Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «The Largesse of the Sea Maiden» im Verlag Random House, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Largesse of the Sea Maiden» Copyright © 2018 by Denis Johnson Inc.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München
Umschlagabbildung COME2US/Shutterstock
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-498-07399-2 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-00149-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00149-7
Die Großzügigkeit der Meerjungfrau ist ein Werk der Literatur. Abgesehen von den allseits bekannten realen Persönlichkeiten, Ereignissen und Schauplätzen, die darin vorkommen, sind alle Namen, Figuren, Orte und Vorkommnisse vom Autor frei erfunden oder wurden in fiktive Zusammenhänge gestellt. Jede Ähnlichkeit mit aktuellen Ereignissen, Schauplätzen oder lebenden Personen ist rein zufällig.
Joe,
Carter,
Winky,
Bobby Z.
Nach dem Essen ging keiner sofort nach Hause. Ich glaube, wir hofften, Elaine würde uns das Ganze gleich noch einmal servieren, so gut hatte es uns geschmeckt. Unsere Gäste waren Leute, die wir über Elaines ehrenamtliche Arbeit etwas näher kennengelernt hatten – niemand von meiner Arbeit, niemand von der Werbeagentur. Wir saßen im Wohnzimmer und unterhielten uns über die lautesten Geräusche, die wir je gehört hatten. Einer meinte, es sei die Stimme seiner Frau gewesen, als sie ihm gesagt habe, sie liebe ihn nicht mehr und wolle die Scheidung. Ein anderer erinnerte sich an das Wummern seines Herzens im Moment des Infarkts. Tia Jones war mit siebenunddreißig Großmutter geworden und wünschte sich, nie wieder etwas so Lautes hören zu müssen wie das Geschrei ihrer Enkelin in den Armen ihrer sechzehnjährigen Tochter. Ihr Mann Ralph sagte, ihm täten die Ohren weh, sobald sein Bruder in der Öffentlichkeit den Mund aufmache, denn dieser Bruder habe das Tourette-Syndrom und platze vor wildfremden Leuten im Bus, während eines Kinofilms oder sogar in der Kirche mit Bemerkungen wie «Ich onaniere! Dein Penis riecht gut!» heraus.
Der junge Chris Case kehrte die Richtung um, indem er von einem Moment der Stille sprach. Das Leiseste, was er je gehört habe, sagte er, sei die Landmine gewesen, durch die er vor Kabul sein rechtes Bein verloren habe.
Niemand steuerte noch etwas anderes über Stille bei. Dafür trat jetzt Stille ein. Manchen von uns war gar nicht aufgefallen, dass Chris nur ein Bein hatte. Er hinkte, aber nur leicht. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass er in Afghanistan gewesen war. «Eine Landmine?», sagte ich.
«Ja. Eine Landmine.»
«Dürfen wir mal sehen?», fragte Deirdre.
«Nein», sagte Chris. «Ich trage keine Landminen mit mir herum.»
«Nein! Ich meine Ihr Bein.»
«Das wurde abgerissen.»
«Ich meine den Teil, der noch da ist!»
«Den zeige ich Ihnen nur», sagte er, «wenn Sie ihn küssen.»
Alle lachten betroffen. Wir fragten uns gegenseitig, was das Absurdeste sei, das wir je geküsst hatten. Es gab nichts. Wir hatten alle nur Menschen geküsst und die nur an den üblichen Stellen. «Na bitte», sagte Chris zu Deirdre. «Ihre Chance für den originellsten Gesprächsbeitrag.»
«Nein, ich möchte Ihr Bein nicht küssen.»
Auch wenn niemand sich etwas anmerken ließ, glaube ich, dass wir uns alle ein bisschen über Deirdre ärgerten. Jeder von uns wollte es sehen.
Morton Sands war an dem Abend auch da und hatte fast die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt sagte er: «Herrgott noch mal, Deirdre.»
«Na gut», sagte sie.
Chris zog sein rechtes Hosenbein hoch, krempelte auf halber Oberschenkelhöhe den Saum ein paarmal um und nahm die Prothese ab, einen Apparat aus Chromstangen und Plastikriemen, der am Knie festgeschnallt war. Es war unversehrt und auf schaurige Art nach oben gedreht, sodass wir das runzelige Ende seines Beins sehen konnten. Deirdre ging vor ihm auf die bloßen Knie, und er rutschte nach vorne – auf der Couch, neben ihm saß Ralph Jones –, um den vernarbten Stumpf bis auf fünf Zentimeter an Deirdres Gesicht heranzuschieben. Sie fing an zu weinen. Jetzt waren wir alle betreten, ein wenig beschämt.
