Für Jean

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Um Viertel vor neun ging Dillon, bevor er Feierabend machte, noch einmal zur Rezeption hinunter, um die Diensteinteilung für morgen zu prüfen. Zwei der sechs Frauen, die morgens das Frühstück machen kamen, hatten sich krank gemeldet, und so würde am frühen Vormittag der Zimmerservice unterbesetzt sein. Er sagte zu Eileen, die an der Rezeption saß, sie solle Duffy bitten, nach Ersatz zu telefonieren, aber die Mühe würde wohl vergeblich sein. Dann ging er noch den Korridor hinunter und sprach kurz mit Collis, dem Restaurantdirektor.

»Hol’s der Teufel«, sagte Collis. »Ich kann Ihnen da auch nicht helfen. Natürlich muß das gerade dann passieren, wenn wir zwei Frühstücksempfänge haben. Und davon einen mit achtzig Personen!«

»Welcher ist das?«

Collis zeigte auf die Reservierungstafel:

ORANIENORDEN KANADISCHE SEKTION

GEDENKFRÜHSTÜCK

Redner: Pastor Alun Pottinger

8.30 Uhr Grüner Saal

(Nur mit Eintrittskarte)

»Pottinger«, sagte er. »Das hatte ich ganz vergessen.«

»Besondere Sicherheitsmaßnahmen?« fragte Collis.

»Ich glaube nicht. Er hat seine eigenen Aufpasser. Wie viele Lunchgesellschaften haben Sie?«

»Vier in den Nebenräumen. Alle voll. Und der Speisesaal ist ausgebucht.«

»Na ja, Promotionswoche«, sagte er. Die Uhr auf Collis’ Schreibtisch zeigte eine Minute nach neun. Sie müßte jetzt zu Hause sein. Er sagte Collis gute Nacht und machte seinen letzten Rundgang, zunächst in die Bar, um die Warenbestellungen zu unterschreiben. Die Bar war der belebteste Ort im Hotel und ein bevorzugter Treffpunkt für die Leute von der Uni. Letztes Jahr hatte Dillon das Dekor ändern und große Fotos von zeitgenössischen irischen Schriftstellern und Sängern an die Wände hängen lassen.

»Sind Sie noch zu retten?« hatte Mickey Cavan, der Chefbarkellner, ihn gefragt. »Die Hälfte von denen kennt doch kein Mensch!«

»Sie vielleicht nicht«, hatte er Mickey geantwortet, »aber Ihre Gäste werden die meisten kennen.«

Heute abend drängten sich die feiernden Studenten hier. Er mußte sich zwischen den lachenden, trinkenden, debattierenden jungen Männern und Frauen regelrecht hindurchkämpfen. Voriges Jahr war Andrea unter ihnen gewesen, frisch diplomiert und ohne die geringste Ahnung, daß es ihn gab. Wieder bekam er es mit der Angst zu tun. Nur nicht daran denken.

An der Bar bedienten vier Männer. Einer, der nur aushalf, sah ihn und holte Mickey. Als Mickey kam und ihm die Bestellungen vorlegte, war es auf einmal, als hätte er völlig vergessen, wozu er hier war. Mickey sagte etwas, aber seine Worte waren so bedeutungsleer wie die stummen Lippenbewegungen des Nachrichtensprechers auf dem Fernsehschirm über der Bar. Er unterschrieb die Liste, ohne einen Blick darauf zu werfen, sagte Mickey gute Nacht und schob sich, plötzlich von Panik erfaßt, durch das Gedränge der Studenten wieder nach draußen. Im Foyer wartete er nicht erst auf den Lift, sondern rannte die Wendeltreppe hinauf zu seinem Büro im Mezzanin. Er schloß die Tür und blieb dahinter stehen, während das Herz ihm bis zum Hals schlug. Sein vom gelben Glanz des Sommerabends erhelltes Büro war wie ein Stilleben. Er wählte ihre Nummer. Eine ihrer Mitbewohnerinnen meldete sich.

»Moment. Bleiben Sie bitte dran. Andrea? ANDREA

Er würde sie am Telefon nicht fragen. Er wollte es nicht am Telefon zu hören bekommen.

»Hallo?«

»Ich bin’s«, sagte er. »Wie wär’s mit einem Spaziergang?«

»Es ist schon nach neun, Michael.«

»Aber es bleibt noch fast eine Stunde hell. Bitte.«

Sie zögerte. »Na gut. Ich warte vor dem Haus auf dich.«

Er war sofort auf das Schlimmste gefaßt. Sie hatte das Angebot bekommen und ja gesagt.

»Entschuldigung, Sir.«

Er sah auf. Es war Annie, eine der abendlichen Reinemachefrauen. »Kann ich jetzt Ihr Büro saubermachen, Mr. Dillon? Fahren Sie nach Hause?«

»Ja, fangen Sie nur an.«

Sie kam hinter ihrem Putzwagen herein, dicklich, alt, die Beine in orthopädischen Strümpfen. »Kommen Sie gut nach Hause«, sagte sie, als er hinausging.

Sein kleiner roter Renault stand auf dem reservierten Parkplatz unter den Fenstern der Empfangssäle. Als er darauf zuging, kam gerade ein Taxi auf den Parkplatz gefahren und hielt. Zwei junge Mädchen stiegen aus. Sie trugen Ballkleider und gingen auf den Eingang zum Ballsaal zu. Lachend und redend eilten sie schnell an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen. Wie alt mochten sie sein? Neunzehn? Er war steinalt in ihren Augen.

»Komm, was sind schon zwölf Jahre?« hatte Andrea gefragt.

»Eine Generation«, hatte er geantwortet.

