Für Jean
11, wo er mit der Zwölfuhrmaschine nach Paris weiterfliegen wollte. Hier in London regnete es. Es war sehr stürmisch gewesen, als er am Morgen aus dem Haus gegangen war, aber der Wetterbericht hatte wolkenlosen Himmel über dem südöstlichen Teil der Britischen Inseln vorhergesagt. In der Flughafenhalle, nach dem Einchecken, beschloß er einen kleinen Whiskey zu trinken. Es war noch früh am Tag, aber er dachte an das alte irische Ausschankgesetz. Ein redlicher Reisender darf sich auch außerhalb der üblichen Schankstunden ein Glas genehmigen.
Die Maschine aus Belfast landete pünktlich, aber die Passagiere mußten lange auf ihr Gepäck warten. »Dieser Flug ist jeden Tag ausgebucht«, sagte ein junger Mann, der neben Dr. Deane stand und beobachtete, wie die ersten Koffer wackelnd das Förderband herunterkamen. »Es ist die einträglichste Route im Bereich der Britischen Inseln«, sagte der junge Mann. Dr. Deane nickte, er war nicht sehr gewandt in der Konversation mit Fremden. Er sah seine weiche Canvas-Reisetasche die Rampe heruntergleiten. Sie wirkte etwas abgeschabt – kein Wunder. Sie war ein Hochzeitsgeschenk von den anderen Assistenzärzten gewesen, vor zwanzig Jahren. Er nahm die Tasche, ging hinaus und stieg in den Bus zum TerminalAuf dem Weg zur Bar blieb Dr. Deane am Zeitungsstand stehen und kaufte nach kurzem Stöbern den Guardian und das Time-Magazin. Dann ging er weiter und stellte sich, eine hochgewachsene, einsame Gestalt, an die lange, moderne Theke.
»John Jameson sagten Sie, Sir?« fragte der Barkeeper und suchte die Flasche. Als Dr. Deane den Fingerhut voll Whiskey in dem Glas sah, fiel ihm wieder ein, daß er in England war. »Geben Sie mir lieber einen doppelten«, sagte er.
»Einen doppelten, sehr wohl, Sir.«
Er trank einen Schluck von dem Whiskey. Über den Lautsprecher sagte eine Stimme Flüge nach Stockholm, Prag und Moskau an. Er fand es immer noch seltsam, zu denken, daß Leute aus dieser Halle hinausspazieren und in Städte fliegen konnten, die für ihn nur Namen in der Zeitung waren. Als er seinen Whiskey ausgetrunken hatte, nahm er zwei Gelusil-Tabletten. Er hatte mit Magengeschwüren zu tun – ein Familienleiden – und zweimal im Lauf der Jahre Blutungen gehabt. Eigentlich sollte er vorsichtig sein. Aber in der letzten Zeit war er genau das Gegenteil gewesen. Natürlich tranken in Irland heutzutage alle Leute mehr als früher. Das war klar.
Als sein Flug aufgerufen wurde, stieg er als einer der ersten in den Bus, der die Passagiere zu der wartenden Maschine brachte. Im Bus knöpfte er seinen Regenmantel auf. Darunter trug er einen grünen Tweedanzug, ein gelbes Hemd und eine grüne Krawatte. Die Farben ließen sein Gesicht eingefallen und grau erscheinen. Seine Frau suchte ihm gern die Sachen, die er anzog, aus. Sie hatte keinen Geschmack. Er wußte es, aber er ließ sie gewähren. Er war friedlicher als sie.