Fast eine Minute lang warteten wir ab.
Dann sagte Ralph Jones: «Chris, ich weiß noch, wie du vor dem Aces Tavern mal zwei Typen gleichzeitig verdroschen hast. Ohne Witz», sagte er zu uns anderen. «Er ist mit den beiden vor die Tür und hat sie grün und blau geschlagen.»
«Ich hätte sie wahrscheinlich verschonen können», sagte Chris. «Sie waren beide ganz schön betrunken.»
«Jedenfalls hast du an dem Abend ziemlich ausgeteilt, Chris.»
Ich hatte eine herrliche kubanische Zigarre in meiner Brusttasche. Damit wollte ich eigentlich vor die Tür gehen. Das Essen war eins unserer besten gewesen, und zur Abrundung hätte ich jetzt gern genüsslich eine geraucht. Aber so etwas will man dann doch bis zum Ende miterleben. Wie oft wird man schon eine Frau einen Beinstumpf küssen sehen? Nur hatte Jones mit seinem Dazwischenreden alles verdorben. Der Bann war gebrochen. Chris legte die Prothese wieder an, schnallte die Riemen fest und brachte sein Hosenbein in Ordnung. Deirdre stand auf und trocknete sich die Augen, strich ihren Rock glatt, setzte sich, und das war’s. Das Ergebnis von alldem war, dass Chris und Deirdre ungefähr sechs Monate später in Gegenwart fast derselben Gruppe von Freunden ihre standesamtliche Hochzeit feierten. Ja, sie sind jetzt Mann und Frau. Sie und ich, wir wissen, was da läuft.
Mir kommt eine andere Stille in den Sinn. Vor ein paar Jahren waren Elaine und ich bei Miller Thomas, dem ehemaligen Leiter meiner Agentur in Manhattan, zum Essen eingeladen. Ja, genau, er und seine Frau Francesca sind auch hier draußen gelandet, aber wesentlich später als Elaine und ich – früher mein Chef, jetzt San-Diego-Ruheständler. Wir tranken zwei Flaschen Wein beim Essen, vielleicht drei. Nach dem Essen Brandy. Vor dem Essen gab es Cocktails. Wir kannten uns nicht besonders gut, und vielleicht benutzten wir den Alkohol, um schnell über diese Tatsache hinwegzukommen. Nach dem Brandy fing ich an, Scotch zu trinken, und Miller trank Bourbon, und obwohl es so warm war, dass die Klimaanlage lief, behauptete er, es sei ein kühler Abend, und machte ein Feuer im Kamin. Ein Spritzer Spiritus und ein Streichholz genügten, um einen Armvoll Reisig zum Knistern und Lodern zu bringen, und dann legte er ein paar große Klötze darauf, gutes, abgelagertes Eichenholz, wie er sagte. «Der Kapitalist an seiner Esse», sagte Francesca.