Er stieg in den Renault und fuhr zum Kontrolltor vor dem Hotel. Eine Schlange von Wagen stand draußen und wartete auf Einlaß zum Hotelgelände. Es wurde scharf kontrolliert, denn letztes Jahr war auf das Hotel ein Bombenanschlag verübt worden. Die Insassen jedes Autos mußten aussteigen und zur Leibesvisitation ins Kontrollhäuschen gehen, während draußen der Wagen durchsucht wurde.

Gerry von der Nachtwache sah seinen Renault kommen und lief zum Ausgangstor, um es für ihn zu öffnen. »Gute Nacht, Mr. Dillon.«

»Gute Nacht, Gerry.«

Das Tor ging hinter ihm zu, als er langsam in die Malone Road einbog. Es waren keine fünf Minuten zur Mountjoy Avenue, wo Andrea eine Wohnung mit zwei anderen jungen Frauen teilte. Während er an den viktorianischen Reihenhäusern vorbei die Malone Road hinauffuhr, kam ihm ein Panzerwagen der Polizei entgegen, in Schieflage wie ein angeschlagener Karton. Der Panzerwagen hielt an der Kreuzung vor ihm. Aus dem Heck stiegen fünf Polizisten in Kampfanzügen, die Revolver tief an den Oberschenkeln wie die Cowboys. Wachsam überquerten sie die Straße und gingen in ein kleines Lebensmittelgeschäft. Die gewohnte Szene bedrückte ihn heute abend. Warum sollte er hierbleiben? Warum sollte auch nur irgend jemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, hierbleiben?

Als er in die Mountjoy Avenue einbog, sah er sie schon warten. Sie trug ein loses blaues Drillichhemd, Jeans und abgewetzte Turnschuhe. Sie winkte. Im Näherkommen versuchte er schon die Antwort in ihrem Gesicht zu lesen, und als sie in sein Auto stieg, lehnte er sich zu ihr hinüber und küßte sie. Sie sagte nichts und sah ihn auch nicht an, als seine Lippen ihre Wange berührten. »Fahren wir zum Treidelweg«, sagte er. »Einverstanden?«

Sie nickte. Er legte den Gang ein und fuhr los. »Wie geht’s?« fragte er.

»Gut. Und du hattest einen hektischen Tag?«

»Wie war’s bei dir? Hat sich was getan?«

»Ich hab dich zuerst gefragt.«

Sie wollte also nicht darüber reden. Vielleicht bekam sie die Stelle ja nicht. Aber das war natürlich Wunschdenken.

»Na ja, ein bißchen hektisch war es schon«, sagte er. »Und morgen wird’s noch schlimmer. An der Queen’s University ist Promotionswoche.«

»Mein Gott, ist das erst ein Jahr her – die abgewetzte Robe aus dem Verleih, und dann gehst du auf die Bühne, wo sie dir die Hand drücken und eine Papierrolle überreichen, und du denkst: Dafür habe ich studiert, ist das alles?«

»Ich weiß.«

»Natürlich. Hatte ich ganz vergessen. Wann hast denn du dein Examen gemacht?«

Er rechnete mißmutig nach. »Vor langer Zeit.«

»Lunch im Clarence«, sagte sie. »Das gehört doch zum Ritual, nicht? Ich weiß noch, wie wir da letztes Jahr hingezogen sind, zu dritt, gleich nach der Feier. Wir hatten alles organisiert, einen Tisch bestellt, großes Festessen. Aber irgendwie waren die Reservierungen durcheinandergeraten, und am Ende durften wir an der Bar stehen und Sandwiches essen.«

»Pech, daß du mich da noch nicht kanntest.«

»Das war gut so. Wenn ich dich vor dem Examen schon gekannt hätte, wäre ich wahrscheinlich durchgefallen.«

Sie lächelte, als sie das sagte. Er hatte sie überhaupt zum erstenmal im Hotel gesehen. Er hatte die Konferenzräume für ein Symposium schottischer und irischer Dichter herrichten lassen, das vom Kulturamt veranstaltet wurde. Ein Team von der BBC sollte darüber berichten, und er hatte sie gleich erspäht, eine hübsche junge Frau, die mit einer Tonkamera umherging und Interviews machte. Plötzlich war sie auf ihn zugekommen. »Sie sind wohl einer von den irischen Dichtern?« fragte sie, und das war der Augenblick, in dem ihn alle die falschen Entscheidungen seines Lebens einholten, um ihn zu verurteilen.

»Ich war früher mal einer«, antwortete er. »Jetzt bin ich Hoteldirektor.«

»Und früher ein Dichter«, meinte sie und lächelte ihn an. Ihr Akzent fiel ihm auf.

»Sind Sie Amerikanerin?«

»Kanadierin.« Sie sah ihn weiter an. Sie lächelte nicht mehr. »Ich heiße Andrea Baxter«, sagte sie. »Trinken wir einen Schluck zusammen, wenn ich hier fertig bin?«

Das war’s. Sie hatte den ersten Schritt getan. Und vielleicht würde sie auch heute abend den letzten tun. Als er jetzt auf den öffentlichen Parkplatz über dem Treidelweg am Lagan einbog, fand er, daß er für diesen Schritt, falls sie ihn heute abend tun wollte, ungewollt die richtige Kulisse gewählt hatte, denn genau hier hatte sie ihm vor fünf Monaten gesagt, daß sie ihn liebte.

