aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Darauf stehen vor der Würenlinger Posthalterei ein paar noch nicht zehnjährige Jungs, kahlgeschoren, barfuß. Ein Bild wie aus dem Mittelalter. Gut möglich, dass auch mein Vater drauf ist. Er wurde 1905 geboren.
Dann traf die Familie ein Unglücksschlag. Mein Vater war ungefähr sieben. Ich weiß es nicht genau, und ich wüsste auch niemanden, den ich fragen könnte. Denn die Vergangenheit interessiert in der Schneiderfamilie niemanden groß. Jedenfalls legte sich der Posthalter Marin Schneider eines Mittags ins Bett, klagte über Schmerzen in der Brust und stand nicht mehr auf. Er starb nach wenigen Tagen.
Der Ernährer war also weg. Und die restliche Familie hat gezittert vor Angst. Denn wovon sollte sie leben? Versicherungen gab es keine. Die Kinder waren noch schulpflichtig. Es drohte die akute Gefahr, dass die Kinder armengenössig wurden und verdingt werden mussten.
Offenbar haben der Gemeindeammann und der Pfarrer an die Postdirektion in Aarau geschrieben und eindringlich darum gebeten, der Frau Marie Schneider das Posthalteramt zu übergeben. Sie könne das, zudem würden ihr die älteren Kinder helfen.
Es war damals nicht üblich, dass eine Frau Posthalterin wurde. Aber die Postdirektion hat zugestimmt. Womit die Familie gerettet war.
Einmal hat mein Vater von einem entfernten Verwandten erzählt, der auch in Würenlingen wohnte. Dieser Mann war verheiratet und hatte fünf Kinder. Eines Tages war er verschwunden und kam nicht mehr zum Vorschein. Jahre später wurde bekannt, er sei über Le Havre nach Amerika ausgewandert.
Ernst Schneider hat im Dorf die Primarschule und in Brugg die Bezirksschule besucht. Üblicherweise fuhr er mit einem Fahrrad nach Brugg. Im Winter, wenn Schnee lag, ging er zu Fuß. Am Morgen zwei Stunden hin, am Abend zwei Stunden zurück. Erst nach Untersiggenthal, dann über die Aarebrücke bei Stilli, am Hügel von Rein vorbei, wo Paul Haller aufgewachsen war. Über Mittag bekam er in Brugg eine Suppe mit Brot.
Er war ein guter Schüler, er hätte eigentlich an die Kantonsschule in Aarau gehört und später an eine Uni. Er wäre ein erstklassiger Historiker geworden. Aber das war zu teuer. Der Pfarrer entschied, dass er ans Lehrerseminar in Wettingen gehen sollte. Dort erhielt er gratis Kost und Logis. Und Lehrer war ein geachteter Beruf.
Er arbeitete anschließend an mehreren Primarschulen als Vikar und machte eine Weiterbildung zum Gewerbeschullehrer. Er wurde an die Gewerbeschule Zofingen gewählt. Dort blieb er bis zu seiner Pensionierung.
Er starb mit 85 Jahren. Sein Sterben ging so vor sich: Er wollte in seinem Haus die Treppe zur Toilette hochsteigen, als er das Gleichgewicht verlor, nach hinten fiel und mit dem Kopf aufschlug. Meine Stiefmutter hörte seinen Schrei und rief sofort die Ambulanz an. Im Krankenhaus wollte der Arzt wissen, ob er noch bei Verstand war, und stellte ihm einige Fragen. Mein Vater gab klar und genau Antwort. Auf die Frage, wo er sich jetzt befinde, machte er noch einen Witz und sagte: In der Hölle. Kurz darauf fiel er ins Koma und starb nach zwei Tagen. Er wurde bestattet auf dem Friedhof Bergli in Zofingen, wo schon meine Mutter begraben worden war.
Er hatte kurz vor meiner Geburt ein Haus in der Altachen gekauft, die gegen Brittnau hin liegt. Ein altes Bauerngebiet mit einer Gruppe Einfamilienhäuser mit großen Gemüsegärten.
Dass er dieses Haus kaufen konnte, verdankte er der Zurzacher Tante. Das war die Schwester meiner Großmutter Marie und folglich meine Großtante. Sie hatte einen wesentlich älteren Weinhändler aus Zurzach geheiratet. Dieser Weinhändler hatte offenbar an der Zurzacher Messe enorm viel Geld verdient. Er besaß eines dieser riesigen Messehäuser, die meist einen Tiernamen tragen. Sein Haus, so glaube ich mich zu erinnern, hieß Storchen oder Schwanen. Heute befindet sich darin ein Altersheim.