Irgendwann standen wir im Schein der Flammen, ich und Miller Thomas, und probierten aus, wie viele Bücher, die Elaine und Francesca uns auf die Hände luden, wir mit ausgestreckten Armen balancieren konnten, eine Gleichgewichtsprüfung, an der wir beide wiederholt scheiterten. Es wurde zu einer Kraftprobe. Ich weiß nicht, wer gewann. Wir verlangten nach immer mehr Büchern, und unsere Frauen stapelten sie uns auf, bis ein Großteil von Millers Bibliothek um uns herum auf dem Boden lag. Er hatte ein kleines Marsden-Hartley-Gemälde über dem Kamin hängen, eine verrückte, überwiegend blaue Landschaft in Öl, und ich sagte, das sei vielleicht nicht der richtige Ort für ein Bild wie dieses, so dicht an Rauch und Hitze, ein derart teures Bild. Noch dazu war es meisterhaft, soweit ich das im trüben Licht der Lampen und des Feuers und zwischen all den auf dem Boden verstreuten Büchern erkennen konnte … Miller reagierte beleidigt. Er sagte, er habe für dieses Meisterwerk bezahlt, es sei sein Eigentum, und er könne es hinhängen, wo immer er wolle. Er trat ganz nah an die Flammen heran, nahm das Bild ab, drehte sich damit zu uns um und verkündete, wenn ihm danach sei, könne er es sogar ins Feuer werfen und verbrennen lassen. «Ist das Kunst? Klar. Aber ich verrate euch was», sagte er, «Kunst ist nicht der Eigentümer. Ich heiße nicht Kunst.» Er hielt das Bild wie ein Tablett in den Händen, mit der Landschaft nach oben, und lockte die Flammen, indem er es wieder und wieder in den Kamin stieß … Und das Merkwürdige ist, dass ich einige Jahre zuvor fast die gleiche Geschichte über Miller Thomas und seine geliebte Hartley-Landschaft schon einmal gehört hatte, über einen Abend, der diesem sehr ähnlich war, mit Cocktails, Wein, Brandy und noch mehr Cocktails, hemdsärmeligen Gesprächen und Büchern, die verstreut herumlagen, und auch da hatte Miller schließlich das Bild in Richtung Flammen gestoßen, es als sein Eigentum bezeichnet und gedroht, es zu verbrennen. An jenem Abend hatten die Gäste ihn beschwichtigen können, und er hatte das Bild wieder aufgehängt, aber an unserem Abend – warum? – schaffte es niemand einzuschreiten, als er sein Eigentum den Flammen überließ, sich abwandte und vom Kamin wegging. Auf der Leinwand bildete sich ein schwarzer Fleck und breitete sich aus wie eine Art qualmende Pfütze, aus der kleine Flammen hochzüngelten. Miller setzte sich in einen Sessel beim flackernden Fenster auf der anderen Seite des Wohnzimmers und sah mit einem Cocktail in der Hand aus dieser Entfernung zu. Kein Wort, keine Regung von uns. Der Holzrahmen knackte in der Stille phantastisch, während das großartige Gemälde verschmurgelte, zuerst schwarz wurde und sich verdrehte, dann zu flattern begann und sich grau färbte, bis das Feuer es ganz verschlang.
Heute Morgen wurde ich von einer solchen Traurigkeit über das Tempo des Lebens übermannt – die lange Wegstrecke, die ich seit meiner Jugend zurückgelegt habe, die anhaltende Reue wegen alter Geschichten, die Reue wegen neuer Geschichten, die Tatsache, dass das Scheitern imstande ist, immer wieder andere Formen anzunehmen –, dass ich fast den Wagen zu Schrott fuhr. An dem Ort angekommen, wo ich meiner Arbeit nachgehe, in der ich, glaube ich, nicht sehr gut bin, griff ich beim Aussteigen zu hastig nach meiner Aktentasche, sodass sich die Hälfte ihres Inhalts auf meinen Schoß und die andere Hälfte auf den Parkplatz ergoss, und nachdem ich alles aufgesammelt hatte, ließ ich meinen Schlüssel auf dem Sitz liegen, verriegelte den Wagen dann manuell – die Angewohnheit eines alten Mannes – und schloss auf diese Weise den Schlüssel ein. Im Büro bat ich Shylene, den Schlüsseldienst anzurufen und mir einen Termin bei meinem Rückenfachmann zu besorgen.
Im oberen rechten Quadranten meines Rückens spielt ab und zu ein Nerv verrückt. Der Spinalnerv Th 4. Diese Nerven sind keine zarten, feinen Tuschestriche; es sind Taue, so dick wie ein kleiner Finger. Meiner wird zwischen verkrampften Muskeln eingeklemmt, und man kann Tage oder sogar Wochen lang nichts weiter tun als Aspirin nehmen, sich massieren lassen und zum Chiropraktiker gehen. Im ganzen rechten Arm spüre ich ein Prickeln, eine Taubheit, manchmal ein dumpfes, wie unterdrücktes Stechen, manchmal einen gestaltlosen, verwirrenden Schmerz.
Das ist ein Warnzeichen: Es passiert, wenn mich etwas beunruhigt.