Auf dem schmalen Pfad zum Treidelweg kam ihnen ein junges Liebespärchen entgegen. Der Junge hatte den Arm um die Taille des Mädchens gelegt, sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Andrea ging einen Schritt vor, damit die beiden ungestört passieren konnten, und danach ging sie allein weiter auf den stillen Fluß zu. Es war ländlich und friedlich hier. Die dichtbelaubten Bäume ächzten leise im Abendwind. Auf dem dunkelgrünen Fluß trieben Seerosenkissen mit der Strömung. Vom anderen Ufer erstreckten sich Wiesen und Felder bis zum Horizont. Anders als in den übrigen Stadtrandbezirken hatte sich hier nichts verändert seit der Jahrhundertwende, als auf diesem Treidelweg noch Pferde die mit Flachs beladenen Lastkähne zu den Spinnereien der Stadt zogen. Und heute wie damals war es ein Weg für Liebende, ein Ort, wohin die Pärchen gingen, um allein zu sein, wo sie versteckt im hohen Gras liegen konnten. Er ging einen Schritt schneller und holte sie wieder ein. Sie blieb stehen, sah nach unten und zeigte in die Strömung. »Sieh mal – ein Fisch.«

Er sah nur grünes Schilf im dunklen Wasser wogen. »Wo?«

»Da.«

»Ich sehe nichts.«

Doch im selben Moment jagte unter der Wasseroberfläche ein silbriger Fisch im Zickzack davon, wie ein abstürzender Drachen. »Du kannst es mir ruhig sagen«, meinte er, »ich bin darauf gefaßt.«

»Worauf gefaßt?«

»Diese Besprechung, was war damit?«

Sie lachte. »Ich war schon gespannt, wann du endlich fragen würdest.«

»Nun sag schon. Worum ging es?«

»Also, anscheinend suchen sie eine Chefreporterin für ein landesweites Kulturprogramm. Und offenbar hat Martin mich dafür vorgeschlagen, und jetzt will Nigel Somerville mich nächste Woche in London sehen.«

»Zum Bewerbungsgespräch?«

»Nicht direkt. Martin meint, wenn ich die Stelle will, habe ich sie schon.«

»Natürlich willst du sie.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Woher weißt du, was ich will?«

Sie hatte Tränen in den Augen. »Was waren denn dann diese letzten fünf Monate, Michael? Nur Jux und Tollerei?«

»Sei nicht albern. Ich liebe dich.«

»Du liebst mich, aber du würdest mich gehen lassen?«

»Es geht doch darum, was du willst«, sagte er.

»Ich weiß nicht, was ich will. Ich habe gesagt, daß ich mir noch nicht sicher bin – daß ich es mir noch überlegen will. Mist, ich will natürlich nicht auf ewig hierbleiben. Aber ist diese Stelle mir wichtiger als du? Was ist mit uns?«

»Paß mal auf«, sagte er. Plötzlich wußte er, was er zu sagen hatte. »Du mußt die Stelle nehmen. Wir werden nämlich in London leben, du und ich.«

Glaubte sie ihm? Würde er sich selbst glauben, wenn er sie wäre?

»Paß auf«, sagte er noch einmal. Er hatte sich das alles nicht überlegt, aber die halbformulierten Wünsche, die ihn Nacht für Nacht geplagt hatten, wenn er wach im Bett lag, schossen ihm jetzt in den Mund, ein unaufhaltsamer Schwall von Worten. »Ich werde es Moira sagen. Und ich rede mit Eamonn McKenna, meinem Anwalt, über die Scheidung. Du sollst morgen hingehen und denen sagen, daß du nach London fliegen und mit Somerville sprechen wirst. Das kannst du doch noch, oder?«

»Ja«, sagte sie. »Aber hör mal zu, Michael –«

»Nein, hör du zu. Wenn du nächste Woche nach London fliegst, komme ich mit. Keogh sitzt in London. Das ist dieser Ami, der für alle unsere europäischen Hotels zuständig ist. Er war’s auch, der mich damals gebeten hat, wieder hierher zu kommen und das Clarence zu übernehmen. Ich habe hier gute Arbeit geleistet, und die wissen das. Er findet bestimmt etwas für mich in London. Natürlich nicht gleich wieder als Direktor.«

»Aber wenn du hier so gute Arbeit leistest, lassen die dich doch nicht weg.«

»Soll mir egal sein. Wenn er nein sagt, komme ich trotzdem mit nach London. Ich finde schon was.«

Sie sah ihn an, dann wandte sie sich wieder ab und sah in den dunklen Fluß, als wäre er gar nicht mehr vorhanden. Und plötzlich erschien ihm alles, was er eben gesagt hatte, lächerlich und völlig unmöglich. Sie hatten im Grunde nie über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Seine Gedanken an eine Trennung von Moira waren nur halbformulierte Wünsche gewesen, keine konkreten Pläne. Er kannte Andrea eigentlich nicht. Sie war vor vier Jahren nach Nordirland gekommen, weil ihr Vater, ein kanadischer Ingenieur, sich für zwei Jahre bei der Flugzeugfirma Short’s verpflichtet hatte. Als ihre Eltern dann nach Kanada zurückgingen, war sie geblieben, um ihr Studium hier zu beenden. Sie hatte auch einen Freund gehabt, aber Dillon kannte seinen Namen nicht. Sie sagte, ihr seien die Iren lieber als die Engländer, weil sie »viel lustiger« seien. Aber was fand sie an ihm? Er rauchte kein Hasch, er liebte keine Rockmusik, wie sie es tat. Er war nicht so erfahren im Bett wie sie. Er war verheiratet und hielt ihr Verhältnis vor seiner Frau geheim. Sein Beruf mußte ihr langweilig vorkommen. Er war ein verhinderter Dichter in Nadelstreifen. Und trotzdem glaubte er – obwohl er nicht wußte, warum –, daß sie ihn liebte. Seit sie es ihm gesagt hatte, hier auf diesem Treidelweg, hatten sie sich fast täglich getroffen. Oft trafen sie sich nur für eine Stunde und fuhren, von ihrem Verlangen getrieben, ins Hotel, um sich einen Schlüssel zu besorgen und in eines der freien Zimmer zu gehen. Dennoch sah er das Ganze nicht als eine bloße Affäre. Er war bis dahin nie untreu gewesen. Er war so aufgeregt, wie nur ein Verliebter sein konnte, und krank vor Angst, sie zu verlieren. Er wußte, daß Mädchen in ihrem Alter sich manchmal in verheiratete Männer verliebten. Und darüber hinwegkamen.