Vorn krochen mehrere Flugzeuge hintereinander wie aufgezogene Spielzeuge zum Startpunkt. Dr. Deane beobachtete, wie ein riesiger amerikanischer Jet in den regenschweren Himmel abhob, und fragte sich, ob er selbst vielleicht in die falsche Richtung startete. Und dann, unter
dem Aufheulen der Triebwerke, war seine eigene Maschine in der Luft, und er betrachtete die englische Landschaft unter sich. Soweit man es noch Landschaft nennen konnte. So viel mehr Häuser und Straßen und Menschen als daheim! Fünfzig Millionen auf dieser Insel, und kaum fünf Millionen in ganz Irland.Das Flugzeug stieß durch Regen und Wolken in den klaren Himmel, den der Wetterbericht am Morgen vorhergesagt hatte, und nach einer Weile kamen die Stewardessen und verkauften Zigaretten und Getränke. Er ließ sich einen Haig geben und stellte fest, daß der zollfreie Drink ein Viertel von dem kostete, was er in der Flughafenbar für den Jameson bezahlt hatte. Er löste den Sicherheitsgurt, nahm das Glas und betrachtete den blaßgelben Scotch. Seine Frau war entschieden gegen diese Reise gewesen: Stecknadel im Heuhaufen, vergebliche Mühe – all die Klischees, die sie immer parat hatte. Er hatte sie gebeten, es niemandem zu erzählen, aber vielleicht war das zuviel verlangt von ihr. Er blickte nach unten, sah, daß die Maschine bereits über Wasser war, und drehte den Kopf nach hinten, um noch einen Blick auf die weißen Klippen von Dover werfen zu können. Die Stewardessen kamen wieder durch den Gang, brachten Tabletts mit kaltem Lunch. Er dachte an den Brief, der vor zwei Tagen in Paris angekommen war. Ein Brief von dem Amerikaner, an Sheila gerichtet, c/o Peg Conway. Seine Tachykardie setzte ein. Es sind nur die Nerven, mit meinem Herzen ist alles in Ordnung. Mir fehlt nichts. Ich fliege nach Paris, um Peg zu besuchen und mit diesem Priester zu sprechen. Um zu sehen, was ich herausfinden kann.
Die Stewardeß beugte sich zu ihm herab und gab ihm ein Plastiktablett: ein Teller mit kaltem Braten, ein
Cremetörtchen und ein Schälchen mit grünem Salat. »Möchten Sie etwas essen, Sir?«Dr. Deane hatte keinen Hunger, aber das Geschwür mußte gefüttert werden. Er nahm das Tablett.
Peg Conway, eine zierliche Frau, kam wieder aus der Diele ihrer Wohnung und stand wie ein kleines Mädchen vor Dr. Deanes einsamer Höhe. Altmodisch wie er war, hatte er sich vom Sofa erhoben, als sie in das Wohnzimmer zurückkehrte. »Bleiben Sie doch sitzen«, ermunterte sie ihn. »Hier ist er.«
Dr. Deane drehte den Brief in den Händen, nahm die amerikanischen Luftpostbriefmarken zur Kenntnis und die Adresse, an die er gerichtet war:
MME SHEILA REDDEN
C/O CONWAY
29, QUAI SAINT-MICHEL
PARIS, 75005
FRANCE
Faire suivre, s.v.p. – Urgent. Please forward
Dann las er den Namen und die Adresse des Absenders:
T. LOWRY
PINE LODGE
RUTLAND, VERMONT 05701
USA
»Sie sehen, er ist am zweiten in Vermont aufgegeben worden. Also vier Tage, nachdem sie Paris angeblich verlassen hatten.«
Dr. Deane ließ sich wieder auf das abgeschabte braune Samtsofa sinken. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Umschlag, der jetzt auf seinem Knie lag.
»Warum machen Sie ihn nicht auf?« sagte Peg.
Er lächelte nervös und blickte wieder auf den Brief. »Ach nein, ich glaube, lieber nicht. Es wäre nicht richtig.«
»Es ist schließlich ein Notfall.«
»Ich weiß.«
»Hören Sie«, sagte Peg. »Sie soll in Amerika sein. Aber ist sie es? Sehen Sie sich das Datum auf dem Umschlag an. Wenn er ihr den Brief geschrieben hat, bedeutet das, daß sie nicht mehr zusammen sind.«
»Nicht unbedingt.« Dr. Deane nahm eine Gauloise aus einer zerknitterten Packung und zündete sie sich an. »Vielleicht hat sie an dem Abend kalte Füße bekommen und ist ihm dann später nachgereist.«
»Als der Brief schon aufgegeben war?«
»Genau.« Er machte einen Lungenzug und atmete den Rauch durch die Nase aus.