Zu meiner Überraschung wusste Shylene über dieses Etwas genau Bescheid. Anscheinend hat sie Zeit, ihre Chefs zu googeln, und so hatte sie von dem Preis für einen animierten Fernsehwerbespot erfahren, den ich demnächst, ausgerechnet in New York, verliehen bekommen sollte. Der Preis geht an mein altes New Yorker Team, aber ich würde als Einziger von uns an der Zeremonie teilnehmen, wahrscheinlich weil ich der Einzige war, der nach so vielen Jahren noch Interesse daran hatte. Diese kleine Geste der Anerkennung vervollständigte ein deprimierendes Gesamtbild. Die Leute aus meinem Team waren alle zu anderen Teams, nobleren Agenturen, größeren Erfolgen weitergezogen. Ich dagegen hatte in über zwei Jahrzehnten nichts weiter getan, als vorwärtszutrotten, bis ich die Grenze bestimmter Vorstellungen erreichte und ausstieg. Shylene indessen machte oh und ah und schwärmte wie eine stolze Krankenschwester, die erwartet, dass man all die grässlichen Prozeduren, die das Krankenhaus für einen bereithält, gebührend bestaunt. «Danke, danke», sagte ich zu ihr.
Schon als ich die Empfangshalle betrat und auch während unseres Gesprächs trug Shylene eine auffällige, paillettenbesetzte Karnevalsmaske. Ich fragte sie nicht, warum.
Unsere Bürolandschaft ist Teil der New Wave. Die gesamte Agentur arbeitet unter einem gigantischen Dach zusammen, wie in einem Zirkus – ohne räumliche Enge, ziemlich angenehm, mit einem großen Pausenbereich in der Mitte inklusive Flipperautomaten und Basketballkorb, und in den Sommermonaten gibt es jeden Freitag eine Happy Hour mit Bier vom Fass umsonst.
In New York habe ich Werbespots gemacht. In San Diego schreibe und gestalte ich Hochglanzbroschüren, meist für eine Gruppe von Hotelanlagen an der Westküste, wo man Golf spielen und von Pferden Reitwege entlanggetragen werden kann. Verstehen Sie mich nicht falsch – Kalifornien ist voller schöner Flecken; es ist ein Vergnügen, Menschen, die womöglich Freude daran haben könnten, auf sie aufmerksam zu machen. Nur bitte nicht mit einem böse eingeklemmten Nerv.
Wenn ich es nicht aushalte, nehme ich mir frei und gehe in das große Kunstmuseum im Balboa Park. Dort fuhr ich auch jetzt hin, nachdem der Mann vom Schlüsseldienst mir wieder Zugang zu meinem Auto verschafft hatte, und setzte mich in einen der Nebenräume, wo eine Art-brut-Künstlerin gerade einen Vortrag hielt – «die Kunst ist Mensch, und der Mensch ist Kunst!», begeisterte sie sich. Ich hörte fünf Minuten zu. Das wenige, was sie verständlich ausdrücken konnte, verdiente noch nicht einmal die Bezeichnung seicht. Ihre Bilder allerdings waren clever konzipiert, raffiniert aufgebaut und stimmig. Ich wanderte von Wand zu Wand und sah mir manches davon an, nicht viel. Wenn ich so ungefähr eine Stunde lang Kunst betrachte, ändert sich mein Blick auf das, was ich anschließend sehe – an diesem Tag eine Gruppe geistig behinderter Erwachsener, die eine Führung durch das Museum bekamen und mit ihren verdrehten, herumbaumelnden Händen und schiefgelegten Köpfen wie billig gemachte Kino-Zombies zwischen den Werken umherliefen, aber gute Zombies, Zombies mit Verstand, Seele und Interessen, denen sie nachgehen konnten. Und draußen, wo normalerweise etliche große Metallskulpturen stehen, wurde gerade das Gelände aufgerissen und neu gestaltet – eine Schleppschaufel schob monsterähnlich den Schutt vor sich her, eine Frau und ein Kind sahen regungslos dabei zu, der kleine Junge mit seinem Lächeln und Seitwärtsblick auf einer Bank stehend, die Mutter daneben, seine Hand in der ihren, beide ganz still, wie auf einem Foto vom Verfall Amerikas.
Kurz danach hatte ich einen Behandlungstermin bei einem Chiropraktiker, der als Elf verkleidet war.
Anscheinend trug die gesamte Belegschaft des Ärztehauses bei mir um die Ecke Halloweenkostüme, denn während ich draußen im Auto auf meinen Termin wartete, den frühesten, den ich an dem Tag hatte ergattern können, sah ich nacheinander ein Schweizer Milchmädchen, eine Hexe mit grünem Gesicht und einen Superhelden in Knallorange von der Mittagspause zurückkommen. Dann ging ich zu dem Chiropraktiker hinein, der mich in Strumpfhosen und mit Elfenmütze empfing.