Sie wandte sich wieder ab von der dunklen Strömung und sah ihn an. »Wünschst du dir das wirklich, Michael?«

»Ja.«

»Bist du sicher? Sag nicht ja, wenn du nicht sicher bist.«

»Ich bin sicher.«

»Dann bin ich einverstanden«, sagte sie und küßte ihn.

Aus Schwarz wurde Weiß. Er hatte seine Tagträume wahr gemacht, indem er sie aussprach. »Ich liebe dich«, sagte er.

Sie nahm ihn bei der Hand, und sie gingen weiter. »Und was wird aus Moira? Bleibt sie hier, wenn du weggehst?«

»Ich glaube, ja. Sie war doch nirgendwo anders glücklich.«

»Was wird sie machen?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht wird sie dann ganztags Modeschmuck und den übrigen Kitsch verkaufen.«

»Könnte sie denn davon leben?«

»Keine Ahnung.«

Sie kamen an eine Flußbiegung und sahen vor sich einen roten Himmel. Vom Horizont trieben ihnen schwarze Rauchschleier entgegen.

»Kommt das aus der Stadt?« fragte sie.

»Nein, das ist die andere Richtung. Bei Lisburn.«

»Ob es dort brennt?«

»Ja, aber wahrscheinlich gewollt«, sagte er. »Da brennen Bauern ihre Stoppeln ab.«

»Es ist schon spät. Wir sollten vielleicht umkehren.«

»Noch nicht. Setzen wir uns ein bißchen hin? Bitte.«

Zu ihrer Linken sah er ein Loch in der Hecke. Sie krochen hindurch und kamen auf eine hohe Wiese. Er befühlte den Boden, ob er nicht zu feucht war, bevor sie sich zuerst hinsetzten, dann hinlegten und in den roten Himmel sahen. »Ich kann es kaum erwarten, hier wegzukommen. So ein beschissenes Land. Ich wollte ja eigentlich nie mehr hierher zurück.«

»Ganz ohne Scherz.«

Sie lachten gleichzeitig. »Stimmt, ich glaube, ich habe das wohl schon mal erwähnt.«

»Mindestens tausendmal.«

Er drehte sich herum und wollte sie küssen, und sofort zog sie ihn zu sich herunter und küßte ihn so leidenschaftlich, als wollten sie gleich hier miteinander schlafen, aber als er mit der Hand über ihren Schenkel fuhr, faßte sie danach und wehrte ihn ab. »Bist du dir auch wirklich sicher, Michael?«

»Ja, natürlich. Etwas Besseres ist mir mein Lebtag noch nicht passiert.«

Sie ließ ihn los und sank ins Gras zurück. »Wann wirst du’s ihr sagen?«

»Morgen.«

»Und dann?«

»Dann ziehe ich aus. Ich nehme mir ein Zimmer im Hotel, bis wir zusammen nach London fliegen.«

»Wenn man dir aber sagt, du mußt hierbleiben?«

»Wie gesagt. Dann gehe ich trotzdem.«

Sie setzte sich wieder auf und verschränkte die Hände um ihre Knie. »Ich habe Angst. Du nicht?«

»Nein. Ich bin glücklich.«

»Hm, ja, wenn du glücklich bist …« Sie drehte sich ihm zu und sah ihn an. »Ich wünschte, es wäre schon vorbei. Das heißt, ich wünschte, wir wären schon in London. Du machst auch bestimmt keinen Rückzieher? Ich meine, wenn doch, könnte ich es dir nicht verübeln. Ich bin ja nicht verheiratet. Bei mir sieht die Sache anders aus.«

Er reckte die Arme hoch und umfaßte sie; er fühlte, wie ihr Körper sich spannte, fast zitterte. »Du«, sagte er, »ist dir klar, daß wir von jetzt an immer zusammen sein können? Wenn ich morgen ins Hotel ziehe, kannst du bei mir wohnen.«

»Ja, könnte ich eigentlich, oder?«

Ihr Körper entspannte sich wieder. Sie küßte ihn, dann stand sie auf und klopfte sich ein paar Kletten von den Jeans. Sie sah ihn von oben an, streckte die Hand aus und zog ihn hoch.

Auf dem Pfad zum Parkplatz kamen ihnen einige Pärchen entgegen, die sich auf die nahende Dunkelheit freuten. Auf dem Parkplatz standen jetzt doppelt so viele Autos wie vorher. Während er seinen Wagen aufschloß, mußte er daran denken, daß dies nun das Ende der heimlichen Stelldicheins wäre, daß sie nicht mehr im hohen Gras liegen, in geparkten Autos sitzen, schnell auf ein Schäferstündchen in einem leeren Hotelzimmer verschwinden mußten. Und er brauchte nicht mehr seine Abende bei Moira zu verbringen und darauf zu warten, daß sie zu Bett oder unter die Dusche ging, damit er sich davonschleichen konnte zu seinem nächtlichen Anruf. Und wie um ihn an alle diese Ärgernisse zu erinnern, waren in der Mountjoy Avenue, als sie dorthin zurückkamen, oben im Haus alle Lichter an. Das hieß, daß Andreas Mitbewohnerinnen zu Hause waren, weshalb sie im Auto sitzen blieben. Er küßte sie wieder.

»Wann sehen wir uns morgen?« fragte sie.