»Ich dachte, die meisten Ärzte rauchen heutzutage nicht mehr.«
»Ich bin rückfällig geworden.«
»Und was haben Sie jetzt als nächstes vor?«
»Ich überlege gerade«, sagte Dr. Deane. »Es ist durchaus möglich, daß sie jetzt bei ihm ist, in Vermont. Ich könnte versuchen, sie dort anzurufen.«
»Sie meinen, in Amerika anrufen? Bei dieser Adresse?«
»Ja.«
»Das würden Sie lieber tun, als den Brief zu öffnen?«
»Ja.«
»Na gut, also los«, sagte Peg. »Immerhin eine Idee. Hören Sie zu, ich gehe jetzt in die Küche und bereite das
Abendessen vor. Dann sind Sie ungestört, falls Sie Sheila erreichen. Das Telefon steht da drüben.«»Ich lasse mir die Gebühren durchsagen.«
»Machen Sie sich darum keine Sorgen.«
Er stand auf, als sie hinausging, und hörte gleich darauf, wie sie geräuschvoll die Küchentür schloß, um ihm zu bedeuten, daß niemand zuhören würde. Eine große, gefleckte Katze kam aus dem Flur hereinstolziert, machte einen Buckel und schmiegte sich dann an sein Hosenbein. Er betrachtete wieder die Adresse auf dem Briefumschlag und ging zu dem Schreibtisch hinüber, auf dem das Telefon stand. Durch die Balkontür konnte er tief unten die Seine sehen, wie sie sich durch die Innenstadt wand; zu seiner Linken sah er den angestrahlten Turm der Sainte-Chapelle hinter dem Justizpalast, und flußabwärts die ehrfurchtgebietende, feierliche Fassade von Notre-Dame. Und mit dieser Aussicht vor Augen – so anders als jede Aussicht daheim – den Telefonhörer abzunehmen und Worte zu sprechen, die durch ein Unterseekabel zu dem riesigen Kontinent liefen, den er nie gesehen hatte! Es war, als lebte er nicht mehr sein eigenes Leben, sondern spielte plötzlich in einem Film mit, als Detektiv, der eine Vermißte suchte, oder eher noch als Verbrecher, der seinem Opfer Schadenersatz leisten wollte. Und jetzt wählte er und sprach mit der Auslandsvermittlung und hörte, ehe eine Minute vergangen war, ein fernes, aber deutliches und ganz selbstverständliches Läuten, als riefe er jemanden am anderen Ende der Straße an.
»Pine Lodge«, sagte eine amerikanische Stimme.
»Ich habe hier ein persönliches Gespräch aus Paris, Frankreich«, sagte das Fräulein von der Vermittlung. »Für eine Mrs. Sheila Redden.«
»Tut mir leid, bei uns wohnt keine Mrs. Redden.«
Dr. Deane unterbrach. »Wohnt dort ein Mr. Tom Lowry?«
»Einen Moment, Sir, möchten Sie statt dessen Mr. Tom Lowry sprechen?« fragte das Fräulein von der Vermittlung.
»Ja, bitte.«
»Danke. Hallo, Vermont? Wohnt bei Ihnen ein Mr. Tom Lowry, bitte?«
»Ja, Augenblick«, sagte die amerikanische Stimme. »Tom? Paris! Apparat zwei.«
»Hallo« – eine Stimme, jung, sehr aufgeregt.
»Mr. Lowry, ich bin Sheilas Bruder und rufe aus Peg Conways Wohnung in Paris an. Mein Name ist Deane, Owen Deane.«
»Oh.« Die Stimme wurde kühl. »Ja?«
»Ich versuche, Sheila zu erreichen. Es geht um Geld, das ich ihr schicken soll. Ist sie dort?«
Ein kurzes Zögern. »Tut mir leid, ich kann Ihnen da nicht helfen.«
»Ich rufe an, weil hier ein Brief von Ihnen ist, ein Brief an Sheila. Wir dachten, sie sei bei Ihnen. Wir machen uns natürlich Sorgen um sie.«
»Tut mir leid.«
»Hören Sie, falls Sie wissen, wo sie ist, würden Sie ihr dann bitte etwas ausrichten? Würden Sie ihr bitte sagen, sie möchte mich auf meine Kosten im Hotel Angleterre in Paris anrufen? Ich gebe Ihnen die Nummer.«
»Tut mir leid. Guten Tag«, sagte die Stimme des Jungen. Dann klickte es.
Dr. Deane stand da, den Hörer in der Hand, und sein Herz fing wieder mit der Tachykardie an, die ihn plagte,
seit diese Sache begonnen hatte. Er legte den Hörer auf, sah sein blasses Gesicht im Spiegel und dachte wieder an die Worte, die sie an jenem Tag zu ihm gesagt hatte: Vergiß mich. Ich bin wie der Mann in der Zeitungsstory, der ganz normale Mann, der zur nächsten Ecke geht, um Zigaretten zu kaufen, und von dem man nie wieder etwas hört. Wenn er sich vorstellte, daß sie erst vor vier Wochen hierher nach Paris gekommen war, um einen ganz normalen Sommerurlaub zu beginnen! Sie war in dieser Wohnung gewesen, hatte in diesem Zimmer gestanden. Seine Augen blickten forschend in den Spiegel, als könnte, hinter ihm, seine Schwester plötzlich wieder erscheinen. Aber der Spiegel zeigte ihm nur sein eigenes Bild, sein Judasgesicht.