Und ich? Meine übliche Verkleidung. Die Maskerade geht weiter.
Elaine hat sich ein Wandtelefon für die Küche gekauft, ein schnittiges blaues, mit einem Hörer, der wie ein Hut obendrauf sitzt, und einer Rufnummernanzeige auf dem Gesicht, gleich unter der Tastatur. Ich war eben vom Chiropraktiker zurück und beäugte diesen Apparat, als ein forscher, schlichter Ton erklang und auf dem winzigen Bildschirm zehn Zahlen erschienen, die mir nichts sagten. Mein Impuls war, das Klingeln zu ignorieren wie alles Unbekannte. Aber dies war der erste Anruf, die Eröffnungsnachricht.
Sobald ich den Hörer berührt hatte, fragte ich mich, ob ich es bereuen würde, ob ich einen Fehler in der Hand hielt und diesen Fehler jetzt an meinen Kopf heranführte und «Hallo» zu ihm sagte.
Der Anrufer war meine erste Frau Virginia oder Ginny, wie ich sie immer nannte. Wir waren vor langer Zeit verheiratet gewesen, mit Anfang zwanzig, und hatten uns nach drei verrückten Jahren getrennt. Seitdem hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, es hatte keinen Grund dafür gegeben, aber jetzt gab es einen. Ginny lag im Sterben.
Ihre Stimme klang matt. Sie sagte mir, die Ärzte hätten die Bücher in ihrem Fall geschlossen, sie habe ihre Angelegenheiten geregelt, und jetzt kümmerten sich die guten Seelen vom Hospiz um sie.
Bevor ihre irdische Durchreise, wie Ginny es nannte, endete, wollte sie jede Bitterkeit gegenüber bestimmten Menschen, bestimmten Männern, besonders mir gegenüber ablegen. Sie sei tief verletzt gewesen und wolle mir so gern vergeben, sagte sie, nur wisse sie nicht, ob sie das könne – sie hoffe es sehr –, und vom Abgrund eines gebrochenen Herzens aus versicherte ich ihr, dass ich das ebenfalls hoffte und mich heute dafür verabscheute, sie hintergangen, in Gelddingen belogen und ihr meine Langeweile verschwiegen, ja überhaupt Geheimnisse vor ihr gehabt zu haben, und nach vierzig Jahren Stille sprachen Ginny und ich über all das, womit ich sie ihres Rechts auf Wahrheit beraubt hatte.
Mittendrin begann ich, mich höchst unbehaglich, ja mit schwindelerregender, schweißtreibender Angst zu fragen, ob ich mich nicht getäuscht hatte – ob dies womöglich nicht meine erste Frau Ginny, sondern vielmehr meine zweite war, Jennifer, die oft Jenny genannt wurde. Wegen ihrer schwachen Stimme und des Summens in meinen Ohren, das der Schock ihres Anrufs ausgelöst hatte, aber auch wegen der Umstände, unter denen sie aus diesem sehr wichtigen Anlass mit mir zu sprechen versuchte – ein Kommen und Gehen von Leuten und die Geräusche eines Atemgeräts, wie ich vermutete –, konnte ich mich jetzt, nach fünfzehnminütigem Telefonat, nicht mehr erinnern, ob sie wirklich ihren Namen gesagt hatte, als ich den Hörer abnahm, und so wusste ich auf einmal nicht mehr, welche Vergehen es waren, die ich hier bereute, war mir nicht sicher, ob dieser Abschied einer Sterbenden, der mich neben dem Küchentisch in aufrichtiger Buße auf die Knie fallen ließ, der von Virginia oder der von Jennifer war.
«Das ist hart», sagte ich. «Kann ich den Hörer mal einen Moment weglegen?» Ich hörte sie «okay» sagen.
Das Haus fühlte sich leer an. «Elaine?», rief ich. Nichts. Ich wischte mir mit einem Geschirrhandtuch das Gesicht ab, zog meine Jacke aus, hängte sie auf einen Stuhl und rief noch einmal nach Elaine, bevor ich den Hörer wieder aufnahm. Niemand war dran.
Irgendwo in seinem Inneren hatte das Telefon die Nummer der Anruferin, Ginnys oder Jennys, natürlich gespeichert, aber ich suchte nicht danach. Wir hatten unser Gespräch geführt, und Ginny oder Jenny, welche von beiden es auch gewesen war, hatte mit meinen offenherzigen Entschuldigungen etwas anfangen können und war zufrieden gewesen – schließlich waren meine Vergehen bei beiden die gleichen.