Zurzach ist einer der schönsten, seltsamsten Flecken im Schweizerland. Zwei große, alte Kirchen, eine davon das Münster, das aus der Zeit der Karolinger stammt. Das Grab der heiligen Verena. Die stolzen Messehäuser mit großem Innenhof für die Händler. Ein richtiges Bijou, aber ich kenne unter meinen Bekannten niemanden, der schon in Zurzach gewesen ist. Außer zum Baden vielleicht im benachbarten Thermalbad.
Als der Weinhändler starb, hat die Zurzacher Tante einen Teil seines Vermögens geerbt. Als sie selber starb, hat ihre Schwester, also meine Großmutter, einen Teil dieses Vermögens geerbt. Als meine Großmutter starb, haben die vier Kinder geerbt, jedes ein paar tausend Franken vielleicht. Damit hat mein Vater das Haus in der Altachen gekauft.
Als ich zehn war, hat er dieses Haus wieder verkauft und mit dem Erlös ein etwas teureres gekauft, das gleich oberhalb des alten Pulverturms der Stadtmauer stand. So musste er nicht mehr mit dem Velo in die Schule fahren, sondern konnte zu Fuß hingehen. Auch bedeutete das neue Heim in der Zofinger Gesellschaft einen sozialen Aufstieg. In der Altachen wohnten Arbeiter, an der Bottenwilerstraße, die über den bewaldeten Hügel nach Bottenwil im Uerkental hinüberführte, wohnten Leute der gehobenen Klasse. Gleich über der Straße residierte der Zahnarzt Widmer, nebenan der Fürsprech Ringier.
Mein Vater war ein typischer Aufsteiger, eifrig, verbissen, mit großem Arbeitseinsatz. Er hat es so weit gebracht, wie es ihm überhaupt möglich war. Er hat mir mehrmals den Rat gegeben, ich müsse gewandt sein. Ein seltsames Wort aus seinem Munde. Gewandt war genau das, was er in keinem Fall war. Vermutlich hat ihn das geärgert.
Ich habe in meinem Leben sehr oft über ihn nachgedacht. Ich habe immer wieder versucht, seine gebieterische Gestalt loszuwerden. Es ist mir nie ganz gelungen. Am besten gelang es in den 35 Jahren, die ich mit A. zusammen war. Wenn sie eine Wut hatte auf mich, schrie sie mich an: Du verdammter Würenlinger.
Heute ist der 5. Februar 2016. Ich bin am Morgen mit meiner Tochter und ihrem Mann über die französische Grenze nach Huningue gefahren. Erst durch die Anlagen der Basler Chemie, die beidseits der Grenze groß und finanzstark expandiert, dann über die alte Schleuse, die vom Rhein weg ins französische Kanalsystem führt. In Huningue auf dem Paradeplatz der ehemaligen Garnison der grande nation haben wir geparkt. Wir sind über die neue Fußgängerbrücke ins deutsche Weil hinübergegangen. Es ist eine Hängebrücke, an Stahlseilen über den Fluss gespannt. Sie schwingt ein bisschen unter dem Gewicht der Fußgänger und Radfahrer. Es ist wie ein leichtes Erdbeben unter den Füßen. Mitten auf der Brücke sind wir einige Minuten stehen geblieben und haben den Anblick genossen. Der breite, mächtige Fluss, der hier schon ein bisschen gestaut ist von den Schleusen von Kembs weiter unten. Der wunderbare Geruch nach Wasser, Möwenschreie in der Luft, drei schneeweiße Schwäne, die mit wehenden Flügeln nach Süden flogen, wo die hohen Gebäude der Chemie standen. Links die Einfahrt zum Rheinhafen.
Wir haben in Weil ein Straßencafé gesucht und keines gefunden. Deshalb sind wir zurück nach Huningue gegangen auf den weiten, viereckigen Platz, der ein bisschen vergammelt wirkte, obschon er frisch renoviert worden ist. Wie oft in Frankreich.