»Kannst du um sieben im Hotel sein?«

»Ja, gut.«

»Dann können wir zusammen zu Abend essen. Zur Feier des Tages.«

»Es wird nicht feierlich sein, Michael. Jedenfalls nicht für dich. Ich erinnere mich noch, wie ich mit einem Freund Schluß gemacht habe. Ich war froh, es hinter mich gebracht zu haben, aber …«

»Wer war eigentlich dieser Freund?« fragte er. »Vielleicht kannst du es mir ja jetzt sagen.«

Sie lachte. »Schnee von gestern. Unwichtig.«

Sie küßte ihn. »Weißt du, was mir Sorgen macht? Wenn sie dich nun nicht gehen läßt? Ich ließe dich nicht gehen.«

Er lachte. »Wir treffen uns um sieben im Foyer des Clarence.«

»Um sieben.« Sie stieg aus und lief zur Haustür. Er sah sie die Tür aufschließen und hoffte, daß sie sich noch einmal umdrehte und ihm winkte. Er wartete. Sie drehte sich um und winkte, dann ging sie ins Haus.

Auf seiner Heimfahrt lag ein typisch nördliches Spätsommerlicht auf den viktorianischen Denkmälern und Häusern der Stadt und hüllte sie in einen gespenstischen goldenen Glanz. Die Geschäftsviertel waren menschenleer. Seit Jahren gingen die Leute abends nur ungern auf die Straßen. Er schlug die Richtung nach Millfield ein und fuhr durch jene Viertel, denen Belfast sein Erscheinungsbild in der Außenwelt verdankte: verbarrikadierte Slums mit Kampfparolen an den Wänden, wo sich die protestantischen und katholischen Armen der Stadt jahrein und jahraus voll angestautem Haß, Angst und Mißtrauen gegenüberstanden.

»Aber es waren die Deutschen, die Belfast zerstört haben«, pflegte sein Vater zu sagen. »Es waren nicht die Unruhen, es waren die Bomben im letzten Krieg. Nach dem Krieg haben sie die Trümmer weggeräumt, aber die Stadt nicht wieder aufgebaut.« Das mochte wohl stimmen, denn er hatte Vorkriegsbilder von der Stadt gesehen, aufgeräumt, häßlich, viktorianisch. Aber was der Krieg begonnen hatte, das hatte ein Vierteljahrhundert Bürgerkrieg noch weiter verschlimmert, so daß nun unter den neuen Autobahnen, die wie Messerschnitte auf einer Landkarte die Stadt durchzogen, das alte Herz von Belfast, die vielen Tausende von kleinen Häusern, in denen Menschen wohnten, die sich nichts weiter wünschten als einen Arbeitsplatz in einer Werft oder Fabrik, im fortwährenden Siechtum der Armut lag, verrottend und ohne Hoffnung.

Er wohnte im Norden von Belfast, in der viel größeren Stadt um die Gettos im Zentrum herum. Sein Haus befand sich in einem der stillen, unbeachteten Mittelstandsviertel, in denen Protestanten und Katholiken Wand an Wand wohnten, geeint durch Klasse, wirtschaftliche Interessen, sogar durch Mischheiraten, wie es den Armen nie vergönnt war. Anders als die meisten Leute in ihrer Straße wohnten sie in ihrem Haus nur zur Miete, denn Moira hatte gesagt: »Mein eigentlicher Wunsch wäre ein hübsches Häuschen irgendwo auf der anderen Seite der Stadt, nicht weit von deiner Arbeit.« Als er einwandte, er habe nicht die Absicht, für immer in Belfast zu bleiben, überhörte sie es.

Bei ihrer ersten Begegnung – es war auf einer Party bei gemeinsamen Freunden in London – hatte sie gesagt: »Gefällt es Ihnen hier? Ich finde es gräßlich. Man könnte überall in London ein halbes Jahr wohnen und müßte von Glück reden, seine Nachbarn überhaupt beim Namen zu kennen. Ich möchte schnellstens wieder nach Hause.«

»Sie gehen also wieder nach Hause?« fragte er. Obwohl er sie kaum fünf Minuten kannte, war er richtig enttäuscht. Sie war groß und schön und sehr kokett. Er hatte schon mit dem Gedanken gespielt, sie um ein Rendezvous zu bitten.

»Wenn ich nur könnte«, sagte sie. »Ich bin hier, weil ich zu Hause keine Arbeit fand. Die Frau da drüben, Clodagh Burke, ist eine Freundin von mir, wir waren zusammen am UCD –«

»Sie waren am UCD

Sie lachte. »Das klingt ja so überrascht! Aber was ich sagen wollte, Clodagh hat hier in Hampstead eine kleine private Vorschule aufgemacht und mich gefragt, ob ich nicht herkommen und ihr helfen möchte. Wenn das hier klappt, will sie in Belfast eine zweite eröffnen, und die soll ich dann leiten.«

»Dann gehen Sie also doch zurück?«

»Vielleicht. Aber unter uns, es hängt mir zum Hals heraus, kleine Kinder zu unterrichten. Im Moment weiß ich selbst nicht genau, was ich will. Ich möchte zu gern wieder nach Hause, aber vorerst sitze ich hier fest.«

»Ironie des Schicksals«, sagte er. »Bei mir ist es umgekehrt.«

»Wieso?«

»Diese amerikanische Hotelkette, für die ich arbeite, hat gerade das Hotel Clarence gekauft. Ich soll die Leitung übernehmen. Und das ist das letzte, was ich mir wünsche.«

»Und was haben Sie nun vor?«

»Ich werde hingehen. Man hat mir versprochen, wenn ich jetzt nach Belfast gehe und meine Sache gut mache, holen sie mich wieder nach London und geben mir eines ihrer hiesigen Hotels. Und das wünsche ich mir sehr.«

»Wann gehen Sie?«

»Im Oktober.«

»Wie ich Sie beneide«, sagte sie.

 

Hatte sie deshalb ja gesagt, als er ihr zwei Monate später einen Heiratsantrag machte? Vor ein paar Wochen hatte er in einer Schublade eine ausgemusterte alte Brieftasche gefunden. Darin steckte ein Farbfoto von einer jungen Frau, groß, schlank, lächelnd, mit tief ausgeschnittenem Kleid und schulterlangem vollem Haar, ein Foto, das ein Mann wohl gern in seiner Brieftasche trug, um es andern Männern zu zeigen und sich an ihrem Neid zu weiden.