Ich war müde. Was für ein Tag. Ich rief Elaine auf ihrem Handy an. Wir einigten uns, dass sie ruhig im Budget Inn auf der East Side bleiben könne. Sie ging dort ihrer ehrenamtlichen Arbeit nach, brachte Erwachsenen Lesen bei, und ab und zu wurde es spät, und sie blieb über Nacht. Gut. Dann konnte ich ja alle drei Türschlösser absperren und den Tag für beendet erklären. Den Anruf erwähnte ich nicht. Ich legte mich früh schlafen.
Ich träumte von einer wilden Landschaft – mit Elefanten, Dinosauriern, Fledermaushöhlen, sonderbaren Eingeborenen und dergleichen.
Ich wachte auf, konnte nicht wieder einschlafen, zog mir einen langen Frottébademantel über den Pyjama, schlüpfte in meine Halbschuhe und ging spazieren. Bei uns in der Gegend sind zu allen Zeiten Leute im Bademantel unterwegs, allerdings wohl nur selten ohne ein Haustier an der Leine. Es ist ein gutes Viertel – mit einer katholischen und einer Mormonenkirche, einer schnieken Reihenhausanlage mit vielen Grünflächen und, auf unserer Straßenseite, ein paar hübschen kleineren Einfamilienhäusern.
Ich wüsste gern, ob Sie das auch kennen, ob Sie wie ich sonderbare Momente sammeln und wie ein Eichhörnchen in Ihrer Seele horten, Momente, in denen das Mysterium Ihnen zuzwinkert, einmal angenommen zum Beispiel, Sie hätten sich in Bademantel und Quastenhalbschuhen weit aus Ihrem Wohnviertel hinausgewagt, zwischen lauter geschlossenen Geschäften entlang, und gingen nun auf Ihr diffuses Spiegelbild in einem Schaufenster zu, über dem ein paar Wörter auszumachen wären. «Haue und Keile» stand da. Aus der Nähe hieß es «Taue und Seile».
Ich ging nach Hause.
Eines Tages trafen mein Freund Tom Ellis, ein Journalist, und ich uns zum Mittagessen – nur um uns mal wieder auszutauschen. Er erzählte mir, er schreibe gerade einen Zweiakter auf der Grundlage einiger Interviews, die er aufgenommen habe, als er Material für einen Artikel über die Todesstrafe zusammentrug, zwei Interviews im Besonderen.
Zuerst hatte er in Virginia einen Nachmittag mit einem Todestraktinsassen verbracht, dem Mörder William Donald Mason, ein Name, den hier in Kalifornien kaum einer kennt, keine Ahnung, warum ich ihn mir gemerkt habe. Mason sollte am darauffolgenden Tag hingerichtet werden, zwölf Jahre nach dem Mord an einem Wachmann, den er bei einem Bankraub als Geisel genommen hatte.
Abgesehen von seiner letzten Mahlzeit, Steak mit grünen Bohnen und einer Ofenkartoffel, die ihm am nächsten Mittag serviert werden würde, gab es nichts Zukünftiges, über das Mason sich noch den Kopf zerbrechen musste, und er wirkte entspannt und zufrieden. Ellis befragte ihn nach seinem Leben vor der Verhaftung, seinem Tagesablauf im Gefängnis, seiner Einstellung zur Todesstrafe – Mason war dagegen – und seinem Standpunkt im Hinblick auf ein Leben nach dem Tod – Mason war dafür.
Der Häftling sprach voller Bewunderung von seiner Frau, die er, einige Jahre nachdem er im Todestrakt gelandet war, kennengelernt und geheiratet hatte. Sie war die Cousine eines Mitinsassen. Sie kellnerte in einer Sportbar – gutes Trinkgeld. Sie las gern und hatte ihrem Mörder-Ehemann die Werke von Charles Dickens, Mark Twain und Ernest Hemingway nahegebracht. Und sie machte eine Ausbildung zur Immobilienmaklerin.
Mason hatte seiner Frau bereits Lebewohl gesagt. Das Paar war übereingekommen, es eine ganze Woche vor der Hinrichtung hinter sich zu bringen: ein paar glückliche Stunden miteinander zu verleben und weit außerhalb des Schattens von Masons letztem Tag Abschied zu nehmen.