Auf dem Platz war ein kleiner Markt. Ich habe Orangen gekauft und hell leuchtende Karotten. Dazu beim maître fromager aus Ferrette, der jeden Freitag hier seinen Stand hat, einen Münsterkäse. Wir haben uns bei einem Algerier ins Straßencafé gesetzt und uns von der Sonne bescheinen lassen. Eine Wärme wie im Frühling, ein Licht wie in Südfrankreich. Eine ruhige, fast feierliche Stimmung, als wären wir an einem Mittelmeerstrand in den Ferien.
Bedenke ich den Werdegang meines Vaters, komme ich nicht umhin, ihm hohen Respekt zu zollen. Er hat konsequent seinen eigenen Weg der Aufklärung beschritten. Nur schon, dass er aus der katholischen Kirche ausgetreten ist, finde ich erstaunlich. Er hat zwar nie darüber geredet. Er hat bloß einmal gesagt, die Wunder des Heilands, zum Beispiel seine Fähigkeit, über das Wasser zu wandeln, seien nichts als billige Propaganda. Heute würden diese Wunder von der modernen Technik bei weitem übertroffen. Er ist dann der reformierten Landeskirche beigetreten, wohl dem Frieden zuliebe. Und weil es für einen Gewerbeschullehrer nicht dienlich war, keiner Konfession anzugehören.
Ich habe gute Freunde, die katholisch sind. Einige haben eine Klosterschule besucht. Das merkt man ihnen an, was mich immer wieder erstaunt. Sie kennen sich in Dingen aus, von denen ich keine Ahnung habe. Zum Beispiel bei Augustinus oder bei Thomas von Aquin. Und sie haben ein erstaunliches Durchsetzungsvermögen, wenn es um ihren persönlichen Vorteil geht. Offenbar sind sie von den Patres systematisch in der Gewissheit bestärkt worden, nicht nur den Herrgott auf ihrer Seite zu haben, sondern auch die Jungfrau Maria und alle Heiligen.
Ich behaupte, dass eine katholische Erziehung viel tiefer in die Seele eines Kindes eingreift als eine protestantische Erziehung. Deshalb kommen die Katholiken auch so schwer von ihrer Kirche los.
Die Grafschaft Baden, zu der Würenlingen gehörte, hat man den schwarzen Erdteil genannt. Der Pfarrer gebot über alles. Als mein Vater eine protestantische Frau heiraten wollte, hat seine Mutter, also meine Großmutter, nur unter der Bedingung eingewilligt, dass die zu erwartenden Kinder katholisch würden. Was dann auch geschah, meine beiden älteren Geschwister wurden katholisch getauft. Doch dann starb meine Großmutter, und wir wurden alle drei protestantisch erzogen.
Meine Würenlinger Tante, die ebenfalls Marie hieß und bei der ich oft und gern in den Ferien war, hat mir einmal kalten Arsches ins Gesicht gesagt, ich sei ein Heide.
Gewiss hat dabei die Enteignung der Klöster durch die protestantische Mehrheit eine Rolle gespielt. Den Raub ihres Reichtums und ihrer Kultur haben die Katholiken wohl niemals verwunden. Trotzdem hat mich die Präpotenz meiner katholischen Großmutter lange Zeit gestört. Meiner Meinung nach sollte man es einer Mutter überlassen, wie sie ihre Kinder erziehen will.
Ich lese in letzter Zeit sehr viel. Ich lese vor allem Biographien. Über Augustinus, Karl den Großen, über den St. Galler Mönch Notker den Stammler, den Bischof Otto von Freising. Es erscheinen laufend großartige Geschichtsbücher, was wohl vor allem dem Internet zu danken ist. Man muss nicht mehr zu den entlegenen Klosterbibliotheken reisen, um dort mühsam eine Handschrift zu entziffern. Die alten Texte sind überall und jederzeit auf dem Bildschirm abrufbar.
Ich habe mit größtem Interesse die zweitausendseitige Autobiographie des katholischen Theologen Hans Küng verschlungen, der knappe zwanzig Kilometer von Zofingen entfernt, im luzernischen Sursee, aufgewachsen ist. Ich habe eine Biographie über den Basler Humanisten Castellio gelesen, der für Toleranz gegenüber Ketzern plädiert hat. Anlass war die Hinrichtung Servets, der eine eigene Meinung zur Dreifaltigkeit Gottes vertrat. Anno 1553 wurde Servet vom Reformator Calvin in Genf über Stunden auf kleinem Feuer geröstet und verbrannt.