Und natürlich beneideten sie ihn. War es wirklich erst ein Jahr her, daß ihre Angewohnheit, mit Fremden zu flirten, ihn immer noch mit eifersüchtiger Wut erfüllte? Angefangen bei seinem Vater, der Moira nach dem Hochzeitsempfang beschwipst in die Arme genommen und alles andere als väterlich geküßt hatte, lange und feucht und lüstern.

Während er jetzt die Antrim Road hinauffuhr, mußte er an seinen Vater denken. Moira würde natürlich sofort seine Eltern anrufen. Er konnte sich seinen Vater genau vorstellen, wie er die Neuigkeit erfahren würde, hinten in seinem Büro im Kinsallagh House. Er würde den Hörer weglegen, aufstehen und die grünbespannte Tür schließen, damit das Küchenpersonal nichts mitbekam, wenn er ihn anrief.

»Michael, was muß ich hören? Ich habe eben mit Moira telefoniert. Hast du mal daran gedacht, was das für deine Mutter bedeutet? Ganz zu schweigen von dem Schaden für deine Karriere. Du glaubst doch wohl nicht, daß dich in dieser Branche je wieder einer ernst nimmt, wenn du die Leitung eines namhaften Hotels so einfach hinwirfst? Und schließlich fällt das ja auch auf mich zurück, wenn ich das erwähnen darf. Ich habe dich den Leuten empfohlen. Ich habe dich ausgebildet – ja gut, aber deine Anfangsausbildung hast du hier in Kinsallagh bekommen. Und was glaubst du, wie die Amis reagieren werden? Ich sehe schon Mr. Keoghs Gesicht vor mir, wenn du ihm eröffnest, daß du so eine bedeutende Aufgabe einfach hinschmeißt, weil dir irgend so ein Flittchen über den Weg gelaufen ist. Herrgott noch mal, Michael, es gibt doch im Leben Wichtigeres als Weibsbilder.«

Wahrscheinlich würde er in dem Moment einfach auflegen. Aber damit wäre nichts zu Ende. Sein Vater, Alleininhaber des Hotels Kinsallagh House in der Grafschaft Antrim – »schönes altes irisches Landhaus, denkmalgeschütztes Gebäude inmitten großer Parkanlage (zwei Hektar), einmalige Angelmöglichkeiten im nahen Kinsallagh-Fluß« –, sein Vater, der es geschafft hatte, sein ganzes Leben in einer Phantasiewelt zu verträumen und sich einzubilden, seine Gäste sähen einen Landjunker in ihm, der Kinsallagh House nicht als Hotel, sondern als Steckenpferd betrieb; sein Vater, der geflissentlich darüber hinwegsehen konnte, daß er, der Landjunker, eigenhändig die Speisen auftragen und allabendlich vor der Essenszeit persönlich die Getränkebestellungen aufnehmen mußte, um über die Runden zu kommen; sein Vater, der ihn ins Hotelgewerbe eingeführt hatte und so tief beeindruckt gewesen war, als man ihm die Leitung des Clarence übertrug: »Ein Bonbon, Michael; das Clarence war einmal das erste Haus am Platz. Und unter deiner Leitung wird es das auch wieder sein.« Für seinen Vater wäre das Ganze eine persönliche Kränkung, ein Verrat an der Familie.

Vor ihm verdunkelte sich der Himmel, als er in die Winchester Avenue einfuhr. Er bog in die schmale Zufahrt hinter seinem Haus und parkte den Wagen an der gewohnten Stelle vor dem Gartentörchen. Kein Wind ging heute abend. Der Garten wirkte sonderbar still. Er sah zum Haus, das sich hinter ungepflegten Sträuchern und Hecken halb versteckte. Kein Licht im oberen Stockwerk. Demnach war sie noch nicht zu Bett gegangen. Er öffnete das Törchen, blieb dann im Garten stehen und wartete auf den Kater. Aber der Kater kam nicht. Wo blieb er nur? Egal wie spät er sonst nach Hause kam, der Kater kam immer sofort angehuscht, strich ihm um die Hosenbeine und maunzte nach seinem Futter. Er war ein Kater fürs Freie. Moira duldete ihn nicht im Haus.

»Teddy!« rief er leise. »Teddy?« Er wartete, dann machte er das Törchen hinter sich zu und ging den Gartenweg hinauf zur Hintertür. Wer würde Teddy füttern, wenn er nicht mehr hier war? Er öffnete die Hintertür, die nicht abgeschlossen war, und sah die falschen Farben des Fernsehers durch die Schatten der hinteren Diele flimmern.

»Bist du’s, Michael?«

Er ging ins Wohnzimmer. Sie war nicht allein. »Wir haben uns gerade den Schluß von Zwielicht angesehen«, sagte sie, schon im Aufstehen, um den Apparat auszuschalten.

Er wandte sich Peg Wilton zu. »Guten Abend.«

»Guten Abend, Michael. Mein Gott, es ist ja schon halb elf. Ich hab gar nicht geahnt, daß es schon so spät ist. Vor ein paar Minuten war’s doch noch hell.«

»Das macht das Zwielicht«, meinte er.

Peg Wilton lachte. Sie erhob sich schwerfällig vom Sofa und präsentierte ihm ihr ausladendes Hinterteil, als sie sich bückte, um ein paar kleine Gegenstände vom Couchtisch aufzusammeln. »Die beiden Gagate lasse ich hier, ja?« sagte sie zu Moira. »Und die Schildpattkämme auch, ist das recht?«

»Ich bin mir bei den Gagaten nicht sicher – aber gut, laß sie nur hier«, sagte Moira. »Und für die Kämme habe ich mit Sicherheit eine Kundin. Aber hör mal, Michael wird dich sicher nach Hause fahren.«

»Bitte keine Umstände.«

»Es macht mir keine Umstände«, sagte er.