Ellis sagte, er habe zu diesem Mann, der so kurz vor seinem Ende gestanden habe, eine starke, unerwartete Verbindung gespürt, denn abgesehen von den Leuten, die ihn am nächsten Tag auf der Bahre herrichten und für die Injektion vorbereiten sollten, war es immerhin, wie Mason selbst erwähnte, das letzte Mal, dass ihm ein Fremder vorgestellt wurde. Tom Ellis war, mit anderen Worten, der letzte in sein Leben tretende Mensch, der nicht im Begriff war, ihn zu töten. Und tatsächlich ging alles nach Plan vonstatten, und ungefähr achtzehn Stunden nachdem Ellis mit ihm gesprochen hatte, war William Mason tot.
Eine Woche später führte Ellis ein Interview mit der Witwe, Mrs. Mason, und erfuhr, dass vieles von dem, was sie ihrem Mann erzählt hatte, nicht stimmte.
Ellis machte sie in Norfolk ausfindig, wo sie keineswegs in einer Sportbar arbeitete, sondern im Keller eines Sex-Emporiums am Hafen, in einer Einzelkabinen-Peepshow. Um mit ihr zu sprechen, musste Ellis zwanzig Dollar bezahlen, eine enge, mit violetten Glühbirnen beleuchtete Treppe hinabsteigen und sich vor einem Fenster mit zugezogenem Vorhang auf einen Stuhl setzen. Er erschrak, als der Vorhang aufging und den Blick auf die Frau freigab, die, bereits völlig nackt, in einer gepolsterten Kabine auf einem Hocker saß. Dann war es an ihr zu erschrecken, als Ellis ihr sagte, er habe am letzten Tag, der ihrem Mann auf Erden beschieden gewesen sei, noch ein, zwei Stunden mit ihm verbracht. Sie sprachen miteinander über die Wünsche und Träume des Häftlings, seine glücklichsten Erinnerungen und seinen Kindheitskummer, die Art von Dingen, die ein Mann nur mit seiner Frau teilt. Ihr Gesicht war streng, aber hübsch, und sie präsentierte sich Tom in aller Unbefangenheit, obschon ohne den Schutz der Anonymität. Sie weinte, sie lachte, sie schimpfte, sie flüsterte – all das in den Telefonhörer hinein, den sie sich ans Ohr hielt, während sie mit der freien Hand gestikulierte oder die Glasscheibe zwischen ihnen berührte.
Dass sie ihrem Mann so viele Lügen aufgetischt hatte, gehörte zu den Dingen, über die sie lachte. Sie schien anzunehmen, jeder andere hätte es genauso gemacht. Zusätzlich zu ihrem fingierten Job und ihrer imaginären Maklerausbildung hatte sie sich noch mit einer religiösen Seele ausgestattet und war einer Kirche beigetreten, die es nicht gab. Dank all ihren Erfindungen war Mason als stolzer und glücklicher Ehemann gestorben.
Und genau so, wie mein Freund von plötzlicher Vertrautheit mit dem verurteilten Mörder überrascht worden war, fühlte er sich auch dessen Witwe sehr nah, weil sie über das Leben und den Tod sprachen, während sie sich ihm, die Füße in den roten hochhackigen Schuhen weit auseinander auf dem Boden, in ihrer ganzen Nacktheit zeigte. Ich fragte ihn, ob sie am Ende Sex gehabt hätten, und er sagte, nein, aber er habe Sex gewollt, keine Frage, und er sei überzeugt, dass es der nackten Witwe genauso gegangen sei, obwohl man die Mädchen in diesen Etablissements ja nicht anfassen dürfe und er dieses Zwiegespräch, ja beide Gespräche – das Todeszellen-Interview und das Interview mit der nackten Witwe – durch gläserne Trennwände hindurch geführt habe, die eigens dafür gemacht seien, jeder Art von leidenschaftlichem Übergriff standzuhalten.
Damals war ihm der Gedanke, ihr zu sagen, was er wollte, schrecklich vorgekommen. Heute bedauerte er seine Schüchternheit. In dem Stück, wie er es mir beschrieb, sollte der zweite Akt anders enden.