Der Zürcher Reformator Huldrych Zwingli, auch er ein frommer Mann, ließ ketzerische Wiedertäufer foltern, um sie zum rechten Glauben zurückzubringen. Als einem Wiedertäufer unter der Folter ein Arm ausgerissen wurde, hat Zwingli gemeint, genau das sei die Strafe Gottes.
Nicht nur die Inquisition hat also gefoltert und verbrannt, sondern auch fromme Reformatoren. Das Verbrechen beginnt in jenem Moment, in dem sich jemand im Namen Gottes für unfehlbar erklärt und danach handelt.
Ich hatte einen Freund aus Strengelbach bei Zofingen, der bei Karl Barth in Basel Theologie studierte. Er hat mich einmal mitgenommen in eine Vorlesung. Karl Barth hat die Vorlesung mit dem Satz begonnen: »Ich will beten.« Dann hat er folgendes Gebet gesprochen: »Gott, hilf meiner armen Seele. Wenn ich eine habe.«
Ich achte die katholische Kirche nicht nur wegen der alten Klöster, welche nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches in unserer Gegend Kultur und Literatur tradiert haben. Ich verehre sie vor allem wegen der großen, volkstümlichen Gestalten wie Franz von Assisi und Klaus von Flüe. Und wegen der Madonna, der Muttergottes, die in jeder katholischen Kirche zu sehen ist. Die Muttergottes, welch eigentümliches Wort. Als ob der alte Herrgott, der die Welt in sechs Tagen geschaffen hat, um am siebten zu ruhn, auch eine Mutter gehabt hätte. Was war denn das für eine Frau, die als Mutter doch wohl vor ihrem Sohn da war?
Es gibt aus dem Gebiet des Oberrheins eine Reihe wunderbarer Madonnenbilder. Der Oberrhein war, nach dem Florenz eines Fra Angelico und dem Brüssel eines Rogier van der Weyden, ein europäisches Zentrum der Malerei, die ihren Höhepunkt in der Darstellung der heiligen Maria erreichte.
In Solothurn, der Aarestadt, hängt im Kunstmuseum die Madonna in den Erdbeeren, um 1425 von einem oberrheinischen Meister gemalt, dessen Name unbekannt ist. Ein unglaubliches Bild, das wohl europaweit bekannt wäre, hinge es nicht in Solothurn.
In Colmar ist die 1473 gemalte Madonna im Rosenhag von Martin Schongauer zu sehen, die heilige Ikone der Elsässer. Es grenzt an ein Wunder, dass sie sich noch immer in der alten Stadt Colmar befindet und nicht in Paris, München oder Berlin.
Es gibt weitere großartige Madonnenbilder von Martin Schongauer, dem Colmarer Stadtmaler. Die Madonna im Fenster im Getty Center in Los Angeles, die Geburt Christi mit Anbetung der Hirten in der Gemäldegalerie Berlin, die Heilige Familie in der Alten Pinakothek in München.
Eine wunderschöne junge Mutter mit kleinem Sohn als Verkünderin des Christentums, ist das überhaupt möglich? Sind Frauen nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil sie Frauen sind?
Auf dem berühmten Letzten Abendmahl Leonardos in Mailand sitzt rechts von Jesus eine schöne, junge Frau. Jedes Kind erkennt auf den ersten Blick: Aha, da sitzt ein Mädchen. Idiotischerweise wird das von der Kurie bestritten. Es sitze kein Mädchen da, wird behauptet, sondern der Lieblingsjünger Johannes.
Was soll denn das heißen? Würde es tatsächlich besser ins katholische Männerbild passen, wenn Jesus keine Liebhaberin gehabt hätte, sondern einen Liebhaber?
Unweit der Colmarer Kirche, in der die Madonna im Rosenhag hängt, steht im Museum Unterlinden der Isenheimer Altar des Matthias Grünewald. Ein Kunstwerk von Weltgeltung. In den hölzernen Sockel, auf dem der mehrflügelige Altar gestanden hat, ist das letzte Abendmahl Christi geschnitzt. Links von Jesus sitzt eine junge, schöne Frau.
Man wirft dem Islam heutzutage immer wieder seine archaische, stupide Vorstellung der Frau als unreines Wesen vor. Mit Recht, finde ich. Nur sollte man nicht übersehen, dass die katholische Kirche genau das gleiche Frauenbild hat.