Peg Wilton lächelte Moira an. »Stets ein Gentleman.«

Sollte das Ironie sein? Er wußte, daß sie ihn nicht leiden konnte, und normalerweise hätte er sich darüber geärgert, sie die knapp tausend Meter die Straße hinunterfahren zu müssen. Aber heute abend war es ihm nur recht, nicht im selben Zimmer mit Moira zu sein, der er es morgen sagen mußte. »Hör mal, du brauchst nicht meinetwegen aufzubleiben«, sagte er. »Geh nur schon zu Bett. Ich habe sowieso noch zu tun.«

Moira ging nicht darauf ein. »Komm, Peg, wir gehen hinten raus. Das Auto steht am Gartentörchen.«

Sie gingen zu dritt in den Garten hinaus, und er spähte ringsum in die Dunkelheit. »Hast du heute abend schon den Kater gesehen?«

Der Kater interessierte Moira nicht. Sie umarmte Peg Wilton. »Also, ich rufe dich morgen an, Peg. Gegen zehn, ja?«

Er ging voraus, machte für Peg die Wagentür auf und schob den Beifahrersitz so weit zurück, wie es eben ging. Peg war ungeheuer beleibt. Als er die Scheinwerfer einschaltete, sah er plötzlich vorn zwei gelbe Katzenaugen glühen. Aber es war eine Perserkatze. Sie huschte vor dem Wagen vorbei und sprang in ein Gebüsch.

Sie fuhren auf die Winchester Avenue hinaus. Peg meinte: »Im Hotel geht’s zur Zeit wohl ziemlich hektisch zu.«

»Ja. Promotionswoche.«

»Klar. Und hinterher geht alles ins Clarence. Gerade jetzt. Es ist einfach großartig, wie das Hotel sich unter Ihrer Leitung verändert hat, Michael.«

Er sah starr auf die Straße. Wer wird es wohl nach mir leiten? Sie werden jemanden aus London schicken müssen. Wieder durchströmte ihn ein solches Glücksgefühl, daß er unwillkürlich aufs Gas trat und das Auto einen Satz nach vorn machte.

»Langsam, langsam«, sagte Peg. »Wir sind gleich da. Die vierte Tür. Dort. Die rote.«

Er hielt an der angegebenen Stelle und schaltete die Zündung aus. Im selben Moment lehnte sie sich zu ihm herüber und legte ihm ihre dicke, beringte Hand auf den Ärmel. »Darf ich Sie etwas fragen, Michael?«

»Ja, bitte.«

»Sie werden mir auch bestimmt nicht böse sein?«

»Warum sollte ich Ihnen böse sein?«

»Sehen Sie, Michael, das ist nämlich so. Ich habe beschlossen, einen zweiten Laden in Dublin aufzumachen. Ich habe dort ein ganz hervorragendes Geschäftslokal in unmittelbarer Nähe der Grafton Street gefunden. Das Problem ist nur, daß ich dort persönlich hin muß, um die Sache erst mal in Gang zu bringen. Und das heißt, ich brauche hier jemanden, der meinen Laden weiterführt. Jemanden mit Fingerspitzengefühl. Und um es rundheraus zu sagen, Moira wäre dafür ideal.«

Hatte Moira ihr diese neueste Verrücktheit ins Ohr gesetzt? Einen Laden! Aber was spielte es jetzt schon noch für eine Rolle? Es war vielleicht sogar gut. »Wie steht denn Moira dazu?« fragte er.

»Nun, das ist es eben, Michael. Sie meint, Sie hätten etwas dagegen, wenn sie in einem Laden arbeitet.« Sie lächelte ihn an, das Lächeln einer Feindin. »Stimmt das?«

»Es stimmt«, sagte er. »Schade um ihre Ausbildung.«

»Aber Sie wissen doch selbst, daß Moira keine Lust zum Unterrichten hat. Ich finde, es wäre für sie ganz toll. Sie käme aus dem Haus, unter die Leute. Ich glaube, es würde ihr großen Spaß machen.«

»Sie muß es selbst wissen«, sagte er und fühlte, wie Peg sofort seinen Arm fester packte.

»Ist das Ihr Ernst?« fragte sie, und jetzt war ihr Lächeln echt.

»Natürlich.«

»Wunderbar! Wie mich das freut! Kann ich ihr also sagen, daß alles klar ist? Oder wollen Sie zuerst noch selbst mit ihr reden?«

»Nein, sagen Sie es ihr nur«, antwortete er. »Aber sagen Sie es ihr erst morgen.« Denn ab morgen um diese Zeit würde Moira ihn wegen nichts mehr um Erlaubnis bitten.

»Aber es geht bestimmt in Ordnung?«

»Bestimmt.«

»Gut, dann verlasse ich mich darauf.« Sie drückte die Tür des kleinen Wagens auf. »Vielen, vielen Dank, Michael. Auch fürs Fahren.«

»Ich begleite Sie noch zur Tür.«

»O nein, danke, nicht nötig.«

Während er Peg Wilton zum Haus gehen und die Tür öffnen sah, mußte er wieder an Andrea denken, wie sie zu ihrer Haustür gelaufen war und sich umgedreht und ihm zugewinkt hatte. Heute abend hat sich mein Leben verändert. Alles ist anders geworden. Alles.

 

Er fuhr die Antrim Road zurück und stellte den Wagen vor dem Törchen ab. Im Schlafzimmer war jetzt Licht. Vielleicht konnte er unten bleiben, bis sie schlief? In den letzten Monaten war es ihm leichtgefallen, sie zu hintergehen. Sie war die Feindin seiner Freiheit. Aber jetzt war er sicher, daß er sein neues Glück nicht einmal eine Nacht lang vor ihr verheimlichen konnte. Sie war nicht mehr seine Feindin. Sie war sein Opfer.