Von dort landeten wir schnell bei dem Unterschied zwischen Reue und Bedauern. Man bereut Dinge, die man getan hat, und bedauert, was man an Chancen ungenutzt hat verstreichen lassen. Dann wurden wir, wie es in einem Café in San Diego manchmal passiert – öfter, als man meinen sollte –, von einer schönen jungen Frau unterbrochen, die Rosen verkaufte.
Das Mittagessen mit Tom Ellis liegt ein paar Jahre zurück. Ich glaube nicht, dass er das Stück je geschrieben hat; es war nur eine Idee, von der er mir erzählte. Heute kam es mir wieder in den Sinn, weil ich am Nachmittag auf der Trauerfeier für einen Freund von mir war, einen Maler namens Tony Fido, der mir einmal von einer ähnlichen Begebenheit erzählt hatte.
Tony hatte in der Nähe seines Hauses in National City, nicht weit südlich von hier, ein Handy auf dem Boden gefunden. Das erzählte er mir, als ich ihn zum letzten Mal sah, ein paar Monate bevor er von der Bildfläche verschwand oder den Kontakt abbrach. Erst brach er den Kontakt ab, dann war er tot. Aber als er mir diese Geschichte erzählte, war von alledem nichts zu ahnen.
Tony entdeckte das Handy unter einem Oleanderbusch, als er in seinem Viertel spazieren ging. Er hob es auf und schlenderte weiter, und kurz darauf spürte er, wie es in seiner Tasche vibrierte. Er ging dran, und siehe da, es war die Frau des Besitzers – vielmehr die Witwe, die ihm sagte, sie habe die Nummer seit dem Tod ihres Mannes, der keine vierundzwanzig Stunden zurückliege, etwa alle dreißig Minuten gewählt.
Ihr Mann war am Nachmittag zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen, an ebenjener Kreuzung, an der Tony das Handy gefunden hatte. Eine alte Frau hatte ihn mit ihrem Cadillac überfahren. Im Moment des Zusammenpralls war ihm das Telefon aus der Hand geschleudert worden.
Die Polizei sagte, sie hätten kein Handy am Tatort gefunden. Und auch bei seinen persönlichen Sachen, die sie im Leichenschauhaus abgeholt hatte, war es nicht gewesen. «Ich wusste aber, dass er es dort verloren hat», sagte sie zu Tony, «denn in dem Moment, als es passierte, haben wir gerade telefoniert.»
Tony bot an, sich ins Auto zu setzen und ihr das Handy zu bringen, und sie gab ihm ihre Adresse in Lemon Grove, fünfzehn Kilometer entfernt. Als er dort ankam, stellte er fest, dass die Witwe erst zweiundzwanzig und ziemlich attraktiv war und dass sie und ihr Mann sich in Scheidung befunden hatten.
Ich glaube, an diesem Punkt der Geschichte begriff ich, worauf das Ganze hinauslief.
«Sie verfolgte mich. Ich sagte zu ihr: ‹Du kommst entweder aus dem Himmel oder aus der Hölle.› Es zeigte sich, dass sie aus der Hölle kam.»
Wenn er sprach, machte Tony ständig irgendetwas mit den Händen – griff nach kleinen Dingen auf dem Tisch und verrückte sie –, während er den Kopf von einer Seite zur anderen und hin und her bewegte. Manchmal sprach er von einer «rhythmischen Kraft» in seinen Bildern. Oft von «Bewegung» in seinem Werk.
Ich wusste nicht viel über Tonys Vergangenheit. Er war Ende vierzig, wirkte aber jünger. Ich hatte ihn im Museum im Balboa Park kennengelernt, wo er neben mir auftauchte, als ich ein Edward-Hopper-Gemälde betrachtete, eine Tankstelle auf Cape Cod. Unaufgefordert äußerte er seine Kritik, die langatmig, minutiös und vernichtend war – und sich auf die Technik konzentrierte, nur auf die Technik –, und sprach von seiner Geringschätzung aller Maler. Am Schluss sagte er: «Ich wünschte, Picasso wäre noch am Leben. Ich würde ihn herausfordern – er könnte eins meiner Bilder malen und ich eins von seinen.»
«Sie sind selbst Maler.»
«Ein besserer als der hier», sagte er. Er meinte Edward Hopper.
«Und wessen Werk taugt Ihrer Meinung nach etwas?»
«Der einzige Maler, den ich bewundere, ist Gott. Er hat mich am meisten beeinflusst.»
Von da an trafen wir uns zwei- oder dreimal im Monat