Ich bin ein großer Verehrer der vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Wobei mich das jüngste, dasjenige des Johannes, am wenigsten interessiert, da ist viel sprachliches Geschwurbel drin. Matthäus, Markus und Lukas sind indessen hervorragend geschriebene Reportagen, einfach und genau erzählt, so dass sie jedes Kind versteht. Ich lese sie immer wieder, entzückt über die frechen, revolutionären Sätze des Jesus von Nazareth. Ich kenne keine einzige Stelle, wo er die Frau als unreines Wesen bezeichnen würde.
Das Wort der vier Evangelien, und nichts als dieses Wort. Insofern bin ich noch heute ein Protestant, obwohl ich längst aus der Kirche ausgetreten bin. Schon die Briefe des Paulus sind mir unglaubwürdig. Paulus ist für mich ein Zelot, der die großartigen Aussagen des Nazareners im eigenen Sinne zu deuten und zu organisieren begann, was dann zur Gründung der katholischen Kirche in Rom geführt hat. Jesus war ein rebellischer, mittelloser Wanderprediger. Die erzkonservative katholische Kirche ist heute die wohl reichste nichtstaatliche Organisation der Welt. Ein Gegensatz, der meiner Meinung nach die katholische Lehre so schwer belastet, dass ich ihr nicht folgen kann. Aber noch immer, wenn ich eine katholische Kirche betrete, zünde ich vor dem Marienaltar eine Kerze an.
Wie ich von Bekannten, die zu meinem Vater in die Schule gingen, gehört habe, war er ein beliebter, guter Lehrer. Streng, aber gerecht. Er hatte Schüler nicht nur aus dem Städtchen, sondern auch aus den umliegenden Dörfern. Mädchen und Burschen, die eine Lehre machten, Mechaniker, Schlosser, Damenschneiderinnen. Er lehrte nach der Theorie von Pestalozzi, die ihm im Seminar Wettingen beigebracht worden war. Von den Schülerinnen und Schülern ausgehen, sich in sie hineinversetzen, sie ernst nehmen. Das konnte er gut, er kannte die armen, ungebildeten Leute aus seiner Jugend.
Er hat enorm viel gearbeitet, hatte über vierzig Wochenstunden. Er hat nebenher noch die Buchhaltung verschiedener kleiner Firmen besorgt.
Eine Zeitlang war er Kassierer der ehemaligen Radikalen Partei Zofingens, die jetzt Freisinnige Partei hieß. Ich vermute, dass er sich davon gesellschaftlichen Aufstieg versprach. Er blieb aber in Zofingen zeitlebens ein Außenseiter.
Als der Rektor der Gewerbeschule starb, wäre eigentlich mein Vater an der Reihe gewesen. Er wurde indessen übergangen, ein Jüngerer machte das Rennen. Das ließ mein Vater nicht auf sich sitzen. Er ging auf die Gemeindekanzlei und erkundigte sich, warum nicht er Rektor geworden sei. Er sei zu wenig umgänglich, bekam er zur Antwort.
Mit großem Eifer hat er bei den Freizeitwerkstätten mitgemacht. Das waren Räume mit Hobelbänken, Bohrern und Sägen, in denen junge Leute herumwerkeln konnten. Er hegte große Sympathie für die Guttempler, die gegen den Alkoholkonsum ankämpften.
Er war ein überzeugter Antifaschist. Er hat in der Schule offenbar massiv gegen Hitler und die Nazis gewettert. Als er vernahm, dass sein Name auf der schwarzen Liste der ortsansässigen Nazis stand, hat er sich einen Browning gekauft. Wie er mir später erzählte, hätte er versucht, damit drei stadtbekannte Nazis zu erschießen, wenn die deutsche Wehrmacht einmarschiert wäre.
Er war offenbar Mitglied einer Organisation, die sich Informationen aus Nazideutschland verschafft hat. Darüber hat er fast nichts erzählt. Aber ich habe noch während des Krieges in seiner Pultschublade eine Broschüre mit KZ-Fotos gefunden. Ich war damals höchstens sieben Jahre alt, es war ein Schock für mich. Ich habe nicht einmal der Mutter etwas davon gesagt.
Nach dem Krieg war diese Broschüre verschwunden. Mein Vater muss sie weggeworfen haben. Viel später hat er auf meine Frage geantwortet, jene Fotos seien über Schaffhausen in die Schweiz geschmuggelt worden.
Alles in allem ein Mann also, auf den sein Sohn stolz sein kann.