Als er den Gartenweg hinaufging, hörte er ein Klappern hinter sich. Er hatte das Gartentor nicht richtig zugemacht, und jetzt schwang es hin und her und schlug gegen den Pfosten. Er ging zurück, und da sah er im Lichtschein, der aus dem oberen Fenster fiel, etwas hinter dem Torpfosten unter der Hecke hervorragen. Eine Damenhandtasche? Aber als er sich bückte, um sie aufzuheben, sah er, daß es keine Handtasche war. Teddy. Er faßte den Leichnam an, der unter dem Fell schon hart und kalt war. Der Kopf war an der linken Seite blutverkrustet, der Unterkiefer zerschmettert, als wäre Teddy von einem Auto angefahren worden.

Ob jemand, der die Zufahrt heraufgekommen war, Teddy überfahren und den Kadaver einfach über die Hecke geworfen hatte? Der Zufahrtsweg wurde eigentlich nur von Anwohnern benutzt, die wahrscheinlich wußten, daß Teddy ihm gehörte. Mit einem Kloß im Hals hob er den kleinen Körper auf und verbarg ihn sorgsam unter einer Fuchsie. Besser sagte er Moira heute abend nichts davon. Morgen früh würde er ihn begraben. Nicht daß ihr an Teddy etwas gelegen hätte, aber so etwas konnte sie derart aufregen, daß sie womöglich die Polizei anrief und die Nachbarn verdächtigte und Gott weiß was.

Die Hintertür war unverschlossen. Er schloß sie jetzt ab, nachdem er hineingegangen war. Soeben begann das Telefon zu klingeln, und er rannte durch die hintere Diele zur Garderobe, wo der Apparat unter den Mänteln stand. Er erreichte ihn beim dritten Ton, aber im selben Moment hörte das Klingeln auf. Moira hatte oben im Schlafzimmer abgenommen. Ein Anruf um diese nächtliche Zeit bedeutete meist, daß im Hotel Not am Mann war.

Er nahm darum den Hörer ab, doch da hörte er Peg sagen: »Und daß du nur ja nichts sagst. Stell dich ganz überrascht.«

»Ja, gut«, sagte Moira hastig. »Aber ich glaube, er ist gerade hereingekommen. Bis demnächst.«

Als er die Treppe hinaufging, rief ihre Stimme ihm entgegen: »Bist du’s?« Er antwortete nicht. Oben angekommen, sah er ihre dunkle Silhouette vor dem Lichtschein aus dem Schlafzimmer. »Hast du unten abgenommen?« fragte sie.

»Ja. Was wollte Peg denn noch?«

»Oh, sie hatte nur vergessen, mir von einer Intarsienarbeit zu erzählen, die sie gekauft hat.«

Sie drehte sich um und ging ins Schlafzimmer zurück, wo sie sich vor den dreiteiligen Spiegel setzte, um wie an jedem Abend ihr Haar auszukämmen. Sie nahm die Bürste in die Hand, dann beugte sie sich ärgerlich vor und riß sich ein langes Haar aus, hell wie Silberdraht, um es von allen Seiten zu betrachten, als wäre es infiziert. Ihr blaues Batistnachthemd war hinten tief ausgeschnitten, so daß man ihren langen weißen Rücken sah, auf dem die Wirbel vorstanden wie Fingerknöchel. Sie nahm erneut die Bürste und kämmte sich energisch das Haar vors Gesicht, und ihre zuckenden Bewegungen erinnerten ihn daran, wie er sie schon manchmal vor der Toilettenschüssel hatte knien und den Finger in den Hals stecken sehen, um die halbe Schachtel Pralinen oder das dicke Stück Cremetorte herauszuwürgen, die sie vor nicht einmal einer halben Stunde gegessen hatte.

Sie hatte sich gar nicht erst bemüht, ihre Krankheit vor ihm zu verstecken, nachdem er ihr daraufgekommen war. »Das kommt bei mir immer mal wieder vor«, sagte sie. »Bulimie nennt man das, und ich kann nichts dagegen machen. Vielleicht hätte ich es dir ja sagen sollen, bevor wir heirateten. Doch, natürlich. Aber jetzt möchte ich nicht, daß du mit irgend jemandem darüber sprichst. Hörst du, Michael? Es ist mir ernst damit.«

Aber er hatte natürlich nicht auf sie gehört. »Das ist eine Form der Anorexie«, hatte Sean Mullen, ein Gynäkologe, zu ihm gesagt. »Die Betroffenen sind Frauen, die sich sehnlichst eine perfekte Figur wünschen und eine krankhafte Angst vor dem Dickwerden haben. Zuerst fressen sie die Sachen in sich hinein, meist Süßigkeiten, dann würgen sie das Zeug wieder heraus. Man vermutet, daß ihnen als Idealbild das Stereotyp der hilflosen, abhängigen Schönen vorschwebt. Ist es eine Frau, die Sie kennen?«

»Ja. Aber das mit der Hilflosigkeit und Abhängigkeit scheint mir nicht ganz zu stimmen.«

»Sind Sie da sicher?« fragte Mullen. »So etwas tritt nicht immer nach außen zutage. Diese Frau sollte jedenfalls über eine Therapie nachdenken. Bulimiekerinnen sind selbstmordgefährdet.«

Als sie ihn jetzt hinter sich stehen sah, warf sie so schwungvoll den Kopf zurück, daß ihre Haare wie ein Pferdeschwanz nach hinten flogen. »Was hast du?« fragte sie gereizt.

»Nichts.«

»Kommst du zu Bett?«

»Gleich. Ich muß noch ein paar Rechnungen bezahlen. Du brauchst nicht auf mich zu warten.«